Post on 02-May-2023
Universität Osnabrück
Fachbereich 3: Erziehungs – und Kulturwissenschaften
Seminar im Fach „Vertiefungsmodul: Falsafa, Aḫlāq und
Taṣawwuf“
Dr. Merdan Günes
WS 2014/2015
Spirituelle Erziehungsmethoden (tarbīya) und
Andachten (ḏikr) der
Naqšibandīya Muǧaddidīya
Ausarbeitung
Vorgelegt von Muhammed F. Bayraktar
Matr.-Nr. 950788
Email: muhammedfb@gmail.com
Islamische Theologie, B.A.
5. Semester
2
23.04.2015
Inhalt
1. Einleitung ................................................................................ 4
2. Schlüsselfiguren der Naqšibandīya ..................................... 7
3. Die Laṭāʾif ............................................................................... 12
4. Der Pfad durch den Kosmos................................................ 17
5. Der Eintritt in den Pfad: Der Treueeid .............................. 23
6. Gesellschaft des Scheichs und Rābiṭa ................................ 26
7. Ḏikr - Gottgedenken ............................................................. 28
8. Die Murāqaba (Kontemplation) .......................................... 32
9. Unterschiede zu anderen Ṭuruq ......................................... 36
10. Fazit .................................................................................... 39
11. Literaturverzeichnis ........................................................ 42
3
ن اعوذ ما هللا يطانا با يا الش جا الر
انا ح الر باسماهللاا حيا الر
ربا الحمد ي هللا العالما
الة الم والص ن عل والس يا دا د س محم ي وآ لا آجعا
يعالعلاي ما كآنتالس نناا ناتقبلما رب
(١٢٧)البقرة:
4
1. Einleitung
In dieser Arbeit wird die Erziehungsmethodik eines der wohl
bekanntesten und am meisten verbreiteten Sufi Orden im
persischen und türkischsprachigen Raum beleuchtet, nämlich
die der Naqšibandīya-muǧaddidīya, deren Ideenvater Scheich
Aḥmad Fārūq al-Sirhindī ist.1 Der Orden ist einer der
lebendigsten und aktivsten Orden im indischen Subkontinent
und beeinflusste viele moderne Schulen und Strömungen,
darunter die Deobandis und Baralwis, aber auch in den
türkischsprachigen Gebieten und dem Levante ist ein großer
Einfluss zu verzeichnen. In der heutigen Türkei sind zwei der
1 Dina Le Gall, Forgotten Naqshbandīs and the Culture of Pre-Modern Sufi Brotherhoods, in Studia Islamica, Nr. 97, 2003, Hrsg. Maisonneuve & Larose, S. 87. In dieser vorliegenden Arbeit wird fortan der Begriff Naqšibandīya zur Vereinfachung als Synonym für Naqšibandīya-muǧaddidīya verwendet.
5
bekanntesten Sufiorden, die „Menzil“ in Adiyaman, deren
Oberhaupt Scheich Abdülbaki Erol ist, sowie die Gemeinschaft
um die Moschee Ismail Ağa, deren Oberhaupt Scheich
Mahmud Ustaosmanoğlu ist, Angehörige des Naqšibandī-
ḫālidīya Ordens. Trotz dessen dieser Orden sich nach Mawlānā
Ḫālid al-Baġdādī bezeichnet, weicht der Orden nicht groß von
seinem Ursprung, der Muǧaddidīya, in Theorie und Praxis ab.
Auch der in Deutschland Fuß gefasste Verein VIKZ bildet in
ihren inneren Kreisen einen Ṣufiorden, der auf Scheich Aḥmad
Sirhindi zurückgeht und durch Süleyman Hilmi Tunahan geht.
So ist ersichtlich, dass das in dieser Arbeit behandelte Thema
kein rein historisches Thema ohne gegenwärtigen Bezug ist,
sondern für viele Menschen immer noch eine gelebte Realität
darstellt, welche die in dieser Arbeit erörterten Praktiken
umsetzen.2
2 Siehe auch von Dr. Ken Lizzio, Ritual and Charisma in Naqshbandi Sufi Mysticism, veröffentlich auf www.anpere.net, 2007. Online unter: http://www.anpere.net/2007/3.pdf (letzter Zugriff: 9.5.2015). Lizzio verbrachte fast ein Jahr in Afghanistan in einem Sufikonvent der Naqšibandis und beschreibt dort die Erfahrungen
6
So soll zuerst ein kurzer historischer Abriss des Ordens
gegeben und die wichtigsten Schlüsselfiguren erwähnt
werden. Danach wird die für die spirituelle Entwicklung
zentrale Theorie der Laṭāʾif (Weichpunkte) innerhalb der
Naqšibandīya genauer beleuchtet und die Kosmologie, die
hauptsächlich auf Ibn ʿArabī basiert, dargestellt. Sodann wird
die Rolle des Scheichs, das Initiationsritual und der Treueeid
(bayʿa) behandelt. Daraufhin werden die vier wichtigsten
Praktiken der Naqšibandīya, nämlich die Begleitung des
Scheichs (ṣuḥba), die spirituelle, liebevolle Verbindung zum
Scheich (rābiṭa), die aufgetragene Litanei (wird) und die
Kontemplation (murāqaba) erörtert. Letztlich sollen
Differenzen zu den anderen Sufi Orden hinsichtlich deren
Praktiken, Methoden, Haltungen und Ansichten dargestellt
werden.
und Erlebnisse der Mitglieder, welche oftmals extreme physische Auswirkungen auf die Schüler zu haben scheinen.
7
2. Schlüsselfiguren der Naqšibandīya
Die Naqšibandīya beruft sich auf den Prophetengefährten
Sayyidunā Abū Bakr radīyallāhu ʿanh, und behauptet eine
spirituelle Verbindung zu ihm, welcher der erste Kalif und
nach sunnitischer Theologie der beste Mensch nach allen
Propheten ist.3 Diese Verbindung ist für die Naqšibandīya von
besonderer Bedeutung und auch ein Zeichen für ihre eigene
Sonderstellung, da alle anderen Wege sich auf den Cousin und
Schwiegersohn des Propheten, ʿAlī b. Abī Ṭālib zurückführen.4
Eine weitere wichtige Persönlichkeit stellt Ḫawāǧa ʿAbd al-
Ḫāliq al-Ġuǧduwānī (gest. 615/1218) dar, welcher die Kalimāt
al-qudsīya formulierte, die acht Maximen des Pfades und von
dem berichtet wird, er habe die Form der Litanei des Lā ilāha
ill Allāh mit den Atemübungen, die weiter unten in dieser
3 Vgl. Hamid Algar, Nakşibendîlik, Istanbul, 2013, S. 16ff; Arthur F. Buehler, Sufi Heirs of the Prophet, Columbia, 1998, S. 90. 4 Vgl. ebd..
8
Arbeit behandelt wird, von Ḫiḍr erhalten.5 Später tritt die
wichtigste Persönlichkeit auf, welche der Namensgeber des
Pfades ist. Bis zu ihm wurde der Pfad „Ḫawaǧaġan“ genannt,
der Weg der Meister.6 Die Rede ist von Mawlānā Muḥammad
Bahā al-dīn al-Buḫārī Šāh al-Naqšiband (718/1318 – 789/1389),
der in einem Dorf in der Nähe Bukharas im heutigen
Usbekistan, geboren wurde.7 Muḥammad Bahā al-Dīn war ein
Schüler des Amīr Kulāl, doch eigener Erzählung nach, wurde
er hauptsächlich von der spirituellen Realität des ʿAbd al-
Ḫāliq al-Ġuǧduwānī erzogen, der ihm im Traum und auch im
Wachzustand erschien.8 Al-Ġuǧduwānī lehrte ihm den
„leisen/verborgenen Ḏikr“ und verbot ihm den lauten Ḏikr,
den sein Lehrer Amīr Kulāl praktizierte. Hamid Algar weist
daraufhin, dass die Stellung Bahā al-Dīns unter den Schülern
5 Vgl. Necdet Tosun, Bahâeddîn Nakşbend – Hayati, Görüsleri, Tarikati, Istanbul, 2012, S. 51f. 6 Vgl. ebd., S. 31f. 7 Vgl. Itzchak Weismann, The Naqshbandiyya – Orthodoxy and activism in a worldwide Sufi tradition, New York, 2007, S. 15f. 8 Vgl. ebd., S. 16.
9
Amīr Kulāls fragwürdig sei, da der Sohn des Amīr Kulāl, der als
Nachfolger fungierte, in seinen festgehalten Anekdoten seines
Vaters Bahā al-Dīn nur nebenbei erwähnt und auch nicht auf
eine besondere Stellung weist.9 Nichtsdestotrotz ist nicht von
der Hand zu weisen, dass Bahā al-Dīn einen immensen Einfluss
auf den Orden und den Fortverlauf dessen durch seinen
Schwiegersohn und Meisterschüler ʾAʿlā al-Dīn Aṭṭār sowie
durch Muḥammad Pārsā und Yaʿqūb al-Ǧarhī gehabt haben
muss, so dass fortlaufend bis heute der Weg seinen Namen
trägt. Hamid Algars Aussage nach ist es jedoch unklar, was der
exakte Grund für Bahā al-Dīns Position ist und was ihn
ausmacht,10 während Necdet Tosun sagt, der Grund für seine
bedeutende Stellung sei, dass er den leisen Ḏikr als Fundament
legte und die fast vergessenen Maximen al-Ġuǧduwānīs
wiederbelebte.11 Nach Bahā al-Dīn ist die wichtigste
Persönlichkeit für alle Orden, die sich durch Scheich Aḥmad
9 Vgl. Algar, Nakşibendîlik, S. 23. 10 Vgl. ebd., S. 26. 11 Vgl. Necdet Tosun, Nakşbend, S. 95f.
10
al-Farūqī al-Sirhindī (971/1564 – 1034/1624) führen, Scheich
Aḥmad selbst, der mit dem Titel Imām al-Rabbānī Muǧaddid
Alf al-Ṯānī – Der Imām der reinen Gottergebenen, der
Erneuerer des zweiten Jahrtausends – betitelt wird. Scheich
Aḥmad war vor seiner Initiation in den spirituellen Orden der
Naqšibandīya durch ein zufälliges Treffen mit Muḥammad
Bāqībillāh auf einer Rast in Delhi während seiner Pilgerfahrt,
befugt die spirituellen Orden der Suhrawardīya, der Ǧištīya
und Qadirīya zu lehren und Adepten darin zu unterweisen.12
Das Treffen mit seinem Scheich in der Naqšibandīya war für
ihn ein einschneidendes Erlebnis im Leben,13 weswegen er sich
daraufhin fast ausschließlich durch diese Zugehörigkeit
identifiziert, die er als den höchsten Pfad erkennt.14 Doch
12 Vgl. Arthur F. Buehler, Revealed Grace – The Juristic Sufism of Ahmad Sirhindi (1564 – 1624), Louisville, 2011, S. 19ff. 13 Vgl. ebd.. 14 Vgl. Maktūbāt des Imām Rabbānī. Im Maktūbāt betont Scheich Aḥmad wiederholte Male seine Zugehörigkeit zu dem Pfad der Naqšibandis, deren hohen Rang, deren Position und dergleichen. Siehe z.B. Band 1, Brief 21; Band 1, Brief 131; Band 1, Brief 145; Band 2, Brief 43 und weitere.
11
Scheich Aḥmad sieht den Naqšibandi Pfad als die Grundlage
für seine eigenen Entwicklungen, Verfeinerungen und
Zusätze.15 Er systematisierte den Weg, erklärte die Laṭāʾif,
führte Gedenkformeln und Methoden ein16 und legte neue
Kontemplationen, welche die „kleine Gottesfreundschaft“
(wilāya al-suġra) überschreiten, welche das Ende der
vorherigen Naqšibandis war, und die Wege zu der großen
Gottesfreundschaft (wilāya al-kubra) und der hohen
Gottesfreundschaft (wilāya al-ʿulya) eröffnet.17 Diese werden im
weiteren Verlauf näher erläutert. Zunächst sollen die Laṭāʾif
erklärt werden.
15 Vgl. Imām Rabbānī, al-Maktūbāt, Istanbul, o.J., Band 1, Brief 229. 16 Vgl. Mir Valiuddin, Contemplative Disciplines in Sufism, London, 1980, S. 62ff.. 17 Vgl. Hadhrat Maulawi Jalaluddin Ahmad ar-Rowi, The Contemplations of Mujaddidiya, o.O., 2010, S. 20. Auch: Rašahāt ʿayn al-ḥayāt, S. 215, Randkommentare von Muḥammad Murād, Online auf: https://archive.org/details/RashahatAinAlHayatAr (letzter Zugriff: 30.4.2015).
12
3. Die Laṭāʾif
Das Wort Laṭāʾif (sg. Laṭīfa) entspringt der arabischen Sprache
und bedeutet „weich“, „sensibel“, oder „fein“. Die Sufis
verstehen unter diesem Begriff geistige Glieder,
Komponenten oder Organe, welche beeinflusst oder erweckt
werden können durch spirituelle Übungen.18 Es herrschen
unterschiedliche Ansichten darüber, ob es Punkte, Kreise,
Feinstoffe, Dimensionen oder dergleichen sind und wo genau
im Körper sie sich befinden.19 Auch, ob es wirklich nur Organe
sind, ob sie voneinander getrennt sind oder einen
gemeinsamen Körper bilden und zeitgleich auch Dimensionen
sind, durch die der Adept reist – wird je nach Stufe und
Entwicklungsgrad des Adepten unterschiedlich definiert.20 Die
18 Marcia K. Hermansen, Shāh Walī Allāh’s Theory of the subtle spiritual centers (laṭāʾif): A sufi model of personhood and self-transformation, erschienen in Journal of Near Eastern Studies 47, Nr. 1, Chicago, 1988. S. 1. 19 Vgl. Buehler, Sufi Heirs, S.109ff. 20 Vgl. Buehler, ebd., S. 112ff.
13
Laṭāʾif tragen zwar gleiche Namen wie die physischen
Realitäten (Herz, Erde, usw.), dürfen aber nicht mit diesen
verwechselt werden. Sie sind „örtliche Manifestationen von
gleichbezeichneten Teilen einer höheren Welt der
kosmologischen Struktur, welche sich über der Welt der
erschaffenen Dinge befindet.“21 Die Laṭāʾif sind bereits in
älteren Diskussionen und Erörterungen der Sufis zu finden,
jedoch erst Scheich Aḥmad verknüpfte mit ihnen höhere
Welten, Realitäten und Praktiken.22 Er geht davon aus, dass der
Mensch aus 10 Laṭāʾif besteht, von denen fünf in der „Welt der
Anordnung“ (ʿālam al-amr) liegen und fünf in der „Welt der
Erschaffung“ (ʿālam al-ḫalq). Die nähere Beschreibung dieser
Welten wird im Abschnitt über die Kosmologie behandelt. Die
fünf der Welt der Anordnung lauten: 1. Qalb (Herz), 2. Rūḥ
(Seele), 3. Sirr (Verborgenes), 4. Ḫāfī (Geheimes) und 5. Aḫfā
(Höchstgeheimes). Die fünf der Welt der Erschaffung heißen:
21 Hermansen, Shāh Walī Allah, S.1. 22 Vgl. Hermansen, Shāh Walī Allah, S. 7f.; Buehler, Sufi Heirs, S. 106.
14
1. Nafs (Triebseele), 2. Luft, 3. Wasser, 4. Feuer, 5. Erde.23 Diese
Laṭāʾif ermöglichen eine schnelle Entwicklung auf dem
spirituellen Pfad und nur jene Sufis, die diese Laṭāʾif
beherrschen und verstehen, können die Adepten des Weges
auf höhere Ebenen führen. Die Laṭāʾif führen dazu, dass Askese
und körperliche Entbehrung obsolet sind.24
Die Laṭāʾif im menschlichen Körper sind verbunden mit ihren
Ursprüngen in den genannten [metaphysischen] Welten. Die
Ursprünge der Laṭāʾif der „Welt der Anordnung“ liegen über
dem göttlichen Thron und die Ursprünge der „Welt der
Erschaffung“ unter dem göttlichen Thron. Die Laṭāʾif der „Welt
der Anordnung“ unterliegen den unterschiedlich „hohen
Propheten“, deren Seelen als Vermittler für den Adept dienen,
um göttliche Emanation (fayd)25 und bestimmte
23 Vgl. Muhammed Mâsûm el-Ömerî el-Müceddidi, Allah Dostlarinin Dereceleri – Yedi Sir, Istanbul, 2003, S. 50. 24 Vgl. Jens Bakker, Šāh Walīy Allāh ad-Dihlawīy und sein Aufenthalt in Mekka und Medina, Berlin, 2010, S. 25ff. 25 Darunter wird göttliche Energie verstanden, die sich in verschiedenen Formen von den Namen und Eigenschaften Gottes
15
Entschleierungen Gottes (taǧallīyāt) zu erhalten. Ohne die
Vermittlung der Seelen dieser Propheten können keine
Emanation und kein Taǧalli geschehen. So untersteht Qalb dem
Propheten Adam und mit ihm kommen die Entschleierungen
der göttlichen Taten (taǧalli al-afʿāl), Rūḥ dem Propheten Nūḥ
und Ibrāhīm und mit ihnen die Entschleierung der göttlichen
Eigenschaften (taǧalli al-ṣifāt), Sirr dem Propheten Mūsā und
mit ihm die Entschleierung der šuʾūn al-ḏātīya,26 Ḫāfi dem
Propheten ʿĪsā und mit ihm die Entschleierungen der
„negierenden Eigenschaften Gottes“ und Aḫfā allein dem
Propheten Muḥammad und mit ihm die Entschleierung des
einzig wahren Wesens, welches alles vorherige in sich vereint.
Gemäß der Laṭāʾif, die den stärksten Effekt auf den Adepten
manifestiert. Es gibt allgemeinen und spezifischen Fayd. Der Allgemeine kommt von den göttlichen Eigenschaften und bringt Leben hervor, während der spezifische Īmān, Gotteserkenntnis, Gottesfreundschaft und Prophetie hervorbringt. Vgl. Buehler, Sufi Heirs, S. 117f. 26 ʿAbd al-razzāq al-Kašānī erklärt diese als: „Die Handlungen oder Beziehungen des göttlichen Wesens mit seinen Eigenschaften.“ (Abdürrezzak Kâşânî, Tasavvuf Sözlüğü, Istanbul, 2004, S. 318 und Masum, Yedi Sir, S. 59.
16
hat, wird gesagt, dass der Adept diesem Propheten untersteht,
dieser Prophet seine „Trunkstelle“ (mašrab) und seine eigene
Beschaffenheit darstellt. Die Laṭāʾif sind somit Empfänger
göttlichen Lichtes und mit ihnen wird zum Wesen Gottes auf
dem Pfad durch den Kosmos, der dargestellt werden soll,
gereist.27 Sie stellen das Vehikel.
27 Vgl. Mâsûm, Yedi Sir, S. 52ff.
17
4. Der Pfad durch den Kosmos
Für den Pfad durch den von Scheich Aḥmad formulierten
Kosmos, muss der Reisende zuerst bestimmte
Vorbedingungen erfüllen, wie Islam, grundlegende
Kenntnisse in der praktischen Theologie (fiqh) und der
sunnitischen ʿAqīdah, damit der Adept diese Reise
unternehmen kann und Risiken auf dem Pfad minimalisiert
werden. Naqšibandis zufolge imitiert dieser Pfad den Pfad der
früheren Propheten und der höheren Freunde Gottes und
stellt eine Rückkehr zu den Quellen des Islams dar, welche auf
spirituellen Erlebnissen und Erfahrungen gründen.28
Naqšibandis haben die Strukturen des Universums gezeichnet,
die Prinzipien und eine dazugehörige Karte ausgelegt, damit
der Adept dieses Universum bereisen kann und dabei eine
kognitive Karte für seine eigene Reise hat. Diese Reise ist eine
in der äußeren Welt (sayr al-āfāqī) und eine in der eigenen
28 Vgl. Buehler, Sufi Heirs, S. 101.
18
inneren Welt (sayr al-anfusī), während die innere Reise die
äußere Reise beinhaltet und somit beides Hand in Hand geht.
Die innere Welt ist eine weitaus größere Welt mit 17 Stationen,
während die äußere Welt eine Welt mit 8 Stationen darstellt.29
Der Naqšibandi Kosmos verwendet hauptsächlich die
Begrifflichkeiten Ibn ʿArabīs.30 Zuerst war Gott in seiner
absolut undifferenzierten Existenz. Er erschuf - im
metaphorischen Sinne - eine Reflexion Seiner eigenen
Manifestationen durch Seinen göttlichen Atem (nafas al-
raḥmān). Nach Scheich Aḥmad gibt es einen klaren
Unterschied zwischen dem „Atmenden“ und dem „Atem“ und
somit ist alles, was der Mensch denken und wahrnehmen
kann, von Gott und existiert „außerhalb“ von Gott – und Gott,
der Handelnde, verbirgt sich dahinter.31 Die erste und
grundlegende Manifestation Gottes wird taʿayyun al-awwal
genannt und ist die Quelle der Emanation für die Laṭāʾif der
29 Vgl. ebd., S. 102f. 30 Vgl. ebd., S. 113. 31 Vgl. ebd., S. 114.
19
Welt der Anordnung, außer dem Qalb.32 Eine Brücke zwischen
dem absoluten undifferenzierten Wesen stellt die
„Eigenschaft der umfassenden Synthese“ (šaʾn al-ǧāmiʿ) dar
und jegliche Emanation vom göttlichen Wesen fließt durch
diese Brücke und erreicht die Schöpfung in ihrer
kosmologischen Ordnung. Taʿayyun al-awwal – die erste und
grundlegendste Manifestation - beinhaltet die
„Muhammadische Realität“ (ḥaqīqat al-muḥammadīya), die
Eigenschaften der Negation (ṣifāt al-salbīya), die šuʾūn al-ḏātīya
und die acht Eigenschaften des göttlichen Wesens (ṣifāt al-
ṯubūtīya ḏātīya). Naqšibandis sprechen von der Reise in eben
dieser Manifestation, wenn sie von der Reise im göttlichen
Wesen sprechen.33
Die zweite Manifestation (taʿayyun al-ṯānī) beinhaltet die
Namen und Eigenschaften Gottes (al-asmāʾ wa al-ṣifāt) und die
Handlungseigenschaften (ṣifāt al-afʿal). Darauf folgt die dritte
Manifestation, welche die Welt des Befehls (ʿālam al-ʾamr),
32 Vgl. ebd.. 33 Vgl. ebd., S. 115.
20
auch genannt die Welt der Engel (ʿālam al-malāʾika) oder Welt
der Herrschaft (ʿālam al-malakūt) ist. Die untere Grenze dieser
dritten Manifestation ist die Welt der „Beispiele“ (ʿālam al-
miṯāl), welche eine Zwischenstufe zwischen der dritten und
vierten Manifestation, der Welt der Körper (ʿālam al-aǧsām) ist.
Die höhere Grenze der Welt der Körper ist der göttliche Thron
selbst. Unter dem Thron befindet sich alles, was in der
materiellen Welt existiert.34
Diesem Makrokosmos folgt der Mikrokosmos innerhalb des
Menschen, welches als der Kreis der Kontingenz (dāʾira al-
imkān) bezeichnet wird und ʿĀlam al-amr, ʿālam al-miṯāl, den
göttlichen Thron und die höheren Grenzen der materiellen
Welt, die Himmel, beinhaltet. Dieser Mikrokosmos im
Menschen besitzt kein Ende und keinen Zenit, weswegen er als
Kreis dargestellt wird. Die meisten Praktiken und Aktivitäten
der gewöhnlichen Sufis spielen sich hier ab, weswegen nur
34 Vgl. ebd., S. 115.
21
wenige die höheren Welten erreichen und diesen Kreis
verlassen.35
Die Reise der Naqšibandis jedoch beginnt direkt bei der Welt
des göttlichen Befehls – und nicht in der Welt der Erschaffung
(ʿālam al-ḫalq) - indem die Laṭāʾif aktiviert werden [wie dies
geschieht, wird noch erwähnt] und die höheren Stufen der
Reise bzw. die Endstufen der Kontemplation, führen zu den
niedrigeren Welten der materiellen Existenz, also zu der Welt
der Erschaffung. Die Reise läuft verkehrt herum ab. Sie
behaupten, somit direkt den Propheten zu folgen und höhere
Stufen der Gottesfreundschaft zu erreichen (wilāya al-kubrā
und ʿulya). Andere Sufis jedoch beginnen in der Welt der
Materie und beenden ihre Reise in der Welt der Anordnungen,
weswegen sie keine höhere Stufe der Gottesfreundschaft
erreichen und auf der kleinen Gottesfreundschaft verweilen
(wilāya al-ṣuġra).36
35 Vgl. ebd. S. 115f. 36 Vgl. ebd., S. 116ff.
22
Die Praktiken, die für die Aktivierung der Laṭāʾif und der Reise
mit ihnen notwendig sind, werden nun genauer beschrieben.
23
5. Der Eintritt in den Pfad: Der Treueeid
Für die Aktivierung der Laṭāʾif, für das Empfangen von Fayd
und die spirituelle Entwicklung ist ein lebender spiritueller
Lehrmeister unabdingbar. Scheich Aḥmad betont in mehreren
Briefen die Wichtigkeit einen vollkommenen und
vervollkommnenden spirituellen Lehrmeister zu haben, der
die Person im Pfad unterweist. Nur diese von dem Scheich
übergebene Gedenkart sei fähig, den Adepten auf die Reise zu
bringen. Alle anderen Formen der Anbetungen würden nur
Lohn bringen, jedoch keine spirituelle Erziehung nach sich
ziehen.37 Der spirituelle Lehrmeister wird als Träger,
Empfänger und Verteiler der göttlichen Emanation (fayd)
angesehen und er spielt eine zentrale Rolle für die Aktivierung
der Laṭāʾif und das Reisen auf dem Pfad.38
37 Vgl. Imām Rabbānī, Maktūbāt, Band 3, Brief 4. 38 Vgl. Buehler, Sufi Heirs, S. 93, 128, 159f.
24
Kommt ein Adept zu einem spirituellen Lehrmeister, trägt der
Lehrmeister ihm zuerst ein Bittgebet um Leitung an (istiḫāra),
kann jedoch je nach eigenem Ermessen den Schüler auch
direkt aufnehmen.39 Der Treueeid besteht aus einem
Versprechen, sich an den Koran und die Sunna zu halten und
die Maximen und Regeln des Naqšibandi Pfades zu ehren und
zu leben.40 Dazu gehören auch unbedingter Gehorsam und
Respekt gegenüber dem spirituellen Lehrmeister.41 Die Rolle
des spirituellen Lehrmeisters ist bei den Naqšibandis von
großer Bedeutung und dies wird immer zu erwähnt. Nur das
Wohlgefallen des Lehrmeisters ermöglicht den Aufstieg.42
Nachahmung des Lehrmeisters in allen Belangen, sei es in der
praktischen Theologie, der Kleidung oder den Speisen, wird
von Scheich Aḥmad betont und als ein wichtiges Element des
39 Vgl. Muhammed b. Abdullah el-Hani, el-Behcet’üs-Seniyye - Sûfiyye Âdâbı, Istanbul, 2006, S. 153. 40 Vgl. Buehler, Sufi Heirs, S. 158ff. 41 Vgl. Shaikh Amīn ʿAlā ad-Dīn al-Naqshbandī, Sufism – A Wayfarer’s Guide to the Naqshbandi Way, Louisville, 2011, S. 236f. 42 Vgl. Mevlâna Halid-î el-Bağdadî, Risale-i Halidiye, Istanbul, 2004, S. 26ff.
25
Weges erachtet.43 Doch der Lehrmeister soll nicht mit einer
„gespielten“ Liebe befolgt werden, sondern all dies soll dem
Herzen des Adepten entspringen. Die Liebe soll ungezwungen
und wahrhaftig sein.44 Hierfür spielen die Gesellschaft des
Scheichs und die Rābiṭa – die Verbindung des Herzens mit dem
Lehrmeister – eine besondere Rolle.
43 Vgl. Imām Rabbānī, Maktūbāt, Band 1, Brief 292. 44 Vgl. Mevlâna Halid, Risale, S. 13.
26
6. Gesellschaft des Scheichs und Rābiṭa
Rābiṭa und die Gesellschaft des Scheichs werden als zwei der
vier Praktiken des Naqšibandi Pfades verstanden.45 Die
Gesellschaft des Scheichs ist eine Nachahmung der Prophet–
Gefährten-Beziehung und spielt eine wesentliche Rolle.46
Korrektes Benehmen ist von höchster Bedeutung und
Wichtigkeit und kann bei Missachtung vernichtende
Auswirkungen haben.47
Rābiṭa ist die Bezeichnung für die spirituelle Verbindung
zwischen dem Adepten und Lehrmeister. Der Adept wird dazu
angehalten, beständig und zu jeder Zeit, wenn es ihm möglich
ist, an den Lehrmeister zu denken und sich selbst in diesem
Gedanken aufzulösen. Die intensivste Form der Rābiṭa besteht
darin, dass der Adept sich selbst nicht mehr erkennt und sieht
45 El-Hani, Sûfiyye, S. 163. 46 Vgl. Buehler, Sufi Heirs, S. 132ff. 47 Vgl. Mevlâna Halid, Risale, S. 26ff.
27
und nur noch den Lehrmeister wahrnimmt.48 Auch in der
Gegenwart des Lehrmeisters soll diese Rābiṭa praktiziert
werden, da sie hilft, sich nicht von der äußeren Schale des
Lehrmeisters ablenken zu lassen und einen Fokus auf seine
innere Realität zu wahren.49 Die Rābiṭa war ab dem 19.
Jahrhundert ein Grund für viele Kontroversen. Necdet Tosun
führt an, dass es bis in das 19. Jahrhundert niemanden gab, der
diese Praxis kritisierte oder sie anstößig fand.50 Rābiṭa ist auch
Bestandteil bei anderen Sufi Pfaden und nicht etwas, was
einzig bei den Naqšibandis vorzufinden ist.51
48 Vgl. El-Hani, Sûfiyye, S. 168ff. 49 Vgl. Mevlana Halid, Risale, S. 28ff. 50 Necdet Tosun, Nakşbend, S. 136. 51 Vgl. Necdet Tosun, Nakşbend, S. 138; Imam-ı Şaʾrânî, Kudsî Nurlar, Istanbul, 2006, S. 42.
28
7. Ḏikr - Gottgedenken
Die Gedenkformeln, welche die Naqšibandis verwenden, sind
einzig der Name Gottes „Allāh“ und das Glaubensbekenntnis
„Lā ilāha ill Allāh“, auch als Nafy wa iṯbāt (Negation und
Bestätigung) bezeichnet. Die Anfänger auf dem Weg werden
erst in dem Ḏikr des Namens unterwiesen. Dieser Ḏikr dient
dazu, die Laṭāʾif zu erwecken und den spirituellen Körper zur
Reise zu befähigen. Das heißt, auf dieser anfänglichen Stufe
gibt es noch keinen Fortschritt im Mikro – oder
Makrokosmos.52 Der Adept wird jedoch fähig, die Emanation
wahrzunehmen und zu erlangen. Zuerst wird die Andacht
Gottes (ḏikr) mit der Laṭīfa Qalb geübt. Während dem Ḏikr wird
die Vorstellung aufrechterhalten, wie vom spirituellen
Lehrmeister Emanation in das eigene Herz fließt.53 Wenn die
Laṭāʾif anfängt, selbstständig die Andacht zu üben, oder andere
52 Vgl. Buehler, Sufi Heirs, S. 128ff. 53 Vgl. Masum, Yedi Sir, S. 57.
29
Zeichen, die dem Lehrmeister berichtet werden, darauf
hinweisen, dass die Laṭāʾif geöffnet ist, werden sequenziell alle
anderen zehn Laṭāʾif auf diese Art und Weise geöffnet und
aktiviert.54 Zu diesen anderen Anzeichen gehören, dass der
Adept sich im Scheich verliert oder die Laṭāʾif Reaktionen
zeigen.55 Wenn alle Laṭāʾif erweckt sind, wird vom Ḏikr sulṭānī
gesprochen, einem Ḏikr, welches den gesamten Körper
einnimmt, „bis in die letzte Haarzelle“.56
Hiernach wird der Ḏikr von Nafy wa iṯbāt mit Atemübungen
praktiziert.57 Dieser Ḏikr geht auf ʿAbd al-Ḫāliq Ġuǧduwānī
zurück und wird bereits in den ersten Quellen der Naqšibandis
erwähnt.58 Diese Andacht geschieht, indem der Adept den
Atem anhält, innerlich „lā“ sagt, dabei das „ā“ langzieht und
den Kopf, der am Anfang auf der Brust ruhte, beim Langziehen
54 Vgl. Buehler, Sufi Heirs, S. 129f. 55 Vgl. El-Hânî, Sufiyye, S. 188f.; Mevlana Halid, Risale, S. 58ff. 56 Vgl. Mevlana Halid, ebd., S. 60f. 57 Vgl. ebd., S. 60. 58 Vgl. Salâhüddin ibn-i Mübârek el-Buhârî, Enîsü’t-Tâlibîn ve Uddetü’s-Sâlikîn, Istanbul, 2004, S. 183.
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in den Nacken legt. Das „lā“ wird also „hochgezogen“. „Ilāha“
wird auf die rechte Schulter gezogen, was bedeutet, dass der
Adept seinen Kopf in Richtung der rechten Schulter dreht.
Dann wird mit voller Kraft „ill Allāh“ auf das Herz geschlagen
und der Kopf wird nach links in Richtung Herz geschwungen.
Dies wird in ungerader Zahl wiederholt, das heißt, 3, 5, 7, 11,
13, 15, 17, 21 oder mehr, in einem Atemzug.59 Am Ende der
Wiederholung atmet der Adept ruhig aus und sagt dabei
„Muḥammad Rasūlallāh, wa lā maqṣuda ill Allāh! Ilāhī! Anta
maqṣūdī wa ridaka maṭlūbī“.60 Wenn der Adept Selbstverlust
erlebt, lässt er sich in diesen Zustand fallen. Wenn nicht,
wiederholt er dies.61 Je nach Fortschritt des Adepten werden
mit der Negation und Bestätigung verschiedene Absichten
formuliert und verschiedene Negationen gemeint. Der
Anfänger negiert alle Anbetungsobjekte außer Gott (maʿbūd),
der Mittlere negiert alle Absichten und Intentionen außer
59 Vgl. El-Hânî, Sufiyye, S. 193ff. 60 Vgl. ebd., S. 195. 61 Vgl. ebd., S. 194f.
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Gott (maqṣūd), der Fortgeschrittene negiert jegliche Existenz
außer Gott (mawǧūd).62 Ist der Adept in einem Zustand, in dem
er eine Stunde oder mehr, nicht mehr von Vorstellungen und
Gedanken über anderes als Gott heimgesucht wird, oder je
nach Ermessen des spirituellen Lehrmeisters, wird er in die
Kontemplation (murāqaba) eingewiesen.63
Der Adept auf dieser Stufe hat seinen spirituellen Körper
aktiviert und aufgebaut. Die Laṭāʾif sind alle erweckt und
bereit, göttliche Emanation zu empfangen. Sie wurden durch
die gerade beschriebene Andachtsform von allen falschen
Absichten, Vorstellungen, Intentionen und dergleichen
gereinigt und somit „angespornt“ und „belebt“. Nun ist der
Adept in der Lage, zügig den spirituellen Kosmos zu bereisen.64
62 Vgl. Halid-i Bağdâdî, Risâle-i Halidiyye Tercümesi, Istanbul, 2000, S. 53. 63 Bağdâdî, Halidiyye, S. 56. 64 Vgl. Buehler, Sufi Heirs, S. 128ff.
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8. Die Murāqaba (Kontemplation)
Der Adept wird nun in die Kontemplation eingewiesen. Die
Kontemplation ist die eigentliche Reise (sulūk) und die
wichtigste Komponente für die spirituelle Reise des Adepten.65
Die Murāqaba ist es, was den Naqšibandi-Weg unter anderem
auszeichnet.66 Wörtlich wird unter Murāqaba das Warten, die
Garantie oder das Schützen verstanden.67 Bei den Naqšibandis
wird unter Murāqaba verstanden, dass sich eine Person von
weltlichen Beschäftigungen und Ablenkungen absondert und
sich in die spirituelle Leitung seines Scheichs vertieft, indem
über die aktivierten Laṭāʾif meditiert.68 Doch diese
Kontemplation geschieht, indem der Fokus auf das göttliche
Wesen oder die angegebenen Elemente gelenkt wird. Es geht
hier nicht darum, die Gedanken zu fokussieren. Es wird ein
65 Vgl. ebd., S. 130. 66 Vgl. ebd., S. 241. 67 Vgl. Ar-Rowi, Contemplations, S.3. 68 Vgl. ebd., S. 4f.
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Fokus gehalten, doch die Gedanken werden von selbst
schwinden.69 Durch die Murāqaba reist der Adept nun mit
seinem spirituellen Körper, durch die Laṭāʾif, durch den
beschriebenen Kosmos, der jedoch viel detaillierter dargelegt
ist, als das diese Arbeit es behandeln könnte.70 Die erste
Murāqaba wird als die Murāqaba al-aḥadīya bezeichnet. Diese
Kontemplation dient zur „Ausrichtung“ der Laṭāʾif in
„Richtung des göttlichen Thrones“.71 Sind die Laṭāʾif
ausgerichtet, kontempliert der Adept über die fünf Laṭāʾif der
Welt der Anordnung und der Propheten,72 unter deren Füßen
69 Vgl. ebd. 70 Siehe für eine detaillierte Darlegung des Pfades Buehler, Sufi Heirs, S. 124. 71 Vgl. Mir Valiuddin, Contemplative, S. 110. 72 Beispielsweise intendiert der Adept bei der Kontemplation über das Herz: „O Allah! Von Dir über die Herz Laṭīfah des geehrten Propheten Muḥammad kam Emanation und Entschleierung Deiner Handlungseigenschaften auf die Herz Laṭīfah des Propheten Adam. Lass mir dies ebenfalls zuteilwerden durch die Lehrmeister des Naqšibandi Pfades.“ Der Adept stellt sich hierbei dem Propheten Muḥammad gegenüber und stellt sich vor, wie Emanation vom Herz des Propheten zu seinem Herzen kommt, während sich einige nur einen Fluss von Emanation auf das Herz vorstellen. Vgl. Buehler, Sufi Heirs, S. 242ff.
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die Laṭāʾif stehen und erreicht durch diese Kontemplation die
göttlichen Entschleierungen und Fayd, die eine direkte
Beziehung zu diesen Propheten haben.73 Die letzte Murāqaba
im „Kreis der Kontingenz“ ist die Murāqaba al-maʿīya. Diese
Murāqaba führt bei ihrer Vollendung den Adepten aus dem
„Kreis der Kontingenz“ und erhebt ihn auf die Stufe der
„kleinen Gottesfreundschaft“ (wilāyat al-ṣuġra).74 Einige der
Naqšibandi Lehrmeister erteilten einigen ihrer Schüler bei
Vollendung eine „beschränkte“ Lehrerlaubnis.75 Wie schon
erwähnt, endeten die Murāqaba der vor-Muǧaddidi
Naqšibandis hier und alle weiteren Stufen wurden durch
Scheich Aḥmad eröffnet.76 Die „große Gottesfreundschaft“
wird bei Vollendung der Kontemplation des Namens al-Ẓāhir
vollendet.77 Wenn die große Gottesfreundschaft vollendet ist,
wurde auch die Triebseele transformiert und der wahrhaftige
73 Vgl. ebd. 74 Vgl. ar-Rowi, Contemplations, S. 19f. 75 Vgl. ebd., S. 20. 76 Vgl. Ar-Rowi, Contemplations, S. 21. 77 Vgl. Mir Valiuddin, Contemplative, S. 121.
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Islam manifestiert sich im Menschen. Er ist den Befehlen
Gottes absolut ergeben und seine Triebseele verliert alle
Spuren der Auflehnung.78 Ein weiterer wichtiger Schritt für
den Adepten liegt beim Beginn der Kontemplation über die
Vollkommenheit der Propheten. Ab dieser Stufe werden alle
Laṭāʾif eins und es gibt keine getrennten Laṭāʾif mehr. Dieser
„Seins-zustand“ wird Hayʾat al-waḥdanīya genannt.79 Die letzte
Meditation ist die Murāqaba la taʾayyun.80
Nachdem nun der Naqšibandi Weg dargelegt wurde, soll der
Unterschied zu anderen spirituellen Pfaden (ṭuruq) kurz
erörtert werden.
78 Vgl. ebd., S. 120f. 79 Vgl. Ar-Rowi, Contemplations, S. 25. 80 Vgl. ebd., S. 59.
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9. Unterschiede zu anderen Ṭuruq
Scheich Aḥmad Sirhindi maß äußeren Merkmalen und
Kleidungsstücken, welche die Zugehörigkeit zu den Sufis
darstellen, keine Wichtigkeit bei. Ekstase und Zustände
werden nicht als Ziel selbst gesehen, sondern als Süßigkeiten
für die Adepten auf dem Weg. Im Allgemein sind die
Naqšibandis den Formen des lauten Gottgedenkens gegenüber
sehr verschlossen und verbieten auch jegliche Bewegungen
während dem Gottgedenken. Die Naqšibandis beginnen ihren
Ḏikr mit dem Namen Gottes und auf späteren Stufen wird der
Ḏikr „lā ilāha ill Allāh“ verwendet. Andere Sufiorden jedoch
verwenden den Namen Gottes auf späteren Stufen.81 Tanz und
Gesang ist absolut verboten und Scheich Aḥmad ist dem
gegenüber sehr kritisch.82 Ein großer Fokus bei den
81 Vgl. Johan G. J. ter Haar, Ahmed Sirhindî‘nin Nakşibendî Geleneğine Bakışı, erschienen in „Tasavvuf – Ilmî ve Akademik Araştirma Dergisi“, Ankara, 2002, S. 200. 82 Vgl. ebd., S. 201.
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Naqšibandis liegt auf dem Scheich, der Gemeinsamkeit mit
dem Scheich und den Fokus auf den Scheich sowie das
Entwerden im Scheich.83 Das Ende der anderen Pfade wurde
bei den Naqšibandis an den Anfang gelegt. Hier ist wichtig zu
verstehen, dass Scheich Aḥmad sagt, damit sei nicht gemeint,
die Realität des Endes der anderen sei an den Anfang gelegt,
sondern nur der Geschmack und die Form. Somit wird auch
ein gescheiteter Adept auf dem spirituellen Pfad der
Naqšibandis nicht gänzlich von spirituellem Geschmack
beraubt sein.84 Der Naqšibandi Pfad führt den Adepten auch zu
einer kontinuierlichen, konstant anhaltenden Entschleierung
des göttlichen Wesens, was bei den anderen Pfaden eher
„einem Blitzschlag“ gleicht.85 Der gesamte Pfad wurde hierfür
ausgelegt.86 Der Grund für den schnellen und immensen
Fortschritt auf dem Pfad sieht Scheich Aḥmad in der Differenz
zwischen göttlicher Gnade und dem göttlichen Ziehen (ǧazba)
83 Vgl. ebd., S. 202f. 84 Vgl. ebd., S. 203f. 85 Vgl. ebd., S. 204. 86 Vgl. ebd.
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und der Bemühung und Reise des Adepten (sulūk). Unter Ǧazba
wird die Reinigung des Herzens von allen anderen Bindungen
außer der Bindung zu Gott verstanden, während unter Sulūk
die Bemühung und die Anstrengung der Vervollkommnung
der zehn Stufen des Taṣawwuf, die als Maqamāt bezeichnet
werden, verstanden wird.87 Die Naqšibandis setzen – im
Gegensatz zu allen anderen Pfaden – die Ǧazba voran und
vollenden diese mit dem darauffolgenden Sulūk.88 Ein
erheblicher Unterschied ist auch, dass Scheich Aḥmad die
Lehre des „Einheit des Seins“ als teilweise inkorrekt auffasst
und diese auch nicht als die Endstufe des Taṣawwuf erachtet.
Für ihn ist die Endstufe eine klare Differenzierung zwischen
Schöpfer und Schöpfung, in der jedoch alles als eine Reflexion
des Schöpfers wahrgenommen wird (Tawḥīd šuhūdī).89
87 Vgl. ebd. 88 Vgl. ebd. 89 Vgl. ebd., S. 205ff.
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10. Fazit
Der Naqšibandi Pfad ist ein detaillierter und klar gezeichneter
Weg, in der den Adepten durch verschiedene spirituelle
Übungen ein bestimmtes Verständnis und eine bestimmte
Gotteserfahrung mitgegeben werden soll. In dieser Arbeit
wurden die Methodik und die dahinterliegende Theorie für
die spirituelle Erziehung dargelegt. Vorerst wurde ein kurzer
historischer Abriss des Ordens gegeben und die wichtigsten
Schlüsselfiguren wurden beschrieben. Sodann wurde die für
die spirituelle Entwicklung zentrale Theorie der Laṭāʾif
(Weichpunkte) innerhalb der Naqšibandīya genauer
beleuchtet und die Kosmologie dargestellt. Die Rolle des
Scheichs, das Initiationsritual und der Treueeid (bayʿa)
wurden behandelt. Die vier wichtigsten Praktiken der
Naqšibandīya, nämlich die Begleitung des Scheichs (ṣuḥba),
das Erinnern oder Denken an den Scheich (rābiṭa), die
aufgetragene Litanei (wird) und die Kontemplation
40
(murāqaba) wurde detailliert erörtert. Auch Differenzen zu den
anderen Sufiorden wurden dargestellt.
Der Naqšibandi Pfad lebt auch heute noch und viele, die auf
diesem Pfad voranschreiten, bekennen und bezeugen die
Wirkung und die Kraft der Methoden, der Meditationen und
der Übungen. Er ist ein Weg, der in unserer heutigen Zeit für
viele das Erleben der spirituellen Realität des Islams
erleichtert, ohne körperliche Entbehrung und soziale
Isolation ertragen zu müssen. Der Adept auf dem Pfad
unterscheidet sich auch äußerlich und öffentlich nicht von
einem Muslim, der kein Adept ist und es gibt keine besonderen
Rituale oder Anzeichen, die ihn hervorstechen lassen. Die
spirituelle Erhöhung voller Nüchternheit zeichnet diesen Weg
aus und macht ihn zu einem begehrten Pfad, auf dem in
schneller Zeit erhebliche Resultate im eigenen Sein zu
beobachten sind, wenn denn ein wahrhaftiger, vollkommener
und vervollkommnender Lehrmeister des Naqšibandi Pfades
gefunden wird. Und diesen zu finden bzw. einen Zugang zu
42
11. Literaturverzeichnis
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