Auszug und Rückkehr Gottes. Säkularisierung und Theologisierung im Judentum, in: H. Joas (ed), ...

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Auszug und Rückkehr Gottes. Säkularisierung und Theologisierung im Judentum Eckart Otto (München) Wir erleben Religionen ambivalent. In Mitteleuropa, gerade auch in Deutschland, scheint die öffentliche Bedeutung von Religionsgemeinschaften, zumal der christlichen Kirchen, abzunehmen und darin sich eine lang andauernde und immer wieder beschworene oder bedauerte Tendenz fortzusetzen. In anderen Teilen der Welt erleben wir eine geradezu erstaunliche Revitalisierung von Religionsgemeinschaften des Islam, Hinduismus und Buddhismus, aber auch des Christentums, so in Nord- und Südamerika. Dieser Beitrag möchte anhand einer der Weltreligionen, des Judentums, als Paradigma den Ursachen beider Prozesse, der Säkularisierung und Theologisierung des öffentlichen Lebens, nachgehen, vor allem aber der Frage, ob es Zusammenhänge zwischen diesen gegenläufig erscheinenden Entwicklungen gibt. Es wird sich zeigen, dass sich in der Dialektik von Säkularisierung und Theologisierung nur Verschiebungen in ein und demselben System niederschlagen, die, bereits in der Antike erkennbar, keineswegs ein Wesenszug nur der Moderne, sondern eine religionshistorische Universalie sind: Entwicklungen der Säkularisierung ziehen solche der Theologisierung nach sich und umgekehrt. In diesem Sinne macht es keinen Unterschied, ob man meint, dem absteigenden oder dem aufsteigenden Ast der Religionsgeschichte anzugehören, wie es schon in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts der Religionsphilosoph und protestantische Theologe Ernst Troeltsch formulierte 1 . Diese hier aufgeworfenen Fragen sind nicht losgelöst von einer Korrelierung der Religion als Ideensystem mit ihren jeweiligen gesellschaftlichen Organisationsformen zu beantworten. Ernst Troeltsch hat 1912 seine umfangreiche Studie „Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“ als ersten Band seiner Gesammelten Schriften vorgelegt. 2 In diesen Studien zeigt er die Interaktion von Religionsgestalten und ihren Organisationsformen von Kirchen, Sekten und Mystik auf. Max Weber hat geplant, in seiner Wirtschaftsethik der Weltreligionen diesen Ansatz aufzunehmen und auf die Weltreligionen unter Einschluss des Judentums auszudehnen. In der unvollendet gebliebenen Durchführung hat er sich aber nicht primär auf die von Ernst Troeltsch beschriebene Interaktion von religiöser Ideenwelt und sozialer Organisationsgestalt konzentriert, sondern die durch seine Protestantismus- Kapitalismus-These von 1904/05 gestellte Frage nach den Ursprüngen des modernen 1 Siehe Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme I. Das logische Problem der Geschichtsphilosophie, Gesammelte Schriften III, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1922, S. IX. 2 Siehe Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Gesammelte Schriften I (1912), Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 3 1923.

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Auszug und Rückkehr Gottes. Säkularisierung und Theologisierung im Judentum

Eckart Otto (München)

Wir erleben Religionen ambivalent. In Mitteleuropa, gerade auch in Deutschland, scheint die

öffentliche Bedeutung von Religionsgemeinschaften, zumal der christlichen Kirchen,

abzunehmen und darin sich eine lang andauernde und immer wieder beschworene oder

bedauerte Tendenz fortzusetzen. In anderen Teilen der Welt erleben wir eine geradezu

erstaunliche Revitalisierung von Religionsgemeinschaften des Islam, Hinduismus und

Buddhismus, aber auch des Christentums, so in Nord- und Südamerika. Dieser Beitrag

möchte anhand einer der Weltreligionen, des Judentums, als Paradigma den Ursachen beider

Prozesse, der Säkularisierung und Theologisierung des öffentlichen Lebens, nachgehen, vor

allem aber der Frage, ob es Zusammenhänge zwischen diesen gegenläufig erscheinenden

Entwicklungen gibt. Es wird sich zeigen, dass sich in der Dialektik von Säkularisierung und

Theologisierung nur Verschiebungen in ein und demselben System niederschlagen, die,

bereits in der Antike erkennbar, keineswegs ein Wesenszug nur der Moderne, sondern eine

religionshistorische Universalie sind: Entwicklungen der Säkularisierung ziehen solche der

Theologisierung nach sich und umgekehrt. In diesem Sinne macht es keinen Unterschied, ob

man meint, dem absteigenden oder dem aufsteigenden Ast der Religionsgeschichte

anzugehören, wie es schon in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts der

Religionsphilosoph und protestantische Theologe Ernst Troeltsch formulierte1. Diese hier

aufgeworfenen Fragen sind nicht losgelöst von einer Korrelierung der Religion als

Ideensystem mit ihren jeweiligen gesellschaftlichen Organisationsformen zu beantworten.

Ernst Troeltsch hat 1912 seine umfangreiche Studie „Die Soziallehren der christlichen

Kirchen und Gruppen“ als ersten Band seiner Gesammelten Schriften vorgelegt.2 In diesen

Studien zeigt er die Interaktion von Religionsgestalten und ihren Organisationsformen von

Kirchen, Sekten und Mystik auf. Max Weber hat geplant, in seiner Wirtschaftsethik der

Weltreligionen diesen Ansatz aufzunehmen und auf die Weltreligionen unter Einschluss des

Judentums auszudehnen. In der unvollendet gebliebenen Durchführung hat er sich aber nicht

primär auf die von Ernst Troeltsch beschriebene Interaktion von religiöser Ideenwelt und

sozialer Organisationsgestalt konzentriert, sondern die durch seine Protestantismus-

Kapitalismus-These von 1904/05 gestellte Frage nach den Ursprüngen des modernen

1 Siehe Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme I. Das logische Problem der Geschichtsphilosophie,Gesammelte Schriften III, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1922, S. IX.2 Siehe Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Gesammelte Schriften I (1912),Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 31923.

Kapitalismus weiterhin im Blick gehabt, nur seit 1910/11 weitergeführt zur Frage nach dem

Ursprung des okzidentalen Rationalismus. Damit war gegenüber der Fragestellung von Ernst

Troeltsch eine Verschiebung verbunden. Im folgenden soll es darum gehen, den Ansatz von

Ernst Troeltsch wieder aufzunehmen und, durchaus auch mit Seitenblick auf Max Weber, auf

der Basis eines in den letzten einhundert Jahren seit Ernst Troeltsch und Max Weber erheblich

weiterentwickelten Forschungsstandes zum antiken Judentum in den Blick zu nehmen. Das

erste Wort aber soll im folgenden Max Weber eingeräumt werden.

I. Staat, Ökonomie und jüdische Religion in der Sicht Max Webers

In den Jahren zwischen 1913 und 1919 führte Max Weber intensivere Gespräche mit seinem

jüdischen Freund Ernst Josef Lesser über die Zukunftsaussichten des zionistischen Projektes

in Palästina. Während dieser Max Weber gegenüber zwar einräumte, dass die Religion schwer

vom Nationalen zu trennen sei, so sei doch die eigentliche Grundlage, auf der sich alle

zionistischen Parteien träfen, der gegen die jüdische Religion Indifferenten wie der des Tora-

Judentums „nicht die Religion, sondern der nationale Gedanke, dessen Symbol die wieder

erweckte hebräische Sprache sei“3. Dem, so berichtet Ernst Josef Lesser, habe Max Weber

entgegengehalten, es sei zwar durchaus möglich, einige „Kolonien“ in Palästina anzulegen,

doch sei damit das Ziel einer Wiedergeburt des jüdischen Volkes nicht erreicht. „Als Ezra

nach Jerusalem ging, hatte er die Thora in der Hand - und was haben Sie?“ Wohl am

Anschluss an ein Gespräch mit Ernst Josef Lesser im Jahre 1913 sandte Max Weber mit

Datum des 18. Augusts 1913 einen Brief an seinen Freund, da das Gespräch gerade da

abgebrochen worden sei, „wo die eigentliche innere Problematik des Zionismus beginnt“4.

Die zionistische Idee der Gründung eines jüdischen Nationalstaates in Palästina sei schwerlich

mit den utopischen Ideen der jüdischen Religion vereinbar. Man könnte zwar einen Kleinstaat

mit funktionierenden Krankenhäusern und selbst einer Universität errichten, doch könnte das

„jemals als eine ‚Erfüllung’ und nicht vielmehr als eine Kritik jener grandiosen

‚Verheißungen’ wirken? ... Was fehlt denn wohl hauptsächlich? Der Tempel und der

Hohepriester sind es. Gäbe es diese in Jerusalem, - alles Andre wäre Nebensache“. Max

Weber bringt hier sehr hellsichtig einen Grundgegensatz von religiöser Organisation jüdischer

3 So berichtet Ernst Josef Lesser von einem Gespräch aus dem Jahre 1919 in einem Schreiben an MarianneWeber vom 12. Juni 1922; siehe Max Weber, Briefe 1913-1914, hg. von M. Rainer Lepsius und Wolfgang J.Mommsen, Max Weber Gesamtausgabe (MWG II/8, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 2003, S. 312f. DerBrief befindet sich im Geheimen Staatsarchiv Berlin, Nachlass Max Weber, Nr. 29, Blatt 6 - 9.4 Siehe Max Weber, ebd., S. 313f. Der Brief befindet sich in der Jewish National and University Library,Autograph Collection / Max Weber.

2

Religion, die in Analogie zum katholischen Papstsamt im Hohenpriester als Hierarchen des

Weltjudentums den Garanten der Würde eines jeden Juden, gläubig oder ungläubig, finden

könnte, und einem jüdischen Nationalstaat zum Ausdruck5, einen Gegensatz, der noch heute

im Staat Israel und in seinem Verhältnis zum Weltjudentum nur im Wege des Kompromisses

abgemildert werden kann.

Als Max Weber diese Gespräche mit Ernst Josef Lesser über den Zionismus führte, hatte er

sich schon intensiv mit dem antiken Judentum beschäftigt6. Bereits in dem Abschnitt zu

„Altisrael“ in dem Artikel „Agrarverhältnisse im Altertum“ in der dritten Auflage des

„Handwörterbuchs der Staatswissenschaften“ hat sich Max Weber überproportional

ausführlich mit dem biblischen Gebot des bereits in der ältesten Rechtssammlung der

Hebräischen Bibel in Exodus 23, 10-11 genannten Sabbatjahrgebot beschäftigt:

„Sechs Jahre sollst du auf deinem Acker säen und die Ernte einbringen; im siebten Jahr sollst

du ihn brachliegen lassen und nicht bestellen. Die Armen in deinem Volk sollen davon essen,

den Rest sollen die Tiere des Feldes fressen. Das Gleiche sollst du mit deinem Weinberg und

deinem Ölberg tun“

Entgegen der in der damaligen Alttestamentlichen Wissenschaft gängigen und auch von Julius

Wellhausen vertretenen These, es handle sich um ein sehr altes, möglicherweise auf

nomadische Ursprünge zurückgehendes Gebot, in dem sich noch ein Rest einer

„Gemeinwirtschaft“ widerspiegle, hat Max Weber in seinem Artikel zu den

Agrarverhältnissen im Altertum7 und dann wiederholt bis zu seiner großen Studie zum antiken

Judentum im Rahmen seiner Wirtschaftsethik der Weltreligionen8 dieses Gebot für einen

literatur- und rechtshistorischen Spätling im Alten Testament gehalten, da jeder Versuch, die

Vorschrift in der uns heute vorliegenden Formulierung ihres utopischen Charakters zu

entkleiden und, sei es landwirtschaftstechnisch, sei es sozialpolitisch rationell zu erklären,

aussichtslos sei. Es handle9 sich also eher um ein „Einschiebsel später theologischer

5 Plädiert Max Weber in den Gesprächen mit Ernst Josef Lesser vor und nach dem Ersten Weltkrieg für eine reinreligiöse Organisation des Weltjudentums als der jüdischen Religion angemessen, die allein Grundlage desWürdegefühls der Juden sein könne, so vertritt er eine Position, die im Reformjudentum noch zwischen denWeltkriegen häufiger anzutreffen ist; siehe Michael A. Meyer, Antwort auf die Moderne. Geschichte derReformbewegung im Judentum, Wien: Böhlau 2000, 463ff.6 Zu Max Webers Beschäftigung mit dem Judentum siehe Verf., Max Webers Studien des Antiken Judentums.Historische Grundlegung einer Theorie der Moderne, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 2002, S. 1 - 245;ders., Einleitung, in: Max Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Das antike Judentum. Schriften undReden 1911-1920, hg. von Eckart Otto, Max Weber Gesamtausgabe I/21. 1-2, Band I, Tübingen: J. C. B. Mohr(Paul Siebeck) 2005, S. 1 - 157.7 Siehe Max Weber, Agrarverhältnisse im Altertum, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, dritteAuflage, hg. von J. Conrad, L. Elster, W. Lexis, Edg. Loening, Band I, Jena: Gustav Fischer 1909, (S. 52 - 188),S. 92 (wieder abgedruckt in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zu Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, hg. vonMarianne Weber, zweite Auflage, Tübingen: J. C. B. Mohr [Paul Siebeck] 1988, [S. 1 - 288] S. 86f.).8 Siehe Max Weber, Das antike Judentum (MWG I/21. 1 - 2), S. 234 - 757.9 Siehe Max Weber, ebd., S. 309.

3

Konsequenmacherei“ religiöser Paränese, „die sittliche Vorschrift, kein rechtliches Gebot

sei“. Erst im Spätjudentum habe das Gebot nicht nur theoretisch gegolten, sondern praktische

Folgen gehabt, wie die zahlreichen Responsen der Rabbinen über das Verhalten gegenüber

verbotswidrig angebauten Getreide - Max Weber bezieht sich hier auf den Mischna-Traktat

Demai („Zweifelhaftes“) sowie dessen Entfaltung in den beiden Talmudim10 - zeigen. Das

Gebot des Sabbatjahres hatte noch für die zionistischen Siedlungsversuche in Palästina im 19.

und frühen 20. Jahrhundert eine Rolle gespielt, so dass Max Weber seinen Ausführungen zu

diesem Gebot in einer Anmerkung erklärend hinzufügt: „Die Rabbinen von Jerusalem hatten

sich für die Geltung des Gebots ausgesprochen. Das gleiche hatten, wenn ich mich recht

erinnere, deutsche Instanzen getan. Dagegen sollen die ostjüdischen Rabbinen die Besiedlung

des Landes für so gottwohlgefällig erklärt haben, dass sie von der alten Vorschrift dispensiert

werden könne“11. Da das biblische Sabbatjahrgesetz der Bodenbrache im siebten Jahr sich nur

auf das Land Israel bezieht, nicht aber auf die jüdische Diaspora, wurde erst mit der jüdischen

Besiedlung Palästinas im Zuge der zionistischen Siedlungsbewegung dieses Gebot zu einem

praktischen Problem und ist es bis heute in Israel. Vor dem Brachjahr 1889 kam unter den

Rabbinern die Diskussion auf, ob landwirtschaftlich genutzte Flächen für dieses Jahr an

Nichtjuden verpachtet oder verkauft werden dürften. Während der russische Rabbiner Isaac

Elhanan Spektor aus Kovno den Verkauf für zwei Jahre gestattete, widersetzte sich die

aschkenasische Gemeinde von Jerusalem unter ihren Rabbinern Moses Joshua Judah Leib

Diskin und Samuel Salant diesem Dispens. Im Brachjahr 1910 kam die Diskussion erneut auf.

Zu dieser Zeit interpretierte Max Weber das Brachejahrgebot in seiner Studie zu den

„Religiösen Gemeinschaften“ als „nachexilische Schöpfung städtischer Schriftgelehrter“, das

in ihrem Geltungsbereich wirksam geworden sei, obwohl es zunächst als rein theoretisch-

religöse Aussage gemeint eine rationelle intensive Landwirtschaft verhindert habe12. Dies ist

für Max Weber eines der vielen Beispiele innerweltlicher Folgen auch für die Ökonomie der

ursprünglich auf außerweltliche Ziele gerichteten jüdischen Religion, deren markanteste

Vertreter die hebräischen Propheten gewesen seien.

Max Weber zielte sowohl in seinen Gesprächen über die Zukunftsaussichten des zionistischen

Programms wie in seiner ausführlichen Erörterung des Sabbatjahrgebots, der sich die des

Zinsverbots des Deuteronomiums (Dtn 23, 20-21) an die Seite stellen lässt13, auf eine10 Siehe Lazarus Goldschmidt, Der Babylonische Talmud, Band I, Berlin: Jüdischer Verlag, 1930, 309 - 322. DerTraktat beschäftigt sich mit Fragen und Vorschriften zur Verwendung bzw. Vernichtung von Früchten, vonwelchen unsicher ist, ob sie richtig verzehntet bzw. ordnungsgemäß angebaut und erworben wurden.11 Siehe Max Weber, Das antike Judentum (MWG I/21.1), 309, Anm. 52.12 Siehe Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen undMächte. Nachlass. Teilband 2: Religiöse Gemeinschaften, hg. von Hans G. Kippenberg, Max Weber Gesamt-ausgabe I/22-2, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 2001, S. 425.13 Siehe Max Weber, Das antike Judentum (MWG I/21. 1 - 2), S. 326 f. 701. Siehe dazu auch im folgenden.

4

Inkompatibilität außerweltlich-utopischer Ziele jüdischer Religion mit den politischen Zielen

eines Nationalstaates oder einer rational organisierten Ökonomie. Max Weber wollte

allerdings keineswegs eine prinzipielle Inkompatibilität aller Religionen von ihren Anfängen

an mit Staat und Ökonomie behaupten. Im antiken Kontext war ihm die altägyptische

Religion gerade Beispiel einer gelungenen Synthese der religiösen, staatlichen und

ökonomischen Systeme14. Auch wollte Max Weber nicht eine derartige Unangepasstheit der

jüdischen Religion von ihren Anfängen an behaupten, sondern begriff die Züge, die einer

Synthese entgegenstanden, als historisch geworden, so den Monotheismus, der eine

Differenzierung von Religion und gesellschaftlicher Gegebenheit befördert habe und erst

Ergebnis und nicht Ursprung jüdischer Religionsgeschichte in biblischer Zeit gewesen

sei15.Das Sabbatjahrgebot sei in Kreisen städtischer Intellektueller der persischen Zeit, die

keinen Bezug mehr zur Landwirtschaft hatten, als Ausdruck religiöser Theorie formuliert

worden. Die Inkompatibilität der Verheißungen jüdischer Religion mit der zionistischen Idee

eines jüdischen Nationalstaates sei über diese biblischen Impulse hinaus auch Folge der

nichtstaatlichen Existenz des nachexilischen Judentums als Gemeinde unter der

Fremdherrschaft der Babylonier, Perser und Hellenisten und einer zweitausendjährigen

Geschichte in der Diaspora.

Das ist nun der Ort, um Max Webers Interpretation des Judentums zunächst zu verlassen, und

zu fragen, wie rund einhundert Jahre später der Forschungsstand zur Ausbildung einer

religiösen Identität des Judentums in biblischer Zeit und auf dieser Grundlage des

Wechselverhältnisses zwischen Religion, Staat und Gesellschaft zu beschreiben ist. Dabei

verwende ich den Begriff des Judentums in dem umfassenden Sinne, in dem auch Max Weber

unter Einschluss des biblischen Israel und Juda von ihm Gebrauch gemacht hat, weise also

eine in der damaligen protestantischen Theologie übliche Differenzierung zwischen

biblischem Hebraismus und Judaismus der nachexilischen oder nachhadrianischen Zeit ab,

eine Unterscheidung, die darauf zielt, dem Judentum die Hebräische Bibel, insbesondere aber

die Prophetie, zu nehmen16.

II. „Gott mehr gehorchen als den Menschen“. Die Emanzipation der jüdischen Religion von

der Funktion der Staatslegitimation

14 Zu Max Webers Interpretation der ägyptischen Wirtschaftsethik siehe ders., ebd., S. 591 - 599.15 Siehe Max Weber, ebd., S. 456f. 526f. 660. 739 und öfter.16 Siehe dazu Verf., Max Weber (Tübingen 2002), S. 99. Zu Ernst Troeltsch siehe ebd., S. 246-271.

5

Die Literaturgeschichte der Hebräischen Bibel beginnt in der assyrischen Krise Israels und

Judas im 8. und 7. Jahrhundert v. Chr., in denen die beiden Staaten zu Vasallen des

neuassyrischen Reiches als Hegemonialmacht wurden. Die bei den Göttern des assyrischen

Pantheons beschworene Unterwerfung unter die assyrische Staatsmacht musste in Juda den

auch religionspolitischen Widerstand insbesondere nach der Vernichtung Israels zwischen

722 und 720 v. Chr. wecken. Da die assyrische Staatsideologie17 in Königsinschriften

verbreitet wurde, mussten auch jüdische Intellektuelle, die sich gegen diese Ideologie im

Namen des judäischen Gottes JHWH zur Wehr setzten, dies in schriftlicher Form tun.

In dem auf einer Tafel des Vorderasiatischen Museums zu Berlin18 erhaltenen Krönungs-

hymnus des assyrischen Königs Assurbanipal (669 - ca. 630 v. Chr.) wird ihm von den

assyrischen Reichsgöttern die Aufgabe und Befähigung zu ihrer Erfüllung zugesprochen, für

ökonomische Prosperität und sozialen Ausgleich zu sorgen:

„Möge Assurbanipal, der König von Assyrien, auf Wohlwollen der Götter dieses Landes

treffen!

Mögen Beredsamkeit, Verständnis, Recht und Gerechtigkeit ihm als Gabe geschenkt sein!

Mögen die Bürger von Assur 30 Kor Getreide für einen Schekel (ca. 8 gr.) Silber kaufen!

Mögen die Bürger von Assur 3 Seah Öl für einen Schekel Silber kaufen!

Mögen die Bürger von Assur 30 Minen Wolle für einen Schekel Silber kaufen!

Möge der Geringere sprechen und der Mächtigere zuhören!

Möge der Mächtigere sprechen und der Geringere zuhören!

Mögen Eintracht und Frieden in Assyrien aufgerichtet werden!“

Der (Gott) Assur ist König - wahrhaftig Assur ist König,

Assurbanipal ist das Ebenbild des (Gottes) Assur“.

Dem König wurde nicht nur die Sorge für die interne Wohlfahrt des Staates, die in niedrigen

Preisen und sozialem Ausgleich zum Ausdruck kommt, auferlegt, sondern auch die Aufgabe,

als ebenbildliches Werkzeug des Reichsgottes die Weltherrschaft dieses Gottes über die

17 Siehe dazu Stefan Maul, Der assyrische König - Hüter der Weltordnung, in: Jan Assmann u.a. (Hg.),Gerechtigkeit. Richten und Retten in der abendländischen Tradition und ihren altorientalischen Ursprüngen,München: Wilhelm Fink Verlag 1998, S. 65 - 77. 18 Zu Text und Übersetzung siehe Verf., Krieg und Frieden in der Hebräischen Bibel und im Alten Orient.Aspekte für eine Friedensordnung in der Modern, Stuttgart: Kohlhammer 1999, S. 43 - 46. Dass es sich beidiesem Text um einen Krönungshymnus handelt, hat Alasdair Livingstone (Court Poetry and LiteraryMiscellanea, State Archives of Assyria 3, Helsinki: University Press 1989, S. XX IIIf.) zu Recht unterstrichen.Dieser Krönungshymnus wurde in der Hebräischen Bibel in Psalm 72 rezipiert und pazifizierend uminterpretiert;siehe Martin Arneth, „Sonne der Gerechtigkeit“. Studien zur Solarisierung der Jahwe-Religion im Lichte vonPsalm 72, Beihefte zur Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 1, Wiesbaden:Harrassowitz 2000, S. 18 - 170.

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Völker zu sichern. Mögen sie, die Götter, so heißt es in dem Hymnus, Assurbanipal ein

mächtiges Szepter geben, um seine Herrschaft über Land und Völker auszudehnen. In einem

an den Hymnus anschließenden Gebet übertragen die fünf führenden Götter des assyrischen

Pantheons dem König ihre Potenzen. Die Götter Anu und Illil geben als Urgötter Krone und

Thron und damit die Insignien der Weltherrschaft, der Gott Ninurta seine Waffen: In dem

assyrischen Mythos Bin Sar Dadme19 stiehlt der Gott Anzu die Schicksalstafeln des

Schöpfergottes und stört damit die Ordnung der göttlichen und irdischen Welt. Der Gott

Ninurta tritt zum Kampf an und stellt die Ordnung wieder her, indem das durch Anzu

repräsentierte mythische Chaos in die Schranken gewiesen wird. Der König Assurbanipal soll

mit den Waffen Ninurtas ausgestattet zum Chaoskämpfer in der Völkerwelt werden und die

Völker, die sich nicht freiwillig dem Reichsgott Assur und damit der assyrischen Herrschaft

unterwerfen, mit Krieg überziehen, wie auch innerhalb des assyrischen Reiches jede

Rebellion als Ausdruck chaotischer Störung der Schöpfungsordnung im Keime ersticken20. So

endet das Gebet im Anschluss an den Krönungshymnus mit den Worten:

„Lege die Waffen der Schlachten und Kriege in seine Hand,

liefere ihm die Schwarzköpfigen (d.h. die Menschheit) aus,

damit er als ihr Hirte über sie regiere!“

So wenig die Assyrer Religionskriege zur Ausbreitung ihrer Religion führten, so sehr hatten

ihre Kriege, zu denen der assyrische König alljährlich aufbrechen musste, doch eine religiöse

Begründung, die judäische Intellektuelle in priesterlichen Kreisen Jerusalems herausforderte.

Der Loyalitätseid (akkadisch adê) für den König Asarhaddon (681 - 669 v.Chr.), den

Vorgänger Assurbanipals, den die Granden des assyrischen Reiches 672 v. Chr., unter ihnen

auch der judäische König Manasse (696 - 642 v.Chr.) als Vasall der Assyrer zur Sicherung

der Thronfolgeregelung schwören mussten, wurde bei den assyrischen Reichsgöttern

beschworen21. Damit war die Frage nach der judäischen Identität nicht nur politisch, sondern

auch religiös gestellt. Der assyrische Loyalitätseid von 672 v.Chr. forderte zur absoluten

Loyalität gegen den König und seinen designierten Nachfolger auf. So lautet der § 10 dieser

adê:

19 Siehe dazu Verf., ebd., S. 47f.20 Siehe dazu Verf., Die besiegten Sieger. Von der Macht und Ohnmacht der Ideen in der Geschichte am Beispielder neuassyrischen Großreichspolitik, in: Biblische Zeitschrift (Neue Folge) 43, 1999, S. 180-203.21 Zu den folgenden akkadischen und hebräischen Texten sowie ihrer rechtshistorischen Interpretation sieheVerf., Das Deuteronomium. Politische Theologie und Rechtsreform in Juda und Assyrien, Beihefte zurZeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 284, Berlin / New York: Walter de Gruyter 1999 (Nachdruck2001), S. 15 - 90.

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„Wenn ihr ein übles, schlechtes, unpassendes Wort, das für Assurbanipal, den Kronprinzen

des Nachfolgehauses, des Sohnes Asarhaddons, des Königs von Assyrien, euren Herrn, nicht

angemessen, nicht gut ist, sei es aus dem Munde seines Feindes oder aus dem Munde seines

Freundes, oder aus dem Munde seiner Brüder, seiner Onkel, sein Vettern, oder seiner Familie,

der Nachkommen seines Vaterhauses, oder aus dem Munde eurer Brüder, eurer Söhne, eurer

Töchter oder aus dem Munde eines Propheten, eines Ekstatikers, eines Befragers des

Gotteswortes, oder aus dem Munde eines jedweden Menschen, so viele es gibt, hört, so sollt

ihr es nicht verheimlichen, sondern zu Assurbanipal, dem Kronprinzen des Nachfolgehauses,

dem Sohn Asarhaddons, Königs von Assyrien kommen und es anzeigen“.

Die Pflicht, jede Form von Kritik am König und Kronprinzen anzuzeigen, wird im § 12 zur

Pflicht erweitert, den Hochverräter in einem Akt der Lynchjustiz sofort zu töten:

„Wenn jemand euch von Aufstand, Rebellion, um Assurbanipal, den Kronprinzen des

Nachfolgehauses, den Sohn Asarhaddons, Königs von Assyrien, eures Herrn, der zu seinen

Gunsten euch dem Loyalitätseid unterworfen hat, zu töten, umzubringen, zu beseitigen,

berichtet und ihr es aus dem irgendjemandes Mund hört, so sollt ihr die Anstifter von

Rebellion packen und zu Assurbanipal, dem Kronprinzen des Nachfolgehauses, bringen.

Wenn ihr imstande seid, sie zu packen, sie zu töten, so sollt ihr sie packen, sie töten, ihren

Namen und ihre Nachkommenschaft aus dem Land vernichten. Solltet ihr nicht imstande sein,

sie zu packen, sie zu töten, so sollt ihr es Assurbanipal, dem Kronprinzen des

Nachfolgehauses, anzeigen, ihn unterstützen, um die Anstifter von Aufständen zu packen, zu

töten, ihren Namen und ihre Nachkommenschaft aus dem Land zu vernichten.“

Der König als Inkarnation des göttlichen Auftrags, das Chaos in der Welt zurückzudrängen

und in die Schranken zu weisen, war um jeden Preis vor Rebellion als Ausdruck des

schöpfungswidrigen Chaos zu schützen. Der Gedanke, dass der Einzelne am König oder

seinen Staatsorganen leiden könnte, war diesem Denken fremd, da die durch sie repräsentierte

Ordnung der einzig mögliche Raum gelingenden Lebens sein konnte.

In der literarischen Grundschicht von Deuteronomium 13, 2 - 10 wurde in der zweiten Hälfte

des 7. Jahrhunderts v. Chr. der § 10 des Loyalitätseids Asarhaddons erweitert u.a. durch

Motive des § 12 subversiv rezipiert, indem er durchschlagend so uminterpretiert wurde, dass

an die Stelle des assyrischen Großkönigs und seines Kronprinzen der judäische Gott JHWH

8

zum Objekt der Forderung absoluter Loyalität eingesetzt wurde, der Loyalitätseid sich

nunmehr also gegen die assyrische Staatsideologie wendete:

„Wenn in deiner Mitte ein Ekstatiker oder ein Inkubant aufsteht, der zu dir spricht: Lasst uns

hinter anderen Götter hergehen und ihnen dienen, so sollst du nicht auf ihn (die Worte des

Ekstatikers oder Inkubanten) hören. Dieser Ekstatiker oder Inkubant soll getötet werden, denn

er hat einem Hochverrat gegen JHWH das Wort geredet.

Wenn dich dein Bruder, der Sohn deines Vaters, oder der Sohn deiner Mutter, oder dein Sohn,

oder deine Tochter, oder die Frau deines Herzens, oder dein Freund, den du liebst wie dich

selbst, heimlich verführt: Lasst uns gehen und anderen Göttern dienen, so sollt du ihm nicht

folgen und nicht auf ihn hören. Du sollst dich nicht seiner erbarmen und es nicht

verheimlichen. Vielmehr sollst du ihn töten“ (Dtn 13,2-10*).

Die wörtliche Rezeption des assyrischen Loyalitätseids hat subversiven Charakter: Sie

entzieht mit der Übertragung der Loyalitätsforderung auf den judäischen Gott JHWH dem

assyrischen Großkönig und damit der Hegemonialmacht die Legitimation ihrer Herrschaft.

Wie die ebenfalls rezipierten Flüche des assyrischen Loyalitätseids in Deuteronomium 28*

zeigen, wird auch die göttliche Loyalitätsforderung in Deuteronomium 13* eidlich bekräftigt.

Wird die Forderung absoluter Loyalität auf den Gott der Judäer umgelenkt, indem die Objekte

der Loyalitätsforderung ausgetauscht und der assyrische Großkönig durch den judäischen

Gott ersetzt wird, so kann diese subversive Rezeption doch an neuassyrische Motivik

anknüpfen, so dass mit assyrischer Motivik ein assyrischer Modus religiöser

Herrschaftslegitimation aus den Angeln gehoben werden kann: In den jüngst publizierten

neuassyrischen Orakeln22, die bei der Thronbesteigung des Königs Asarhaddon rezitiert

wurden, steht die eidliche Verpflichtung eines „Bundes“ (akkadisch adê) des Königs mit dem

Reichsgott Assur im Zentrum. Der „Bund“ zwischen Gottheit und Mensch ist also nicht, wie

noch Max Weber meinte, ein Spezifikum jüdischer Religion im Gegensatz zu denen des Alten

Orients, die die Götter nur in der Funktion der Zeugen von Verträgen und Bundesabschlüssen

gekannt haben sollen23. Das jüdische Spezifikum der Bundesidee ist vielmehr der

Bundesschluss der Gottheit mit dem Volk unter Übergehung eines Königs, der im assyrischen

Kontext als alleiniger Bundespartner fungiert und so zum Leitkanal des göttlichen Segens für

das Volk wird. Damit ist der Anspruch der assyrischen Herrscherlegitimation, dass am König,

22 Siehe Simo Parpola, Assyrian Prophecies, State Archives of Assyria 4, Helsinki, University Press 1997, S. 22 -27.23 Siehe Max Weber, Das antike Judentum (MWG I/21.1), S. 354 u.ö.

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d.h. an den Organen des Staates vorbei das Volk keinen Zugang zur Welt des göttlichen

Pantheons habe, zurückgewiesen.

Im Deuteronomium ist mit der subversiven Rezeption assyrischer Herrschaftslegitimation

eine für die jüdische Religion wichtige Entwicklung auf den Weg gebracht. In der

Auseinandersetzung mit der Politischen Theologie Assyriens, die mit der Bindung des

assyrischen Großkönigs an den Reichs- und Schöpfergott Assur als dessen Ebenbild jede

Möglichkeit gelingenden Lebens an den Gehorsam gegenüber den vom König repräsentierten

Staatsorganen bindet, wird im Deuteronomium der Staat in die Schranken gewiesen: Absolute

Loyalität komme nicht dem Staat, sondern nur Gott zu. Hier wird ein Paradigma geboren, das

Gott mehr zu gehorchen sei als den Menschen, das christlich rezipiert klassischen Ausdruck

in der lukanischen Apostelgeschichte 5,19 gefunden hat und sein griechisches Pendant hat in

der sophokleischen Antigone (Verse 471-473) mit der Berufung auf die „ungeschriebenen

Gottesgebote“ als kritische Instanz gegenüber dem positiven Recht des Staates. So wird als

Konsequenz der König im Deuteronomium aller politischen Macht entkleidet zum ersten

Torafrommen seines Volkes (Dtn 17,14-20), das seinen Zusammenhalt nicht mehr durch

Staatsorgane finden soll, sondern, so das Deuteronomium, sich als Kultgemeinschaft um das

eine allen gemeinsame Zentralheiligtum in Jerusalem konstituieren soll. Der Vernetzung von

Staat und Religion, die in Ägypten mit der Ma’at-Konzeption des Königs als Gottessohn und

Bruder der Göttin Ma’at, die die Weltordnung in Natur und Gesellschaft aufrechterhält24, noch

enger ist als in Mesopotamien, setzt beginnend mit dem Deuteronomium die Hebräische Bibel

die Idee der religiösen Gemeinde entgegen, der staatliche Funktionen ihrem Erhalt dienend

allenfalls untergeordnet sind - eine Idee, die mit der Zerstörung des judäischen Staates 586 v.

Chr. durch die Babylonier realisiert wurde und bis auf das kurze Interim des hasmonäischen

und herodianischen Staates bis zur Gründung des Staates Israel 1948 für das Judentum

kennzeichnend blieb. Mit der im Deuteronomium eingeleiteten Säkularisierung der

Staatslegitimation durch die Trennung von Staat und Religion verbunden wird Mose im

Pentateuch als Gegentypus zum altorientalischen Großkönig gezeichnet, wobei jener im

Fortschreibungsprozess des Pentateuch zwar Züge zunächst des assyrischen, dann aber auch

des babylonischen und persischen Großkönigs annimmt, aber konsequent auf die Seite des

Volkes zuletzt in persischer Zeit im Deuteronomium als schriftgelehrter Lehrer tritt25. Zwar

vermittelt Mose bis auf den Dekalog die Gesetzesoffenbarung dem Volk, das aber

unmittelbarer Bundespartner Gottes ist, so dass Mose im Deuteronomium als schriftgelehrter

24 Siehe dazu Jan Assmann, Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München: C. H. Beck1990, S. 201 - 236.25 Siehe dazu Verf., Mose. Geschichte und Legende, Beck’sche Reihe 2400, München: C. H. Beck 2006, S. 27 -75.

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Lehrer dem Volk dienende Funktion hat und im Gegensatz zur altorientalischen Staatsreligion

der Gedanke, nur durch ihn habe das Volk Zugang zu Gott, fern liegt. Damit verbindet sich

nun ein rechtshistorisch wesentlicher Zug jüdischer Religion. Gilt, wie nicht zuletzt am

Prolog und Epilog des „Kodex“ des Königs Hammurapi ablesbar, in Mesopotamien wie in

Ägypten der König als Quelle des Rechts, so zeichnet sich die Hebräische Bibel doch dadurch

aus, dass sie diese Königsfunktion JHWH unmittelbar zuschreibt. Damit wird aber eine

entscheidende Funktion des Staates, die Quelle der Rechtsordnung zu sein, in die Hand der

Kultgemeinde und der in ihr beheimateten priesterlichen Schriftgelehrsamkeit (Ex 4,15;

Dtn 1,5) gelegt26.

III. Säkularisierung und Theologisierung der Ethik in jüdischer Gemeindetheologie

Die Säkularisierung der staatlichen Herrschafterlegitimation führt zu einer neuen

Organisationsform in Gestalt einer Gemeinde27 - ein Prozess, der im vorexilischen

Deuteronomium zunächst als ein theoretischer, mit der Zerstörung des Staates 586 v. Chr.

durch die Babylonier auch im Vollzug zu beobachten ist. Das theologische Programm des

Deuteronomiums setzt bereits in spätvorexilischer Zeit des ausgehenden 7. Jahrhunderts v.

Chr., als der davididische Staat noch existierte, auf eine Integration der

Religionsgemeinschaft nicht durch den König als göttliches Werkzeug und Verkörperung der

Staatsmacht, sondern durch den gemeinsamen Gottesdienst unter Einschluss der Armen in der

Gesellschaft (Dtn 16) an dem einen allen gemeinsamen Heiligtum in Jerusalem (Dtn 12).

Ohne diese bereits in der Theorie im spätvorexilischen Deuteronomium vollzogene Trennung

von Staat und Gemeinde hätte das Judentum die Zerstörung des davididischen Staates durch

die Babylonier nicht überlebt. Noch eine weitere religionshistorische Weichenstellung ist mit

der Säkularisierung des Staates im Deuteronomium und der Trennung von Staat und religiöser

Gemeinde verbunden. Der Anspruch der Alleinverehrung des Gottes wurde noch vor der

26 Zu den unterschiedlichen Formen der Rechtslegitimation in Mesopotamien, Ägypten, Iran und derHebräischen Bibel siehe Verf. Die Rechtshermeneutik des Pentateuch und die achämenidische Rechtsideologiein ihren altorientalischen Kontexten, in: Markus Witte / Marie Theres Fögen (Hg.), Kodifizierung undLegitimierung des Rechts in der Antike und im Alten Orient, Beihefte zur Zeitschrift für Altorientalische undbiblische Rechtsgeschichte 5, Wiesbaden: Harrassowitz 2005, S. 71 - 116, mit weiterer Literatur. ZurRechtsgeschichte der Hebräischen Bibel siehe ders., Recht im antiken Israel, in: Ulrich Manthe (Hg.), DieRechtskulturen der Antike. Vom Alten Orient bis zum römischen Reich, München: C.H. Beck 2003, S. 151-190.27 Der Begriff der „Gemeinde“ wird hier im Sinne Max Webers zur Bezeichnung eines Typus derVergemeinschaftung bzw. Vergesellschaftung verwendet, der sich von dem der verwandtschaftlichenGemeinschaften und dem des politischen Verbandes unterscheidet, so dass Gemeindereligion weder an denAhnenkult gebunden ist noch der sakralen Legitimation von Herrschaft durch den Verbandsgott dient; siehe dazuMax Weber, Religiöse Gemeinschaften (MWG I/22-2) S. 194 - 203.

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Formulierung des Ersten Gebots des Dekalogs erstmals im Deuteronomium im Schma Israel

(„Höre Israel“), dem Bekenntnis zur Einheit und Einzigkeit Gottes in Dtn 6, 4-5, das noch

heute Hauptbestandteil des jüdischen Synagogengottesdienstes ist, auf den Begriff gebracht:

„Höre Israel

JHWH ist unser Gott

JHWH ist einzig.“

So wie im Deuteronomium Staat und religiöse Gemeinde auseinander treten und dieser

Prozess als Säkularisierung zu beschreiben ist, so treten im Alleinverehrungsanspruch JHWHs

als Überwindung eines judäischen Polytheismus auch in Jerusalem Gott und Welt stärker

auseinander. Vermittelt mythische Religion die Komplexität widerstreitender Erfahrungen

wie Leben und Tod, Gelingen und Scheitern von Leben etc. durch die nach menschlicher

Weise handelnden Götter als Repräsentanten dieser Erfahrungen, und bricht diese

metaempirische Vermittlungsweise des Mythos weg, müssen die Vermittlungen

widersprechender Erfahrungen in der Empirie neu gesucht werden. In der Exilszeit wird das

Alleinverehrungsgebot mit der Fortentwicklung zur Theorie des Monotheismus, die die

Existenz anderer Götter bestreitet, noch so verschärft, dass nun Welt zu einer entzauberten,

den göttlichen Mächten entkleidete Welt zum Gegenüber des einen Gottes wird. Dieser Schub

in der Religionsgeschichte Judas im ausgehenden 7. und im 6. Jahrhundert v. Chr. lässt sich

als Prozess der Säkularisierung desWeltverständnisses im Sinne ihrer Entzauberung, wie sie

Max Weber beschrieben hat28, begreifen. Damit verbunden sind nun auch entscheidende

Umbrüche in der Ethik, die als Überwindung magischer Praktiken zugunsten einer

Orientierung des Handelns an verinnerlichten ethischen Normen beschrieben werden können.

Wieder spiegelt bereits das Deuteronomium und dann literarisch fortgeschrieben die

pentateuchische Tora in ihrer Gesamtheit diesen Umbruch wider, wird doch die Gemeinde

verpflichtet, die Gebote und Rechtsvorschriften, die „auf das Herz geschrieben stehen“

(Dtn 6,6) „mit ganzem Herzen und ganzer Seele“ zu halten (Dtn 26,16). Diese sich im

Deuteronomium bündelnden Entwicklungen der Lösung der religiösen Gemeinde vom Staat

verbunden mit einem Durchbruch zur Alleinverehrung des judäischen Gottes in der Gemeinde

und einer Überwindung genealogisch begründeter, in dem Sinne „magischer“ Ethik, dass sie

nicht auf eine ethische Entscheidungskompetenz reflektiert wurde, zugunsten einer

entscheidungsgestützten Verinnerlichung von Handlungsnormen sind nur unzureichend unter

den Begriff der Säkularisierung zu subsumieren, da die sich in diesem Prozess

niederschlagende Tendenz der begrifflichen Trennung von Empirie und metaempirischer

28 Siehe Max Weber, Wirtschaftsgeschichte. Abriss der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Berlin:Duncker & Humblot, 5. Auflage 1991, S. 308 - 309. Siehe dazu auch im folgenden.

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göttlicher Welt nach dem umgekehrten Vorgang der begrifflichen Vermittlung des

Getrennten, von „Gott“ und „Welt“ ruft. Und auch diese einer Säkularisierungstendenz

entgegenlaufende Bewegung der Theologisierung der Ethik spiegelt sich im Deuteronomium

wider, und von da ausgehend in der Offenbarungstheorie des Pentateuch, die mit dem Berg

Sinai und dem Land Moab verbunden wird. Die säkularisierte, d.h. entsakralisierte, im Sinne

Max Webers „entzauberte“ Welt wird dem göttlichen Gestaltungswillen unterworfen, der

durch die Gebotsoffenbarung die „Herzen“ der Gemeindemitglieder in ihrem Handeln bindet,

um die entzauberte Welt insgesamt zu heiligen. Der sozialhistorische Ausgangspunkt dieses

dialektischen Prozesses von Entzauberung und gleichzeitiger Heiligung ist zu umreißen. Die

hebräische Ethik war bis zur assyrischen Krise im 8. und 7. Jahrhundert v. Chr. durch die

Familiengenealogie in dem Sinne strukturiert, dass das Maß der wechselseitig geschuldeten

Solidarität durch das der genealogischen Nähe bestimmt wurde29. Diese Gestalt genealogisch-

familiarer Ethik, in der die Kerngebote des Dekalogs ihren ursprünglichen Ort hatten30, wurde

religiös begründet durch eine Familienreligion in Gestalt des Ahnenkultes, galten doch die

Ahnen als Familienmitglieder, die die Lebenden der Familie unterstützten und dafür von

ihnen auch im Totenreich versorgt wurden. In der assyrischen Krise ließ der judäische König

Hiskia (725 - 697 v. Chr.) in Erwartung eines Angriffs der assyrischen Armee große Teile der

Landbevölkerung in befestigte Städte umsiedeln. Die Folge war nicht nur der Verlust der

Gräber und mit ihnen des Ahnenkultes, sondern auch eine Auflösung der bäuerlichen

Großfamilien. Diese Entwicklung wurde noch durch die assyrische Eroberung Judas, von der

nur Jerusalem verschont blieb, und die Deportation eines nicht geringen Bevölkerungsanteils

verschärft, so dass Jahrzehnte später das Land Juda von Jerusalem aus wieder besiedelt

werden musste31. Das Land aber wurde insofern entsakralisiert, als nach der Zerstörung der

Lokalheiligtümer in Dörfern und Städten durch die Assyrer der Tempel von Jerusalem den

Status des einen allein legitimen Zentralheiligtums erhielt (Dtn 12). Die Autoren des

Deuteronomiums suchten das mit der Entsakralisierung des Landes und der Zerstörung der

familiengestützten Ethik einhergehende ethische Vakuum durch eine Geschwisterethik

aufzufangen, die jeden Judäer und jede Judäerin zu Bruder und Schwester erklärte und ein

Verhalten abverlangte, das bis dahin nur in der Familie, aber nicht jenseits der genealogisch

definierten Familiengrenzen seinen Ort hatte. Das Geschwisterethos wurde insbesondere auf

dem Felde der Ökonomie programmatisch mit dem Verbot, Zinsen zu nehmen (Dtn 23, 20-

29 Zur Geschichte der hebräischen und jüdischen Ethik in der Antike siehe Verf., Theologische Ethik des AltenTestaments, Stuttgart: Kohlhammer 1994.30 Siehe Verf., ebd., S. 32 - 47. 208 - 219.31 Siehe dazu Verf., ebd., S. 180 mit weiterer Literatur.

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21) oder Kredite über das Erlassjahr hinaus zurückzufordern (Dtn 15, 1-11)32. Die

Entsakralisierung des Landes wurde durch eine konsequente Theologisierung der Ethik

aufgefangen, in der die Handlungsleitung der Bindung an die Genealogie und die Magie des

Ahnenkults enthoben und der Bindung an den ethischen Willen JHWHs dem einen Gott

unterstellt wurde. Die deuteronomischen Forderungen von Zinsfreiheit der Kredite, auf deren

Rückzahlung gegebenenfalls zu verzichten sei, hatten einen Vorläufer in dem sozialen Gebot

des literaturhistorisch dem Deuteronomium um einige Jahrzehnte vorausgehenden „Bundes-

buchs“ in Exodus 21 - 23, zu denen auch das Gebot des agrarischen Brachejahres in Exodus

23, 10 - 11 gehörte33. Anders als Max Weber meinte, handelt es sich dabei keineswegs um

einen literaturhistorisch-ethischen späten Eintrag „theologischer Konsequenzmacherei“ in das

Bundesbuch34, sondern um eine religiös motivierte Umgruppierung der Teilbrachen zu einer

Gesamtbrache, deren Eingriff in die Ökonomie ebenso gering ist wie die sozialen

Auswirkungen der Hilfe für die Armen, denen der Wildwuchs zukommen sollte. Tatsächlich

aber wurde selbst dieses von Priestern formulierte Gebot erst ein halbes Jahrtausend später

realisiert, ist doch das erste Brachejahr erst für das Jahr 164/163 v. Chr. dokumentiert. Sehr

viel tiefer in das Wirtschaftsverhalten wollten die das gesamte Kreditwesen als eine Säule der

antiken Ökonomie revolutionierenden Gebote von Zinsfreiheit und Rückzahlungsverzicht im

Deuteronomium eingreifen. Mit der Logik der rentenkapitalistisch strukturierten Ökonomie

Judäas waren diese Forderungen nicht mehr verträglich und wurden ebenfalls bis zur

Kanonisierung des Pentateuch nicht befolgt, um dann um die Zeitenwende durch Einführung

der Institution des Prosbul in Form eines bei Gericht deponierten Verwahrungsscheins, auf

den sich der Schuldenerlass nicht beziehe, außer Kraft gesetzt zu werden35. Konzipierte das

Deuteronomium das Judentum als religiöse Gemeinde, die nicht durch einen religiös

legitimierten Staat, sondern den Gottesdienst am Zentralheiligtum integriert wurde, so

verband sich damit eine Karitätsethik, die aus dem Familienverband entnommen auf die

32 Zur Ethik des Deuteronomiums siehe auch Verf., Gottes Recht als Menschenrecht. Rechts- undliteraturhistorische Studien zum Deuteronomium, Beihefte zur Zeitschrift für Altorientalische und biblischeRechtsgeschichte 2, Wiesbaden: Harrassowitz 2002, S. 92 - 275.33 Zur Literatur- und Rechtsgeschichte der ältesten Rechtssammlung der Hebräischen Bibel, des sog.Bundesbuches aus dem 8. - 7. Jahrhundert v. Chr., das nachexilisch im 5. Jahrhundert v. Chr. zusammen mit demDekalog in Exodus 20 in die Sinaiperikope eingebunden wurde, siehe bereits Max Weber, Das antike Judentum(MWG I/21.1), S. 308 - 334. 417 - 436 sowie Verf., Wandel der Rechtsbegründungen in derGesellschaftsgeschichte des antiken Israel. Eine Rechtsgeschichte des „Bundesbuches“ Ex XX 22 - XXIII 13,Studia Biblica 3, Leiden / New York: E. J. Brill 1988.34 Siehe Max Weber, ebd. S. 310; vgl. auch oben I.35 Der altbabylonischen Institution der vom König durchgeführten „Gerechtigkeitsakte“ des Schuldenerlasses imzweiten Jahrhundert v. Chr. (siehe dazu Fritz Rudolf Kraus, Königliche Verfügungen in altbabylonischer Zeit,Leiden / New York: F. J. Brill 1984) erging es im ersten Jahrtausend v. Chr. entsprechend, da in neuassyrischenDarlehensverträgen eine Klausel aufgenommen werden konnte, dass ein Gerechtigkeitsakt des Königs auf diesenVertrag nicht anwendbar sei; siehe dazu Verf., Soziale Restitution und Vertragsrecht, in: Revue d’Assyriologie92, 1998, S. 125 - 160.

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Gemeinde des jüdischen „Gottesvolkes“ übertragen in Konflikt mit der Logik der am

Gewinnstreben orientierten Ökonomie des antiken Rentenkapitalismus geraten musste und

entsprechend in biblischer Zeit Programm blieb36.

Der Prozess der Gemeindebildung als Teil eines dialektischen Prozesses von Säkularisierung

und Theologisierung lässt sich anhand des Deuteronomiums sehr gut nachvollziehen. Max

Weber sieht in der religiösen Gemeindebildung ein „Produkt der Veralltäglichung“

prophetischen Charismas, „indem entweder der Prophet selbst oder seine Schüler den

Fortbestand der Verkündigung und Gnadenspendung dauernd sichern, daher die ökonomische

Existenz der Gnadenspendung und ihrer Verwaltung dauernd sicherstellen und nun für die

dadurch mit Pflichten Belasteten auch die Rechte monopolisieren“37. Als Paradigma dient

Max Weber die Entstehung der nachexilischen Gemeinde des Judentums als

Transformationsprodukt der vorexilischen Prophetie38. Fast ein Jahrhundert später zeigt sich

die Gemeindebildung nicht als Prozess der Veralltäglichung von Charisma durch die

Institutionalisierung religiöser Funktionen im Verehrerkreis der charismatischen Propheten,

sondern als Ergebnis eines Transformierungsprozesses, in dem die Religion von der Funktion

der religiösen Herrscherlegitimation befreit wird und die religiöse Gemeinschaft als

Gemeinde dem Staat gegenübertritt. Dieser Prozess wurde ziemlich spät vorexilisch im

Deuteronomium programmatisch inauguriert und dann mit der Vernichtung des judäischen

Staates durch die Babylonier in die Tat umgesetzt. Dieser als Säkularisierung zu

beschreibende Vorgang der Lösung der Religion aus der im Alten Orient symbiotischen

Verbindung mit dem Staat wurde begleitet von der Entsakralisierung des Landes durch die

36 Zu den rabbinischen Responsen zum Zinsverbot siehe Eberhard Klingenberg, Das israelitische Zinsverbot inTorah, Mišnah und Talmud, Wiesbaden: Franz Steiner 1977. Zur christlichen Rezeption, die sich schwer tat, diedurch Dtn 23, 20-21 gestellte Frage zu beantworten, wer Bruder und wer Ausländer für den Christen sei, sieheBenjamin N. Nelson, The Idea of Usury. From Tribal Brotherhood to Universal Otherhood, Princeton: PrincetonUniversity Press, 2. Auflage 1969, sowie Verf., Gerechtigkeit und Erbarmen im Recht des Alten Testaments undseiner christlichen Rezeption, in: ders, Kontinuum und Proprium. Studien zur Sozial- und Rechtsgeschichte imAlten Orient und im Alten Testament, Orientalia Biblica et Christiana 8, Wiesbaden: Harrassowitz 1996, S. 342 -357 (wieder abgedruckt in: Jan Assmann u.a. [Hg.], Gerechtigkeit, [München 1998], S. 79 - 95).37 Siehe Max Weber, Religiöse Gemeinschaften (MWG I/22-2), S. 195.38 Siehe Max Weber, Das antike Judentum (MWG I/21-2), S. 675 - 757, sowie die Einleitung undKommentierung zu diesem Text Max Webers, der mit dieser These zur nachexilischen Gemeindebildung von derdamaligen Sicht der protestantischen Alttestamentlichen Wissenschaft, insbesondere Julius Wellhausens(Prolegomena zur Geschichte Israels, Berlin: Georg Reimer, 6. Auflage 1905, S. 420 - 424), abhängig war. JuliusWellhausen sah in der nachexilischen Gemeindebildung als Hierokratie auf der Grundlage der zum Gesetzerhobenen Tora einen Rückschritt gegenüber der ethischen Universalreligion der Propheten: „Von den Prophetenwar der Begriff in das Moralische erhoben worden. Jetzt wird er wieder materialisiert; das Moralische wird zwarnicht abgestreift, aber völlig mit dem Liturgischen vermischt“, so Julius Wellhausen, Israelitische und jüdischeGeschichte, Berlin: Georg Reimer 7. Auflage 1914, S. 168. Von derartigen Werturteilen der AlttestamentlichenWissenschaft, die gleichzeitig solche über das zeitgenössische Judentum waren, hat sich Max Weber stetsferngehalten. Schließlich hat auch Rudolph Sohms These von der Veralltäglichung des christlichen Charisma inder frühkatholischen Kirche Einfluss auf Max Webers Interpretation der jüdischen Gemeindebildung gehabt;siehe dazu Rudolph Sohm, Wesen und Ursprung des Katholizismus, Berlin: Teubner 2. Auflage 1912, S. 55 undöfter.

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Aufhebung der zahlreichen Lokalheiligtümer zugunsten des einen Zentralheiligtums in

Jerusalem, das als Integrationszentrum der Gemeinde fungieren sollte. Diesem

Säkularisierungsprozessen korrespondierte ein gegenläufiger Prozess der Theologisierung der

Ethik, der das entsakralisierte Land pragmatisch vermittelt durch die auf den judäischen Gott

JHWH zurückgeführten Gebote der Herrschaft dieses einen Gottes unterstellte. Die innerhalb

der Gemeinde gültige Ethik aber stand in Spannung zu der in der Gesellschaft gültigen Logik

der Ökonomie, in dem sie im Kreditwesen den Verzicht auf ein Gewinninteresse innerhalb

der Gemeinde verlangte. Für Max Weber war die damit verbundene Differenzierung von

Binnen- und Außenmoral, die eine religiöse Prämierung des Wirtschaftsverhaltens Fremden

gegenüber nicht gekannt habe39, Ausweis des Traditionalismus eines jüdischen Paria-

Kapitalismus, von dem anders als es Werner Sombart vertrat40, kein Weg zur Rationalisierung

des okzidentalen Kapitalismus geführt habe. Wohl aber kam Max Weber im Zuge seiner

Beschäftigung mit dem antiken Judentum zu der Einsicht, dass die Rationalität der Propheten

und der priesterlich-levitischen Rechtskorpora insbesondere des Deuteronomiums durch die

christliche Rezeption in Gestalt der griechischen Übersetzung in Gestalt der Septuaginta im

christlichen Okzident wirksam wurde:

„Wir befinden uns also bei Betrachtung seiner Entwicklungsbedingungen (sc. des Judentums),

ganz abgesehen von der Bedeutung des jüdischen Pariavolkes selbst innerhalb der Wirtschaft

des europäischen Mittelalters und der Neuzeit, vor allem aus Gründen der universal-

historischen Wirkung seiner Religion an einem Angelpunkt der ganzen Kulturentwicklung

des Okzidents und vorderasiatischen Orients. An geschichtlicher Bedeutung kann ihn nur die

Entwicklung der hellenischen Geisteskultur und, für Westeuropa, des römischen Rechts und

der auf den römischen Amtsbegriff fußenden römischen Kirche, dann weiterhin der

mittelalterlich-ständischen Ordnung und schließlich der sie sprengenden, aber ihre

Institutionen fortbildenden Einflüsse auf religiösem Gebiet, also des Protestantismus,

gleichgeordnet werden“41.

39 Die zahlreichen rabbinischen Responsen zum Zinsverbot zeigen, dass mit der Differenzierung von Binnen-und Außenmoral in Dtn 23, 20 - 21 kein Freibrief verantwortungsloser Ausbeutung des Fremden gegeben war.Max Weber ging es mit der Unterscheidung von Binnen- und Außenmoral nicht um Werturteile, sondern um dieFrage der religiösen „Prämierung“ ökonomischen Erfolgs.40 Siehe Werner Sombart, Die Juden und das Wirtschaftleben, Leipzig: Duncker & Humblot 1911. Max Webersharsche Kritik an dieser Monographie zeigen die handschriftlichen Randbemerkungen in seinem ihm vonWerner Sombart zugesandten Handexemplar (siehe Verf., Max Weber [Tübingen 2002], S. 20 - 24) sowie MaxWebers Brief an Werner Sombart vom 2. Dezember 1913, in dem Max Weber versicherte, er halte an dem„‚Judenbuch’, soweit das Religiöse in Betracht kommt, ‚beinahe jedes Wort für falsch’“; siehe Max Weber,Briefe 1913 - 1914 (MWG II/8), S. 414. 41 Siehe Max Weber, Das antike Judentum (MWG I/21.1), S. 243 - 244. Max Weber wendet den Paria-Begriff indem um 1912 verfassten und im Rahmen der Edition in der Max Weber Gesamtausgabe publiziertenDeponatsmanuskript zum antiken Judentum „Ethik und Mythik / rituelle Absonderung“ aus dem Deponat MaxWeber der Bayrischen Staatbibliothek München den Paria-Begriff auf das Judentum erstmals an; siehe MaxWeber, ebd., S. 205 - 206 mit textkritischer Anm. i - i. Mit der kulturhistorischen Interpretation des Judentums

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Das schreibt der Autor der Protestantismus-Kapitalismus-These. Und tatsächlich ist die

Bedeutung der hebräischen Prophetie für die Geschichte des okzidentalen Rationalismus

kaum zu hoch zu bewerten, so dass noch auf die Frage einzugehen ist, welcher Stellenwert der

Prophetie in der Dialektik von Säkularisierung der politischen Theologie und Theologisierung

der Ethik zuzuschreiben ist.

Max Weber verortet die Rationalität der hebräischen Prophetie in der Notwendigkeit,

charismatisch-ekstatische Erlebnisse durch ihre ethische Ausdeutung kommunikabel zu

machen42. Die heutige Prophetenforschung hat weitgehend davon Abstand genommen, in den

Prophetenbüchern der Hebräischen Bibel ekstatische Erlebnisse von historischen

Prophetengestalten als Ausgangspunkt der Prophetensprüche zu suchen, da sich die

Erkenntnis durchgesetzt hat, dass nicht einmal die ipsissima verba der Propheten zugänglich

sind, sondern allenfalls nur literarische Erinnerungen von Schülerkreisen der Propheten, die

Ausgangspunkt für Jahrhunderte währende literarische Fortschreibungen bis in hellenistische

Zeit waren. Das verschriftete Prophetenwort wurde in je neuer historischer Situation ausgelegt

und konnte seinerseits im Zuge der literarischen Neuinterpretation je neue Prophetenworte

hervorbringen. Zunehmend wurde die Prophetenüberlieferung das Werk von Schriftgelehrten,

die sich den Prophetenmantel umwarfen, indem sie die Prophetenbücher fortschrieben: Die

Prophetenworte erhalten ihren Sinn nicht mehr von einer Ursprungssituation, in die sie

hineingesprochen sein sollen, sondern von ihrem literarischen Kontext, in den sie

eingebunden sind. Der rationale Charakter der hebräischen Prophetenliteratur ist also nicht

Ergebnis der sekundären Rationalisierung ekstatischen erlebten Charismas, sondern einer

bereits die Anfänge der Literaturgeschichte der Prophetenbücher in Gestalt prophetischer

Einzelsprüche der Unheilsankündigung kennzeichnende Korrespondenz der am Maßstab des

hebräischen Gerechtigkeitsbegriffs (şedaqa) orientierten Kritik des religiösen und sozialen

Verhaltens im Volk und der aus der Analyse nach der Denkstruktur synthetischer

wehrte Max Weber konsequent eine rassische Interpretation ab, wie sie u.a. von Houston Stewart Chamberlain(Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, München: F. Bruckmann 9. Auflage 1909, S. 323 - 459)vertreten wurde. Zu Max Webers Anwendung des Paria-Begriffs auf das antike Judentum und demzeitgenössischen Kontext der Verwendung dieses Begriffes siehe Verf., Einleitung zu Max Webers antikemJudentum in: M. Weber, Das antike Judentum (MWG I/21.1), S. 66 - 70, sowie ders., Max Weber (Tübingen2002), S. 43-53, 74-78, 264-269 u. ö.42 Max Weber folgt hier insbesondere dem neuromantischen Geist der Propheteninterpretation HermannGunkels, (Die geheimen Erfahrungen der Propheten Israels. Eine religionspsychologische Studie, in: FriedrichDaab / Hans Wegener [Hg.], Das Suchen der Zeit. Blätter deutscher Zukunft, Band I, Gießen: Alfred OskarTöpelmann 1903, S. 112 - 153) sowie der religionspsychologisch konzipierten, von Wilhelm WundtsPhysiologischer Psychologie und Völkerpsychologie beeinflussten Gustav Hölschers Interpretation (DieProfeten. Untersuchungen zur Religionsgeschichte Israels, Leipzig: J. C. Hinrichs’sche Buchhandlung 1914). ZuMax Webers Propheteninterpretation siehe Verf., Die hebräische Prophetie bei Max Weber, Ernst Troeltsch undHermann Cohen. Ein Diskurs im Weltkrieg zur christlich-jüdischen Kultursynthese, in: Wolfgang Schluchter /Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Asketischer Protestantismus und der „Geist“ des modernen Kapitalismus. MaxWeber und Ernst Troeltsch, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 2005, S. 201 - 253.

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Lebensauffassung der Einheit von Tat und Ergehen gezogenen Schlussfolgerung auf das

Unheil, das das Volk treffen werde43. Die hebräische Prophetie unterscheidet sich darin

grundlegend von der hellenischen, die, wie Platon es im Timaios ausdrückt, als „Richten über

gottbegeisterte Weissagungen“ eingesetzt seien und also „Dolmetscher, nicht aber Urheber

eines göttlichen Gesichts oder Wortes“ seien. Die Dunkelheit des Orakelspruchs ist für

griechisches Denken gerade Ausweis seiner Herkunft aus einer meta-empirischen

unbekannten Welt, die Zweideutigkeit - so Giorgio Colli - „eine Anspielung auf den

metaphysischen Bruch“ zwischen einer göttlichen, dem Menschen mehrdeutigen Weisheit

und ihrer Rationalisierung in Worten menschlichen Verstehens44.

Schlussfolgern die Prophetensprüche der Hebräischen Bibel von der empirischen Erfahrung

auf das ihr inhärente Zukunftspotential, so ist für hellenisches Denken die Zukunft nicht

deshalb vorhersehbar, „weil ein kontinuierlicher Zusammenhang zwischen der Gegenwart

und der Zukunft bestünde und irgendwer auf geheimnisvolle Weise imstande wäre, diesen

Notwendigkeitszusammenhang im voraus zu überblicken: sie ist vorhersehbar, weil sie

Reflex, Ausdruck, Manifestation einer göttlichen Wirklichkeit ist“45, die ekstatisch-irrational

in die Welt einbricht46. In der Prophetenliteratur der Hebräischen Bibel sind noch sehr viel

dichter als bereits im Deuteronomium die dialektisch aufeinander bezogenen Bewegungen

erkennbar, so die der Säkularisierung, die die Welt nicht mehr den Mächten des Mythos und

mit ihnen des religiös legitimierten Staates überließ - die scharfe Königskritik der Propheten

brachte diese Differenz deutlich zur Sprache -, gleichzeitig aber der Theologisierung mit der

Begründung der Ethik, die an von Gott gesetzten Maßstäben der Gerechtigkeit orientiert war,

den Zusammenhang von Ethos und Gelingen oder Scheitern des Lebens des Einzelnen wie

43 Wenn die Redaktoren der Prophetensprüche diesen die Formel „so spricht Jahwe“ voranstellen, unterstreichensie diesen Zusammenhang als von Gott garantiert: Das von den Propheten angekündigte Schicksal entsprechedem durch diese Ordnung gesetzten Willen Gottes. Die Alttestamentliche Wissenschaft hat erkannt, dass diebiographischen Daten in den Prophetenbüchern z.T. theologische Konstruktionen späterer Schriftgelehrter sind,die die Prophetentraditionen in den Prophetenbüchern fortschreiben. Es ist an dieser Stelle nur daraufhinzuweisen, dass die historische-kritische nichtmuslimische Erforschung des Koran eben diese Einsichtvollzieht, wenn sie im Gegensatz zu traditioneller Koranexegese die Suren des Koran nicht aus denLebenssituationen des Propheten heraus zu erklären sucht, sondern nach literarischen und religionshistorischenKriterien unabhängig von der Prophetenvita sucht. 44 Siehe Giorgio Colli, Die Geburt der Philosophie, Frankfurt/Main: Europäische Verlagsanstalt 1981, S. 41. Einspektakuläres Beispiel der Dunkelheit der Orakel aufgrund ihrer Mehrdeutigkeit ist das von Herodot (Historien I,87) berichtete delphische Orakel an Krösus, er werde ein großes Reich zerstören, wenn er gegen Kyros denHalys überschreitet. Deutete Krösus dieses Orakel auf seinen Sieg über die Perser, so stellte sich schließlichheraus, dass er sein eigenes Reich zerstörte; siehe dazu Veit Rosenberger, Griechische Orakel. EinKulturgeschichte, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001, S. 160 - 165. Zum Gesamtzu-sammenhang siehe auch Erec Robertson Dodds, Die Griechen und das Irrationale, Darmstadt: WissenschaftlicheBuchgesellschaft 1970, S. 55f. 45 So Giorgio Colli, ebd., S. 43.46 Wie sehr Max Weber mit den Alttestamentlern seiner Zeit die hebräische Prophetie im Horizont derhellenischen interpretierte, wird an seiner intensiven Rezeption der Studie des Gräzisten Erwin Rohde (Psyche.Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen, 2 Bände, Freiburg/Br.: J. C. B. Mohr [Paul Siebeck] ZweiteAuflage 1898) deutlich.

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des Kollektivs aber als göttlich gesetzte Ordnungsstruktur das menschliche Handeln umfassen

ließ. Man mag sich fragen, was die Verfasser der Prophetenbücher zu einer derartigen

rationalen Theologie antrieb, und die Antwort kann nur sein, dass für diese Autoren die

Gerechtigkeit Gottes angesichts der praktizierten Ungerechtigkeit zur Frage geworden war.

Wie im Hoseabuch ablesbar, stellten diese Autoren dort, wo sie die Vernichtungsankündigung

auf die Spitze trieben (Hosea 12) den empirischen Ausgangspunk ihrer Theologie auf den

Kopf zugunsten eines spekulativen Ausgangspunktes bei der Gnade des mitleidend seinen

Zorn überwindenden Gottes (Hosea 11, 1-9)47. Positive Lebensmöglichkeit der jüdischen

Gemeinde sei nur durch die gnädige Zuwendung Jahwes möglich. Diese Umkehr des

Ansatzes der Theologie bei der Empirie zu einem solchen beim spekulativen Gottesbegriff

zeigt sich parallel auch in der Spruchweisheit in der Umkehrung des Ausgangspunktes bei der

Erfahrungsweisheit in Proverbien 10 - 30 zu den bei einem spekulativen Ansatz bei einer

präexistenten Weisheit vor aller Schöpfung in Proverbien 1 - 9 mit Zentrum in Proverbien 848.

Trägerkreise dieser Dialektik von Säkularisierung und Theologisierung in Tora, Prophetie und

Weisheit sind Intellektuellenkreise, die zuerst in der neuassyrischen Krise des 8. und 7.

Jahrhunderts v. Chr. auftraten, aber bis in hellenistische Zeit die Formierung der Hebräischen

Bibel vorantrieben. Die Dialektik von Säkularisierung und Theologisierung ist insbesondere

in der Prophetie durchaus aus dem Prozess des Auszugs der Philosophie aus dem Mythos und

anschließender spekulativer Theologisierung in griechischer Philosophie vergleichbar49. Doch

ist eine entscheidende Differenz festzuhalten: Im Judentum vollzogen sich die dialektisch

aufeinander bezogenen Prozesse von Säkularisierung und Theologisierung innerhalb der

traditionellen jüdischen Religion und wanderten nicht wie die hellenische Philosophie aus der

Religion aus. Der hellenischen Religion fehlte im Gegensatz zur jüdischen eine intellektuelle

Schicht religiöser Spezialisten als Träger der ethischen Rationalisierung der Religion. Die

griechische Religion als Opferreligion erwartete von jedermann nur die Wahrung der

47 Siehe dazu Verf., Ethik (Stuttgart 1994), S. 104 - 111 sowie ders., Die Geburt des moralischen Bewusstseins.Die Ethik der Hebräischen Bibel, in: ders. / Siegbert Uhlig, Bibel und Christentum im Orient, Orientalia Biblicaet Christiana 1, Glückstadt: J. J. Augustin / Wiesbaden: Harrassowitz 1991, S. 9 - 28.48 Zur Geschichte der hebräischen Weisheit in Relation zu der Ägyptens und Mesopotamiens siehe Verf., Ethik(Stuttgart 1994), S. 117 - 175. Die hebräische Weisheit, die im 8. Jahrhundert v. Chr. ihren Ausgangspunkt als Spruchweisheit mit derRezeption von Teilen der ägyptischen Lehre des Amen-em-ope aus dem 9. Jahrhundert v. Chr. genommen hat,rezipiert diese durch die Auflösung der klassischen ägyptischen Lebenslehre durch die als „PersönlicheFrömmigkeit“ gekennzeichnete Lehre konservativ im Sinne einer Weltsicht, wie sie sich in den ägyptischenLehren des 2. Jahrtausends v. Chr. niedergeschlagen hat, um am Ende in hellenistischer Zeit dort anzukommen,wo die ägyptische Weisheit das Amen-em-ope bereits stand.49 Siehe dazu Verf., Recht und Ethos in der ost- und westmediterranen Antike. Entwurf eines Gesamtbildes, in:Markus Witte (Hg.), Gott und Mensch im Dialog. Festschrift für Otto Kaiser zum 80. Geburtstag, Band I,Beihefte zur Zeitschrift für die Alttestamentliche Wissenschaft 345/1, Berlin / New York: de Gruyter 2004, S. 91- 109; ders., Law and Ethics, in: Sarah Iles Johnston (Hg.), Religions of the Ancient World, Harvard UniversityPress Reference Library, Cambridge / Mass.: Harvard University Press 2004, S. 84 - 97.

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Opferpflichten und ließ neben der politischen Führungsschicht, die ihre Leitbilder aus dem

kriegerischen Adelsethos bezog, keine eigenständige intellektuelle Priesterschicht

aufkommen. Im antiken Judentum fand alle Säkularisierung und Aufklärung in den Grenzen

der tradierten Religion statt, was noch, wie an Moses Mendelssohn ablesbar ist50, auch für die

jüdische „Berliner Haskala“ galt51, die darin Züge der deutschen Aufklärung auch in den

Grenzen des protestantischen Christentums im Sinne einer „shared history“ bewahrt hat.

IV. „Zitathaftes Leben“ und Erlösungssehnsucht. Sektenbildung im postbiblischen Judentum

Der jüdische Priester Flavius Josephus, der von den Römern gefangen genommen zum

Schriftsteller in Rom aufstieg und die jüdische Sache in Rom für Nichtjuden plausibilisieren

wollte, sieht im 2. und 1. vorchristlichen Jahrhundert das Judentum in Palästina in drei

„Sekten“ (griech. haireseis) zerfallen, „welche über die menschlichen Verhältnisse ver-

schiedene Lehren aufstellen, und von denen die eine die der Pharisäer, die zweite die der

Sadduzäer und die dritte die der Essener hieß“52. Für die römische Zeit kommt noch als vierte

Gruppierung die der Zeloten sowie die Täufersekte des Johannes und des urgemeindliche

50 Siehe Moses Mendelssohn, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum. Mit dem Vorwort zu Manasseben Israels Rettung der Juden und dem Entwurf zu Jerusalem, Philosophische Bibliothek 565, Hamburg: FelixMeiner 2005. Siehe ebd. S. VII - XLII auch die Einleitung von Michael Albrecht.51 Siehe dazu David Sorkin, Moses Mendelssohn und die theologische Aufklärung, Jüdische Denker 4, Wien:1999, sowie dazu Shmuel Feiner, Eine traumatische Begegnung. Das jüdische Volk in der europäischenModerne, in: Michael Brenner / David N. Meyers (Hg.), Jüdische Geschichtsschreibung heute. Themen -Positionen - Kontroversen, München: C. H. Beck 2002, S. 105 - 122.52 Siehe Josephus, Antiquitates XIII 5.9. Der Begriff der „Sekte“ wird hier im Sinne von Ernst Troeltsch(Soziallehren [Tübingen 1923], S. 362 - 363) gebraucht. Die in unserem Sprachgebrauch pejorativ wertendeKonnotation liegt dort wie auch in diesem Zusammenhang fern. Auch soll der Begriff nicht im Sinne derAbweichung einer Minderheit von einer vorgegebenen Norm einer Mehrheit verwendet sein. Der Gebrauch desSektenbegriffs bei Ernst Troeltsch und Max Weber ist vom umgangssprachlichen Gebrauch weit geschieden.Auf dem Ersten Deutschen Soziologentag in Frankfurt am Main stellte Ernst Troeltsch in seinem Vortrag „Dasstoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturrecht“ seine Typologie von Kirche, Sekte undMystik der „Soziallehren“ zur Diskussion; siehe Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19.- 22. Oktober 1910 in Frankfurt a. M. Reden und Vorträge [...] und Debatten, Tübingen: J. C. B. Mohr (PaulSiebeck) 1911, S. 166 - 192. Mit diesen drei soziologischen Typen seien drei verschiedene regulative Prinzipiender Beziehung der Gläubigen zu den Erfordernissen des natürlichen und sozialen Lebens verbunden. In derKirche herrsche der Kompromiss vor, mit den Gesetzen der Welt zu leben, ohne den Glauben an das ReichGottes aufzugeben, während die Sekte durch Rigorismus, der jeden Kompromiss zwischen Gottesreich und Weltablehne, gekennzeichnet sei. In der Diskussion leitete Ferdinand Tönnies (ebd., S. 192 - 196) den Typus derSekte aus dem Widerstand der Städte gegen die Macht der Kirche ab. Dem widersprach Max Weber (ebd., S.199 - 200) als zu einlinig materialistisch. In der Antike seien Sekten auf dem Lande beheimatet gewesen, imMittelalter auch in der Stadt, doch sei auf deren Boden auch der Kirchengedanke ausgebildet worden. In derStudie zum antiken Judentum (MWG I/21.2, S. 753 - 757) rechnet Max Weber mit einem sozialen Gegensatzvon Stadt- und Landbevölkerung, der der städtischen Sektenbildung Vorschub geleistet habe, da, so in demVorkriegsmanuskript „Ethik und Mythik / rituelle Absonderung“ (ebd., S. 178- 209) und in der Studie „DiePharisäer“ (ebd., S. 777 - 846) die strikte Einhaltung der Reinheitsvorschriften in ländlichem Kontext erschwertgewesen sei.

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Christentum53. Die Gründe für die jüdische Sektenbildung in hellenistischer und römischer

Zeit, aus der auch das Christentum hervorgegangen ist, zu erfragen, ist ein nicht einfaches

Unterfangen, auch wenn die seit 1947 gefundenen Schriftrollen, die um das Scriptorium der

Essener bei Qumran am Toten Meer in den Höhlen vor den Römern versteckt wurden, etwas

mehr Licht in das Dunkel gebracht haben54. Der Prozess der jüdischen Sektenbildung hat

Anteil am zeitgenössischen Zug zur Konventikelbildung, der sich auch in nichtjüdischem

Kontext in der gesamten hellenistisch-römischen Welt zunächst des Orients, dann aber auch

der westmediterranen Antike als religiöse Gegenbewegung gegen eine politische und

kulturelle Universalisierungstendenz beobachten lässt55. Doch zeitgenössische Trends, die die

gesamte hellenistisch-römische Welt ergriffen, erklären noch nicht ausreichend die jüdische

Entwicklung der Sektenbildung, widerspricht sie doch dem für die Religion des antiken

Judentums zentralen Gedanken des Bundes Gottes mit seinem Volk als der einen

Bundesgemeinschaft. Schon der Bundesgedanke wäre ein ausreichendes Motiv gewesen, um

die jüdische Gemeinde als unteilbare Gemeinschaft vom zeitgenössischen Trend der

Sektenbildung abzukoppeln. Max Weber hat zwei Entwicklungen für den Prozess der

jüdischen Sektenbildung verantwortlich gemacht. Einerseits sei des der „Priestermacht“

gelungen, das prophetische Charisma an den Rand des Judentums zu drängen, so dass der

„Betrieb des Sehertums“, so in Gestalt der Apokalyptik, eine Angelegenheit von Sekten und

Mysteriengemeinschaften geworden sei, andererseits habe der soziale Gegensatz von

städtischem Demos von Ackerbürgern, Handwerkern und Händlern einerseits, weltlichen und

priesterlichen landsässigen Geschlechtern andererseits dazu geführt, dass die städtischen

Kleinbürger sich als das erwählte Volk, die Frommen und Armen im Gegensatz zu ihren

Gegnern fühlten56. Dieser notwendige Rekurs auf die Konstellation von Machtinteressen, die

sich der Religion bedienen und sie formen, bleibt in zwei Hinsichten unbefriedigend und rund

einhundert Jahre später vor allem aufgrund der Funde der Qumran-Schriften zu modifizieren.

Zwar setzten, wie jüngere Forschung zur literarischen Interaktion zwischen Pentateuch und

Prophetenschriften zeigt, priesterliche Schriftgelehrte, die die Literaturgeschichte des

Pentateuch in persischer Zeit verantworteten, der prophetischen Tradition von Autoren, die

53 Siehe dazu Gerd Theissen, Der jüdische Jesus, in: ders., Jesus als historische Gestalt. Beiträge zurJesusforschung, Forschungen zu Religion und Literatur des Alten und Neues Testaments 202, Göttingen:Vandenhoeck & Ruprecht 2003, S. 33 - 131. Von diesen innerjüdischen Parteiungen in Palästina sind nochmalsdie Strömungen des Diasporajudentums, insbesondere in Alexandrien, das dort ein Drittel der Bevölkerungausmachte, abzuheben.54 Siehe dazu Hartmut Stegemann, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus, Freiburg / Br.: Herder4. Auflage 1994.55 Demotische Papyri geben einen guten Einblick in diesen Prozess der religiösen Gemeinschaftsbildung in derägyptischen Spätzeit; siehe dazu Françoise de Cenival, Les associations religieuses en Égypte d’après lesdocuments demotiques, Kairo: Institut français d’archéologie orientale du Caire 1972, S. 139 - 213.56 Siehe Max Weber, Das antike Judentum (MWG I/21.2), S. 753 - 757.

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sich ihnen, so im Jeremiabuch, widersetzten, indem sie sich einen Prophetenmantel

umwarfen, ein Ende, so dass die auf Prophetengestalten sich zurückführende Schriftstellerei

in apokalyptische Kreise abgedrängt und nur noch mit dem Danielbuch kanonische

Anerkennung finden konnte. Doch erklärt das noch nicht, wie nun durch die Qumran-

Schriften dokumentiert, es zur Sektenbildung innerhalb der Priesterschaft kommen konnte.

Der äußere Anlass zur Begründung der Sekte der Essener war die Vertreibung des legitimen

Jerusalemer Hohenpriesters durch den Hasmonäer Jonathan 152 v. Chr. Als „Lehrer der

Gerechtigkeit“ versammelte jener eine Schar von Getreuen im Exil um sich, die Zulauf auch

in Palästina gewann und zu einer kräftigen Bewegung anwuchs, die sich vom Jerusalemer

Tempel lossagte und für sich in Anspruch nahm, allein die von der Tora geforderte Reinheit

zu bewahren. Der 1994 veröffentlichte essenische Tora-Midrasch 4QMMT57 bestätigt, dass es

sich dabei um innerpriesterliche Auseinandersetzungen jüdischer Schriftgelehrsamkeit

handelte58, priesterliche Separierungstendenzen aber auf Resonanz seit jenseits der

unmittelbaren Auseinandersetzungen um das Hohepriesteramt und die Reinheitsfrage zur

Mitte des zweiten Jahrhunderts v. Chr. trafen, so dass die essenische Bewegung bis in

römische Zeit sich als separierte Sekte weiter entfalten und ein apokalyptisch-endzeitliches

Selbstverständnis als wahre Gottesgemeinde im bevorstehenden Gottesgericht59 integrieren

konnte. Exklusivität als Gemeinschaft der Vollkommenen, die beansprucht, die Gebote

ritueller Reinheit, die ursprünglich nur den Priestern galten, aber nun auf die gesamte

Gemeinschaft ausgedehnt wurden, einzuhalten, und Glaube an das nahe bevorstehende

Gottesreich, das die Vernichtung der nicht zur Gemeinschaft der Erwählten Gehörigen

bedeuten sollte, waren in der essenischen Sekte eng aufeinander bezogen.

In den Sekten der Essener, Pharisäer und Sadduzäer wurde ein und dieselbe Tora des

Pentateuch mit unterschiedlichen Techniken ausgelegt, die in Wechselwirkung mit

unterschiedlichen Lebensstilen standen. Doch was sie vereint, ist das Bemühen um

Schrifterfüllung durch ein „zitathaftes Leben“ (Thomas Mann)60. Je höher der Grad der

eschatologisch-apokalyptischen Naherwartung der Erlösung in den Sekten war, um so größer

57 Siehe dazu Elisha Qimron / John Strugnell (Hg.), Qumran Cave 4, Band V: Miqsat Ma’a´se ha-Torah,Discoveries in the Judean Desert 10, Oxford: Clarendon Press 1994, S. 109ff. Zur Reinheitsthematik in denQumran-Texten cf. Hannah K. Harrington, The Purity Texts, London: T&T Clark 2004.58 Zum priesterlichen Kontext der jüdischen Schriftgelehrsamkeit siehe Verf., Vom biblischen Hebraismus derpersischen Zeit zum rabbinischen Judaismus in römischer Zeit. Zur Geschichte der spätbiblischen undfrühjüdischen Schriftgelehrsamkeit, in: Zeitschrift für Altorientalische und biblische Rechtsgeschichte 10, 2004,S. 1 - 49.59 Siehe dazu Ernst Troeltsch, Soziallehren (Tübingen 1923), S. 362.60 Siehe dazu Michael Fishbane, Canonical Text, Covenant Communities, and the Patterns of Exegetical Culture,in: A. D. H. Mayes / R. B. Salters (Hg.), Covenant as Context. Essays in Honour of Ernest W. Nicholson,Oxford: University Press 2003, S. 135 - 161. Zur Schriftauslegung in den Qumran-Texten sieheJonathan G. Campbell, The Exegetical Texts, London; T&T Clark 2004.

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war das Maß ihrer Weltindifferenz. Prägnant wird dieser Zusammenhang in der Sekte

Johannes des Täufers, die historisch ursprünglich von der christlichen Urgemeinde

unabhängig war. Die Abgrenzung vom traditionellen Jerusalemer Tempeljudentum wurde in

der Täufer-Sekte durch den Rückzug in die Wüste gesteigert, und die Erwartung des nahen

Gottesgerichts noch durch die Annahme dramatisiert, dass es auch die Frommen betreffen

würde, die sich nicht taufen ließen. Eine letzte Möglichkeit, dem Gericht zu entkommen, sei

die Umkehrtaufe zur Vergebung der Sünden (Markus 1, 4) verbunden mit der Buße als einer

prinzipiellen Abkehr von der dem Gericht verfallenen Welt (Markus 1, 1 - 8; Matthäus 3, 1 -

12; Lukas 3, 1 - 18)61. Die Tendenz der innerjüdischen Abgrenzungen wurde noch dadurch

befördert, dass die jüdische Religion insgesamt auch in Palästina unter dem Kulturdruck des

Hellenismus62, der den Juden als eine die Säkularisierungsprozesse beschleunigende Macht

kultureller Modernisierung begegnete und entsprechende Reaktionen gesteigerten

Theologiebedürfnisses zur Wahrung jüdischer Identität freisetzte. Doch diese Dialektik spielte

sich sehr dissonant ein, da die jüdischen Reaktionen auf den Hellenismus von einer kritischen

Interpretation hellenistischen Denkens im weisheitlichen Buch Qohelet bis zu schroffer

Ablehnung durch die Essener reichte.

Was hat diesen Auflösungsprozess des Judentums in Sekten in hellenistischer und römischer

Zeit verbunden mit einer zunehmenden Indifferenz der vorhandenen Welt gegenüber

zugunsten der Erwartung einer kommenden bewirkt? Alle genannten historischen und sozial-

historischen Gründe haben dazu beigetragen, doch ausreichende Erklärung vermögen sie nicht

zu sein. Die die jüdische Religionsgeschichte auf ihrem Weg durch die Jahrhunderte

kennzeichnende Dialektik von Säkularisierung des Weltverständnisses und Theologisierung

der Ethik entfaltete hier ihre Kraft und offenbarte ihre Aporien. Der im 6. Jahrhundert v. Chr.

zum Durchbruch gelangte Monotheismus gab dem bereits seit dem 7. Jahrhundert v. Chr. in

Gang gebrachten Prozess der Entzauberung und Entsakralisierung der äußeren Lebenswelt

einen kräftigen Schub, der sich seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. bis in römische Zeit durchhielt.

Der „Entzauberung“ der Lebenswelt antwortete eine ethische Theologisierung, die die

säkularisierte äußere Lebenswelt als Feld der pragmatischen Gestaltung nach den Geboten

Gottes begriff. Voraussetzung aber der Ethik in dieser Gestalt war der Gedanke, dass der

handelnde Mensch ebenso wie seine äußere Lebenswelt als Handlungsfelder unter der

ordnenden Herrschaft des Gottes JHWH als des Schöpfergottes von Himmel und Erde

(Gen 1-3) stand, Tat und Ergehen also eine Einheit derart bilden sollten, dass gutes Handeln

61 Siehe dazu prägnant zusammenfassend Jürgen Roloff, Jesus, Beck’sche Reihe 2142, München: C. H. Beckdritte Auflage 2004, S. 60 - 104. 62 Siehe dazu Martin Hengel, Judentum und Hellenismus, Wissenschaftliche Untersuchungen zum NeuenTestament 10, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 2. Auflage 1973, S. 108 - 195.

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der Norm dieses Gottes gemäß auch zu einem gelingenden Leben führe. Da die

Lebenserfahrung aber diese Erwartung nicht einlösen konnte, wurde diese in prophetischen

Kreisen in die Zukunft eines neuen schöpferischen Eingreifen Gottes projiziert und die

Hoffnung auf Erlösung aus der hiesigen Welt geweckt63. Je stärker aber religiöse Idee der von

Gott geordneten Lebenswelten und Erfahrung gerade im 2. Jahrhundert v. Chr. im

Überlebenskampf des jüdischen Volkes und seiner Religion in den Makkabäerkriegen

auseinander traten, umso hochgespannter wurden die Hoffnungen auf erlösendes Eingreifen

Gottes und mit ihr eine zunehmende Indifferenz ja Feindseligkeit den bestehenden Lebens-

welten gegenüber populär. Das aber beförderte Prozesse der Abgrenzung auch vom

traditionellen Religionsbetrieb verbunden mit Neudefinitionen wahrer Frömmigkeit und

Gesetzestreue, die eigene Regeln der Schriftauslegung und damit in Wechselbeziehung

stehender Lebenstile fand, um sich von denen anderer abzugrenzen64. Vermochte das

traditionelle Religionssystem seinem Anspruch widersprechende Erfahrungen der Not wie die

der Makkabäerkriege im 2. Jahrhundert v. Chr. nicht mehr zu integrieren, so radikalisierte

sich das Religionssystem in der Spannung zwischen Idee und empirischer Erfahrung

zugunsten der Erlösungshoffnung und zertrümmerte doch gleichzeitig seine soziale Gestalt

und zerfasert in sich widerstreitende Sekten, denen nur die wenn auch hermeneutisch

differenzierte Bindung an die eine Tora, den Pentateuch, gemeinsam blieb, die aber angesichts

widerstreitender Auslegungsweisen kein Band der Einheit als Bundesvolk mehr zu geben

vermochte. Das leisteten erst die Katastrophen der Jüdischen Kriege des 1. und

2. Jahrhunderts n. Chr., die zu einer Rückbesinnung und Konzentration auf die im Ursprung

63 Im Gegensatz zur ägyptischen Religion, die im zweiten Jahrtausend v. Chr. die Spannung zwischen religiöserTheorie und faktischer Lebenserfahrung durch die Ausdehnung der Theorie des Zusammenhangs von Tat undErgehen auf die jenseitige Welt des Totenreichs zu vermitteln suchte, hatte die Hebräische Bibel erst an ihremKanonsrand in Daniel 12 im zweiten Jahrhundert v. Chr. in der Not der Makkabäerkriege die Idee derAuferstehung rezipiert. So lastete auf der antiken jüdischen Religion ein erheblicher Druck, da eine Vermittlungvon Idee und Erfahrung innerweltlich nicht gelingen konnte. Das nachbiblische Judentum hat diesen Bruchdadurch zu mindern gewusst, dass zwar die apokalyptische Naherwartung zurückgedrängt, dieAuferstehungshoffnung aber sich durchsetzte. 64 Das Bild jüdischer Lebensstile, die sich auf die ihnen jeweils zugrundeliegenden unterschiedlichen Stile undTechniken der Schriftauslegung berufen, werden noch erheblich vielfältiger, wenn das Diasporajudentum inSyrien, Mesopotamien, Kleinasien, Griechenland, Italien und vor allem Ägypten mit Zentrum in Alexandrieneinbezogen wird. Autoren des hellenistischen Judentums standen in besonderer Weise vor der Aufgabe,angesichts des Modernisierungs- und Rationalisierungsschubs, der durch die hellenistische Philosophie alsAntrieb auf den Begriff gebracht wurde, Abgrenzungen der Identitäswahrungen und gleichzeitig Assimilation inkulturhistorisch fremder Umwelt zu leisten. Hellenistisch-jüdische Autoren gingen defensiv durch Sicherung,Interpretation, Verteidigung und Aktualisierung der biblischen Traditionsbestände vor und gleichzeitig offensivdurch den Aufweis der sittlichen, religiösen und kulturellen Überlegenheit ihrer Tradition über die hellenischeund hellenistische Philosophie, die auf jüdische Vorgaben, so die gesamte hellenistische Paideia auf Mose alsLehrer der hellenischen Philosophen und seine Tora zurückgeführt wurden. Siehe dazu Reinhard Weber, DasGesetz im hellenistischen Judentum. Studien zum Verständnis und zur Funktion der Thora von Demetrios bisPseudo-Phoklides, Arbeiten zur Religion und Geschichte des Urchristentums 10, Frankfurt / Main: Peter Lang2000.

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priesterliche Toraexegese in der Halacha65 und damit die Aussonderung der apokalyptischen

Sekten führten66.

V. Ausblick auf das moderne Judentum im Staat Israel

In der jüngsten Geschichte des Judentums seit 1948 im Staat Israel sind zahlreiche Motive der

tief gestaffelten jüdischen Religionsgeschichte, die bis in die Antike zurückzuverfolgen sind,

subkutan im säkularisierten Gewande wirksam. Der israelische Historiker Amnon Raz-

Krakotzkin67 hat darauf hingewiesen, dass die moderne nationale jüdische

Geschichtsschreibung in Israel ein Narrativ der „Negation des Exils“, d.h. des

Diasporajudentums fördere, d.h. eines Bewusstseins, „dass in der gegenwärtigen jüdischen

Besiedlung Palästinas und der Souveränität über Palästina die ‚Rückkehr’ der Juden in ein

Land erblickt, das als ihre Heimat angesehen wird und vor ihrer Rückkehr menschenleer

gewesen sein soll. ‚Negation’ des Exils schien der Höhepunkt jüdischer Geschichte und die

Verwirklichung lange gehegter Erlösungserwartungen zu sein“68. Der Historiker des antiken

Judentums sieht die Parallelität mit der jüdischen Verarbeitung des „Exils“ von 586 - 539 v.

Chr. Obwohl nur eine kleine Schar der jüdischen Oberschicht exiliert wurde, die Bevölkerung

aber ansonsten im Land verblieb, gelang es den Exilierten, zu denen die priesterlich-

intelektuellen Literaten gehörten, im prophetischen und chronistischen Schrifttum der

nachexilischen Zeit eine Sicht durchzusetzen, dass während des Exils das Land leer gewesen

sei, die Geschichte „Israels“ also nach dem Exil die einer Neubesiedlung durch die Exilierten

gewesen sei. Der Unterschied zwischen der damaligen und der heutigen Geschichtsschreibung

besteht nur darin, dass das Motiv des „leeren Landes“ in moderner jüdischer

Geschichtsinterpretation auf zionistischem Hintergrund des expliziten religiösen Arguments,

JHWH, der Gott Israels habe sein Volk aus dem Lande führen lassen und wieder zurück

gebracht, entkleidet wird. Die an die Erzväter ergangenen göttlichen Landverheißungen im

65 Siehe Verf., Schriftgelehrsamkeit (ZAR 10), S. 39ff. mit weiterer Literatur.66 Im frühen Christentum lebte dagegen die apokalyptische Theologie, die schon Jesus leitete (Lukas 10, 18), fortund wurde erst durch die Integration des Naturrechts endgültig überwunden. 67 Siehe Amnon Raz-Krakotzkin, Geschichte, Nationalismus, Eingedenken, in: Michael Brenner / David N.Meyers (Hg.), Jüdische Geschichtsschreibung (München 2002), S. 181 - 206.68 Siehe Amnon Raz-Krakotzkin, ebd., S. 186. Es ist schon paradox, dass 150 Jahre zuvor Heinrich Graetz denchristlichen Historikern den Vorwurf nicht ersparen konnte, 1200 Jahre jüdischer Diasporageschichte, die vongroßer theoretischer, wissenschaftlicher und philosophischer Kreativität gewesen sei (siehe dazu HeinrichGraetz, Geschichte der Juden von der ältesten Zeit bis auf die Gegenwart, Bd IV, Leipzig: Oskar Leiner 4.Auflage 1908, S. 4 - 5), ins Grab herabgelassen und der jüdischen Geschichte den Totenschein ausgestellt habe;siehe Heinrich Graetz, Die Konstruktion der jüdischen Geschichte (1864), hg. von Nils Römer, Düsseldorf:ParErga 2000, S. 42

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Pentateuch ebenso wie die Rückkehrverheißungen in den deuterojesajanischen Kapitel Jesaia

40 - 55, die die triumphale Rückkehr des jüdischen Volkes aus dem Exil in das einstmals

verheißene Land ankündigen, sind im Zionismus ihres göttlichen Ursprungs entkleidet und in

säkulare Form gegossen nationalisiert worden69: „Gott war aus dem Diskurs ausgeschlossen,

aber sein Wort, die göttliche Verheißung, wies der politischen Betätigung weiterhin den Weg

und diente als Quelle der Legitimierung für den Prozess der Kolonisierung, die als Erfüllung

der biblischen Verheißung und der jüdischen Gebete aller Zeiten aufgefasst werden“70.

Traditionelle jüdische Religion wie die des Christentums war seit der frühen Neuzeit nicht

mehr in der Lage, die in den Religionen verkündeten Heilversprechungen vor Enttäuschungen

durch die ihnen widersprechenden konkreten Lebenserfahrungen der Menschen zu schützen

und abzuschirmen71. Beide Religionen wurden als Folge in einer „shared history“ der

Aufklärung, die mit einem kräftigen Säkularisierungsschub in beiden Religionen einherging72,

unterzogen, der sich in jüdischer Gestalt vor allem als Assimilation an die westeuropäische

Moderne niederschlug73. Dieser Weg ist durch das Schicksal des europäischen Judentums im

19. und vor allem 20. Jahrhundert in Frage gestellt. Ungeachtet der die zionistische Bewegung

von ihren Anfängen an kennzeichnenden, die israelische Politik noch heute bestimmenden

Auseinandersetzungen zwischen sozialistisch-säkularen und national-religiösen Zionisten war

die zionistische Idee insgesamt eine Säkularisierungsbewegung religiöser Hoffnung auf eine

jüdische Wiedergeburt, die, so wird es vom traditionellem Judentum vertreten, Werk Gottes

sein sollte. Die Säkularisierung musste zu einem Konflikt zwischen religiöser und nationaler

Idee oder zu einem Substanzverlust der religiösen Idee führen. Max Weber, so haben wir

gesehen, hat dies hellsichtig schon 1913 ausgesprochen74. Doch wie nicht anders zu erwarten,

verbindet sich mit der Säkularisierung wie bereits in der Antike wieder eine Bewegung der

Theologisierung.

„Ich habe mir gesagt: Wenn er (sc. Gott) will, werde ich ihn rächen, [...] wenn die Tora

gebietet, etwas zu tun, was einem widerstrebt, dann tut man es trotzdem. […] Ich sehe die

69 Siehe dazu Michael Wolffsohn, Wem gehört das Heilige Land. Die Wurzeln des Streits zwischen Juden undArabern, München: Piper 2002.70 Siehe Amnon Raz-Krakotzkin, ebd., S. 187.71 Siehe dazu Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt / Main: Suhrkamp 1966.72 Zu der zunehmenden Zahl jüdischer Studien der jüngsten Zeit, die Judentum und Christentum als Religionenin einem gemeinsamen diskursiven Rahmen verstehen, siehe Shmuel Feiner, Traumatische Begegnung(München 2002), S. 105 - 112.73 Siehe dazu paradigmatisch Michael Brenner, Warum München nicht zur Hauptstadt des Zionismus wurde -Jüdische Religion und Politik um die Jahrhundertwende, in: ders. / Yfaat Weiss (Hg.), Zionistische Utopie -israelische Realität. Religion und Nation in Israel, Beck’sche Reihe 1339, München: C. H. Beck 1999, S. 39 -52.74 Doch wie die Revitalisierung der Sprache des Hebräischen zeigt, die bereits in persischer Zeit vomAramäischen als Alltagssprache verdrängt zu einer heiligen Sprache wurde, wurde auch Sakrales im Zionismusnur profan verhüllt. Für das traditionelle Judentum war das Wiedererwachen des Hebräischen an diemessianische Zeit als Ende der Geschichte gebunden.

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Lage in Israel als Kulturkampf zwischen zwei Parteien: der atheistischen, extremen Linken,

die dem Volk Brot und Spiele verspricht, und der religiösen Rechten“75.

Mit diesen Worten rechtfertigte der fundamentalistische Attentäter Jigal Amir die Ermordung

des israelischen Premierministers Jishaq Rabin. In den Konflikten der Stadt Jerusalem als

Heilige Stadt dreier Weltreligionen kehren aller Säkularisierung zum Trotz jahrhundertealte

religiöse Konflikte wieder76. Die Grenze zwischen Religion und Staat bleibt in Israel unscharf

und Quelle der Konflikte. Die bereits im 7. Jahrhundert v. Chr. eingeleitete Lösung der

Religion vom Staat bildet den historisch tief gestaffelten Hintergrund dieser Konflikte. Und

wie auf dem Hintergrund der Ereignisse in der Antike kaum anders zu erwarten, nimmt mit

der Gegenbewegung der Theologisierung auch die Sektenbildung zu. Die Gruppierungen der

Rabbiner Schach und Hirsch, letzterer extrem antizionistisch, jener aber ein „nachhelfender

Aktivist“ im Lager der Fundamentalisten, die das Eingreifen Gottes beschleunigen wollen,

stehen für diese Entwicklung. Suchen wir zu erfassen, was Säkularisierungsprozesse in der

Antike mit denen in der Moderne verbindet, so sind es Enttäuschungen, die durch die Defizite

des jeweils Religionssystems ausgelöst wurden. Angesichts der Gewaltunterworfenheit unter

die religiös legitimierte Staatsmacht des neuassyrischen Reiches wurde auch die judäische

Staatsideologie, die ebenfalls die davidischen Machthaber, wie die Königspsalmen, so u.a.

Psalm 2, zeigen, religiös legitimierte, der Kritik unterzogen, und die Religion von der

Funktion der Herrscherlegitimation gelöst. Der Druck durch äußere Ereignisse, auf die das

Religionssystem keine adäquate Antwort geben konnte, führte, wie bis in die römische Zeit

nachvollziehbar, jeweils zum Umbau des Religionssystems, der die durch die Säkularisierung

gerissene Lücke wieder schloss. Dies lässt sich besonders eindringlich in der

Universalisierung des Bruderethos nach dem Zusammenbruch familiarer Ethik oder in der

Universalisierung der Erlösungshoffnung in der Apokalyptik beobachten. Die

Theologisierungsprozesse als Reaktion auf die der Säkularisierung sind als Prozesse der

Transzendierung des Gottesbegriffs, der verstärkt der empirischen Erfahrung entgegengesetzt

wird77, sowie der daraus resultierenden Universalisierung und Verinnerlichung der Ethik zu

beschreiben. Die Ethik der Hebräischen Bibel zeigt sehr eindringlich, wie auf die soziale

Ausdifferenzierung der Gesellschaft in arme und reiche Schichten eine theologisch

75 Zitiert nach Shmuel Feiner, ebd., S. 105.76 Siehe dazu Verf., Jerusalem. Die Geschichte der Heiligen Stadt bis zur Kreuzfahrerzeit, Urban-Reihe 308,Stuttgart: Kohlhammer 1980, sowie Gershom Shaked, Jerusalem in der hebräischen Literatur: Himmlische undirdische Stadt, in: Michael Brenner / Yfaat Weiss (Hg.), Zionistische Utopie (München 1999), S. 102 - 122.77 Schon in der Antike zeigt die Vermeidung des jüdischen Gottesnamens die Tendenz zur Transzendierung desGottesbegriffs. Wenn Moses Maimonides (1135 - 1204) versuchte, das mosaische Gesetz aus der Vernunftabzuleiten, so stand dieser die Idee der sittlichen Autonomie der Vernunft in der Aufklärung vorwegnehmendeGedanke einer Säkularisierung theonomer Ethik im Dienste der Wahrung der Transzendenz des jüdischenGottes.

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begründete Sozialethik der Verantwortung für die Schwachen in der Gesellschaft reagiert, um

so ideell den Zusammenhalt der auseinanderdriftenden Gesellschaft zu gewährleisten. Die

Theologisierung kann aber auch regredierend ausfallen, wie jüngste Fundamentalismen

weltweit zeigen, einen Umbau des Religionssystems, der die Säkularisierung als positive

Herausforderung zur Modernisierung der Religion begreift, verweigert und auf

religionshistorisch bereits längst überwundene Muster zurückfällt, letztlich aber

kulturhistorisch isoliert und ins Sektierertum abgleitend die säkularisierte Welt sich selbst

überlässt oder terroristisch zu beherrschen sucht. Erst wenn so die Dialektik von

Säkularisierung und Theologisierung stillgestellt sein sollte, wird die Säkularisierung zu

einem einseitigen Prozess des Bedeutungsverlustes der Religion in der Gesellschaft. Doch -

und damit möchte ich diesen Beitrag zusammenfassen - ist es nicht zu erwarten, dass diese

Dialektik je endet. Sie in den Quellen des antiken Judentums gleichermaßen zu konstatieren

wie in der Moderne selbst dort, wo diese den Sonderweg des okzidentalen Rationalismus der

europäischen Kernländer geht, der schon für den nordamerikanischen Kontinent ebenso wenig

Vorbild ist wie für die afrikanischen und asiatischen Kontinente, zeigt ihre

universalhistorische Bedeutung. Prozesse der Säkularisierung in dem hier gebrauchten Sinne

der Legitimationsthematik von Herrschaft, Recht und Ethos sind begleitet von solchen der

Theologisierung an anderer Stelle. Was zu beobachten ist in der Antike wie in der Moderne

sind nur jeweils Verschiebungen in ein und demselben Religionssystem. Es handelt sich also

um ein universalhistorisch wirksames Gesetz der Religionsgeschichte, die in diesem Sinne

keinen Fortschritt kennt. So macht es denn auch keinen Unterschied, ob man meint, einem

aufsteigenden oder absteigenden Ast der Religionsgeschichte anzugehören78. Dass aber nicht

alle Religionen gleich sind in der Ausgestaltung der Dialektik von Säkularisierung und

Theologisierung, soll auch gelten. Es sei gestattet, auf einen wesentlichen Unterschied

zwischen Christentum und Judentum hinzuweisen, der das Judentum in besonderer Weise in

einem besten Sinne des Wortes resistent gegen Säkularisierungsprozesse sein lässt und damit

auch gegen überspitzte Theologisierungsprozesse. Stärker als das Christentum gibt es im

Judentum einen Kern der messianischen Unangepasstheit an die alltägliche Lebenswelt, der

gegen alle Kompromisse zwischen transzendentem Gott und Welt resistent sein wird79. Die

Gründe dafür sind einerseits historischer Natur. Das Judentum hat im Gegensatz zum

78 Siehe Ernst Troeltsch, Historismus (Gesammelte Schriften III), S. IX; siehe dazu auch Ferdinand S. Tönnies,Troeltsch und die Philosophie der Geschichte, in: ders., Soziologische Studien und Kritiken. Zweite Sammlung,Jena: Gustav Fischer 1926, (S. 381 - 429) 429.79 Noch in extrem säkularisierter Gestalt in der Philosophie des jüdischen Denkers Ernst Bloch schlägt dieserKern utopisch-messianischer Unangepasstheit durch; siehe dazu Ulrich Sieg, Jüdische Intellektuelle im ErstenWeltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Berlin: Akademie Verlag2001, 274ff. zu „Geschichtsverzweiflung und jüdischem Messianismus“.

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Christentum keine konstantinische Wende vollzogen und dies nicht nur aufgrund der

Diasporasituation im Römischen Reich, sondern vor allem, so haben wir anhand des

Deuteronomiums (Dtn 13) gezeigt, weil es eine „Sünde wider den Geist“ der Hebräischen

Bibel wäre. Das Judentum hat, anders als das Christentum, aus eben diesem Grund auch das

antike Naturrecht in seinen unterschiedlichen Ausprägungen nicht rezipiert80. Schließlich

bewahrt das Judentum eine strukturelle Weltdifferenz, die aber nicht zu einer Weltindifferenz

umschlägt, sondern zu aktiver Weltgestaltung nach dem Willen Gottes. Das Christentum

vermittelt Gott und Welt von seinen Anfängen an christologisch durch den Gedanken, dass in

Jesus Christus Gott in diese Welt gekommen sei als ihr Erlöser. Es führt weit über den durch

diesen Beitrag gesetzten Rahmen hinaus, die Frage zu stellen und gar einer Antwort näher zu

kommen, ob das Christentum im Gegensatz zum Judentum in seiner Struktur den Keim zur

Säkularisierung in sich hat, am Ende gar zu seiner Selbstaufhebung81. Doch auch im

Christentum gilt, dass die Dialektik von Säkularisierung und Theologisierung nicht

stillgestellt werden wird.

80 Die sophokleische Überordnung der „ungeschriebenen Gottgebote, die wandellosen, die nicht von heute oder gestern stammen“ (Antigone, V. 471-473) über das positive Recht führt dagegen zur Theorie eines Naturrechts, die im Deuteronomium durch die Einbindung in eine an Mose als Prophet gebundene Offenbarungstheorie verhindert wurde. 81 Friedrich Gogartens Unterscheidung von Säkularismus und Säkularisierung bleibt nach wie vor so hilfreich, dasie die theologisch positiven Aspekte der „Entzauberung“ traditionellen Weltverständnisses von Formen der fehlgeleiteten Religionsvernichtung abgrenzt. Siehe dazu Friedrich Gogarten, Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit. Die Säkularisierung als theologisches Problem, Stuttgart: Friedrich Vorwerk, zweite Auflage 1958, S. 85ff.

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