Politik und Erinnerung. Der Diskurs über den Armeniermord in der Türkei zwischen Nationalismus und...

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Seyhan Bayraktar Politik und Erinnerung

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Seyhan BayraktarPolitik und Erinnerung

Seyhan Bayraktar (Dr. rer. soc.) arbeitet am Forschungsbereich Öf-fentlichkeit und Gesellschaft (fög) der Universität Zürich. Ihre For-schungsschwerpunkte sind Politische Kommunikation, Türkei, Eu-ropäische Union, Migration und Nationalismus.

Seyhan Bayraktar

Politik und ErinnerungDer Diskurs über den Armeniermord in der Türkei

zwischen Nationalismus und Europäisierung

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Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, BielefeldLektorat & Satz: Seyhan BayraktarDruck: Majuskel Medienproduktion GmbH, WetzlarISBN 978-3-8376-1312-4

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Für meine Eltern Emine und Hamdi Özen

INHALT

Vorwort ................................................................................................ 11

Einleitung ............................................................................................ 13

TEIL I: GRUNDLAGEN

Der Mord an den osmanischen Armeniern von 1915 ..................... 23 Die »Armenische Frage«: Entstehung, Kontext, Internationalisierung .......................................... 23 Zwangsdeportation von 1915 als ›Lösung‹ der Armenischen Frage ... 30 Ausblick – internationale und türkische Amnesie ................................ 37

Forschungsstand ................................................................................. 41 Nationale Geschichtsschreibung als Fundament des Erinnerungsdiskurses ............................................................................ 42 Erklärungsansätze für den Erinnerungsdiskurs .................................... 51 Forschungslücke ................................................................................... 56

Theoretischer Rahmen ....................................................................... 59 Gedächtnistheoretische Erwartung: Normbewahrung durch reaktive Identitätssicherung ........................... 61 Kultursoziologische Erwartung: Normvertiefung durch Verteidigung der Identität ................................ 66 Sozialkonstruktivistische Erwartung: Normwandel durch Sozialisation ......................................................... 70

Konzeptionelle Grundlagen ............................................................... 77 Diskursbegriff und Diskurs-Akteurbeziehung ..................................... 78 Diskursanalytische Instrumente: Rahmen- und Toposanalyse ............. 80 Untersuchungsdesign und Methodik .................................................... 82

TEIL II: EMPIRIE

Die Gegenwart der Vergangenheit .................................................... 97 Der Erinnerungskampf der Armenier ................................................... 97 Innen- und außenpolitischer Kontext der 1970er ................................. 99

Das Militärmemorandum vom 12. März 1971 ............................... 99 Politische Säuberungen und Verfassungsänderung ...................... 100 Der Zypernkonflikt ....................................................................... 100 Übergriffe auf Nichtmuslime – die Pogrome vom 6./7. September 1955 ...................................... 104

Diskursive Reaktionen auf den Erinnerungskampf der Armenier ..... 105 Von »armenischem« zu »internationalem Terrorismus« ............. 105 Minderheitenkonflikt vermeiden .................................................. 114 Osmanisch-Armenische Beziehungen und 1915 .......................... 120

Zusammenfassung .............................................................................. 130

Vergangenheit als Politikum ........................................................... 133 Internationalisierung des Deutungskonflikts ...................................... 134

Anerkennungsinitiativen in den USA ........................................... 134 Die Völkermordresolution des Europäischen Parlaments 1987 ... 137

Innen- und außenpolitischer Kontext der 1980er ............................... 141 Die Miliärjunta vom 12. September 1980 .................................... 141 Außenpolitischer Imageschaden ................................................... 144

Staatliche Vergangenheitspolitik ........................................................ 147 Professionalisierung der Leugnung .............................................. 147 Terrorismusbekämpfung als Vergangenheitspolitik .................... 149 Das Institut für Armenische Studien ............................................ 151 Türkische Migranten in der Abwehrpolitik des Staates ............... 152

Diskursive Reaktionen auf die Politisierung der Vergangenheit ....... 156 »Europäischer Verrat« .................................................................. 157 Entscheidung nach Innen relativieren .......................................... 160 Warnung nach Außen – Türkei garantiert die Sicherheit Europas .................................................................. 162 Orientierungslosigkeit – Wohin gehören wir? ............................. 163 Machtdiskurs und Terror- und Umzingelungsszenarien .............. 167

Zusammenfassung .............................................................................. 174

Symbolpolitik .................................................................................... 177 Internationale Völkermorddebatten .................................................... 178

Die Genozidanerkennungspolitik der Armenischen Republik ..... 178 Türkisch-Armenische Beziehungen ............................................. 179

Die türkisch-armenische Versöhnungskommission TARC .... 182 »Workshop for Armenian and Turkish Scholarship« .............. 185

Anerkennungsinitiative in den USA (2000) ................................. 188 Genozidanerkennung in Frankreich (2001) .................................. 189

Der offizielle EU-Kandidatenstatus der Türkei .................................. 190 Symbolpolitik und Sanktionsdiskurs .................................................. 193

»Gegenschlag« .............................................................................. 194 Ausbreitung des »Anerkennungsvirus« ........................................ 202 Europäische und französische »Schuld« ...................................... 205 »Umzingelung der Türkei« durch Völkermordanerkennung ....... 211 Kultureller Überlegenheitsanspruch des Westens ........................ 217

Zusammenfassung .............................................................................. 222

Vergangenheitspolitik als Zeichen von Europafähigkeit .............. 227 Außenpolitischer Druck für eine offene Vergangenheitspolitik ........ 229

Die Frage der Europafähigkeit der Türkei ................................... 229 Wandel in der deutschen Politik zur Armenierfrage .................... 230 Ausblick: Von internationaler Anerkennung zur rechtlichen Sanktionierung von Völkermordleugnung ................ 232

Proaktive Vergangenheitspolitik und ihre Adressaten ....................... 234 Vorschlag zur Gründung einer Historikerkommission ................ 234 Die Blaubuch-Aktion ................................................................... 236 Ausblick: Türkisch-armenische Protokolle 2009 ......................... 239

Innenpolitischer Kontext .................................................................... 241 Hrant Dink als Zielscheibe von Nationalisten .............................. 244 Konferenzskandal im Mai 2005 ................................................... 248 Zweiter Anlauf im September 2005 ............................................. 250

Diskursive Auseinandersetzung – Stimmenvielfalt und Diversität .... 251 Verrätertum ................................................................................... 251 Demokratierahmen ....................................................................... 258 Wissen und Gesellschaft .............................................................. 260 Die Armenierfrage als ein Problem auf dem Weg in die EU ....... 262 Rahmung der Vertreibungsgeschichte der Armenier ................... 264 Öffentliche Outings armenischer Vorfahren ................................ 268

Zusammenfassung .............................................................................. 270 Ausblick: Paradoxien der Stimmendiversifikation – die Entschuldigungskampagne 2008 .................................................. 271

TEIL III: FAZIT

Zwischen Aufbruch und Festhalten................................................. 277

Literatur ............................................................................................ 287

Abkürzungen ..................................................................................... 305

Liste der Interviews .......................................................................... 307

Danksagung ....................................................................................... 309

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VORWORT

Eine Dissertation zu verfassen bedeutet in vielfacher Hinsicht eine schwere Zeit. Die Beschäftigung mit einem politisch hoch umstrittenen und in emotionaler Hinsicht berührenden Thema trägt dabei nicht zum Gegenteil bei. Trotz allem bin ich froh, dieses Unterfangen begonnen und zu Ende gebracht zu haben. Denn ohne diese Arbeit wäre ich mir der unvorstellbar tragischen Dimension und der »erschreckenden Kälte« – wie es der Bündnis 90/Die Grünen Politiker Cem Özdemir einmal ausgesprochen treffend formuliert hat – eines großen Teils der türki-schen Gesellschaft dieser Geschichte gegenüber nicht bewusst gewor-den. Im Gegenteil, ich hätte mit großer Wahrscheinlichkeit zu jenen Stimmen gehört, die den Mord an mehr als einer Million Menschen als existentielle Maßnahme des Osmanischen Reiches verschleiern, beschö-nigen, relativieren.

Am 19. Januar 2007 wurde der armenische Journalist Hrant Dink auf offener Straße vor dem Gebäude der Wochenzeitung Agos in Istanbul erschossen. Hrant Dink wurde Opfer seiner ethnischen Herkunft. Denn die armenische Gemeinde der Türkei ist bis heute mit anhaltender juris-tischer, politischer und gesellschaftlicher Diskriminierung, Marginalisie-rung und Demütigung konfrontiert. Dennoch glaubte Hrant Dink an die-se Gesellschaft, daran, dass sie aus eigener Einsicht und Menschlichkeit mit ihrer grausamen Vergangenheit aufräumen würde, wenn sie nur die rechtlichen und demokratischen Räume dazu bekam. Diese Überzeu-gung veranlasste ihn dazu, sich entschieden für die Aufnahme der Tür-kei in die EU einzusetzen und jegliche Vorstöße, die einen Beitritt an eine Völkermordanerkennung koppelten, als Instrumentalisierungsver-suche abzulehnen.

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Die Erkenntnis, dass die türkische Gesellschaft bis heute nicht in der Lage ist, einen Brückenbauer wie Hrant Dink in ihrer Mitte zu haben und ihm sein Recht auf Leben zuzugestehen, zählt zu den besonders nie-derschmetternden Erfahrungen, die ich während dieser Arbeit gemacht habe. Ich möchte mit tiefem Respekt Hrant Dink gedenken und ihm posthum für seine Unterstützung danken.

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EINLEITUNG

»To the Stolen Generations, I say the following: as Prime Minister of Australia, I am sorry. On

behalf of the Government of Australia, I am sorry. On behalf of the Parliament of Australia, I

am sorry. And I offer you this apology without qualification. We apologise for the hurt, the pain

and suffering we, the parliament, have caused you by the laws that previous parliaments have

enacted. We apologise for the indignity, the degradation and the humiliation these laws

embodied.«1 Öffentliche Entschuldigungen für historische Vergehen zählen in den letzten Jahren zu den bemerkenswertesten Phänomenen in der interna-tionalen Politik. Ein Blick auf die Liste von Demutsbezeugungen zeigt die weltweite Verbreitung der Politik offizieller Entschuldigungen (No-bles 2008): Der ehemalige US-Präsident Bill Clinton entschuldigte sich 1998 für die Untätigkeit der USA während des Völkermords in Rwanda. Papst Johannes Paul II. tat es im Jahre 2000 für die historischen Verfeh-lungen der katholischen Kirche. In einer durch die Bedingungslosigkeit ihrer Formulierung emotional besonders eindringlichen Rede entschul-digte sich der australische Premierminister Kevin Rudd Anfang 2008 bei der indigenen Bevölkerung des Landes, die Opfer der staatlichen Assi-milationspolitik wurde.

Im Zeitalter öffentlicher Entschuldigungen ist die Leugnung von his-torischen Untaten also kein akzeptabler Modus für den gesellschaftli-chen und politischen Umgang mit der nationalen Geschichte. Eine offe-

1 Kevin Rudd, Premierminister Australiens in einer Rede vom 13. Februar

2008. Vgl. amtliche Internetseite des Australischen Parlaments www.pm. gov.au/media/speech/2008/speech0073.cfm. Stand 29.10.2008.

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ne, selbstkritische Auseinandersetzung mit Massenmord, Vertreibung oder Assimilationspolitiken zeichnet sich immer mehr als eine interna-tionale Norm angemessenen Verhaltens ab. Das Festhalten an nationalis-tischen Vergangenheitsdiskursen, in denen das Leid der Opfer relati-viert, verschleiert oder gar geleugnet wird, ist aus dieser Perspektive mit sozialen Kosten, wie etwa Prestigeverlust, aber auch materiellen Kosten verbunden.

Der Erinnerungsdiskurs der Politik und Mehrheitsgesellschaft der Türkei steht aber in deutlichem Gegensatz zu dem Phänomen öffentli-cher Entschuldigungen und des opferorientierten Umgangs mit den dunklen Seiten nationaler Geschichte. Denn bis heute lehnt die Türkei jede kritische Auseinandersetzung mit der brutalen Vertreibungspolitik des jungtürkischen Regimes Anfang des 20. Jahrhunderts, der Hundert-tausende von Armeniern zum Opfer fielen, weitgehend ab. Im Kern führt die Türkei die Rechtfertigungsmuster der einstigen Täter fort, in dem sie den Deutungstopos kultiviert, es habe sich um eine sicherheits-bedingte, kriegsnotwendige Maßnahme gehandelt, bei der es um das Überleben des Osmanischen Reiches gegangen sei.

Nicht nur verweigert die Türkei selbst jegliche Kritik an der jungtür-kischen Vertreibungspolitik, sie versucht auch andere Staaten und inter-nationale Institutionen daran zu hindern, den Völkermordcharakter der geschichtlichen Ereignisse von 1915 zu thematisieren. Als die Französi-sche Nationalversammlung Anfang 2001 eine Resolution verabschiede-te, in der sie die Ereignisse von 1915 als Völkermord anerkannte, brach die Türkei die diplomatischen Beziehungen zu Frankreich für kurze Zeit ab. Französische Firmen wurden aus öffentlichen Ausschreibungen aus-geschlossen und der amtierende Preminierminister Ecevit weigerte sich demonstrativ, seinen Dienstwagen des französischen Herstellers Renault zu besteigen.

Diese Abwehrreaktionen sind in zweierlei Hinsicht kontraintuitiv. Zum einen hat sich die moderne Türkei in ihrer Gründungserzählung dezidiert vom Osmanischen Reich abgesetzt. Zum anderen liegen die historischen Ereignisse nahezu ein Jahrhundert zurück, und es gibt kaum direkte Überlebende auf Seiten der Opfer oder Täter. Doch die Emotio-nalität und die Vehemenz, mit der auf die kritische Infragestellung der Vertreibungsgeschichte der Armenier seitens der türkischen Politik und Mehrheitsgesellschaft reagiert wird, scheint im Laufe der Zeit eher zu- als abgenommen zu haben, ohne dass der Diskursverlauf in der For-schung je systematisch untersucht wurde.

EINLEITUNG

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Vor diesem Hintergrund konzentriert sich die vorliegende Studie auf die folgenden Fragen:

• Wie hat sich der Erinnerungsdiskurs im gesellschaftlich-politischen Leben der Türkei von 1973 bis 2005 entwickelt? Welche Diskurs-rahmen und -topoi dominieren, welche variieren im Zeitverlauf?

• Warum wird der Völkermord an den Armeniern verschleiert, relati-viert oder moralisch und normativ zu rechtfertigen versucht?

Bei der Suche nach den Gründen für den spezifischen Verlauf des Erin-nerungsdiskurses werden politische und kulturelle Variablen als mögli-che Erklärungsfaktoren in Betracht gezogen. Gefragt wird dabei:

• Inwieweit spielen außenpolitischer Druck und/oder die machtstrate-gischen Ressourcen der Türkei eine Rolle bei dem Diskursverlauf? In anderen Worten: Inwieweit ist der Diskursverlauf mit fehlenden oder steigenden außenpolitischen Druck zu erklären?

• Welche Rolle spielen Imperative und Erfordernisse nationaler kol-lektiver Identitätsbildung und -sicherung im Diskursverlauf?

Die Konzentration auf den Erklärungsfaktor »außenpolitischer Druck« bzw. »machtstrategische Ressourcen« ergibt sich aus der Bedeutung der historischen Armenierfrage in der internationalen Politik und insbeson-dere dem Umstand, dass der Umgang der Türkei mit diesem Abschnitt der nationalen Geschichte eine kritische Rolle im EU-Beitrittsprozess spielt. Die Anerkennung des Völkermordcharakters der Vertreibung der Armenier ist zu einem informellen Beitrittskriterium geworden. Die in-stitutionellen Weichen dafür stellte das Europäische Parlament, als es 1987 die Vertreibung der Armenier nicht nur als Völkermord im Sinne der UN-Genozidkonvention von 1948 anerkannte, sondern einen mögli-chen EG-Beitritt der Türkei bereits damals an eine ebensolche Anerken-nung koppelte. 2 Die türkische Geschichtspolitik dient den Türkei-Kritikern als ein Beleg par excellence für die vermeintlich geringe ›Europafähigkeit‹ des Landes.

Demgegenüber äußert sich die Rolle des Einflussfaktors machtstra-tegische Ressourcen für den Verlauf des Erinnerungsdiskurses etwa da-rin, dass sich die Türkei lange erfolgreich gegen Völkermordanerken-nungsbestrebungen durch nationale Parlamente und internationale Insti-tutionen einsetzen konnte. So scheiterte eine als sichere Sache geglaubte Genozidinitiative im amerikanischen Kongress Ende 2000, weil sich der amtierende Präsident Bill Clinton mit dem Verweis auf nationale Si-cherheitsinteressen persönlich gegen das Resolutionsvorhaben einsetzte.

2 Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften C 190 vom 20.7.1987.

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Die Türkei hatte im Vorfeld gedroht, die Nutzungrechte des für die ame-rikanische Nahostpolitik vitalen Militärstützpunktes in der türkischen Stadt Incirlik auslaufen zu lassen.

Während sich die Konzentration auf die Einflussfaktoren außenpoli-tischer Druck und machtstrategische Ressourcen aus der geschilderten Bedeutung der Armenierfrage in der internationalen Politik sowie den Abwehrpolitiken der Türkei ergibt, hängt die Konzentration auf den Ein-flussfaktor »Identität« bzw. »Kultur« mit der zeitlichen Koinzidenz der jungtürkischen Mordpolitik mit der zentralen Phase der Gründungsge-schichte der Türkei zusammen. Die Fundamente der modernen Türkei gehen auf jene Jahre Anfang des 20. Jahrhunderts zurück, in denen die Zwangsdeportation der Armenier umgesetzt wurde. Das zeitliche Zu-sammentreffen der Formierung des türkischen Nationalstaats mit dem Mord an Hunderttausenden von unschuldigen Menschen deutet auf die Problematik hin, welche negativen Folgen eine mögliche Anerkennung des Völkermords für die nationale Identität der Türkei haben könnte. Zwar hat sich die kemalistisch laizistische Türkei in ihrer Gründungs-erzählung aus Gründen nationalstaatlicher Identitätsstiftung vom Osma-nischen Reich abgesetzt. Diese Konstruktion eines Bruches kann aller-dings die personellen Kontinuitäten zwischen einstigen Tätern und spä-teren Republikgründern nicht überdecken.

Ein mögliches Eingeständnis historischer Fehler im Hinblick auf die Vertreibung der Armenier birgt darüber hinaus das politische Risiko, dass andere »Leichen im Keller« des türkischen Nationalstaatsprojektes ans Tageslicht kommen könnten. Denn neben den Armeniern wurden auch die christlichen Assyrer und Aramäer Opfer der jungtürkischen ethnischen Säuberungspolitik. Eine weitere unterdrückte ethnische Gruppe sind die Kurden, die sowohl in den Anfangsjahren der Republik als auch jüngst in den 1990er Jahren massenhaft vertrieben wurden (Kieser 2004; Ayata/Yükseker 2005). In die Liste der politisch und ge-sellschaftlich unaufgearbeiteten nationalen Geschichte gehören schließ-lich die enormen Umvölkerungspolitiken in den 1920er Jahren mit Grie-chenland (Zürcher 2007).

All diese weniger glorreichen Aspekte der türkischen Nationalge-schichte passen nicht in das phänomenale Erfolgsnarrativ von der »na-tionalen Befreiung und der Auferstehung aus der Asche« der Türkischen Republik. Eine kritische Dekonstruktion der nationalen Geschichte stellt das politische und nationale Selbstverständnis der Türkei in Frage.

Die Arbeit besteht aus drei Teilen. In Teil I stehen der historische Kontext des zu untersuchenden Diskurses, d.h. der Mord an den osmani-schen Armeniern von 1915, sowie der Forschungsstand zum Umgang der Türkei mit der Geschichte von 1915 im Vordergrund. Bei der Dar-

EINLEITUNG

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stellung der historischen Dimension des Untersuchungsgegenstandes geht es zum einen darum, einen fundierten Einblick in den realhistori-schen Ablauf zu bekommen. Zum anderen werden diejenigen histori-schen Aspekte herausgearbeitet, die im Erinnerungsdiskurs der türki-schen Mehrheitsgesellschaft als kollektive Geschichtsbilder zum Tragen kommen. Es wird hier ein Überblick gegeben, welche realgeschichtli-chen Aspekte der Vernichtungspolitik im Gegenwartsdiskurs aus dem historischen Kontext herausgefiltert und in einer Art vorgebracht wer-den, die die mörderische Dimension der ethnischen Säuberungspolitik beschönigt, rechtfertigt oder verschleiert.

Anschließend folgt eine systematische Auswertung der Forschungs-literatur, die sich direkt oder indirekt mit dem Leugnungsphänomen be-schäftigt. Zwar gibt es kaum eine Untersuchung zu den historischen Er-fahrungen der osmanischen Armenier, die nicht in der einen oder ande-ren Form die leugnerische Haltung der Türkei in Bezug auf die Ge-schichte von 1915 problematisiert. Der Erinnerungsdiskurs und die Ein-flussfaktoren, wie sie im Vordergrund der vorliegenden Studie stehen, sind aber bislang nicht adäquat berücksichtigt worden. Entweder haben sich Studien auf die türkische Historiographie und die darin enthalten-den Leugnungsmuster oder nur auf die (außen-)politischen Bedingungen der staatlichen Leugnungspolitik konzentriert. Außerdem beschränken sich die bisherigen Erkenntnisse auf historiographische Diskursmuster, die kaum in die innen- und außenpolitischen bzw. zeitlichen und räumli-chen Kontexte eingebunden werden. Das Ergebnis ist eine Vorstellung von statischen Diskursmustern, die keiner Analyse im Zeitverlauf unter-zogen wurden.

Schließlich werden in Teil I der theoretische Rahmen, die methodo-logischen Grundlagen und das methodische Vorgehen erläutert. In theo-retischer Hinsicht wird zum einen der Zusammenhang von sozialem Ge-dächtnis, kollektiver Erinnerung und Identität herausgearbeitet. Zum zweiten werden mögliche theoretische Mechanismen erläutert, die unter-schiedliche Aussagen darüber machen, ob und unter welchen Bedingun-gen nationale Erinnerungsdiskurse sich verändern und an internationale Erinnerungsnormen anpassen. Insgesamt unterscheiden sich die heran-gezogenen Theorien darin, ob und inwieweit exogener und externer Druck die Bewahrung, Vertiefung oder Anpassung an internationale Normen zur Folge hat.

Der methodologische Ausgangspunkt ist die Prämisse, dass Sprache, kommunikaktive Interaktion oder Diskurse die gesellschaftliche und politische Wirklichkeit konstruieren und gesellschaftlich verfügbar ma-chen. Die sprachliche Deutung der Wirklichkeit geht politischen Hand-lungen voraus und ist in diesem Sinne ein der konkreten Politik vorgela-

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gerter Prozess. Sprache und Diskurse geben einen Rahmen vor, der so-wohl enabling als auch constraining sein kann (vgl. Checkel 2001).

Das methodische Vorgehen wird relativ ausführlich dargelegt. Die Art der Quellen, die für die Analyse des Diskursverlaufs herangezogen werden, namentlich verschiedene Tageszeitungen, könnten dazu verlei-ten, eine Medienanalyse im Sinne der Medien- und Kommunikations-wissenschaften zu erwarten. Die herangezogenen Tageszeitungen dienen als politische Kommunikations- und Interaktionsbühne, auf der sich ge-sellschaftliche und politische Diskursträger bewegen und Diskursmuster nachvollziehbar sind. Dies ist auch der Grund, dass die herangezogenen Zeitungen nicht an sich und systematisch vergleichend analysiert wer-den. Es geht vielmehr darum, den Verlauf des Erinnerungsdiskurses in der öffentlichen Kommunikation zu erfassen.

Im zweiten Teil findet die empirische Analyse statt. Auf der Grund-lage von etwa 1000 Texten und Interviews mit Schlüsselakteuren der türkischen staatlichen Leugnungspolitik werden der Verlauf des Erinne-rungsdiskurses und die Vergangenheitspolitik des Staates zwischen 1973 und 2005 analysiert. Dazu wurden kritische Diskursmomente identifi-ziert. Es handelte sich dabei um 1973 und 1975, als es aufgrund von ar-menischen Racheakten auf türkische Diplomaten zu größeren öffentli-chen Erinnerungsdiskursen kam. Die restlichen Diskursmomente stellen 1987 (Völkermordresolution des Europäischen Parlaments), 2001 (Völ-kermordanerekennung Frankreichs) und 2005 (Durchführung einer kriti-schen Völkermordkonferenz in der Türkei) dar.

Ausgehend von der analytischen Trennung zwischen Vergangen-heitspolitik und Erinnerungsdiskurs sind die Empiriekapitel stets in einen vergangenheitspolitischen und einen erinnerungsdiskursiven Teil gegliedert. Im vergangenheitspolitischen Teil geht es zum einen darum, einen Einblick in den generellen innen- und außenpolitischen Kontext des im Vordergrund stehenden zeitlich spezifischen Erinnerungsdiskur-ses zu bieten. Zum anderen geht es darum, die türkische Vergangen-heitspolitik im Sinne von konkreten politischen und institutionellen Maßnahmen sowie (außen-)politischen Strategien zur Blockade von Völkermordanerkennungen vorzustellen. Die Ausdehnung der vergan-genheitspolitischen Teile im Laufe der analysierten Diskursmomente von 1973 bis 2005 ist dabei bereits ein Indikator für die gestiegene au-ßen- und innenpolitische Bedeutung des Armeniermordes, zumindest was die Frage der politischen Thematisierung betrifft.

Während der vergangenheitspolitische Teil der einzelnen Empirie-kapitel in räumlicher und zeitlicher Hinsicht umfassender ist, konzen-triert sich der erinnerungsdiskursive Teil der Kapitel jeweils auf ein kon-kretes und abgeschlossenes Ereignis, dass den gesellschaftlich-politi-

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schen Diskurs über die Armenierfrage zu einem bestimmten Zeitpunkt auslöste. In diesem zweiten Teil der einzelnen Empiriekapitel beziehen sich die analysierten öffentlich-diskursiven Reaktionen damit in erster Linie auf den konkreten innen- oder außenpolitischen Diskursauslöser.

Die Arbeit schließt mit einer systematischen Interpretation der Er-gebnisse der empirischen Analyse in Bezug auf die im Theorieteil for-mulierten Erwartungen. Hier nimmt die Arbeit Stellung zu der Kernfra-ge, ob und in welche Richtung sich der türkische Erinnerungsdiskurs gewandelt hat.

TEIL I: GRUNDLAGEN

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DER MORD AN DEN OSMANISCHEN ARMENIERN VON 1915

Im Kern rechtfertigt die Türkei die jungtürkische Deportations- und Ver-treibungspolitik gegen die Armenier als eine kriegsnotwendige und si-cherheitsbedingte Maßnahme, bei dem es um das Überleben des Osma-nischen Reiches gegangen sei. Inwieweit belegt die historische For-schung diese Darstellung? Was verbirgt sich hinter der »armenischen Frage«? Unter welchen historischen Bedingungen ist sie entstanden und welche Bedeutung hat sie für die umstrittene Geschichte von 1915? Das folgende Kapitel möchte einen fundierten Einblick in die historischen Zusammenhänge geben. Daneben wird der Forschungsstand zur Frage des Erinnerungsdiskurses über die Vertreibung der Armenier in der Tür-kei zusammengefasst und aufgezeigt, welches Forschungsdesiderat die vorliegende Studie schließen möchte. Die »Armenische Frage«: Entstehung, Kontext , Internat ional is ierung Die armenische Frage kristallisierte sich im letzten Drittel des 19. Jahr-hunderts als Stichwort zur Bezeichnung der unzulänglichen rechtlichen und sozialen Lebensbedingungen der osmanischen Armenier heraus.3

3 Die »armenische Frage« bezieht sich historisch auf einen bestimmten zeit-

lichen und geographischen Raum. Im Gegenwartsdiskurs der Türkei wird der Begriff aber über diese spezifische Bedeutung hinaus verwendet und steht für den Gesamtkomplex an aktuellen und vergangenen politischen Problemen, die mit der Vertreibungsgeschichte der Armenier zusammen-hängen. Um diese Erweiterung der ursprünglich historischen Bedeutung

POLITIK UND ERINNERUNG

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Vor allem in den östlichen Provinzen – ihrem schwerpunktmäßigen Siedlungsgebiet – waren Armenier zunehmend der Willkür seitens loka-ler Führer oder Übergriffen nomadisierender Stämme ausgesetzt (Suny 1993; Kieser/Schaller 2002; Schaller 2004). 4 Um diesem fehlenden Schutz für Leib und Leben und Hab und Gut der armenischen Landbe-völkerung entgegenzuwirken, verpflichteten die europäischen Groß-mächte die osmanische Führung im Berliner Vertrag (1878) dazu, pro-armenische Reformen durchzuführen. Doch Sultan Abdulhamit II be-gann die Reformen erst nach großen Gewaltwellen gegen die Armenier in den 1890er Jahren widerwillig und zögerlich umzusetzen. Die Arme-nische Frage blieb bis zum Ersten Weltkrieg auf der Agenda der interna-tionalen Politik. Als die jungtürkische Führung 1914 unter massivem Druck von europäischer Seite das »Armenische Reformgesetz« verab-schieden musste, wurde die Armenische Frage endgültig als ein Problem wahrgenommen, das es nachhaltig zu lösen galt. Rechtliche und soziale Stellung der Armenier

Die rechtliche Stellung der armenischen Bevölkerung sowie anderer nichtmuslimischer Gruppen im Osmanischen Reich war maßgeblich von der islamischen Ausrichtung des osmanischen Staates geprägt. 5 Auf-

des Begriffs deutlich zu machen, wird der Begriff in der vorliegenden Stu-die als ein fester Ausdruck verwendet und in Großbuchstaben (»Armeni-sche Frage«) abgebildet.

4 Der Großteil der osmanischen Armenier lebte in den sechs östlichen Pro-vinzen (Vilayets) Bitlis, Diyarbakir, Erzurum, Mamüretelaziz (Harput), Van und Sivas sowie einigen Grenzbezirken zum russischen Territorium. Diese sechs Provinzen galten im Osmanischen Reich als die Ostprovinzen, die weitgehend der heutigen Osttürkei entsprechen (Üngör 2004: 5). In Van und in Bitlis machten die Armenier etwa 40 Prozent (Levene 1998: 394-396), in den sechs Provinzen osmanischen Quellen zufolge etwa 20 Prozent der Gesamtbevölkerung aus (McCarthy 1983: 111f; Verheij 1999: 71). Die Bevölkerung in den östlichen Vilayets bestand insgesamt aus einer starken ethnischen Mischung von sunnitischen und alevitischen Kur-den, Türken, muslimischen Vertriebenen aus dem Kaukasus und anderen ethnischen Einheiten, wie etwa Assyrern, Yeziden oder pontischen Grie-chen. Die Armenier stellten neben den Kurden und den Türken eine der dominantesten Bevölkerungsgruppen dar. Im Vergleich zu den Türken und Kurden bildeten die Armenier eine kohärentere und homogenere Ein-heit ab und waren zudem die ältesten Bewohner Ostanatoliens. Die Türken und sunnitischen Kurden einigte die Zugehörigkeit zu der dominierenden Ausprägung des Islam. Die Herrschaft in den östlichen Provinzen wurde faktisch von den Kurden ausgeübt (Suny 1990: 104f; von Bruinissen 1992; Verheij 1999: 72).

5 Das Osmanische Reich galt in der Forschung lange als ein islamischer Staat, der den Islam weit wirksamer im gesellschaftlich-politischen Leben

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grund ihrer christlichen Religion gehörten die Armenier der beherrsch-ten Schicht der Nichtmuslime an und stellten Untertanen zweiter Klasse dar (Zürcher 1993). Die Zweiteilung der osmanischen Gesellschaft in die herrschende Schicht der Muslime und die beherrschte Schicht der Nichtmuslime ging mit der degradierenden Einstufung der Letzteren als Ungläubige (Gâvur) einher (Astourian 1999). Allerdings hatten Nicht-muslime jederzeit die Möglichkeit, in die herrschende Schicht der Mus-lime aufzusteigen, wenn sie zum Islam konvertierten. Die inferiore so-ziale und politische Stellung der Nichtmuslime wurde daher als eine freiwillige Entscheidung angesehen (Suny 1993).

In Abhängigkeit von der Religionszugehörigkeit wurde die Reichs-bevölkerung in verschiedene Konfessionsgemeinschaften bzw. Millets geteilt. Diese genossen als korporative Einheiten Religionsfreiheit, konnten intragemeinschaftliche Belange selbst verwalten und verfügten über eigene Erziehungs-, Rechts- und soziale Sicherheitssysteme. Dabei zählten die Armenier neben Griechen und Juden zu den bedeutendsten Millets im Osmanischen Reich.

Es sind diese Rechte und Möglichkeiten, die die Osmanen den be-herrschten Gemeinschaften zusicherten, die sich historisch und in der Gegenwartsgesellschaft der Türkei unter dem Topos »Toleranz des Os-manischen Reiches« verbergen.6 Die osmanische Toleranz war jedoch an die Bedingung geknüpft, dass die nichtmuslimischen Einheiten die Vorherrschaft des Islam und die damit verbundenen politischen und ge-sellschaftlichen Einschränkungen akzeptierten und bereit waren, Son-derabgaben an den Staat zu leisten. Als Schutzbefohlene (Zimmi) stan-den sie unter dem besonderen Schutz des Sultans. Aber dieser Status zementierte die soziale und politische Diskriminierung der nichtmusli-mischen Minderheiten und damit auch der Armenier, weil er sie von der Gnade des Sultan abhängig machte (Suny 2002).

umsetzte als frühere islamische Großreiche (Lewis 1961: 14). So gründete das osmanische Rechtssystem zum Beispiel in der islamischen Gesetzge-bung der Sharia. Demgegenüber betonen neuere Studien die vielfachen säkularen Tendenzen im politischen System des Osmanischen Reiches (Toprak 2006; Davison 2003).

6 Die englische Beschreibung »tolerated people« bringt die Konnotation der osmanischen Haltung gegenüber Nichtmuslimen im Sinne von Duldung deutlicher zum Ausdruck als der türkische Begriff »hoşgörü« für Tole-ranz. Während »tolerated people« den inferioren Status von Nichtmusli-men impliziert, blendet der türkische Ausdruck die Dominanz einer Grup-pe über eine andere Gruppe gänzlich aus und beschönigt im Alltagsdiskurs die Haltung des Osmanischen Reiches gegenüber Nichtmuslimen. Aus historisch vergleichender Perspektive jedoch war die Haltung des Osmani-schen Reiches gegenüber religiösen Minderheiten progressiv und huma-nistisch, wenn auch nicht egalitär.

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Die wichtigste Funktion des Millet-Systems als zentrales Organisa-tionsprinzip des Staates bestand darin, die soziale und politische Stabili-tät in dem Vielvölkerreich zu gewährleisten (Levene 1998; Üngör 2004). Die Abschaffung des Millet-Systems im Zuge der umfangreichen Mo-dernisierungsmaßnahmen während der Tanzimatära (1839-1876), ohne eine funktionierendes Ersatzsystem zu schaffen, stellte nach Austorian (1992) die zentralen Weichen für die interethnischen Konflikte und ge-waltsamen Zusammenstöße im ausgehenden 19. Jahrhundert.

Im Gegensatz zu der zentralen Bedeutung, die der Religion im Herr-schaftssystem des Osmanischen Reiches zukam, spielte ethnische Her-kunft in der politischen Schichtung der osmanischen Gesellschaft keine Rolle (Barkey 2000: 91; Davison 1990). Im Erinnerungsdiskurs der Türkei dient diese ethnische Egalität der osmanischen Herrschaft als ein Argument, dass es sich bei der Massenvertreibung der Armenier nicht um einen Völkermord handeln könne. Denn ausgehend von der Vernich-tungspolitik der Nationalsozialisten dominiert bei den gesellschaftlichen und politischen Eliten der Türkei die Vorstellung, dass eine rassistisch-ideologische Motivation maßgeblich für Völkermordverbrechen ist. Da das Osmanische Reich seine Untertanen aber nur in religiöser, nicht aber in ethnischer Hinsicht diskriminierte, scheint ein rassistisch motiviertes Verbrechen von vornherein nicht möglich zu sein.

Nationalismus, Zerfall, Gegenmaßnahmen

Die Idee des Nationalstaates und ihre Durchsetzung als dominante Or-ganisationsform von Staatlichkeit in der Moderne stellten den umfassen-deren historischen Kontext der Entstehung der Armenischen Frage. Die Idee der nationalen Selbstbestimmung stieß in den von den Osmanen beherrschten Gebieten im Balkan und dem Nahen Osten im Laufe des 19. Jahrhunderts auf großen Zulauf. Es kam zu einer Reihe von Abspal-tungsbewegungen, die meist mit Hilfe einer europäischen Macht zu-gunsten der aufbegehrenden Gesellschaften beendet wurden (Hale 2000).

Die nationalistisch motivierten Unabhängigkeitsbewegungen im In-nern wurden von außenpolitischen Druck und wirtschaftlichen Bankrott begleitet, die das Osmanische Reich im Laufe des Jahrhunderts an den Rand der Handlungsfähigkeit drängten. Außenpolitisch stand das Reich zwischen den Fronten der europäischen Großmächtepolitik. Die europäi-schen Großmächte – allen voran Großbritannien – wachten eifersüchtig darüber, dass die Einflusssphäre der Konkurrenten in den osmanischen Besitzungen nicht zu dem eigenen Ungunsten ausgeweitet wurde und intervenierten immer wieder in die Politik des Reiches. Letztlich war es

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dieser europäischen Konkurrenz zu verdanken, dass das Osmanische Reich überhaupt bis zum Ersten Weltkrieg überlebte (vgl. Adanir 1996; Bloxham 2003).7

Die Idee der nationalen Selbstbestimmung stieß auch bei den arme-nischen Eliten auf Zustimmung. Die Formierung von revolutionären ar-menischen Parteien in den 1880er Jahren, die in unterschiedlichen Ma-ßen nach Selbstverwaltung, Autonomie, Unabhängigkeit oder gleichen Rechten verlangten, waren die ersten sichtbaren Zeichen der sozialen und nationalen Emanzipation der Armenier des Osmanischen Reiches (Verheij 1999; Schaller 2004). Die treibende Kraft hinter dieser Ent-wicklung waren dabei Armenier im europäischen Exil und im benach-barten Russland.

Die wichtigsten armenischen Organisationen, die im Gegenwartsdis-kurs der Türkei als rebellische und separatistische Banden (Ermeni Ko-mitecileri) präsent sind, waren die 1887 in Genf gegründete Huntschak-Partei (Die Glocke) und die 1890 in Tiflis gegründete Daschnaksutium (Armenische Revolutionäre Föderation) (Verheij 1999; Berlin/ Klenner 2006). Mit öffentlichkeitswirksamen spektakulären Aktionen wie etwa der ersten Demonstration bei Kumkapi (1890) oder der Beset-zung der Osmanischen Bank (1896) versuchten sie, die europäischen Staaten dazu zu bewegen, den außenpolitischen Druck auf Sultan Ab-dulhamit II aufrechtzuerhalten, um die pro-armenischen Bestimmungen des Berliner Vertrages umzusetzen.8 Dafür nahmen sie auch Opfer in den eigenen Reihen in Kauf. Sie mobilisierten die armenische Landbe-völkerung in den östlichen Provinzen, riefen sie zu Aufständen und Pro-testen auf (Nalbandian 1963). Die nationale Bewegung der Armenier

7 In der Frage der territorialen Integrität des Osmanischen Landes verfolg-

ten vor allem England und Russland unterschiedliche Ziele. Russland unternahm während des 19. Jahrhunderts mehrere Anläufe, das Reich zu zerstückeln und unterstützte aktiv die nationalistischen Abspaltungsbewe-gungen im Balkan, die mit der Unabhängigkeit von Serbien, Montenegro, Bulgarien und Rumänien endeten. Großbritannien setzte sich unterstützt von Deutschland und Frankreich für die Erhaltung der territorialen Integri-tät des Osmanischen Reiches ein. Großbritannien wollte in erster Linie den freien Zugang zum Schwarzen Meer sichern und die osmanischen Be-sitzungen in Asien als eine Art natürliche Barriere gegenüber russischen Expansionismus erhalten. Die östlichen sechs Provinzen, in denen die Mehrheit der osmanischen Armenier lebte, entsprachen genau dieser geo-politisch umstrittenen Region und waren von entscheidender strategischer Bedeutung sowohl für Russland als auch für die Briten (Somakian 1995: 5; Dadrian 1995).

8 Nach Somakian (1995: 17) waren solche Aktionen »desperate attempts that were aimed at arousing European interest with a view to the drastic implementation of Article 61.«

POLITIK UND ERINNERUNG

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ging aber nicht über ein Elitenprojekt hinaus, da die armenische Land-bevölkerung mehrheitlich apolitisch war (Libaridian 2004; Berlin/Klen-ner 2006).

Um den zunehmenden nationalen Souveränitätsbestrebungen ent-gegenzutreten, betrieb die osmanische Führung eine umfassende Re-formpolitik nach westlichem Muster (Findley 1980; Davison 1990). Im Kern zielten die Modernisierungsmaßnahmen auf ein modernes Staats-bürgerschaftsprinzip und die Gleichstellung aller Bürger unabhängig von Religion und ethnischer Herkunft ab. Die Einführung der Verfas-sung von 1876 stellte in diesem Kontext den Höhepunkt dar, mit der das Reich zur konstitutionellen Monarchie wurde. Hier wurde nicht mehr von den Millets, sondern den Osmanen gesprochen.

Der Osmanismus als integratives Identitätskonzept konnte jedoch nicht mit dem zu diesem Zeitpunkt bereits ausgeprägten Nationalbe-wusstsein der ehemaligen Millets konkurrieren. Diese befürworteten die neue Gleichstellungspolitik der osmanischen Führung zwar, hielten aber gleichzeitig an ihren alten Privilegien, wie etwa der autonomen Selbst-verwaltung, fest (Zürcher 1993; Levene 2005). Das Ziel der Schaffung einer osmanischen Identität über ethnisch-religiöse Grenzen hinweg konnte nicht verwirklicht werden. Im Gegenteil in der Tanzimatära wur-den die sozialen Differenzen zwischen den alten und neuen Eliten stär-ker wahrgenommen – insbesondere die muslimischen Eliten fühlten sich angesichts der Gleichstellung der Nichtmuslime benachteiligt.

Die Herrschaft von Sultan Abdulhamit II kam den enttäuschten mus-limischen Einheiten entgegen. Dieser setzte die Verfassung außer Kraft und verfolgte eine Politik, mit der er die muslimischen Teile des Reiches fester an sich binden wollte. Vor allem die christlichen Bevölkerungstei-le in den östlichen Provinzen litten unter dieser Politik, da der Sultan die traditionellen Fürstenstämme auflöste und die sunnitisch-muslimischen Kurden mit umfassenden Gewalten ausstattete. Für seine Zentralisie-rungspolitik gründete der Sultan die Hamidiye-Truppen, die aus kurdi-schen Rekruten bestanden und mit Waffen und Uniformen ausgestattet wurden. Das eigentliche Ziel der Gründung der Hamidiye bestand nach Akçam (1999: 79) in der Unterdrückung und der Kontrolle über die Ar-menier in den Ostprovinzen.

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Internationalisierung: Der Berliner Vertrag (1878) und das Armenische Reformgesetz (1914)

Die Verschlechterung der Lebenssituation der osmanischen Armenier wurde von den europäischen Mächten auf dem Berliner Kongress (1878) auf die Tagesordnung genommen. Damit reagierten die Europäer zum einen auf die Appelle armenischer Repräsentanten, die in den europäi-schen Hauptstädten um Hilfe baten, nachdem sie vom Sultan nicht er-hört worden waren (Akçam 2004). Zum anderen wollten die europäi-schen Staaten nicht hinnehmen, dass Russland im Friedensvertrag von San Stefano in Folge des russisch-osmanischen Krieges (1877) den Ab-zug seiner Truppen aus den östlichen Grenzgebieten von Reformen zum Schutz der armenischen Minderheit abhängig gemacht hatte (Somakian 1995; Kieser 1999).

Auf dem Berliner Kongress (1878) wurden die Bestimmungen des Vertrags von San Stefano durch Artikel 61 des Berliner Vertrages er-setzt, in dem das Osmanische Reich dazu verpflichtet wurde, Reformen zugunsten der Armenier in Gang zu setzen und ihre Sicherheit zu ge-währleisten (Geiss 1978).

Die Situation der armenischen Landbevölkerung verbesserte sich in den 1880er Jahren trotz des Berliner Vertrags nicht. Im Gegenteil aus-ländische Beobachter berichteten über schlechte Behandlung, Unterdrü-ckung und Plünderungen und kritisierten die passive Haltung der Istan-buler Regierung (Somakian 1995: 13; Bloxham 2003: 26). Abdulhamit II betrieb eine Verzögerungstaktik gegenüber europäischen Aufforde-rungen, Reformen in Gang zu setzten. Dies führte in den 1890er Jahren zu Protesten und Aufständen von armenischen Bauern, die von den ar-menischen Parteien unterstützt und bewaffnet wurden.9 Diese Aufstände wurden mit rigoroser Gewalt mittels der neu formierten Truppen der Hamidiye niedergeschlagen.10 Die europäischen Garantiemächte schalte-

9 In Zusammenhang mit den Zusammenstößen zwischen muslimischen und

armenischen Bevölkerungsteilen in den 1890er Jahren setzt sich die histo-rische Forschung mit der Frage auseinander, inwieweit die revolutionäre armenische Bewegung für die erste anti-armenische Gewaltwelle verant-wortlich war und inwieweit sie diese sogar für das Ziel der nationalen Un-abhängigkeit in Kauf genommen hatte (Somakian 1995, Dadrian 1995, Verheij 1999). Eine weitere zentrale Frage, die kontrovers diskutiert wird, ist der Organisationsgrad und die gezielte Mitwirkung der Truppen von Sultan Abdulhamit II bei den Massakern (Dadrian 1995; Somakian 1995; Verheij 1995; Akçam 1999; Shaw/Shaw 1977)

10 Die Angaben für die Zahl der getöteten Armenier variieren stark: Während Verheij (1999) für den Zeitraum zwischen 1894 und 1896 100.000 tote Armenier auflistet, ist in der türkischen Literatur von 8.000 Opfern die

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ten sich wieder ein, so dass Abdulhamit schließlich im Oktober 1895 der Einsetzung von christlichen Provinzgouverneuren und der Einstellung von Christen in die Polizei zustimmte.

Die Armenische Frage blieb aber auch nach der Jahrhundertwende auf der europäischen und osmanischen Agenda. Ein Jahr nach der jungtürki-schen Revolution (1908) und der Wiedereinsetzung der Verfassung von 1876 kam es 1909 im Rahmen eines islamistisch motivierten Versuchs der Konterrevolution zu erneuten Massakern an Armeniern, die schätzungs-weise 20.000 Armeniern das Leben kosteten (vgl. Schaller 2004: 236; Da-drian 1988). Die neuen Machthaber der Jungtürken, die beim Sturz des Sul-tans von armenischen Parteien unterstützt worden waren, unternahmen je-doch nichts, um die Täter der Adana Pogrome zu bestrafen.

Nach den Vorfällen in Adana wurde erneut ein internationaler Anlauf genommen, um das Osmanische Reich zu pro-armenischen Reformen zu bewegen. Die Jungtürken verabschiedeten im Februar 1914 auf massiven russischen Druck das »Armenische Reform Gesetz«.11 Das Reformprojekt beinhaltete die Vilayets zu einer Provinz Armenien zusammenzufassen, die unter der Kontrolle eines europäischen Generalgouverneurs stehen sollte. Außerdem sollte das Land, auf dem die ehemals nomadisierenden kurdischen Stämme sesshaft geworden waren, ihren ursprünglichen ar-menischen Besitzern zurückerstattet werden (Davison 1990). Zwangsdeportat ion von 1915 als ›Lösung‹ der Armenischen Frage

Die neuerliche Intervention Europas für die Belange der Armenier führte zum endgültigen Bruch in den osmanisch-armenischen Beziehungen. Nach Bloxham war die Zeit »ripe for radical solutions« (2002: 106). Denn die Aufoktroyierung des Reformgesetzes fand zeitgleich mit Ver-handlungen statt, die das Osmanische Reich nach den verheerenden Niederlagen in den Balkankriegen (1912/13) über die territorialen Gren-zen führte.12 Spätestens hier strebte die jungtürkische Einheits- und For-

Rede. Armenische oder westliche Autoren sprechen von bis zu 300.000 Opfern (Schaefgen 2005: 19).

11 Zwar gab Russland humanitäre Gründe vor, die Freiheit und Sicherheit der Armenier garantieren zu wollen, verfolgte aber vor allem eigene innen- und außenpolitische Interessen. Das Reformvorhaben sollte zum einen die im eigenen russischen Territorium unruhig werdenden Armenier zufrieden stellen und gleichzeitig die Einflusssphäre in den angrenzenden östlichen osmanischen Provinzen erweitern (Davison 1990).

12 Die Balkankriege hatten in enormen humanen und territorialen Verlusten für das Osmanische Reich geendet: 40 % des osmanischen Territoriums

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schrittspartei, die sich bei ihrer Entstehung vor der Jahrhundertwende noch für die Integration und Gleichheit aller osmanischen Untertanen unabhängig von Religion und ethnischer Herkunft eingesetzt hatte, nach einem ethnisch homogenen Staat. Die ehemals als treueste Millet (Mil-let-i Sadıka) bezeichnete armenische Bevölkerung hatte sich in der Wahrnehmung führender Jungtürken zum notorischen Störfaktor entwi-ckelt. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges kündigte die jungtürkische Regierung das Armenische Reform Gesetz auf. Bereits im Februar 1915 kam es zu vereinzelten Umsiedelungsaktionen von Armeniern, die Ende April 1915 systematisch betrieben wurden. Bereits im September 1915 war Ostanatolien von seiner armenischen Bevölkerung weitgehend ent-leert.

Verantwortlich für die Planung und Steuerung der Vertreibung der osmanischen Armenier war der innere Zirkel der Ittihat ve Terakki. Die Umsetzung übernahm die paramilitärische Geheimorganisation Teşki-lât-ı Mahsusa (Dadrian 1995; Mann 2005).

Die Haltung der Bevölkerung gegenüber der Zwangsdeportation der Armenier reichte von opportunistischer direkter Unterstützung bis zum aktiven Widerstand und Hilfe für die betroffenen Menschen. Ähnlich unterschiedliche Reaktionen sind auf der Seite der lokalen staatlichen Behörden und Beamten festzustellen. Örtlichen Verwaltungsbeamten, die die Befehle aus Istanbul ohne Weiteres befolgten, standen zahlreiche Verwaltungsbeamte gegenüber, die die vorgegebenen Gründe der De-portation bezweifelten und sich weigerten, die erforderlichen Maßnah-men zur Deportierung der Armenier einzuleiten (Mann 2005; Akçam 1999).

Etappen des Mordes an den Armeniern

Der ereignisgeschichtliche Ablauf der Deportationspolitik, die anfangs noch mit Maßnahmen in der osmanischen Tradition der Bevölkerungs-transfers (Sürgün) einsetzte und im Laufe der Zeit einen neuartigen Cha-rakter annahm, verlief in drei Phasen.13 Die erste Phase setzte im Rah-men der generellen Mobilmachung für den Krieg im Sommer 1914 ein (Bloxham 2003; Akçam 1999). Nach der Niederlage der osmanischen

und 20 % seiner Bevölkerung gingen verloren (Melson 2000). Eine weite-re Folge der Balkankriege waren erneute muslimische Flüchtlingsströme in das anatolische Kernland und steigende Konkurrenz um Land und Res-sourcen.

13 Der Transfer bestimmter Bevölkerungsgruppen in andere Reichsgebiete wurde im Osmanischen Reich immer wieder als Mittel für die Lösung von sozio-politischen Problemen eingesetzt oder diente der Bestrafung der be-troffenen Gruppen.

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Armee an der Kaukasusfront begann im Februar 1915 die zweite Phase (Ternon 1996: 146; Akçam 1999; Kieser/Schaller 2002; Mann 2005: 143). Die dritte und entscheidende Phase mit der systematischen Depor-tation der armenischen Bevölkerung schließlich setzte im April 1915 ein.

Im Gegensatz dazu ist das Ende der mörderischen Dezimierungs-politik schwerer zu bestimmen. Naimark schreibt in diesem Zusammen-hang, dass der Völkermord als historisches Ereignis ohne »discrete en-ding« (Naimark 2001: 22f) blieb. Die entscheidende Phase der Deporta-tion war zwar das Jahr 1915. Die sozialen Auswirkungen sowie die poli-tischen und juristischen Konsequenzen dauern angesichts der anhalten-den türkischen Leugnung der Massaker an den Armeniern gewisserma-ßen bis in die Gegenwart an.

Was die unmittelbare Zeit betrifft, die der Deportation der armeni-schen Bevölkerung folgte, verlagerte sich die Auseinandersetzung wäh-rend der kurzen Existenz der Armenischen Republik (1918-1920) auf die Ebene einer zwischenstaatlichen Auseinandersetzung, als es zu krie-gerischen Auseinandersetzungen zwischen den Truppen der türkischen Widerstandsbewegung und den Soldaten der Armenischen Republik kam.

Generelle Mobilmachung für den Krieg 1914/1915

Im Rahmen von generellen Vorkehrungen und Maßnahmen der osmani-schen Führung für den Krieg im Sommer 1914 wurden die armenischen Männer als Arbeitsbatallione für die Versorgung der Truppen und die Bereitstellung von Nachschub eingesetzt (Dadrian 1995: 221; Akçam 1999: 248f). In dieser Phase der Vorbereitungsmaßnahmen auf den Ers-ten Weltkrieg fanden bereits erste Übergriffe der Teşkilât-ı Mahsusa auf armenische Dörfer an der russischen Grenze statt. Die Spezialkomman-dos suchten nach Waffen oder Fahnenflüchtigen, plünderten in vielen Fällen auch die überfallenen Orte aus. Insgesamt fanden diese ersten Übergriffe in erster Linie aber im Rahmen der (Gegen-)Maßnahmen für armenische Aktivitäten in den Grenzbezirken statt. Nach Bloxham (2003: 39) sei es möglich »to correlate quite closely the loci of activities of these volunteer bataillons with the loci of massacres in the early war months by the […] Teşkilât-ı Mahsusa.« Militärniederlage bei Sarıkamış Februar 1915 als Wendepunkt

In der historischen Forschung besteht Konsens, dass die verheerende Niederlage des osmanischen Heeres bei Sarıkamış unter dem Kriegsmi-

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nister Enver Pascha im Februar 1915, bei der 80.000 Soldaten fielen, eine qualitative Wende in der osmanischen Haltung gegenüber den Ar-meniern einleitete. Auf Befehl von Enver Pascha wurden am 25. Februar 1915 die etwa 200.000 armenischen Soldaten in der osmanischen Armee entwaffnet und als Arbeitsbatallione eingesetzt.14 Die osmanische Pro-paganda machte darüber hinaus übergelaufene Armenier, die als irregu-läre Kräfte im russischen Heer dienten, für die Niederlage verantwort-lich. Damit war der Topos des »armenischen Verrats« geboren. Für die propagandistische Ausschlachtung des »armenischen Verrats« erwiesen sich die Stellungnahmen von Exilarmeniern als nützlich, die sich öffent-lich für den Sieg der Alliierten und ein unabhängiges Armenien ausge-sprochen hatten. Zudem waren einige prominente armenische Abgeord-nete des Osmanischen Parlaments auf die russische Seite übergewechselt (Kaiser 2002: 131; Kieser/Schaller 2002: 22f).

Fraglich ist, ob die Entwaffnung der armenischen Soldaten tatsäch-lich auf die Angst vor armenischer Kollaboration zurückging oder ob die vereinzelten Überläufer lediglich als Vorwand für die Verwirklichung eines bereits existierenden Plans diente, der laut Dadrian (1993) bereits im Dezember 1914 eine konkrete Form angenommen hatte. Es spricht einiges gegen die These, dass die Jungtürken sich die Lösung der Arme-nischen Frage bereits früh genau so vorstellten, wie sie ab April 1915 praktiziert wurde. Denn Schlüsselentscheidungen wurden kurze Zeit vor den Deportationen getroffen (Kaiser 2002: 129). Die Ereignisse und Entscheidungen bis zur systematischen Verhaftungswelle der armeni-schen Intelligentia am 24. April 1915 verliefen zum Teil widersprüch-lich, so dass es sich bei den ersten Maßnahmen gegen die Armenier in erster Linie wohl um ad hoc Maßnahmen handelte (Mann 2005: 147). Übergang zur systematischen Deportation April 1915

Mit der systematischen Verhaftung und Ausschaltung der armenischen Intelligentia am 24. April 1915 wandelten sich die anfänglichen Maß-nahmen in einen systematisch organisierten Völkermord. Dabei ging die Umsetzung der praktischen Deportation Auseinandersetzungen im Par-lament in Bezug auf die legalen Rahmen voraus. Innenminister Talat gab Ende Mai 1915 die Anweisung, die Armenier in der Nähe der Ost-front und in Adana und Marasch umzusiedeln. Die offizielle Deporta-tionsentscheidung traf die Regierung später. Mit dem »Provisorischen Gesetz über Maßnahmen, welche die militärische Autorität gegen die 14 Entwaffnet und in Arbeitsbatallione geschickt, aber nicht deportiert oder

getötet, wurden auch die Männer anderer nicht-muslimischer Gruppen wie etwa die Juden in Palästina (Mann 2005: 146; Bloxham 2003: 35).

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Widersacher der Regierung zu ergreifen hat«, die am 27. Mai 1915 ver-abschiedet wurde, versuchte die Regierung die anti-armenische Politik ex post zu legitimieren (Kieser/Schaller 2002: 25). In dem Gesetzestext werden die Armenier nicht explizit benannt, sondern die Behörden auto-risiert, gegen Verräter und Kollaborateure mit Zwangsumsiedelungs-maßnahmen vorzugehen (Dadrian 1995: 221; Akçam 1999; Mann 2005). Später wurden weitere Entscheidungen insbesondere Regelungen im Hinblick auf den Umgang mit dem Besitz der Vertriebenen getroffen. Das »Provisorische Deportationsgesetz« wurde nach dem Krieg von der osmanischen Regierung annulliert mit dem Verweis, dass es nicht ver-fassungskonform sei. Zu diesem Zeitpunkt war der größte Teil der ar-menischen Bevölkerung aber bereits vertrieben und vernichtet worden.

Bei der Bewertung der Deportationsentscheidung ist sowohl wissen-schaftlich als auch politisch die Frage umstritten, welche Rolle die re-gionalen bürgerkriegsänlichen Konflikte zwischen muslimisch-türki-schen und armenischen Bevölkerungsteilen bei der Deportationspolitik spielten. Denn vor den systematischen Deportationen Ende April 1915 war es vielerorts zu gewaltsamen interethnischen Auseinandersetzungen gekommen. Dadrian spricht von »sporadic acts of sabotage by isolated individuals and groups of Armenians« (Dadrian 1995: 221; 1993: 194-195). Im Gegensatz dazu unterscheidet Mann (2005) zwischen den Aus-einandersetzungen in den Städten Dörtyol und Zeytun, die die osmani-schen Behörden mit Repressalien bestraften, und die Bedeutung des Aufstands von Van im April 1915. Van war von großer strategischer Bedeutung. Zudem fiel der Aufstand mit der Landung der Entente in Gallipoli zusammen. Die Bedrohung durch den Aufstand von Van wur-de durch die Erfahrung der Desertion von armenischen Soldaten ver-stärkt. Die armenische Legion, die auf der Seite der Franzosen in Kili-kien kämpfte, umfasste etwa 4500 Soldaten. Angesichts dieser Situation stand die Führungsriege der Jungtürken unabhängig von der Frage der Wahrscheinlichkeit einer umfassenden Rebellion in den eigenen Reihen nach Mann vor dem Sicherheitsdilemma, dass »the cost of any such re-bellion would be extremely high. Better strike first to be on the safe side, they may have reasoned.« (Mann 2005: 148) Die türkische Geschichts-schreibung bewertet den Aufstand von Van indessen als Indiz für die Bereitschaft der Armenier zur Kollaboration mit Russland (Gürün 1985; Lewy 2005; McCarthy 2006).

Der generelle Ablauf der Zwangsdeportation sah so aus, dass die Armenier einer Stadt nach einem Verschickungsbefehl aus Istanbul in-nerhalb kürzester Zeit zusammengetrommelt wurden. Den Menschen wurde Zeit gegeben, die von zwei Wochen bis zwei Stunden variieren konnte, sich auf die Deportation vorzubereiten. In dieser Zeit mussten

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sie ihr Hab und Gut entweder veräußern oder mitzunehmen versuchen. Die Männer, die noch nicht inhaftiert oder in Arbeitsbatallione gesteckt worden waren, wurden von den Frauen und Kindern getrennt. In vielen Fällen wurden sie am Ortsrand umgebracht. Der schutzlose Rest der ar-menischen Frauen, Kinder und Alten wurde Richtung syrische Wüste verschickt. Viele starben auf den tagelangen Märschen an Durst, Er-schöpfung oder Krankheiten oder wurden von irregulären Kräften wäh-rend der Märsche umgebracht, vergewaltigt, entführt. Diejenigen, die die Wüste erreichten, starben hier, da keinerlei Vorkehrung für das Eintref-fen dieser Menschen getroffen worden war. Offensichtlich glaubte nie-mand, dass Menschen die Todesmärsche überleben würden und/oder wollte nicht, dass sie tatsächlich überlebten.15

Ideologische Vernichtungs- oder kriegsbedingte Umsiedelungspolitik?

Die Frage, inwieweit es sich bei den Deportationsmaßnahmen um eine von langer Hand geplante, intentionale Aktion der Jungtürken handelte, wird in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung kontrovers disku-tiert.

Die Befürworter einer frühen systematischen Vernichtungsabsicht und -plans (Hovannisian 1992; Melson 1992; Dadrian 1993; Akçam 2006; Kevorkian 2006) begründen den Mord ideologisch. Danach ist der ideologische Wandel, dass sich die jungtürkische Einheits- und Fort-schrittspartei von dem integrativen Osmanismus zu einer exklusiven nationalistischen Ideologie wandte, der entscheidende Aspekt für die Entscheidung, die Armenier des Reiches zu vernichten. Während der armenische Reformplan von 1914 als unmittelbarer Auslöser betrachtet werden kann, geht nach Dadrian (1993) die nationalistische Idee eines homogenen anatolischen Kernlandes auf eine längere Entstehungsperio-de zurück. Danach begannen die Ittihadisten bereits in Folge der Aus-schreitung in Adana 1909 intensiv nach Möglichkeiten der »homogeni-zing the Ottoman Empire under the motto ›Turkey for the Turks‹« (Da-

15 Der amerikanische Konsul Leslie Davis wurde vor Ort Zeuge von Ereig-

nissen, die ihn dazu bewegten, die Provinz als eine »slaughterhouse pro-vince« zu bezeichnen. Auf heimlichen Expeditionen beobachtete er Tau-sende von Leichen, die in der hügeligen Region herumlagen und in dem See trieben. Viele der Leichen waren nackt. Überlebende der Deportatio-nen erzählten grausame Geschichten, Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen waren verbreitet, Kinder und Säuglinge verendeten buchstäblich vor den Augen ihrer Geschwister und Mütter, Mütter brachten ihre Kinder selbst um, um sie vor der Qual des langsamen Tods zu retten (Schaller 2004).

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drian 1993: 179) zu suchen. Die Überlegungen in diesem Zusammen-hang seien schließlich auf einem Treffen im Dezember 1914, zu einem »concrete blueprint« zusammengefasst worden, die als eine »general guideline for […] officials and party overseers in the interior« gedacht gewesen sei.

Auf der anderen Seite stehen Historiker, die einen Prozess der schubweisen und kumulativen Entwicklung in der Radikalisierung der jungtürkischen Absichten sehen (Adanir 1996; Kaiser 2003; Bloxham 2005; Lewy 2005; Mann 2005). Letztere betten die Ereignisse bis und nach April 1915 akribisch in den historischen und militärischen Kontext ein.

Diese unterschiedlichen Interpretationen bei der Erklärung des Zu-standekommens der Mordpolitik bedeuten allerdings nicht, dass die Au-toren den Ereignissen den genozidalen Charakter absprechen. Unabhän-gig von der Einschätzung, inwieweit es sich um eine von Beginn an ge-plante systematische Vernichtungspolitik handelte, herrscht Konsens, dass die armenische Bevölkerung des Reiches ab einem bestimmten Zeitpunkt unter Generalverdacht gestellt und als Ganzes zur Zielscheibe der mörderischen Deportationsmaßnahmen wurde. Auch der durchaus existierende Zusammenhang zwischen der Deportationspolitik und den Entwicklungen an der Kriegsfront können für die große Mehrheit von Wissenschaftlern den Völkermordcharakter der Ereignisse von 1915 nicht widerlegen.

Indessen spielt der Umstand, dass es sich bei der Deportationspolitik wohl um keine von Anfang an genau durchdachte Politik handelte, die sich ausschließlich gegen die armenische Bevölkerung richtete, eine zentrale Rolle bei der Vergangenheitspolitik der Türkei. Die UN-Konvention von 1948, die Völkermord als eine Handlung definiert, »die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören,«16 sieht in der planmäßigen Absicht der Tötung den entscheidenden Tatbestand eines Völkermordverbrechens. Aber gerade dieser Aspekt ist es, der so-wohl den Befürwortern als auch den Gegnern genug Raum für unter-schiedliche Bewertungen bietet (Naimark 2001; Torpey 2005).

16 UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes

von 1948.

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Ausbl ick – internat ionale und türkische Amnesie

Zum Zeitpunkt des Geschehens wussten die europäischen Staaten und die USA über die Verfolgung und Vertreibung der armenischen Bevöl-kerung Bescheid. Dies macht die Kollektivnote der Entente vom 24. Mai 1915 deutlich, in der sie die Bestrafung der Täter in Aussicht stellte.17 In den USA zeugt eine umfangreiche Presseberichterstattung ebenfalls von einem breiten Wissen über die – wie geschrieben wurde – »extermin-ation« der Armenier.18 Amerikanische Zeitungen kündigten an, dass die Verbrecher für die »unprecended crimes« und die »crimes against hu-manity« zur Verantwortung gezogen würden (Housepian-Dobkin 1984: 100f).

Doch die Belange der Armenier gingen trotz dieses Wissens über die Mordpolitik und den Versprechungen der Siegermächte nach der Okto-berrevolution in Russland und dem Sieg der Kemalisten in der Türkei unter. Die ehemals selbsternannten Schutzpatrone der christlichen Min-derheiten ließen die im Friedensvertrag von Sèvres (1919) vorgesehene Gründung eines Armenischen Staates auf der Friedenskonferenz von Lausanne 1923 fallen. Im Friedensvertrag von Lausanne, das zum Grün-dungsdokument der modernen Türkei wurde, gibt es keinen Hinweis auf die Armenier. Auch Regelungen in Bezug auf die Rückkehrmodalitäten der Überlebenden kommen in dem Vertragstext nicht zur Sprache.

Die europäischen Siegermächte und die USA wirkten nicht darauf hin, dass die Türkei als Nachfolgerin des Osmanischen Reiches die Ver-antwortung für die Aufarbeitung der Untaten von 1915 übernahm. Die moderne Türkei und ihre politischen Eliten waren damit außenpolitisch davon freigesprochen, sich der jüngsten Vergangenheit zu stellen. So besiegelte der Lausanner Friedensvertrag die Abwendung der internatio-

17 Wörtlich lautete die Erklärung: »Angesichts dieser Verbrechen gegen die

Menschlichkeit und die Zivilisation erklären die Regierungen der Alliier-ten öffentlich gegenüber der Hohen Pforte, das sie alle Mitglieder der os-manischen Regierung persönlich für diese Verbrechen zur Verantwortung ziehen werden, und ebesno jene ihrer Beauftragten, die in solche Massaker verwickelte sind.« Zitiert in Akçam 2004: 12; vgl. auch Bloxham 2002: 105.

18 Allein in der New York Times wurden mehr als 100 Artikel zwischen April und Dezember 1915 veröffentlicht, die sich mit den Geschehnissen vor Ort beschäftigten. Titel wie »Renewed Massacres of Armenians«, »Armenian Horrors Grow – Massacres Greater than under Abdhul Hami-di!«, »Armenians send to Perish in the Desert – Turks Accused of Plan to Exterminate Whole Population« (zitiert nach Housepian-Dobkin 1984: 101) wird deutlich, dass das Ausmaß der Vertreibungs- und Ermordungs-politik in der zeitgenössischen Berichterstattung dokumentiert ist.

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nalen Gemeinschaft von dem Schicksal der osmanischen Armenier. Ein armenischer Delegierter, der an den Pariser Friedensverhandlungen teil-genommen hatte, gab zu bedenken, dass niemand damit rechnen konnte, dass »from one moment to the next, such political conditions would de-velop that would cause the Allied governments to forget the lavish promises they had made to the Armenian people during the War« (Noradoungian zitiert in Marashlian 1999: 137).

In den Anfangsjahren der Türkischen Republik wurde über die Ver-treibung der Armenier gesprochen. Die Republiksgründer rechtfertigten das Vorgehen gegen die Armenier mit der »Rettung des Vaterlandes«. Es hieß »[h]ätten wir die Ostprovinzen nicht von den armenischen Mili-zen, die mit den Russen zusammenarbeiteten, gesäubert, dann hätte es keine Möglichkeit gegeben, unseren Nationalstaat zu gründen« (zitiert in Akçam 2004: 10). 19 Dafür hatte man in Kauf genommen, selbst als »Mörder tituliert zu werden« (zitiert nach Akçam 2004: 11).20

Bald darauf setzte im Umgang mit der Armenierfrage eine Phase ein, die gänzlich von Schweigen und Nichtthematisierung gekennzeichnet ist. Das Desinteresse der internationalen Gemeinschaft und die Tatsache, dass die überlebenden Armenier mit dem physischen, psychologischen und kulturellem Überleben nach 1915 beschäftigt waren, begünstigte diese Entwicklung. Die westlich-orientierte Türkei wurde für die inter-nationale Staatengemeinschaft bereits in den 1930er Jahren zu einer wichtigen Verbündeten im ideologischen Systemkampf. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es die vitale geostrategische Bedeutung der Tür-kei in der bipolaren Weltordnung, die eine Aufarfbeitungsaufforderung politisch unangebracht erscheinen ließ. Der Einwand des US-Kongressabgeordneten James M. Leath mit Blick auf eine Anerken-nungsinitiative in den 1970er Jahren macht die geopolitischen und inte-ressenbasierten Abwägungen deutlich: »What we are doing here is coun-terproductive […] It is not in our best interests. It is not either strategi-cally, militarily, or any other way […] To single out one segment of NATO, going back to an incident that occured 70 years ago, what good does it do? « (zitiert in Bloxham 2005: 185).

Erst Jahrzehnte später, als armenische Überlebende und ihre Nach-kommen sich in der Diaspora organisierten und durch Erinnerungsver-anstaltungen, auf den »vergessenen Genozid« aufmerksam machten,

19 Bei diesem Zitat, das am 9. November 1946 in der Tageszeitung Cumhu-

riyet abgedruckt wurde, handelt es sich um die Memoiren von Halil Men-tese, der zu der Gründungsriege der Republik gehörte (Akçam 2004).

20 Aus der Rede des Abgeordneten Hasan Fehmi Bey, die er in einer nicht-öffentlichen Sitzung des ersten türkischen Parlaments am 17. Oktober 1920 hielt.

DER MORD AN DEN ARMENIERN

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wurden die geschichtlichen Ereignisse wieder erinnert. Anlässlich des 50. Jahrestages des Massenmordes, also 1965, gedachten Armenier weltweit der Opfer der jungtürkischen Vertreibungspolitik. Die Erinne-rung an 1915, die hier noch spontan stattfand (vgl. Boyajian/Grigorian 1998), wurde in den folgenden Jahren durch gezielte politische Aktionen und schließlich in militanter Form fortgesetzt. Während die friedlichen Mittel des Gedenkens an die Opfer keine besondere Wirkung auf die Erinnerung in der Türkei hatten, änderte sich dies mit den Anschlägen in den 1970er Jahren auf türkische Diplomaten. Die Anschläge zwangen die türkische Politik und Gesellschaft gewissermaßen dazu, sich in der einen oder anderen Form mit den Ereignissen von 1915 zu beschäftigen. Die Militanz eines Teils der armenischen Diaspora war damit zunächst der effektive Auslöser der türkischen und internationalen Erinnerung an den Armeniermord von 1915.

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FORSCHUNGSSTAND

Die Interventionspolitik türkischer Regierung, um die Deutung der histo-rischen Ereignisse von 1915 zu steuern und zu kontrollieren, hat dazu ge-führt, dass die Forschung zur Armenierfrage politisiert ist und die Gren-zen zwischen politischem Aktivismus und wissenschaftlicher Diskussion aufgehoben sind.21 Angesichts der türkischen Vergangenheitspolitik sah sich die historische Forschung z.B. lange gezwungen, die realgeschichtli-chen Fakten der Ereignisse der jungtürkischen Deportationspolitik darzu-legen (vgl. Hovanissian 1999: 203; Öktem 2006). Tiefergreifende Fragen nach Kontext, Mechanismen und Erklärungsmöglichkeiten werden erst in jüngerer Zeit aufgegriffen. Die Politisierung des Themas führte daneben zu einer Polarisierung der Auseinndersetzung in ein »pro-armenisches« bzw. »pro-türkisches« Lager, unter der die Seriosität der wissenschaftli-chen Auseinandersetzung litt, weil Fragen nach Kausalität oder Kontin-genz politisch, moralisch und wissenschaftlich von dem jeweiligen Lager diskreditiert wurden.

Doch diese Einmischungspolitik der Türkei hat sich in der Zwi-schenzeit auch als kontraproduktiv erwiesen. Sie hat die Beschäftigung mit der Geschichte der osmanischen Armenier nicht nur nicht verhin-

21 Die Türkei mischt sich nicht nur in Anerkennungsdebatten auf politischer

Ebene ein, sondern versucht auch, den Wissenschaftsdiskurs zu kontrollie-ren. So setzte sie die israelische Regierung 1980 unter Druck, sie solle da-für sorgen, dass die Armenierfrage nicht auf der »International Conference on the Holocaust and Genocide« behandelt würde (Charny/Fromer 1990; Hovannisian 1994; Smith et al. 1999). Noch in 2002 erreichte die Türkei mit Hilfe ihrer Außenvertretung, dass der Titel einer in Dänemark stattfin-denden Konferenz geändert wurde. Der ursprüngliche Titel »The Arme-nian Genocide: History, Denial, and the European Union« wurde in »The ›Armenian Question‹: Allegations and Denial« geändert.

POLITIK UND ERINNERUNG

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dern können. Vielmehr ist die Art und Weise des türkischen Umgangs selbst in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. So gibt es kaum eine Untersuchung zu den historischen Erfahrungen der osmanischen Armenier, die nicht in der einen oder anderen Form das Leugnungsphä-nomen problematisiert.22 Die Leugnungspolitik der Türkei hat nicht zu-letzt dazu geführt, dass das Phänomen der Leugnung zu einem eigen-ständigen Forschungsbereich in der vergleichenden Genozidforschung geworden ist (Huttenbach 1997).

Die zahlreichen Studien aus unterschiedlichen Disziplinen, die sich mit dem problematischen Verhältnis der Türkei zu ihrer Geschichte von 1915 beschäftigen, können insgesamt in zwei Gruppen geteilt werden: in einer Gruppe dominieren Versuche, die die Gründungsgeschichte und die nationale Erzählung der Türkei für die wenig offene Haltung der tür-kischen Gegenwartsgesellschaft gegenüber dem massenmörderischen Aspekt von 1915 verantwortlich machen. Dieser Forschungsstrang sieht also insgesamt kulturelle Faktoren am Werk, die mit Erfordernissen kol-lektiver Identitätsbildung und -sicherung zusammenhängen und für das problematische türkische Verhältnis zu der nationalen Geschichte ver-antwortlich sind.

Demgegenüber konzentrieren sich Studien in der zweiten Gruppe auf die politischen Aspekte der Leugnungspolitik des türkischen Staates, wie realpolitische, geostrategische oder interessenpolitische Zusammen-hänge. Hier steht nicht so sehr im Vordergrund, warum die Türkei leug-net. Vielmehr geht dieser Forschungsstrang implizit davon aus, dass die türkische Leugnungspolitik eine Folge fehlenden authentischen außen-politischen Drucks ist.

Im folgenden Kapitel steht der skizzierte Forschungsstand im Mit-telpunkt. Es wird dabei auf noch offene Fragen verwiesen und schließ-lich der Beitrag der vorliegenden Untersuchung zum Forschungsdeside-rat dargelegt.

Nat ionale Geschichtsschreibung a ls Fundament des Er innerungsdiskurses

Die Erinnerung an die Geschichte hängt mitunter von der Geschichts-schreibung in einer Gesellschaft ab. Das Wissen, das nationale Ge-schichtsschreibung produziert, erreicht über Schulbücher, Populärlitera-tur oder Alltagswissen eine breite soziale und politische Trägerschaft. 22 Der Verfasserin ist keine wissenschaftliche oder publizistische Beschäfti-

gung mit der Geschichte der Armenier bekannt, in der die Leugnungspoli-tik der Türkei nicht in der einen oder anderen Form thematisiert wird.

FORSCHUNGSSTAND

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Die Geschichtsschreibung liefert damit allgemein akzeptierte und ver-breitete Deutungsrahmen für die Vergangenheit einer Gesellschaft, die im Erinnerungsdiskurs aufgegriffen, ergänzt und angepasst werden.

Grundlegende Rechtfertigungsliteratur

Ausgangspunkt für die Analyse der Frage, welche Rechtfertigungsmus-ter zur Zwangsdeportation der Armenier in der türkischen nationalen Geschichtsschreibung zu finden sind, stellt eine Reihe von Werken dar, die um die 1980er Jahre verfasst wurden. Die Autoren dieser Literatur kennzeichnet dabei, dass sie dem türkischen Staat politisch-ideologisch und institutionell nahe standen, d.h. entweder direkt aus den Reihen des Staates kamen, in indirekten Kontakt mit staatlichen Stellen handelten oder gar im Auftrag der Regierung vorgingen.

Der staatlich geförderten Rechtfertigungsoffensive waren zwei um-fassende türkisch-sprachige Abhandlungen zu der Geschichte der Arme-nier vorausgegangen. Es handelte sich um »Die Armenier in der Ge-schichte und die armenische Frage« aus dem Jahre 1950 von Esat Uras und Y.G. Çarks »Armenier im Dienste des türkischen Staates, 1453-1953« von 1953.23 Während nähere Angaben über den letzteren Autor fehlen, hat die historische Forschung wichtige biographische Daten zu Esat Uras ans Tageslicht gebracht: Dieser zählte nicht nur zu der ersten Generation der Republiksgründer, sondern war zuvor als Mitglied in den Kaderreihen der jungtürkischen Herrschaft aktiv an der Vertreibungs-politik der Armenier beteiligt (Kaiser 2003).

Die gezielt vom Staat eingeleitete Publikationsoffensive mündete 1983 in der einflussreichen Monographie von Kamuran Gürün mit dem Titel »Ermeni Dosyasi«, die 1985 unter dem englischen Titel »The Ar-menian File« erschien.24 Gürün war ein hoher Bürokrat des Auswärtigen Amtes und hatte zeitweise den Posten des Außenministers inne. Sein Kollege, der Diplomat Bilal N. Şimşir, schrieb 1976 das Buch »Malta Sürgünleri« und 1986 »Die armenische Frage« (Şimşir 1976; Şimşir 1986). Şimşir hat daneben mehrere Bücher über die türkischen Opfer

23 Diese Werke heben sich aufgrund ihres vergleichsweise wissenschaftlich

seriösen Anspruchs von der Reihe lokalhistorischer und populärliterari-sche Schriften in den 1950er und 1960er Jahren ab, die Foss (1992) im Hinblick auf die Frage analysiert hat, welches Armenierbild konstruiert wird.

24 Kamuran Gürün organisierte eine Konferenz, um die teilnehmenden Wis-senschaftler aufzufordern, sich professionell mit der Armenierfrage zu be-schäftigen. Nach Heath Lowry blieb dieser Aufruf ungehört, so dass sich Gürün schließlich selbst des Projektes annahm. Interview mit Heath Lowry am 8.5.2003, Princeton (USA).

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armenischer gewaltsamer Übergriffe herausgegeben. Hierzu gehört das zweibändige Werk »Unsere getöteten Diplomaten« (Şimşir 2000). Den Bürokraten aus dem Außenministerium folgten die beiden Angehörigen des türkischen Militärs Sinasi Orel und Süreyya Yuca mit ihrem Buch »The Talat Pasha Telegrams. Historical Fact or Armenian Fiction« (Orel/Yuca 1983), in dem die in der armenischen Literatur als authen-tisch bezeichneten Telegramme von Talat Pasha zur Vernichtung der Armenier als falsche Dokumente entlarvt wurden.

Neben diesen direkt dem Staatsapparat angehörenden Autoren zäh-len Salahi Sonyel und Türkaya Ataöv zu den tragenden Namen, die bei der Formulierung der türkischen Abwehrpolitik gegen armenische und internationale Völkermordkritik mitwirkten und dabei eng mit dem tür-kischen Außenministerium zusammen arbeiteten (Ataöv 1984; Ataöv 1984; Sonyel 1987; Sonyel 1993; Sonyel 2000; Sonyel 2001).

Des Weiteren spielte eine Gruppe von nicht-türkischen Akademikern bei der Entwicklung und Stabilisierung der türkischen offiziellen Hal-tung und der politischen Abwehr der »armenischen Thesen« eine tra-gende Rolle. Zwei Namen sind in diesem Zusammenhang von besonde-rer Bedeutung: Justin McCarthy (University of Louisville) und Heath Lowry (Princeton University). Letzterer war vor seiner Professur an der Princeton University Direktor des »Turkish Studies Institute« in Wa-shington D.C., das sich der Imagepflege der Türkei in den USA widme-te, die wissenschaftliche Beschäftigung mit türkeispezifischen Themen förderte und Stipendien für amerikanische Studenten ausschrieb (vgl. Hovannisian 1999; Smith et al. 1999). Eine enge Kooperation mit türki-schen staatlichen Behörden und türkisch-amerikanischen Interessenver-tretungen lag diesem Posten naturgemäß zugrunde. Doch die Zusam-menarbeit von Heath Lowry und der türkischen Botschaft in den USA ging im Fall der Armenischen Frage weiter. Es stellte sich heraus, dass Lowry systematisch türkeikritische Publikationen verfolgte, der türki-schen Botschaft über die neuesten Entwicklungen berichtete und Vor-schläge zu möglichen Reaktionen machte (vgl. Smith et al. 1999). Die-ser Vorfall löste eine breitere Debatte in akademischen Kreisen in den USA aus, bei der die Verantwortung von Universitäten bei Fällen von wissenschaftlichen und politischen Verstrickungen hinterfragt wurde.25 25 Lowry war der Organisator einer von 69 namhaften Wissenschaftlern

unterschriebenen Anzeige im Vorfeld einer Initiative zur Anerkennung des Völkermords in den USA, der am 2. Dezember 1985 in der New York Times, der Washington Post und der Washington Times erschien. Darin appellierten die Unterzeichner an das amerikanische Repräsentantenhaus, dass die historische Forschung noch einen langen Weg vor sich habe und die Umstände der Ereignisse von 1915 nicht völlig geklärt seien. »[W]hile fully supporting the concept of a ›National Day of Remembrance of Man’s

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Justin McCarthy, der sich auf Bevölkerungsstatistiken und die zahlen-mäßige Zusammensetzung und Verteilung der ethnischen und religiösen Gruppen im Osmanischen Reich konzentriert (McCarthy 1983; 1995), steht im Gegensatz zu Heath Lowry, der sich seit dem Skandal um seine Zusammenarbeit mit türkischen Behörden nicht mehr zur Armenierfrage äußert, der türkischen Regierung mit seiner Expertise bis in die Gegen-wart zur Seite. Er hielt 2005 anlässlich des 90. Jahrestags des Völker-mords, als die Regierung über politische Offensiven in der Armenierfra-ge nachdachte, eine Rede im türkischen Parlament und machte dabei eine Reihe von Vorschlägen, wie die armenischen Völkermordanschul-digungen widerlegt werden könnten.

Beide – Lowry und McCarthy – sind Schüler des in 2006 verstorbe-nen Historikers Stanford Shaw (University of California Los Angelos), der zusammen mit seiner Frau das Buch »The History of the Ottoman Empire« (Shaw/Shaw 1977) verfasste, das nicht nur zum Vorzeigewerk türkischer staatlicher Eliten avancierte, sondern sich als Standardwerk zur Osmanischen Geschichte auch beim Fachpublikum durchsetzte. Da-rin wird argumentiert, dass der osmanische Staat mit der Deportations-politik auf armenische Kollaboration reagierte. Dass die Shaws aufgrund dieser Darstellung von militanten Armeniern in den 1970er Jahren mas-siv unter Druck gesetzt wurden und zeitweise unter Personenschutz standen, wird von türkischer politischer Seite dabei als Beleg vorge-bracht, dass es sich bei der Armenischen Frage um ein politisches Pro-blem des armenischen Terrorismus handeln würde.

Inzwischen ist eine neue Generation von türkischen und türkisch-stämmigen Wissenschaftlern in Erscheinung getreten, die die Rechtferti-gungsliteratur aufgreift und insgesamt von einer verzerrten Darstellung der Geschichte von 1915 in Folge der Dominanz armenischer politischer Akteure im Diskurs ausgeht. Dazu zählen etwa Hüsamettin Yildirim und die in Deutschland lebenden Autoren Ali Söylemezoğlu und Cem Özgö-nül (Yildirim 2001; Söylemezoğlu 2005; Özgönül 2006).

Eine weitere Säule in der staatlichen Leugnungspolitik spielt schließlich die semi-staatliche »Türkische Geschichtsgesellschaft« (Türk Tarih Kurumu, TTK), die die Armenische Frage seit Anfang der 2000er Jahre zu einem Forschungsschwerpunkt gemacht hat. In dem von der TTK herausgegebenen Band mit dem deutschen Titel »Die Armenier: Deportation und Migration« konzentrieren sich die Autoren um den

Inhumanity to Man‹ we respectfully take exception to that portion of the text which singles out for special recognition: ›the one and one half mil-lion people of Armenian ancestry who were victims of genocide perpe-trated in the years between 1915 and 1923‹.« (Zitiert nach Charny/Fromer 1998.)

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ehemaligen Vorsitzenden der TTK, Yusuf Halaçoğlu, auf Bevölkerungs-statistiken und die Zahl der überlebenden, toten und freiwillig ausge-wanderten Armenier (Özdemir et al. 2004). Im Kern kommen die Auto-ren zu weit niedrigeren Opferzahlen, die sie der Deportationspolitik zu-schreiben, als die bisherige Forschung (vgl. für eine ausführliche Kritik Akçam 2005). Nicht zuletzt resumiert Halaçoğlu, dass die jungtürkische Deportationspolitik wohl die am besten organisierte Umsiedelungsak-tion des 20. Jahrhunderts gewesen sei (Halaçoğlu 2001; vgl. zur Kritik Kieser 2005b).

Rechtfertigungsmuster der Deportationspolitik Welches Verständnis über die Geschichte der Armenier und die Depor-tationspolitik von 1915 ist nun in der oben vorgestellten Rechtferti-gungsliteratur zu finden? Dieser Frage sind historische Arbeiten nachge-gangen und haben die kritischen Aspekte in der türkischen Historiogra-phie herausgearbeitet, die im Erinnerungsdiskurs zur Armenierfrage als kollektive Geschichtsbilder immer wieder auftauchen (Smith 1991; Adanir 1996; Hovannisian 1999; Adanir/Bonwetsch 2005). Relevant sind in diesem Zusammenhang nach Adanir (1996; 2005): • die generelle Bewertung der Stellung der Armenier im Osmanischen

Reich und der osmanisch-armenischen Beziehungen, • die Einschätzung über die Entstehung der Armenischen Frage, des

russisch-osmanischen Krieg (1877) und des Berliner Vertrags (1878),

• die Entstehung von armenischen revolutionären und nationalistischen Gruppen und die Gewaltwellen in den 1890er Jahren und schließlich

• die Einschätzung über die muslimischen Opfer und Vertriebenen aufgrund der zsaristischen Expansionspolitik und den Unabhängig-keitsbewegungen im Balkan.

Osmanisch-armenische Harmonie und Marginalisierung der Armenier

In der türkischen Geschichtsschreibung werden die türkisch-arme-nischen Beziehungen in der Regel als harmonisch und friedlich darge-stellt (u.a. Uras 1953; Cark 1952; Halaçoğlu 2004). Die Chancen und Möglichkeiten der Armenier im Reich, die in erster Linie in der Reli-gionsfreiheit und weitgehender Autonomie in intragemeinschaftlichen Belangen bestanden, werden dabei idealisiert (vgl. Kieser 2005b). Zu-gleich erscheinen Armenier historisch als ein in verschiedenen Gebieten verstreutes Volk, das stets unter Fremdherrschaft gelebt hatte (vgl. dazu

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Foss 1992). Betont wird, dass sie in keinem Gebiet des Osmanischen Reiches zur Zeit der Deportation über eine nennenswerte Mehrheit ver-fügten (McCarthy 1983). Das Bild der Armenier, als ein historisch be-herrschtes Volk, kommt bei Gürün (1985: 20) folgendermaßen zum Ausdruck. Die früheste Geschichte der Armenier zeige, »that the belief still current in certain Armenian circles, that the Ottomans conquered Armenian territory, thereby bringing to an end the existing Armenian state and enslaving the population, is false.«

Europäischer Imperialismus

Der entscheidende historische Moment für die Deportationspolitik von 1915 liegt für die türkische Historiographie im ausgehenden 19. Jahr-hundert und dem Zerfallsprozess des Osmanischen Reiches (vgl. Adanir 2005: 6). Die russischen Reformforderungen für die Armenier im Ver-trag von San Stefano (1877) nach dem osmanisch-russischem Krieg, aber auch die abgemilderte Neuformulierung von pro-armenischen Re-formen im Berliner Vertrag (1878) werden in der türkischen Historio-graphie aus der Perspektive präsentiert, dass die Europäer eine imperia-listische Politik betrieben und sich in die inneren Angelegenheiten des Osmanischen Reiches einmischten, um ihre eigenen Interessen zu reali-sieren (Sonyel 1987; Sonyel 2000; Şimşir 2004). Mit dieser Internatio-nalisierung der Armenischen Frage wurde das Osmanische Reich in einer Phase der äußersten Bedrohung zusätzlich belastet und an den Rand der Handlungsfähigkeit gedrängt. Die Suche nach europäischer Unterstützung von Seiten der Armenier, sei es vor der Jahrhundertwende oder im Vorfeld des Ersten Weltkrieges, erscheinen aus dieser Perspek-tive als ein weiterer Schlag im Zerfallsprozess des Reiches. Danach wendeten sich die einstige »treue Millet« der Armenier von dem Osma-nischen Reich ab, um mit Hilfe der Europäer unabhängig zu werden. Armenischer Nationalismus

Armenischer Nationalismus spielt eine Schlüsselrolle in der türkischen Historiographie und dem Versuch, die Vertreibung der Armenier von 1915 zu erklären (vgl. Gürün 1985; Öke 1988). Dabei wird übersehen, dass es sich bei der armenischen nationalen Bewegung um ein Elitenpro-jekt handelte und die Mehrheit der armenischen Bevölkerung sich loyal gegenüber dem osmanischen Staat verhielt (Libaridian 2004). Dagegen erscheinen die Gründung armenischer revolutionärer Parteien in den 1880er Jahren, die interethnischen Zusammenstöße in den 1890er Jahren und schließlich die vereinzelten armenischen Überläufer zu den russi-

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schen Truppen während des Ersten Weltkriegs in der türkischen Ge-schichtsschreibung als ein organisierter Aufstand gegen den osmani-schen Staat. Die sozio-ökonomischen Ursachen armenischer Aufstände vor der Jahrhundertwende und die Selbstverteidigungsaspekte während des Ersten Weltkriegs (vgl. Dadrian 1995), als die Armenier in den öst-lichen Provinzen vermehrt mit lokalen muslimischen Bevölkerungs-gruppen aufeinander prallten, werden nicht berücksichtigt. Die aufge-heizte Atmosphäre unter den ethnischen Gruppierungen, nicht zuletzt aufgrund der steigenden Konkurrenz um Land und Ressourcen mit dem massenhaften Strom muslimischer Flüchtlinge aus dem Kauskasus und dem Balkan, werden in türkischen Abhandlungen zur Zwangsdeporta-tion ebenfalls nicht thematisiert.

Insgesamt folgt die türkische Geschichtsschreibung zur Vertreibung der Armenier folgender Logik: Chronische armenische Aufstände und die Kollaboration von Armeniern mit den feindlichen Truppen zwangen die osmanische Führung zu Reaktionen. Dabei gab der Aufstand von Van im April 1915 den entscheidenden Anstoß für die Entscheidung des jungtürkischen Regimes, die Armenier aus der unmittelbaren Kriegszone in »sicherere« Gebiete zu deportieren (Gürün 1983; Shaw 1977; Mc-Charty 2006). Diese Darstellung, die in der Leugnungsforschung als »Provokationsthese« beschrieben wird (Melson 1992) übersieht jedoch, dass die Deportationen nicht nur in militärisch sensiblen, sondern auch in kriegsfernen Gebieten stattfanden. Die Sage von dem Bürgerkrieg und die Konstruktion einer starken armenischen nationalen Bewegung sug-geriert schließlich, dass es sich bei den Konfliktparteien um gleichwerti-ge Kontrahenten in einem gleichwertigen Konflikt handelte (vgl. Blox-ham 2005).

Muslime als die eigentlichen Opfer der Geschichte

Die Periode von 1911 bis 1922, also zwischen dem Ausbruch der Bal-kankriege bis zu der Gründung der Türkei 1923, werden in der türki-schen Historiographie generell als eine Phase äußersten Leidens für die Menschen auf dem Gebiet der heutigen Türkei gerahmt (McCarthy 1983; Ataöv 1983). Danach litten nicht nur Armenier unter der Aus-nahmesituation und dem Kriegschaos. Aus der Perspektive der Massen-vertreibungen im Balkan und dem Kaukasus seit Mitte des 19. Jahrhun-derts sind es die Muslime, die die eigentlichen Opfer imperialistischer Politik darstellen (vgl. zur Kritik Quatert 2006).

Die Herausstellung der muslimischen Opfer in der Geschichte findet sich in den Schriften von jungtürkischen Größen wieder, wie Kieser (2005a) herausgefunden hat: So bediente sich Resid Saffet, ein dem

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jungtürkischen Führungskader nahe stehender Diplomat und Historiker, nach dem Ersten Weltkrieg einer ausgeprägten Opferrhetorik. Vergli-chen mit den immensen türkisch-muslimischen Opferzahlen aufgrund der europäischen und russischen Expansionspolitik seien die armeni-schen Opfer der Deportationspolitik ein »Scherz« (zitiert in Kieser 2005a: 78). Vermutlich diente die Konzentration auf die Opferrolle der Türkei dazu, im Vorfeld der Pariser Friedensverhandlungen auf die neue Ordnung im Nahen Osten Einfluss zu nehmen. Aber insbesondere der Verweis auf die Massaker durch armenische Truppen bei ihrem Rück-zug im Jahre 1918 zeigt einen verschleiernden und immer wiederkeh-renden Topos im türkischen Vergangenheitsdiskurs. Denn mit diesem Verweis auf tatsächliche Massaker durch armenischen Milizen und Sol-daten in den Reihen der russischen Armee wird der wichtige Aspekt unterschlagen, dass die Deportationspolitik mit Hunderttausenden von armenischen Opfern den Rachezügen der armenischen Milizen voraus-gingen.

Von nationalistischem zu postnationalistischem Erinnerungsdiskurs?

Eine weitere Reihe von Literatur konzentriert sich auf die Frage, welche Phasen bei dem türkischen nationalen Umgang mit der Armenierfrage seit der Gründung der Republik zu beobachten sind (Göçek 2003; Kaiser 2003). Unterschiede in der Aufarbeitung der Deportationspolitik von 1915 werden etwa für die folgenden Phasen festgestellt: a) die unmittel-bare Nachkriegszeit und dem Beginn der Unabhängigkeitsbewegung (1918-1919), b) die Republiksgründung, also die 1920er Jahre, c) die 1980er und schließlich d) die 2000er Jahre. Insgesamt wird dabei von einem allmählichen Wandel des Diskurses – von einem nationalistischen zu einem postnationalistischen Diskurs – gesprochen (Göçek 2005; Kieser 2005a).

Die Kriegsgerichtsprozesse unmittelbar nach Ende des Krieges spie-geln nach Göçek (2003) den Versuch der osmanischen Regierung wider, die fernab von Istanbul stattfindenen Deportationen zu untersuchen und die Täter zur Verantwortung zu ziehen (auch Hovanissian 1999). Die Kriegsgerichtsprozesse, die ab 1919 im Zuge der nationalen Unabhän-gigkeitsbewegung der Kemalisten im anatolischen Kernland eingestellt wurden, werden hier als Aufklärungsversuch der osmanischen Regie-rung interpretiert und als eine »investigative Phase« des Umgangs mit den jungtürkischen mörderischen Umsiedelungsmaßnahmen beschrie-ben.

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Diese Bewertung der Kriegsgerichtsprozesse lässt nach Hilmar Kai-ser (2003) aber die zahlreichen apologetischen Schriften führender Itti-hadisten außer Acht. In der staatsnahen, nationalen türkischen Ge-schichtsschreibung wird die Glaubwürdigkeit der Kriegsgerichtsprozes-se ebenso in Frage gestellt. Hier sind es allerdings die Besetzung Istan-buls durch die Alliierten und die geringen Handlungsspielräume der os-manischen Regierung, die Zweifel an den Gerichtsverfahren aufkommen lassen (Şimşir 1976). Die Verurteilung führender Ittihadisten wird als ein politisches Zugeständnis der osmanischen Regierungen eingestuft, um die Alliierten vor den anstehenden Pariser Friedensverhandlungen milde zu stimmen und sie von dem Kooperationswillen zu überzeugen (Gürün 1985).

Im Gegensatz zu der kontroversen Einschätzung der Kriegsgerichts-prozesse herrscht Konsens, dass die Armenierfrage die politische Agen-da des neugegründeten türkischen Staates beherrschte. Der Vergangen-heitsdiskurs war hier ein Gegenwartsdiskurs über konkrete vergangen-heitspolitische Probleme, die es im Rahmen der Transformation institu-tionell, juristisch und politisch zu regeln galt. Es ging in dieser Phase auch um die Frage, wie mit überlebenden oder zurückkehrenden Arme-niern und ihrem Besitz umgegangen werden sollte (Marashlian 1999; Hovanissian 1999). Der Diskurs richtete sich an externe Adressaten. Es-galt, Imagepflege zu betreiben und eine breite internationale Akzeptanz zu erreichen (Kieser 2005a). Das endgültige Scheitern der Gründung eines Armenischen Staates auf der Lausanner Konferenz (1923) ebnete schließlich den Weg für politisches Vergessen der Armenierfrage in der Türkei.

Der aktive politische Umgang mit den historischen Erfahrungen der Armenier setzte erst in den 1980er Jahren als Reaktion auf vorausgegan-gene und andauernde Terroranschläge durch armenische Gruppen ein (Kieser 2005a) und äußerte sich in der bereits erwähnten staatlich geför-derten Rechtfertigungsliteratur.

Schließlich wird ein seit Anfang der 2000er Jahr in Gang gekomme-ner »postnationalistischer« Wandel im Erinnerungsdiskurs der Türkei festgestellt (Göçek 2003; Kieser 2005b). Die gestiegene Präsenz der Armenierfrage im öffentlichen Raum und die starke Zunahme der Be-schäftigung mit der Geschichte der Armenier in Literatur, Kunst, Thea-ter etc. werden als Indikatoren für solch einen Wandel gesehen. Die Au-toren führen diesen Wandel auf internationalen Meinungsaustausch, Symposien, der Verbreitung des Internet als alternativen Informations-provider und nicht zuletzt der Migrationserfahrung von Türken in Euro-pa zurück.

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Erklärungsansätze für den Er innerungsdiskurs

Der zweite Forschungsstrang, der die Fragestellung der vorliegenden Studie berührt, geht den möglichen Ursachen der türkischen Leug-nungspolitik nach. Während historische Untersuchungen in diesem Zu-sammenhang nahe legen, dass ein offener und kritischer Umgang fun-damentale Aspekte nationaler Identität in Frage stellt und mit dem Gründungsmythos der modernen Türkei kollidiert, argumentieren Stu-dien im Bereich der vergleichenden Genozidforschung, dass das lang-jährige Ausbleiben eines authentischen außenpolitischen Drucks der Türkei wenig Veranlassung gab, sich mit der Geschichte von 1915 selbstkritisch auseinanderzusetzen.

Der Gründungsmythos: »Auferstanden aus der Asche«

Die Gründung der modernen Türkei wird in der nationalen Geschichts-schreibung, die im Jahre 1919 und dem Beginn der Unabhängigkeitsbe-wegung unter Mustafa Kemal ansetzt (Poulton 1997; Göçek 2005), als »Auferstehung aus der Asche« konstruiert. Der Lausanner Friedensver-trag, in dem die harten Bestimmungen des Vertrags von Sèvres (1920) revidiert werden konnten, symbolisiert dabei als Gründungsdokument die Geburt der Türkischen Republik.

Die realhistorische Grundlage für die Konstruktion des Gründungs-mythos »Auferstanden aus der Asche« stellt die desolate Lage des Os-manischen Reiches nach der Kriegsniederlage dar. Zum einen stand es unter der Besatzung der Alliierten, die nur einen Rumpfteil des heutigen Staatsgebietes für die Türkei vorgesehen hatten. Zum anderen schien die Aussicht die Bevölkerung, die seit 1911 mehr oder weniger im Dauer-kriegszustand lebte und kriegsmüde war, für den nationalen Befreiungs-kampf zu mobilisieren, denkbar gering (Oran 2001a). Doch die Beset-zung von Izmir im Mai 1919 durch Griechenland und die Gründung der Armenischen Republik im Osten wirkten sich enorm mobilisierend auf die Bevölkerung aus (Göl 2005). Im inneren Anatoliens begann sich eine nationale Widerstandsbewegung zu formieren, bei dem »Gesell-schaften zur Verteidigung der nationalen Rechte« gegründet wurden und sich im so genannten Nationalen Pakt (Misak-i Milli) zusammenschlos-sen.

Die Truppen der nationalen Widerstandsbewegung konnten im Herbst 1919 die armenischen Truppen entscheidend zurückschlagen. Als die Daschnak-Regierung in Armenien noch von den Bolschewiken ge-stürzt wurde, gelang es den Kemalisten im Dezember 1920 die Grenzen von 1878 wiederherzustellen. Der erfolgreiche Widerstand auch in den

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übrigen besetzten Gebieten führte zu neuen Verhandlungen zwischen Frankreich, England, Griechenland und Italien. Diese endeten mit der Unterzeichnung des Lausanner Vertrages (1923), der in weiten Teilen den Forderungen des Nationalen Paktes entsprach. Die endgültige Ab-wendung eines armenischen Staates und eines autonomen Kurdistans waren die wichtigsten Ziele der Gründungsväter der modernen Türkei. Dass sie diese Ziele gegen die mächtige europäischen Staaten in harten Verhandlungen durchsetzen konnten, perfektioniert die nationale Erzäh-lung von der »Auferstehung aus der Asche«: Wenige Jahre zuvor noch in einem desolaten, von mehreren Staaten besetzten Zustand, ging die Türkei – obwohl Verliererin des Ersten Weltkrieges – am Ende doch als Siegerin hervor.

Personelle und strukturelle Kontinuitäten Während die nationale Erzählung die Gründung der Türkischen Repu-blik als Stunde Null und radikale Abkehr von dem Ancien Regime kons-truiert, hat die historische Forschung bereits früh auf die strukturellen und personellen Kontinuitäten hingewiesen. So spielte die nach dem Weltkrieg offiziell aufgelöste jungtürkische Partei für Einheit und Fort-schritt eine wichtige Rolle in der Widerstandsbewegung unter Mustafa Kemal. Mehr noch, »it was in fact the C.U.P. which took the initiative in organizing the national struggle, possibly according to a prepared plan« (Zürcher 1984: 69). Der Übergang von der jungtürkisch kontrollierten osmanischen Regierung zu den ersten Jahren der Republik ging nahtlos vor sich. Die alte Elite kontrollierte den neuen Staat und verfolgte dabei ihre nationalistischen Ideale (Kaiser 2003).

Diese Kontinuität hatte weitreichende Folgen für die Aufarbeitung der Massaker an den Armeniern: Ehemalige Täter spielten in den vor-dersten Reihen der Republik eine tragende Rolle und setzten nach kurz-zeitigen Einbrüchen ihre Karrieren fort (Akçam 1999; 2004). Das Bei-spiel des Autors des ersten und bis heute einflussreichen türkisch-sprachigen Pionierwerkes zur Armenierfrage, Esat Uras, ist im vorlie-genden Zusammenhang besonders interessant. Esat Uras hatte als Ange-höriger des inneren Zirkels der Ittihat ve Terakki die Zwangsdeporta-tionspolitik nicht nur mitorganisiert, sondern wahrscheinlich mindestens einmal selbst bei einer Exekution teilgenommen (Kaiser 2003). Nach der Kriegsniederlage des Osmanischen Reiches wurde Uras im April 1919 im Rahmen der Kriegsgerichtsprozesse wegen Mordes angeklagt. Er floh, schloss sich der nationalen Unabhängigkeitsbewegung im Inneren des Landes an und war schließlich Abgeordneter im ersten türkischen

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Parlament. In den 1930er Jahren spielte er eine tragende Rolle bei der Formulierung der Türkischen Geschichtsthese (Türk Tarih Tezi).

In dieser nationalen Geschichtsschreibung wurden die personellen und ideologischen Kontinuitäten zwischen der jungtürkischen Herrschaft und der modernen Türkei durch die Konstruktion eines radikalen Bruchs mit dem Ancien Regimes überdeckt. Eine Reihe von Maßnahmen zur Schaffung einer nationalen Identität, die auf ethnischer und nicht mehr religiöser Zugehörigkeit gründen sollte, gipfelte neben der Türkischen Geschichtsthese in der Sonnentheorie, wonach die Türken zur Wiege der menschlichen Zivilisation erklärt und die historisch längere Präsenz der Armenier und anderer nicht-türkischer Gruppen auf anatolischem Gebiet geleugnet wurde (Alici 1996). Noch in den 1990er Jahren basierten die Schulbücher für Grund-, Mittel- und Oberklassen auf der Sage der Tür-kischen Geschichtsthese (Ersanli Behar 1992; Grigoriadis 2006).

Der konstruierte Bruch mit der osmanischen Vergangenheit, indem die vermeintlich vorosmanischen türkischen historischen Wurzeln betont wurden, wurde auf institutioneller Ebene flankiert. Die Einführung des lateinischen Alphabets (1928) und die Gründung der Türkischen Ge-schichtsgesellschaft (TTK) sind die wichtigsten institutionellen Neue-rungen, die die Republiksgründer im Rahmen des Nationalstaatsprojekts in Angriff nahmen. Während die Einführung der neuen Schrift die Aus-einandersetzung mit der vorrepublikanischen Geschichte erheblich er-schwerte, zählt die TTK bis heute zu den tragenden Säulen der Bewah-rung der republikanischen Ideologie, insbesondere im Hinblick auf die Rechtfertigung der Massaker von 1915. Die politische Mission der Ge-sellschaft hatte bereits zu Beginn der Republik und der Schaffung einer nationalen Identität eine wichtige Rolle gespielt. Das instrumentelle Verständnis im Hinblick auf die nationale Funktion von Geschichts-schreibung und die politisch-ideologische Ausrichtung der TTK haben sich kaum geändert (Behar 1992; Kieser 2005a). Die TTK sieht ihre Aufgabe darin, die »Genozid-These« zu entkräften (Akçam 2005). Dies zeigt auch der Umstand, dass die TTK der vom türkischen Außenminis-terium Anfang der 2000er Jahre gegründeten »Arbeitsgruppe zur Ab-wehr der unwahren armenischen Behauptungen« angehört.

Geopolitische Erklärungen

Die vergleichende Genozidforschung beschäftigt sich in besonderem Maße mit Leugnungsphänomenen. Die Leugnung von Völkermorden wird hier als »letzte Phase von Genoziden« (Charny/Fromer 1998: 48) verstanden, die »integraler Bestandteil« des genozidalen Prozesses ist

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(Huttenbach 1997) und nicht zuletzt zu genozidaler Gewalt beiträgt (Smith et al. 1999: 287; Housepian-Dopkin 1984).

Eine Reihe von Autoren konzentrierte sich daher auf die wissen-schaftliche Konzeptualisierung des Leugnungsbegriffs (vgl. einschlägig Lipstadt 1993). Hier kommt ein weitgreifendes Verständnis von Leug-nung zum Tragen: Als Genozidleugner gelten auch solche Akteure, die den Standpunkt einer unbegrenzten Meinungsäußerungsfreiheit einneh-men und daher z.B. gegen die rechtliche Sanktionierung der Leugnung des Holocaust und anderer Genozide eintreten (Charny 2001; Theriault 2003).26

Die Forschungsliteratur, die sich speziell mit der Frage beschäftigt, warum die Türkei den Mord an den Armeniern leugnet, nimmt die Ef-fektivität der türkischen Leugnungspolitik in der internationalen Politik zum Ausgangspunkt. Die Türkei mischt sich regelmäßig in innenpoliti-sche Anerkennungsdebatten ein und konnte zahlreiche Anerkennungs-initiativen verhindern. Diese Interventionspolitik war vor allem in den USA erfolgreich, wo zahlreiche Initiativen von armenisch-amerika-nischen Interessenvertretungen, die jungtürkische Vertreibungspolitik vom Kongress offiziell als Völkermord anerkennen zu lassen, scheiter-ten. Das Verteidigungsministerium, das State Departement und der Prä-sident wiesen regelmäßig auf die Gefahr hin, dass eine Völkermordan-erkennung die nationalen Interessen der USA gefährde. Diesen Mah-nungen ging in der Regel massiver politischer Druck der Türkei voraus, bei der mit Aufgabe der Zusammenarbeit auf militärstrategischem Ge-biet oder der Sanktionierung amerikanischer wirtschaftlicher Interessen gedroht wurde.

Zwar passierten zwei Anerkennungsinitiativen, die wie alle übrigen Initiativen als so genannte non-binding resolutions keine zwingenden Rechtsfolgen beinhalten, im Jahre 1974 und 1984 im Repräsentanten-haus (Sassounian 2005). Doch auch hier erwiesen sich außenpolitische Erwägungen als überlegen, so dass politische Konsequenzen ausblieben. Obwohl die 1984 angenommene Resolution zur Einführung eines natio-nalen Erinnerungstags »Man’s inhumanity to Man« den Präsidenten be-fugt, die historischen Erfahrungen der Armenier als Genozid zu be-zeichnen, hat bislang kein amerikanischer Präsident davon Gebrauch

26 In diesem Kontext gelten auch Persönlichkeiten, die sich in der einen oder

anderen Form kritisch im Hinblick auf die Erinnerung an den Holocaust äußern, als Leugner (Charny 2001). Dazu zählt etwa der renommierte Ho-locaustforscher Steven Katz, der die These der Einzigartigkeit des Holo-caust vertritt. Denn, so die Kritiker, während »neo-Nazis deny a single ge-nocide, exclusivists deny many.« (Churchill 2000)

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gemacht. Anlässlich der alljährlichen Gedenkrede zum 24. April hat kein amerikanischer Präsident je explizit von Völkermord gesprochen.

Vor diesem Hintergrund machten die meisten Forscher machtpoliti-sche Faktoren als maßgeblichen Grund für die türkische Leugnung des Massenmordcharakters von 1915 aus (vgl. Hovanissian 1994; 1999; Smith 1991; Bloxham 2002). Hier herrscht Konsens, dass die Leug-nungspolitik mitunter ein Resultat der geostrategisch vitalen Bedeutung der Türkei – insbesondere während des Ost-Westkonflikts – ist. Die di-rekte Grenze zur Sowjetunion machte die Türkei zu einem Schlüsselver-bündeten in dem westlichen Militärbündnis NATO. Die Intervention türkischer Regierungen mit Verweis auf diese Bedeutung und ihre Schutzfunktion an der Südostflanke der westlichen Hemisphäre stieß bei den Partnern stets auf Verständnis. Diese Art des politischen Vorgehens und der Erfolg, was die Unterbindung von Anerkennungen betrifft, be-zeichnet Hovanissian (1994) in Anlehnung an den Historiker Terence Tres als »narrative of power«.

Die türkisch-israelischen Beziehungen und das politische Gewicht der Türkei im Nahen Osten sind weitere Faktoren, die in der Forschung als Ursachen der Leugnungspolitik des türkischen Staates herausgestellt werden (vgl. Smith et al. 1999; Bloxham 2002). Die Türkei ist das ein-zige muslimische Land, das in der nahen Umgebung Israels freundliche Beziehungen zu dem Land pflegt. Beide Staaten können zudem auf eine langjährige Kooperation im militär- und sicherheitspolitischen Bereich verweisen. Wie im Fall der USA haben außenpolitische Erwägungen Israel bislang davon abgehalten, den Genozid an den Armeniern anzu-erkennen (Auron 2000). Die außenpolitische Bedeutung der Türkei für Israel spiegelte sich in den Genoziddebatten der USA insofern wider, als einflussreiche jüdisch-amerikanische Interessenvertretungen die Geno-zidpolitik der Türkei lange unterstützten. Erst in 2007 gab die Anti-Defamation League aufgrund massiven Drucks ihrer Basis ihre Politik auf, die Vertreibung der Armenier nicht als Genozid zu bezeichnen.

Im Kontext des gemeinsamen Vorgehens jüdisch-amerikanischer Organisationen und türkischer Lobbygruppen wirkte sich das »juden-freundliche« Image der Türkei positiv aus. Diese Vorstellung geht auf die osmanische Geschichte zurück, als die sephardischen Juden Spa-niens vor Verfolgung Zuflucht und Schutz im Osmanischen Reich er-hielten (Charny/Fromer 1998; Jorgensen 2003). Zudem gewährte die Türkei Juden die Durchreise nach Palästina und andere sicherere Orte während der Naziherrschaft. Das Bild einer besonderen Beziehung zwi-schen jüdischen Gemeinschaften und der Türkei geht auf den Historiker Stanford Shaw (1993) zurück. Der türkische Staat hat dies insofern im eigenen Interesse eingesetzt, als er die Konzentration auf den Holocaust

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und seinen einzigartigen Charakter für die Relativierung des armeni-schen Falls instrumentalisierte.

Die meisten Studien, die auf den machtpolitischen Aspekt der türki-schen Leugnungspolitik hinweisen, favorisieren damit die Bedeutung der türkisch-amerikanischen und die türkisch-israelischen Beziehungen für die Erklärung der Leugnungspolitik der Türkei. Fehlender nachhalti-ger außenpolitischer Druck wird hier als eigentliche Ursache für die ge-ringe Bereitschaft der Türkei zu einem offenen Geschichtsumgang dia-gnostiziert (Torpey 2005).

Forschungslücke

Wie gezeigt wurde, geben historiographische Untersuchungen zum Er-innerungsdiskurs in der Türkei einen fundierten Einblick in historisch gewachsene Begründungsmuster der Deportationspolitik. Diese Arbeiten stellen auf die Kontinuität sedierter Rechtfertigungsmuster ab, ohne Trägergruppen und zeitliche Bezüge herzustellen.

Die Erkenntnisse stellen damit einerseits eine wichtige Grundlage für die Frage dar, inwieweit Deutungsrahmen und Rechtfertigungsmus-ter im Erinnerungsdiskurs der Türkei auf die nationale Geschichts-schreibung zurückzuführen sind oder die dort angelegten kausalen Zu-sammenhänge aufgreifen oder verwerfen. Andererseits ist die Frage of-fen geblieben, welche dieser Rechtfertigungsmuster sich zu Rahmen und Topoi, d.h. stabilen identifikationsfähigen Mustern durch welche sozia-len Träger, entwickelt und wann und in welcher Ausprägung sie Ein-gang in den öffentlich-politischen Erinnerungsdiskurs gefunden haben. Die Frage, wie sich die von der türkischen Historiographie produzierte Geschichtsdeutung im Gegenwartsdiskurs empirisch niederschlägt, ob sie gleich geblieben, sich gewandelt hat, und wenn ja, in welcher Form, ist also ein Forschungsdesiderat, dem sich die vorliegende Studie wid-met.

Zudem geht die Studie dem in der bestehenden Forschung identifi-zierten postnationalistischen Wandel des Erinnerungsdiskurses in der Türkei kritisch nach. Zwar scheint die Durchführung der kritischen Ar-menierkonferenz zum 90. Jahrestags des Genozids dies zu bestätigen. Doch nicht nur der erhebliche Widerstand gegen diese Konferenz, son-dern vor allem die Ermordung eines der Hauptorganisatoren der Konfe-renz, Hrant Dink, Anfang 2007 macht den konstatierten diskursiven Ta-bubruch fraglich. Schließlich hat sich die Forschung zur Frage der türkischen Vergan-genheitspolitik entweder auf die kulturellen Momente (Gründungsmy-

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thos) konzentriert oder die realpolitischen strategischen Aspekte heraus-gestellt. Es gibt keine Untersuchungen, die die Bedeutung der beiden Aspekte für die türkische Leugnungspolitik systematisch im Zeitverlauf und anhand von verschiedenen Fällen analysiert haben. Die vorliegende Studie möchte auch das unternehmen.

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THEORETISCHER RAHMEN

Fast ein Jahrhundert liegt das massenmörderische Verbrechen an den osmanischen Armeniern nun zurück. Es gibt kaum noch Überlebende der Vertreibungspolitik – weder auf Seiten der Täter noch der Opfer. Die zeitliche Distanz scheint den Weg zu einer offenen und kritischen Aus-einandersetzung mit der Vertreibungspolitik von 1915 in der Türkei zu ebnen, denn die Frage nach individueller Schuld oder dem persönlich erlittenen Leid der Opfer blockieren eine Auseinandersetzung kaum noch (vgl. Lutz 2003). Es ist also eine gewisse Gelassenheit von Seiten der türkischen Gesellschaft und Politik zu erwarten, wenn die Sprache auf die Vertreibung und Ermordung der osmanischen Armenier kommt.

Doch davon scheint man in der Türkei immer noch weit entfernt zu sein: türkeikritische Äußerungen im Hinblick auf die Vertreibungspoli-tik – vor allem aber das Aufbringen der Völkermordthematik – stoßen weiterhin auf Widerstand und Ablehnung. Das fortwährend problemati-sche Verhältnis zu der Geschichte von 1915 erstaunt auch deshalb, weil die 1923 gegründete moderne Türkei sich in ihrer Gründungserzählung dezidiert vom Osmanischen Reich abgesetzt hat.

Diese Abwehrhaltung der türkischen Politik und Gesellschaft kolli-diert auch mit einem neuen Phänomen in der internationalen Politik: Erinnerungsdiskurse, in denen das Leid der Opfer der Geschichte in den Mittelpunkt gerückt wird, ersetzen zunehmend nationalistische Erinne-rungsdiskurse mit der Überhöhung von Helden und Siegen. Im Zuge dessen kommt es zunehmend zu einer Politik der Entschuldigungen (Nobles 2008). Der Umgang von Staaten und Gesellschaften mit den weniger ruhmreichen, verbrecherischen Aspekten ihrer nationalen Ver-gangenheiten scheint heute mehr denn je über den zivilisatorischen Fort-schritt einer Gesellschaft zu entscheiden.

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In der Armenierfrage schlägt sich dieser Normwandel in der steigenden Zahl von Ländern und Institutionen nieder, die die Ereignisse von 1915 als Völkermord im Sinne der UN-Genozidkonvention von 1948 an-erkannt haben.27 Das Europäische Parlament ging einen Schritt weiter: 1987 erkannte es die Zwangsumsiedelungspolitik nicht nur als Völker-mord an, sondern empfahl einen Beitritt der Türkei in die Europäische Union von einem Schuldeingeständnis abhängig zu machen. 28 Auch wenn die EU ein solches Schuldeingeständnis nicht zu einem formalen Beitrittskriterium erhoben hat, hat die Diskussion in den europäischen Öffentlichkeiten dazu geführt, dass die kulturelle Europafähigkeit der Türkei immer mehr an ihrem Umgang mit dem Mord an den Armeniern gemessen wird.

Wie wirken sich der skizzierte Normwandel im Umgang mit vergan-genen Untaten und die Zunahme von öffentlichen Entschuldigungen auf die Haltung der türkischen Politik und Gesellschaft zur Armenierfrage aus? In theoretischer Hinsicht stellt sich dabei zunächst die Frage, ob, warum und wie internationale Normen Eingang in nationale Kontexte im Allgemeinen und Vergangenheitsdiskurse im Speziellen finden. Können internationale Erinnerungsnormen nationale Vergangenheits-politiken und Erinnerungsdiskurse beeinflussen? Und wenn ja, wie äu-ßert sich dieser Einfluss und kommt es dabei zu einer Anpassung von nationalen Erinnerungsnormen an internationale? Da im vorliegenden Kontext Erinnerungsnormen im Speziellen im Vordergrund stehen, ist zudem theoretisch von Bedeutung, in welchem Verhältnis Vergangen-heit und Gegenwart zueinander stehen. Welche politische, soziale oder kulturelle Bedeutung kommt der Geschichte – oder in einem generelle-ren Sinne der Vergangenheit – in der Gegenwart zu? Warum erinnern sich Gesellschaften überhaupt an ihre Vergangenheit und warum tun sie es auf die eine oder andere Art und Weise?

Drei Forschungsbereiche sind für die Untersuchung relevant: Erstens Gedächtnistheorien zu Erinnerung und Identität, zweitens kultursoziolo-gische Arbeiten zum Übergang von nationalistischer zu opferorientierter kollektiver Erinnerung und dessen kulturelle Bedingungen und drittens sozialkonstruktivistische politikwissenschaftliche Studien, die sich mit der Rolle von Normen in den internationalen Beziehungen beschäftigen. Während die ersten beiden Forschungsströmungen mit ihrem Fokus auf Erinnerung, sozialem Gedächtnis und Identität Erwartungen auf der Ebene von gesellschaftlichen Erinnerungsdiskursen nahe legen, fokus-

27 Für eine Liste mit der Aufstellung diverser internationaler Anerkennungen

vgl. die Internetseiten des Armenian National Institutes www.armenian-genocide.org/affirmation.html. Stand 14.1.2008.

28 Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften C 190 vom 20.7.1987.

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sieren sozialkonstruktivistische Theorien ihre Aufmerksamkeit auf staat-liches Handeln und staatliche Vergangenheitspolitik. Die herangezoge-nen Theorieansätze entstammen unterschiedlichen Disziplinen und be-ziehen sich daher auf unterschiedliche Analyseebenen, ohne aufeinander Bezug zu nehmen.29 Im Rahmen der vorliegenden Studie sollen die em-pirischen Befunde mit den genannten theoretischen Erklärungsmodellen abgeglichen und die jeweiligen Erkenntnisse zusammengeführt werden, um sie im Sinne eines umfassenden Verständnisses der untersuchten Thematik fruchtbar zu machen.

Gedächtnistheoret ische Erwartung: Normbewahrung durch reakt ive Ident i tätssicherung

Die Forschungsliteratur zum Verhältnis von Geschichte und Gegenwart ist zwar kaum zu überschauen, man kann aber insgesamt zwischen Unter-suchungen zu Geschichts- und Erinnerungsdiskursen und solchen, die sich mit Vergangenheitspolitik beschäftigen, unterscheiden.30 Während sich Studien zu Geschichts- und Erinnerungsdiskursen auf die öffentli-chen Konstruktionen von Geschichts- und Identitätsbildern konzentrieren, stehen in vergangenheitspolitischen Untersuchungen politische Transi-tionsphasen wie etwa die Aufarbeitung diktatorischer Vergangenheiten im Vordergrund, in denen gesetzgeberische und justitielle Handlungsoptio-nen untersucht werden (Bock/Wolfrum 1999).

Beide Strömungen fallen mit ihrem Interesse an der gesellschaftli-chen und politischen Relevanz geschichtlicher Ereignisse in den Bereich des Phänomens kollektiver Erinnerung und Identitätsbildung. Dabei herrscht in der kulturwissenschaftlichen Forschung Konsens, dass kol-

29 Auch Gerald Echterhof (2004) konstatiert aufgrund der ausgebliebenen

Rezeption in anderen Disziplinen und dem Fehlen von empirisch verknüp-fenden Analysen ein Forschungsdesiderat in Bezug auf das Phänomen des sozialen Gedächtnisses.

30 Unter Stichworten wie Erinnerungskultur, Erinnerungsdiskurs oder Ver-gangenheitspolitik beschäftigt sich eine inzwischen unüberschaubare Zahl von theoretischen, historischen und empirischen Arbeiten im weitesten Sinn mit der Frage, welche soziale, kulturelle und politische Bedeutung die Vergangenheit in der Gegenwart hat. Es ist kaum möglich, eine ange-messene Auswahl solcher Untersuchungen aufzuführen. Exemplarisch sind dennoch zu nennen Maier 1992; Assmann/Frevert 1999; Frei 1999; Cornelißen et al. 2003; Frei 2006; Frevert 2003. Zur Kritik an dem Erinne-rungsboom in der zeitgeschichtlichen, erinnerungskulturellen und soziolo-gischen Forschung vgl. Welzel 2002; Jakisa/Zifonun 2004; Mar-cel/Mucchielli 2003: 192.

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lektive Erinnerung eine notwendige Voraussetzung für individuelle und kollektive Identität ist (vgl. Gillis 1994; Assmann 1999; Giesen 2000; Strath 2000; Assmann 2002). Zwar ist es schwierig, den Begriff der Identität konkret zu fassen, und zu bestimmen, was Identität genau aus-macht. In Bezug auf die Entstehung von kollektiven Identitäten kann aber festgehalten werden, dass es sich um ein Mindestmaß an Gemein-schaftlichkeit innerhalb einer sozialen Einheit handelt, die sich über Zeit und Raum erstreckt (vgl. Anderson 1991; Gillis 1994). Gemeinschaft-lichkeit wird dabei über Erinnerung hergestellt.

Soziales Gedächtnis und kollektive Identität Auf die konstitutive Bedeutung von Erinnerung für Identität hat die Ge-dächtnisforschung, die mit dem Pionierwerk »Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen«31des französischen Soziologen Maurice Halb-wachs eingeleitet wurde, bereits früh hingewiesen (Halbwachs 1985).32 Der Titel verdeutlicht bereits den Kerngedanken der Gedächtniskonzep-tion des Autors: Das menschliche Gedächtnis ist ein soziales Phänomen (vgl. Billig 1997). Gedächtnisbildung und -entwicklung findet in und durch soziale Interaktion und Kommunikation statt. Ein Mensch, der im buchstäblichen Sinne des Wortes alleine ist, kann kein Gedächtnis ent-wickeln (Assmann/Frevert 1999).

Das individuelle Gedächtnis resultiert aus der Zugehörigkeit des Einzelnen zu einer sozialen Gruppe. Individuen gehören verschiedenen sozialen Gruppen gleichzeitig an, wie etwa der Familie, dem sozialen Umfeld im Arbeitsleben, Vereinen, politischen Parteien, einer Nation etc. Jede soziale Bezugsgruppe zeichnen spezifische Erfahrungen, Wis-sensbestände, Traditionen oder Gewohnheiten aus, die den Gruppenmit-gliedern in der einen oder anderen Form vermittelt werden und über die Konsens besteht. Diese von den Gruppenmitgliedern geteilten Vorstel-lungen stellen das kollektive Gedächtnis im Sinne von Halbwachs dar. Individuen verfügen damit als soziale Wesen in einer Gesellschaft über eine Reihe von verschiedenen kollektiven (Teil-)Gedächtnissen und da-mit je nach dem, welchen Gruppen sie angehören, einen breiten Bestand an Erinnerungen (Halbwachs 1967).

31 Der französische Titel lautet »Les Cadres Sociaux de la Mémoire« und

wurde erstmals 1925 in Paris veröffentlicht. 32 Das aktuelle Interesse an den gedächtnistheoretischen Untersuchungen

von Maurice Halbwachs lassen das Gesamtwerk des Autors in den Hinter-grund treten. Dieses ist breiter und facettenreicher angelegt, als es die Re-zeption von Halbwachs’ Werk insbesondere im Bereich der kulturwissen-schaftlichen Gedächtnisforschung nahe legt (vgl. Egger 2003).

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Angesichts der geschilderten sozialen Bedingtheit des Gedächtnisses handelt es sich bei dem menschlichen Gedächtnis also immer um ein kollektives Gedächtnis. Individuell ist das kollektive Gedächtnis aber insofern, als sich nur Individuen tatsächlich erinnern können und damit als die ausschließlichen Träger kollektiver Erinnerung in Frage kommen (vgl. Assmann 2002). Es gibt zwar das kollektive Gedächtnis von sozia-len Gruppen, wie oben beschrieben. Diese Gedächtnisse existieren aber nicht außerhalb von realen sozialen Trägern. Erinnerungstätigkeit ist mithin immer eine individuelle Handlung (vgl. Brumlik 1996). Die Bin-dung des kollektiven Gedächtnisses an das Individuum als Träger des Gedächtnisses bedeutet, dass dem kollektiven Gedächtnis relativ klare zeitliche und räumliche Grenzen gesetzt sind (Halbwachs 1967: 35). In zeitlicher Hinsicht macht sich dies in der Generationenabfolge bemerk-bar: Mit dem Tod der direkten und indirekten33 Zeitzeugen erlischt das soziale Gedächtnis.34

Mit Blick auf den vorliegenden empirischen Fall legen die gedächt-nistheoretischen Annahmen eine abnehmende Brisanz im Zeitverlauf nahe. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte müsste in den An-fangsphasen der Aufarbeitung, also in den 1970er Jahren, vergleichswei-se umstrittener und aggressiver ablaufen als gegen Ende des Untersu-chungszeitraums in den 2000er Jahren, in dem es kaum noch umnittelbar Betroffene der Zwangsdeportation von 1915 gibt.

Gegenwartsbezug und Erinnern als Rekonstruktionsvorgang

Neben der Betonung der sozialen Bedingtheit des menschlichen Ge-dächtnisses, d.h. dass Erinnerung stets gruppenbezogen ist, hebt Halb-wachs hervor, dass die Art der Erinnerung von gegenwärtigen sozialen Bedürfnissen und Identitäten abhängt. Hierzu schreibt er, dass »das Ver-gangene in Wirklichkeit nicht als solches wiedererscheint, dass […] es sich nicht erhält, sondern dass man es rekonstruiert, wobei man von der Gegenwart ausgeht.« (1985: 22) Ebenso wie die Vorstellung, dass es kein Gedächtnis ohne die Gesellschaft gibt, erhält sich auch die Vergan-genheit im menschlichen Gedächtnis nicht als solche, sondern ist als kollektive Repräsentation der Gegenwart zu verstehen (vgl. Assmann 2002).

33 Indirekte Zeitzeugen meint, dass es sich um Personen handelt, die auf-

grund direkten Kontaktes mit tatsächlichen Zeitzeugen, also indirekt, an dem Erinnerten teilhaben.

34 In diesem Zusammenhang wird vom »Kurzzeitgedächtnis« einer Gesell-schaft gesprochen (Assmann/Frevert 1999: 37).

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Mit dem Gegenwartsbezug hebt Halbwachs darauf ab, dass Erinne-rung ausschließlich aufgrund gegenwärtiger Bedürfnisse und Problemla-gen zustande kommt. Es ist die Gegenwart, die zu Erinnerung führt. Die Art oder die Intensität der zu erinnernden Erfahrung in der Vergangen-heit sind also von sekundärer Bedeutung, ja irrelevant, wenn es darum geht, was den Anstoß zu individueller und kollektiver Erinnerung gibt.35 Die Vergangenheit spielt eine instrumentelle Rolle bei der Lösung gegenwärtiger Problemlagen.

Vor diesem Hintergrund lässt sich eine weitere gedächtnistheoreti-sche Erwartung, nämlich die eines reagierenden Erinnerungsdiskurses, formulieren: Bezogen auf den empirischen Fall der Armenierfrage ist zu erwarten, dass der Erinnerungsdiskurs in der Türkei stets von äußeren Anstößen ausgeht und auf diese reagiert. Zudem lässt die Annahme der instrumentellen Funktion der Vergangenheit in der Gegenwart darauf schließen, dass sich die Reaktionsmuster auch inhaltlich eng an aktuel-len politischen und sozialen Gegebenheiten orientieren. Demnach dürfte sich die Auseinandersetzung in der Türkei mit der Armenierfrage weni-ger um tiefergehende historische und realgeschichtliche Fragen küm-mern, als vielmehr Schadensbegrenzung betreiben, um etwa das Bild der Türkei nach außen und innen zu verteidigen. Es ist davon auszugehen, dass die Gründe für die Infragestellung der Identität nicht in der eigenen Verantwortung für die Geschichte gesucht, sondern mit politischen Inte-ressen- und Machtkonstellationen erklärt werden.

Sprache als konstitutiver und erinnerungsleitender sozialer Bezugsrahmen

Eine zentrale Rolle in der klassischen kollektiven Gedächtnistheorie spie-len schließlich soziale Bezugsrahmen. Sie ermöglichen dem Individuum, Erinnerungen zu artikulieren und ihnen Sinn zu geben. Die sozialen Be-zugsrahmen sind kein Resultat individueller Erinnerung und das kollekti-ve Gedächtnis damit nicht die Voraussetzung für die Bezugsrahmen (Halbwachs 1985: 21). Die sozialen Bezugsrahmen sind vorgelagert. Kol-lektive soziale Bezugsrahmen dienen als »Instrumente […], deren sich das kollektive Gedächtnis bedient, um ein Bild der Vergangenheit wie-derzuerstellen, das sich für jede Epoche im Einklang mit den herrschen-

35 Dieser Gegenwartsbezug zeigt den Einfluss von Henri Bergson auf Halb-

wachs Denken. Obwohl die Untersuchung Halbwachs zu den sozialen Be-dingungen des kollektiven Gedächtnisses als »ausführliche Kritik Berg-sons« interpretiert wird (Power 2002: 386), folgt Halbwachs mit dem star-ken Gegenwartsbezug seiner Theorie dem Präsentismus und Rekonstruk-tivismus seines ehemaligen Lehrers (Assmann 2005).

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den Gedanken der Gesellschaft befindet« (Halbwachs 1985: 23). Die »ca-dres sociaux« sind vor diesem Hintergrund also erinnerungsleitend und konstitutiv zugleich. Sie sind das Bindeglied zwischen Individuum und der Gesellschaft. Die Sprache wird dabei als einer der wichtigsten sozia-len Bezugsrahmen gefasst, denn nur solche Wahrnehmungen und Erfah-rungen, die sprachlich artikuliert werden können, können in eine sinnvolle Ordnung gebracht werden (Halbwachs 1985).36

Daraus resultiert die Erwartung robuster Diskursmuster: Bezogen auf den vorliegenden Fall bedeutet diese Prämisse, dass die situativen und politische Bedürfnisse widerspiegelnden Reaktionsmuster, wie sie aus dem reagierenden Diskurs erfolgen, sich ihrerseits in robuste und langlebige Diskursrahmen verorten lassen müssten.

Im Kern lässt die klassische Gedächtnistheorie für den vorliegenden Fall des Umgangs der türkischen Gesellschaft und Politik mit der Arme-nierfrage eine reagierende Erinnerung erwarten. Das bedeutet, dass zum einen immer nur dann eine aktive, innertürkische Auseinandersetzung mit der nationalen Vergangenheit zu erwarten ist, wenn die intern ver-breiteten Geschichtsvorstellungen von außen in Frage gestellt weren. Zum anderen müsste die Vehemenz der Verteidigung im Verlauf der Untersuchungszeiträume betrachtet abnehmen.

Insgesamt bieten Gedächtnistheorien zwar einen Einblick in die Funktionsweise und die sozialen Rahmenbedingungen von kollektiven Gedächtnissen: Für den klassischen gegenwartsbezogenen Ansatz von Halbwachs lösen aktuelle politische Anstöße Erinnerung aus. Und es sind ebenfalls gegenwärtige soziale, politische und kulturelle Bedürfnis-se, die die Art der Erinnerung beeinflussen. Erinnerung findet statt, um die gegenwärtige Identität und den sozialen Zusammenhalt in der Grup-pe zu festigen. Die Erinnerung dient hier der Verteidigung der aktuellen Identität und hat ausschließlich eine identitätssichernde und stabilisie-rende Funktion. Eine zentrale Frage bleibt innerhalb dieses theoretischen Rahmens jedoch offen: Wie ist Erinnerungswandel zu erklären? Denn das kollektive Gedächtnis im Sinne von Halbwachs, das ausschließlich

36 Der Fokus auf die »cadres sociaux« macht deutlich, dass Halbwachs die

Vorstellung einer unabhängigen Innenwelt des Individuums ablehnt (Halbwachs 1985: 361-368). Das Individuum ist eingebettet in die sozia-len Strukturen der Gesellschaft, die seine Außenwelt bilden. Somit ist das Gedächtnis sowohl im Hinblick auf seine inhaltliche Ausgestaltung als auch im Hinblick auf die Aktivierung der Erinnerung auf Impulse von Außen angewiesen. In Form sozialer Phänomene wie der Sprache, des Bewusstseins und des Gedächtnisses trägt er die sozialen Strukturen bzw. die Rahmen gleichzeitig aber auch in seiner Innenwelt (Assmann 2005: 70).

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gegenwartsorientiert ist, steht für Kontinuität und Stabilität und kann so weder Erinnerungskonflikte noch Erinnerungswandel erklären.37

Kultursoziologische Erwartung: Normvert iefung durch Verte idigung der Ident i tät

Während die klassische Gedächtnistheorie Erinnerungswandel und kon-kurrierende Erinnerungen innerhalb einer sozialen Einheit nicht erklären kann, nehmen neuere kultursoziologische Arbeiten das Phänomen öf-fentlicher Entschuldigungen zum Anlass, um einen Erinnerungswandel insbesondere innerhalb westlich-christlicher Gesellschaften festzustel-len, den sie kulturell erklären.

Die Ära öffentlicher Entschuldigungen

Eine zentrale, wenn nicht entscheidende, Rolle bei dieser Entwicklung der Besinnung auf die moralisch fragwürdigen Aspekte nationaler Ver-gangenheit haben die Erfahrungen mit dem Holocaust gespielt. Der Ho-locaust wirkt als globaler Bezugs- und Referenzpunkt kollektiver Erin-nerung und Identität (Habermas 1987: 163). Allerdings wird diese Ent-wicklung kontrovers diskutiert. Kritisiert wird zum Beispiel die politi-sche Instrumentalisierung und Trivialisierung des Holocaust (Novick 2000), und einige Autoren gehen sogar soweit, von einer »Holo-caustindustrie« zu sprechen, die die Erfahrungen des Holocaust emotio-nal für organisierte politische und finanzielle Interessen ausbeuten wür-de (vgl. Finkelstein 2001).38

Dagegen unterstreichen andere die integrative Wirkung eines globa-len Holocaustbewusstseins, der einen geeigneten »Maßstab für humanis-tische und universalistische Identifikationen« (Levy/Sznaider 2001: 9f) liefere. Der Holocaust habe zur Entstehung einer neuen Erinnerungskul-tur geführt, der den nationalstaatlichen Rahmen sprenge und sich als

37 Die kulturelle Gedächtnistheorie wendet sich gar explizit gegen den Ver-

such, nach Logiken sozialer Gedächtnisentwicklung zu suchen. »Die Un-gleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, das Gestern im Heute, die vielschich-tige Komplexität kultureller Zeit« (Assmann 2002: 414) machen eine logi-sche Erklärung von Erinnerungs- und Identitätswandel gerade unmöglich. So können neuere Gedächtnistheorien zwar die vielfältigen Formen der Konstruktion kollektiver Identitäten und damit auch Erinnerungskonflikte integrieren. Aus kausalanalytischer Sicht sind sie jedoch mit dem Vorwurf der ex post Erklärung kollektiver Gedächtnisse konfrontiert.

38 Vgl. zur Kritik an der Kritik der globalisierten Holocausterinnerung Wel-zer (2002: 442).

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Maßstab für die Differenzierung zwischen gut und böse, menschlich und unmenschlich, zivilisiert und barbarisch besonders eigne. Schließlich wird aus einer moralisch-philosophischen Perspektive vorgebracht, dass die Zuordnung von Täterschaft auf der Grundlage von nationaler Zuge-hörigkeit der universellen Tragweite von Täterschaft nicht gerecht wer-de. Dieser Blickwinkel auf menschliche Gewaltausbrüche lehnt die ex-klusive Zuordnung von Tätern, Opfern und Zeugen auf der Basis von nationaler, ethnisch, religiöser oder kultureller Zugehörigkeit ab (Cairns 2003: 64).

Unabhängig von der normativen Einschätzung der Globalisierung des »Holocaust conscioussness« ist eine Sensibilisierung in Bezug auf kollek-tive Gewalt, Massenmorde und Genozide in Folge der Holocausterfah-rung festzustellen. Das Phänomen der zunehmenden öffentlichen Ent-schuldigungen für vergangene Untaten durch Politiker und andere hoch-ranginge Persönlichkeiten des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens bestätigt diese Beobachtung. Öffentliche Entschuldigungen scheinen sich als »neues politisches Bußritual« (Lübbe 2001) zu einem Bestandteil der internationalen Beziehungen zu entwickeln.

Angesichts der zunehmenden Zahl und internationalen Verbreitung öffentlicher Schuldeingeständnisse (vgl. Cunningham 1999; Lübbe 2001; Olick/Coughlin 2003) stellt sich die Frage nach der Bedeutung solcher Gesten. Auf dem ersten Blick scheinen Entschuldigungen in erster Linie eine späte ideelle Kompensation für die Nachfolgergeneration ehemaliger Opfer zu sein. Die Einsicht der Nachkommen ehemaliger Tätergesell-schaften, dass sich die Vorfahren ungerecht und unmenschlich verhalten haben, kann durchaus der ideellen Genugtuung der Opfer oder ihrer Nachkommen dienen. Dennoch wirft die Entschuldigungspolitik einige kritische Fragen auf, was die Verantwortung für vergangenes Unrecht und die Frage der Wiedergutmachung betrifft – sei es in Form von Repara-tionszahlungen oder individuellen Rückerstattungsforderungen. Aus der Perspektive humanitärer Intervention, wie sie etwa aus der UN-Genozid-resolution völkerrechtlich verpflichtend ist, bergen Entschuldigungen zum Beispiel die Gefahr der kostengünstigen ex post Übernahme von Verant-wortung (vgl. Cunningham 1999; Torpey 2003).39 Ungeachtet dieser pro-

39 Dieses Problem wird z.B. bei der öffentlichen Entschuldigung des ehema-

ligen Präsidenten Bill Clinton für die passive Haltung der USA und der internationalen Gemeinschaft in Fall von Ruanda deutlich. Auf einer Afri-kareise 1998 bedauerte Clinton, dass »[w]e in the United States and the world communty did not do as much as we could have and should have done to try to limit what occurred« (zitiert in Power 2002: 386). Doch die Informationslage über das Ausmaß der ethnisch motivierten Gewalt in Ruanda war bereits zum Zeitpunkt des Geschehens ausreichend, um eine humanitäre Intervention der internationalen Gemeinschaft zu legitimieren.

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blematischen Aspekte von Entschuldigungspolitiken ist festzuhalten, dass sich hier ein neues »transnationales Muster« (Kenkmann/Zimmer 2006: 8) im Umgang mit Vergangenheit abzeichnet.

Kulturelle Bedingungen von Schuldeingeständnissen

Die geschilderten politischen Entschuldigungsgesten werden in der kul-tursoziologischen Forschung als Wandel in nationalen Selbstdefinitio-nen gesehen. Ausgangspunkt ist die Vorstellung, dass die Traumaerfah-rung von Opfern und Tätern sich als konstitutives Element nationaler und kollektiver Identitätsbildung abzeichnet (Giesen 2004). Als Trauma-ta werden dabei individuelle oder kollektive Erfahrungen verstanden, die einen plötzlichen Einbruch der sozialen Ordnung auslösen (Caruth 1996).40

Das Tätertrauma als ein neuer Modus kollektiver Identität und die Verbreitung von Schuldeingeständnissen wird als ein kulturelles Hand-lungsmuster gedeutet (Giesen 2004).41 Die christlich-jüdische Glaubens-

Die US-Administration wehrte sich wochenlang dagegen, die Ereignisse in Ruanda als Genozid zu beschreiben, um gerade nicht eingreifen zu müssen (vgl. Gourevitch 1999).

40 Eines der jüngsten Beispiele für die disruptive Wirkung traumatischer sozialer Ereignisse ist der 11. September 2001 mit den terroristischen An-schlägen auf die Twin Towers in New York. Seitdem ist der 11. Septem-ber zu einem Schlagwort geworden, der als Zeichen einer Wende, eines Aufbruchs, einer neuen Ära, also als struktureller Bruch wahrgenommen wird. In diesem Sinne wurde unmittelbar nach den Anschlägen davon ge-sprochen, dass nichts mehr so sein würde wie früher.

41 Die Anwendung des Traumakonzeptes auf Täter ist in normativer Hinsicht fragwürdig. Die Soziologisierung individueller Traumaerfahrung und die Rede von dem Trauma der Täter hat unweigerlich etwas Apologetisches. Diesem problematischen Aspekt wird von Befürwortern des Tätertrauma-konzeptes entgegen gehalten, dass es sich hier um ein kulturelles Muster handelt, das zum Beispiel in öffentlichen Diskursen vorkomme. Es gehe nicht um individuelle traumatische Erfahrungen und ihre Verarbeitung, sondern um kommunikative Prozesse, die von individueller Erfahrung entkoppelt sind, und in »kulturellen Deutungen und Objektivierungen, also innerhalb der Sprache, der Symbole und Rituale« zum Ausdruck kommen würden (Schneider 2006: 23). Allerdings hebt diese Verlagerung der indi-viduellen Traumaerfahrung auf die kulturell-kollektive Ebene den proble-matischen Aspekt nicht auf, dass Grenzen zwischen der Erfahrung der Op-fer und der Täter verwischt werden und insofern die Gefahr der Euphemi-sierung aktiver Schuld und Verantwortung mit sich bringen. Die funda-mentalen Unterschiede zwischen der Erfahrung der Opfer und der Täter machte Kristin Platt, Mitarbeiterin am Institut für Diaspora- und Genozid-forschung an der Ruhr-Universität Bochum, bei einem Vortrag eindrück-lich deutlich und kritisierte in diesem Kontext das en vogue gekommene Konzept des Tätertraumas. Im Fall der Vertreibung der Armenier etwa

THEORETISCHER RAHMEN

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tradition scheint dabei besonders affin für Entschuldigungsgesten zu sein (Schneider 2006). Neben der kulturellen Einbettung öffentlicher Ent-schuldigungsrituale in die Tradition des christlichen Abendlandes, wer-den weitere strukturelle Bedingungen spezifisiert, die öffentliche Ent-schuldigungen fördern, wie etwa die zunehmende kritische Beobachtung nationalistischer Diskurse durch die internationale Gemeinschaft sowie die zeitliche Distanz zum realhistorischen Geschehen (vgl. Giesen 2004; Schneider 2006). Letzteres impliziert, dass öffentliche Entschuldigungen erst dann möglich und glaubhaft werden, wenn die Akteure als Individu-en unschuldig sind. Je länger kollektive Verbrechen zurückliegen und je weniger Opfer und Täter noch leben, desto leichter werden demnach öffentliche Entschuldigungen. Diese Folgerung deckt sich mit der be-reits oben formulierten Erwartung der »abnehmenden Brisanz« von Vergangenheitsdiskursen im Zeitverlauf.

Diesen Bedingungen, die öffentliche Entschuldigungsgesten mutmaß-lich fördern, stehen aber andere kulturelle Faktoren entgegen, die eine selbstkritische Auseinandersetzung mit vergangenen Untaten eher behin-dern. Nationale Gründungsmythen werden hier als zentrale Faktoren iden-tifiziert. Denn sie konstituieren kollektive Identitäten, die in aller Regel auf nationalstaatliche Identitätsprinzipien und damit auf einer ausschlie-ßende nationalistischen Definition von Innen und Außen, dem Eigenen und dem Anderen beruhen.

Die Annahme, dass Schuldeingeständnisse auf die christlich-jüdi-sche Traditionen zurückgehen, und die Vorstellung, dass nationalistische Gründungsmythen ebensolche Schuldeingeständnisse verhindern kön-nen, lassen im Fall der Türkei also eher eine Vertiefung der Leugnungs-muster hinsichtlich der Massaker an den Armeniern als ein Zugeben von Schuld erwarten. Der Normwandel in Bezug auf die Erinnerung an his-torische Verbrechen in westlichen Staaten und Gesellschaften müsste im Fall der Türkei zu einer Verstärkung der nationalistischen Erinnerung an die Geschichte von 1915 führen. Denn die massive Infragestellung von Außen, die mit der Erwartung der internationalen Gemeinschaft eines türkischen Schuldeingeständnisses einhergeht, würde das Bedürfnis der Rückversicherung nach Innen und die Stärkung der nationalen Identität

blieb den Opfern nach der traumatischen Erfahrung von 1915 buchstäblich nichts, an was sie nach dem Überleben anknüpfen konnten: kein Ort, wo-hin sie zurückgehen konnten, kein Haus, keine Familienangehörigen, kein Land. Im Gegensatz dazu fanden die Täter sowohl in psychologischer als auch in materieller Hinsicht Strukturen vor, an die sie anknüpfen und sich ein neues Leben aufbauen konnten. Kristin Platt, Vortrag auf der Tagung »Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung. Armenien 1915: Wen er-innern? Wessen gedenken? Wen erlösen?«, veranstaltet von der Münchner Volkshochschule, Fachbereich Politik und Gesellschaft, 15. Oktober 2005.

POLITIK UND ERINNERUNG

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auslösen. Das Festhalten und die Vertiefung der dominanten Leug-nungsmuster innerhalb des Armenierdiskurses in der Türkei würde diese Infragestellung von Außen im Innern abfangen.

Sozia lkonstrukt ivist ische Erwartung: Normwandel durch Sozial isat ion

Anders als die herangezogenen gedächtnistheoretischen und kultursozio-logischen Ansätze konzentrieren sich sozialkonstruktivistische Arbeiten nicht auf gesellschaftliche Erinnerungsdiskurse, sondern auf das Norm-verhalten von Staaten und messen dabei kulturellen Faktoren als Ein-flussvariable eine geringere Rolle bei. Vielmehr werden politische Kon-textfaktoren spezifisiert, die für einen Normwandel und die Übernahme von internationalen Normen auf staatlicher Ebene sprechen.

Internationale Normen und staatliches Verhalten Normen stehen für kollektive Erwartungen über angemessenes Verhal-ten (Jepperson et al. 1996).42 Bei Abweichung droht Sanktion, die von konkreten materiellen (Moravcsik 1995) bis zu sozialen Sanktionen in Form von öffentlicher Bloßstellung (Liese 2006) gehen kann.

Drei Faktoren entscheiden nach der sozialkonstruktivistischen Normforschung maßgeblich über die Stärke und Gültigkeit einer Norm: erstens ihre Verbreitung bzw. Akzeptanz, zweitens ihre Spezifizität und drittens die zeitliche Dauer ihres Bestehens (Legro 1997; Boekle et al. 1999). Die Verbreitung und Akzeptanz einer Norm hängt von der An- 42 Der Normbegriff wurde neben dem Ideenbegriff zu einem zentralen

Gegenstand der Theoriediskussion in den Internationalen Beziehungen der 1990er Jahre. Dabei wurde eine intensive Debatte zwischen rationalistisch und sozialkonstruktivistisch argumentierenden Forschern geführt. Auf-hänger der Debatte war zunächst die exklusive Gegenüberstellung von Ideen und Interessen. Sozialkonstruktivisten argumentierten, dass Ideen und Identitäten den Interessen von Akteuren vorgelagert seien und die In-teressendefinition von Akteuren entscheidend von ihrer Identität abhängen würde (Finnemore 1996; Katzenstein 1996; Finnemore/Sikkink 1998). Die Rational-Choice Anhänger sahen in Ideen eine intervenierende Variable, die sich lediglich auf die zu wählende Strategie von Akteuren auswirken würde, ihre gegebenen Interessen und Präferenzen zu erreichen. Die De-batte verlagerte sich von der anfänglichen Frage, ob nicht-materielle Fak-toren überhaupt eine Rolle in der internationalen Politik spielen (Gold-stein/Keohane 1993; Risse-Kappen 1994; Finnemore 1996; Yee 1996) auf die Frage wie und unter welchen Bedingungen internationale Normen eine Wirkung entfalten (Checkel 1997; Cortell/Davis 2000; Checkel 2001; Lie-se 2006).

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zahl »der Akteure eines sozialen Systems, die eine wertgestützte Verhal-tenserwartung teilen« ab (Boekle et al. 1999).43 Je mehr Mitglieder einer sozialen Gemeinschaft die Norm teilen, desto höher ist die Gültigkeit und Verbreitung einer Norm. Wird die Norm von allen Mitgliedern, einer Mehrheit oder Minderheit geteilt, kann entsprechend von einer starken, mittelmäßigen und schwachen Norm gesprochen werden. Das Kriterium Spezifizität bezieht sich darauf, welche Verhaltensanforde-rungen genau mit einer Norm verbunden werden. Man kann davon aus-gehen, dass eine Norm Akteursverhalten umso mehr beeinflusst, je kon-kretere Verhaltensvorgaben sie macht. Zumindest muss eine Norm eine klare Trennung zwischen angemessenem und unangemessenem Verhal-ten ermöglichen. In der internationalen Politik entscheidet die Frage, ob eine Norm kodifiziert ist und in internationalen Konventionen explizit zum Ausdruck kommt, maßgeblich über die Spezifizität einer Norm (vgl. Risse et al. 1999; Liese 2006).

Anpassungsdruck auf die Türkei

Der Erinnerungsdiskurs in der Türkei über die Armenierfrage berührt zwei international kodifizierte Normen: die UN-Genozidkonvention von 1948 und die Menschenrechtsnorm des Europarats, die beide von der Türkei unterzeichnet wurden. 44 Im Kontext der vorliegenden Studie spielt aber auch die bereits erwähnte, bislang jedoch nicht-kodifizierte internationale Norm eine wichtige Rolle, die sich in der selbstkritischen Auseinandersetzung mit geschichtlichen Verbrechen niederschlägt.

Die UN-Konvention von 1948 und die Menschenrechtskonvention des Europarats weisen eine weite Verbreitung und Akzeptanz auf, wenn man die formale Anerkennung durch die Anzahl von Unterzeichnerstaa-ten heranzieht. Zudem können beide Konventionen auf ein langes Be-stehen zurück blicken. Trotz ihrer Kodifizierung ist allerdings ihre Spe-zifizität in Bezug auf vergangenheitsbezogene Verhaltensvorstellungen für Staaten und Gesellschaften gering. Die UN-Konvention etwa zielt auf die Prävention von Völkermorden ab und legitimiert internationale Intervention. Die Konvention listet zudem Kriterien für Völkermorde

43 Während Boekle et al. (1997) in diesem Zusammenhang von Kommunali-

tät sprechen, bezeichnet Legro (1997) die Verbreitung und Gültigkeit einer Norm als Konkordanz.

44 Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, Adopted by Resolution 260 (III) A of the United Nations General Assem-bly on 9 December 1948. Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, SEV-Nr. 005 des Europarats. In beiden Fällen zählt die Türkei zu den ersten Unterzeichnerstaaten. Die Genozidkonvention unterzeichnete sie 1948 und die Menschenrechtskonvention 1950.

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auf. Das Leugnen von Völkermorden durch die Täter wird hier als ein integraler Bestandteil von Völkermordprozessen gesehen. Damit kann diese Bestimmung als Hinweis interpretiert werden, dass die Leugnung von Massenmorden kein international akzeptiertes Verhalten ist. Diese Verhaltensvorgabe ist allerdings nur indirekt zu erschließen.

Demgegenüber weist die im Entstehen begriffene internationale Norm der Entschuldigungspolitik, über die trotz fehlender Kodifizierung in internationalen Konventionen eine hohe Akzetanz zu herrschen scheint, eine höhere Spezifizität im Hinblick auf Erinnerungsverhalten auf. Die Akzeptanz der selbstkritischen Erinnerungsnorm ist in der EU verbreitet, was sich zum Beispiel an der Zahl von EU-Mitgliedern äußert, die den Völkermord an den Armeniern entweder öffentlich anerkannt oder die Türkei in der einen oder anderen Form dazu aufgefordert haben, dies ebenso zu tun. In diesem Zusammenhang ist die Resolution des Europäi-schen Parlaments von 1987 von Bedeutung, in der es die historischen Er-eignisse von 1915 als Völkermord anerkennt.45 Diese Entscheidung wur-de immer dann bekräftigt, wenn beitrittsrelevante Entscheidungen der EU im Hinblick auf die Türkei bevorstanden, namentlich 2002 und 2005.46

Die höhere Spezifizität der selbstkritischen und opferorientierten Er-innerungsnorm ergibt sich daraus, dass es sich um eine klare Auf-forderung zur Anerkennung historischer Tatsachen und das Bekennen von Schuld handelt. Im Gegensatz zu der schon länger bestehenden Ge-nozidkonvention der Vereinten Nationen handelt es sich aber um eine im Entstehen begriffene Norm jüngeren Datums. Vor dem Hintergrund des EU-Beitrittsprozesses der Türkei bedeutet die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern durch einzelne EU-Mitglieder und das Europäischen Parlament, dass die Türkei unter Druck steht, in der einen oder anderen Form zu reagieren. Eine mögliche Völkermordanerkennung durch die Türkei ist zwar kein formales Bei-trittskriterium, aber ein adäquater Umgang mit der Geschichte von 1915 hat sich zu einem informellen Beitrittskriterium herauskristallisiert. Er ist auf der Ebene des europäischen Diskurses zu einem Litmustest der Europafähigkeit der Türkei geworden. Die Nichtbefolgung der Norm des selbstkritischen Geschichtsumgangs birgt die Gefahr von sozialen

45 Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften C 190 vom 20.7.1987. 46 Per Gahrton, Report on the communication from the Commission to the

Council and the European Parliament on the European Union’s relations with the South Caucasus, under the partnership and cooperation agree-ments, Doc.: A5-0028/2002, 28 January 2002; European Parliament, Opening of negotiations with Turkey. Provisional edition, P6_TA-PROV (2005)0350, B6-0484, 0487, 0496, 0498, 0502 and 0505/2005.

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Sanktionen, wie etwa Imageverlust und Zweifel an der Europafähigkeit des Landes.

Normbefolgung als Sozialisationsprozess in der Weltgesellschaft

In der Fachliteratur wird der Prozess, in dem neu entstehende oder bereits vorhandene Normen von Akteuren übernommen und internalisiert wer-den, als Sozialisationsprozess verstanden (vgl. Schimmelfennig 1997; Checkel 1999b). Dabei übernehmen Individuen oder Staaten die institu-tionalisierten Denk- und Verhaltensweisen ihrer sozialen Umwelt und machen sie sich langfristig »zu Eigen« und richten ihre Präferenzen und Interessen nach ihnen aus (Schimmelfennig 1994: 338). Auf der Ebene der internationalen Politik wird in diesem Zusammenhang von »transna-tionaler Sozialisation« (Boekle et al. 1997: 9) gesprochen, die sich durch die Übertragung von internationalen Normen auf die nationale Ebene – wie im vorliegenden Fall relevant – niederschlägt (Schimmelfennig 2003).47

Die Einhaltung von Normen wird danach unterschieden, inwieweit es sich dabei um instrumentelle Befolgung oder eine langfristig und nachhaltig internalisierte Normbeachtung handelt, die nicht mehr hinter-fragt wird. Es wird zwischen Normbefolgung und Normüberahme (Schimmelfennig 2003) oder zwischen formaler Normanerkennung und Normbeachtung aus Überzeugung (vgl. Liese 2006; Checkel 2001) un-terschieden. Normbefolgung bzw. formale Anerkennung wird meist mit materiellem oder immateriellem (außen-)politischen Druck in Verbin-dung gebracht. Die Norm wird aus instrumentell-strategischen Gründen beachtet. Mit Normübernahme bzw. Normbeachtung wird demgegen-über die Einhaltung einer Norm aus ideeller Überzeugung zum Aus-druck gebracht. Akteure verhalten sich auch ohne äußere Zwänge be-wusst oder unbewusst im Sinne der Norm.

Während die Normbefolgung bzw. Normanerkennung den Beginn des Sozialisationsprozesses markiert, entspricht die Form des freiwili-gen, habitualisierten normgeleiteten Verhaltens einer idealen und gelun-genen Sozialisation. Hier wird auch von Institutionalisierung (vgl. Ris-se/Ropp/Sikkink 1999) gesprochen. Sozialisation äußert sich also in dem

47 Im Gegensatz dazu steht »sozietale Sozialisation« für die Sozialisation, die

sich innerhalb einer nationalen Gesellschaft abspielt und bei der staatliche Entscheidungsträger nicht internationale Normen, sondern gesellschaftli-che, von den Bürgern des Staates geteilte, wertbezogene Erwartungen an-gemessenen Verhaltens übernehmen (Boekle et al. 1997: 9).

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unterschiedlichem Ausmaß und Grad der Internalisierung von normati-ven Vorgaben.

Normdurchsetzung nach dem Spiralmodell

Schließlich gibt es eine Reihe von unterschiedlichen Vorstellungen in der Literatur, was die Frage der Mechanismen von Sozialisation betrifft. Der Sozialisationsprozess, bei dem es zu Übernahme von internationalen Normen durch Staaten kommt, wird dabei als Folge von argumentativer Interaktion, Lernen und Überzeugung (u.a. Risse/Schmitz/Jetschke 2002), sozialen Drucks (vgl. Liese 2006) oder materiellen Verhandelns gesehen (vgl. Moravscik 1995). Die identifizierten Mechanismen unter-scheiden sich in erster Linie hinsichtlich der angenommenen zugrunde liegenden dominanten Handlungslogiken.

Im Kontext des Untersuchungsgegenstands der Studie ist das »Spira-lodell der Menschenrechte« relevant, weil es weitgehend präzise Anga-ben über notwendige Kontextfaktoren und Bedingungen macht, unter denen internationale Normen in nationalstaatliche Praktiken münden. Das Modell baut auf dem Konzept des »boomerang patterns« auf (Keck/ Sikkink 1998). Danach können Staaten durch die Allianz von transna-tionalen und internationalen Netzwerken, die den Staat unter öffentli-chen internationalen Druck setzen, zu normkonformen Verhalten bewegt werden. Das Spiralmodell unterscheidet 5 Phasen im Prozess der Norm-internalisierung.

Die erste Phase »Repressionen und Aktivierung von transnationalen Netzwerken« setzt den Sozialisationsprozess in Gang. Hier geht es da-rum, einen normverletzenden Akteur erst einmal zu identifizieren. Ist ein normverletzender Staat ausgemacht, bringen transnationale Netzwerke die Normverletzung auf die Agenda der internationalen Gemeinschaft. Das Ziel ist, die Staatengemeinschaft dazu zu bewegen, die Normverlet-zungen öffentlich anzuprangern. Dabei wird die internationale Staaten-gemeinschaft von Seiten transnationaler Netzwerke selbst unter morali-schen Druck gesetzt. In den folgenden Phasen der »Leugnung« und der »taktischen Kon-zessionen« löst der internationale Druck eine allmähliche Durchetzung der Norm aus. Zwar streiten die öffentlich angeklagten Staaten die Normverletzung meist ab (Phase der Leugnung), aber anhaltender au-ßen- und innenpolitischer Druck kann zur dritten Phase der »taktischen Konzessionen« führen. Der Übergang von der Leugnungsphase zur Pha-se der taktischen Konzessionen hängt damit entscheidend von der Fä-higkeit transnationaler Aktivisten und Netzwerke ab, den internationalen Druck auf den normverletzenden Staat beizubehalten und diesen auch

THEORETISCHER RAHMEN

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im Innern der Staaten durch innenpolitische Akteure auszuweiten. Letzt-lich entscheidet aber die Frage der Verwundbarkeit des normverletzen-den Staates, ob er dem internationalen und innenpolitischen Druck standhalten kann oder sein Verhalten anpasst.

Bei den letzten beiden Phasen, innerhalb derer es nach dem Modell zu einer Vertiefung der Norm kommt, handelt es sich um den »präskrip-tiven Status« und schließlich die »Internalisierung der Norm«. Die prä-skriptive Phase bezieht sich auf die institutionelle Umsetzung der Norm, etwa in Form der Ratifizierung internationaler Menschenechtsonventio-nen oder der Übernahme in die eigene innenpolitische Gesetzgebung (vgl. Risse/Jetschke/Schmitz 2002: 42). Ein Staat kann aber Unterzeich-ner einer Norm sein (z.B. der Menschenrechtskonvention), sich aber trotzdem nicht normkonform verhalten. In diesem Sinne gilt der Soziali-sationsprozess erst als abgeschlossen, wenn die Norm in einer abschlie-ßenden fünften Phase internalisiert wird und Staaten sich zunehmend verlässlich und routinemäßig normkonform verhalten.

Welche Erwartung ergibt sich aus dem Spiralmodell für den Um-gang der Türkei mit der Geschichte von 1915 und die Frage, ob und in-wieweit sich die neue internationale Norm der selbstkritischen und op-ferorientierten Erinnerung in der Türkei durchsetzt?

Im Gegensatz zu Gedächtnistheorie und Kultursoziologie, die innen- oder außenpolitischen Druck als maßgebliche Faktoren für die Erhal-tung und Vertiefung der bestehenden Erinnerungsnormen bezüglich der Armenierfrage sehen können, lässt sich aus der sozialkonstruktivisti-schen Normforschung von außenpolitischem Druck ein Normwandel in Richtung Anpassung an die internationale Normen der Entschuldi-gungspolitik folgern. Für die Türkei wäre demnach zu erwarten, dass sich mit zunehmendem außenpolitischem Druck der Normwandel auch in der staatlichen Vergangenheitspolitik niederschlägt. Im Rahmen des EU-Beitrittsprozesses, in dem die Verwundbarkeit der Türkei im Falle einer Identifikation als nicht normkonformer Staat besonders groß ist, liegen defensive Leugnungsstrategien und taktische Zugeständnisse im Erinnerungsdiskurs insbesondere im Vorfeld wichtiger EU-Entschei-dungen nahe, d.h. es ist eine Milderung und Anpassung der Leugnung als Reaktion auf außenpolitischen Druck zu erwarten.

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KONZEPTIONELLE GRUNDLAGEN

Wie die herangezogenen Theorieströmungen geht auch die Untersu-chung von der sozialkonstruktivistischen Prämisse aus, dass Sprache eine substantielle, mithin konstitutive Bedeutung im Rahmen gesell-schaftlicher und politischer Prozesse hat (Berger/Luckmann 1980). In diesem Sinne folgt die Untersuchung der viel zitierten Aussage von Ri-chard Rorty, »Language is […] central to our knowledge of reality« (Rorty 1979).

Mit diesem sogenannten »linguistic turn« in der Philosophie wurde in den 1960er Jahren von dem bis dahin herrschenden instrumentell-funktionalistischen Sprachverständnis, das Sprache als ein neutrales Ins-trument zur Beschreibung einer gegebenen Realität sieht, Abstand ge-nommen. Insbesondere im positivistischen Paradigma wird Sprache le-diglich als ein Mittel zur Erfassung von realweltlichen Gegenständen und Beobachtungen, die als objektiv existent und als solche verfügbar gelten, konzipiert.48 Im Rahmen des linguistic turns hingegen wird Spra-che eine weit fundamentalere Bedeutung zugeschrieben. Sprache wird hier nicht als ein Spiegel verstanden, der die Realität abbildet (vgl. Jäger 2001; Carver 2002). Vielmehr werden realweltliche Gegenstände und

48 Mit Blick auf die Bedeutung von Sprache in politischen Prozessen schlägt

sich die positivistische Ontologie einer objektiv verfügbaren Realität durch Sprache in Formulierungen wie etwa »cheap talk« nieder (Morrow 1994; Schneider 1994), wo Sprache und Kommunikation auf den formalen Austausch von Informationen reduziert wird. Die Art und Weise, wie poli-tische Probleme sprachlich repräsentiert, dargestellt und gedeutet werden, etwa welche Aspekte betont und welche marginalisiert werden, gilt insbe-sondere in akteurszentrierten rationalen Ansätzen als eine zu vernachlässi-gende strukturelle Komponente im politischen Prozess.

POLITIK UND ERINNERUNG

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Ereignisse durch sprachliche Explizierung individuell und gesellschaft-lich überhaupt erst greifbar gemacht.

An diesem Zugang ist aber die Kritik verbreitet, dass Ereignisse vor ihrer Deutung durch soziale Akteure stattfinden, dass es also eine Reali-tät vor der sprachlichen Objektivierung gibt. Sozialkonstruktivisten wi-dersprechen dem insofern nicht, als sie die Existenz von Wirklichkeit außerhalb von Sprache nicht ablehnen. Vielmehr betonen sie, dass Er-eignisse oder Gegenstände keine Bedeutung oder Sinn per se haben, die von Menschen mit Hilfe der Sprache rekonstruiert würden (vgl. Waever 2004). Es verhält sich genau umgekehrt, »we use language to inscribe meanings into the world – whether into or onto objects, or experiences – and then we read those meanings back to ourselves as if they had always resided in the objects or experiences as such« (Carver 2002: 50).

Sprache ist damit in zweierlei Hinsicht von entscheidender Bedeu-tung. Sie ist zum einen der Schlüssel für den Zugang zur Wirklichkeit und entscheidet darüber, wie die Realität sozial wahrgenommen wird. Zum anderen konstituiert Sprache die Realität in dem Maße, in dem sie gesellschaftlichen Ereignissen Sinn verleiht und sie sozial verfügbar macht (Carver 2002: 50).

Diskursbegr if f und Diskurs-Akteurbeziehung

Mit dem gestiegenen Interesse an der sprachvermittelten Konstruktion von Wirklichkeit hat auch der Diskursbegriff in der sozialwissenschaft-lichen Forschung enorm an Bedeutung gewonnen. Dieser Aufstieg geht allerdings mit einer kaum zu überschauenden Definitionsvielfalt einher, was unter Diskursen zu verstehen ist und wie sie zu untersuchen sind.49

Ein verbreiteter Umgang mit dem Diskursbegriff ist, dass er mit öf-fentlicher Diskussion gleichgesetzt wird. Doch öffentliche Auseinander-setzungen über gesellschaftliche und politische Themen sind nur ein 49 Für eine erste Orientierung im Dickicht der Diskursliteratur und zugleich

fundierten Einblick in disziplinenspezifische Zugänge zur Analyse von Diskursen sind die beiden Bände »Handbuch sozialwissenschaftliche Dis-kursanalyse« von einschlägiger Bedeutung. Band 1 »Handbuch Sozialwis-senschaftliche Methoden. Theorien und Methoden« bietet einen fundierten und systematischen Einblick in die spezifischen Diskursbegriffe, Frage-stellungen und methodischen Herangehensweisen an Diskurse verschiede-ner Wissenschaftsdisziplinen. Der Band ist insofern einschlägig, als eine fundierte interdisziplinäre Zusammenstellung von aktuellen Fragestellun-gen, theoretisch-methodologischen und methodischen Grundlagen im wei-ten Feld der Diskursanalyse geliefert wird. Auf die Forschungspraxis und die methodische Umsetzung von Diskursanalyse in verschiedenen Diszi-plinen wird in Band 2 eingegangen.

KONZEPTIONELLE GRUNDLAGEN

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Teilaspekt von Diskursen, wie sie ursprünglich von Michel Foucault in den 1960er Jahren ausgearbeitet wurde.

Im poststrukturalistischen Sinne stehen Diskurse für umfassendere Ordnungsstrukturen, die gesellschaftliche und politische Machtwirkung entfalten. Darüber hinaus interessiert sich dieser Zugang zu Diskursen für die gesellschaftlichen und politischen Mechanismen, wie Diskurse zustande kommen und welchen Regeln und Logiken sie folgen (vgl. Angermüller 2001; Hajer 2003). So verstanden geht es Diskursanalysen nicht um Sprache allein aus der Perspektive von manifesten Inhalten (wie es etwa bei der Untersuchung von öffentlichen Debatten der Fall ist), sondern Diskursanalysen zielen auf soziale und textliche Zusam-menhänge ab, d.h. sie gehen dem Verhältnis von Texten und deren so-zialen, politischen und kulturellen Kontexten auf den Grund. Dieses um-fassendere und über als manifest zu verstehende Inhalte hinausgehende Erkenntnisinteresse von diskursorientierten Arbeiten stellt zugleich den zentralen Unterschied zwischen Diskursanalysen und konventioneller Inhaltsanalyse oder Untersuchungen zu öffentlicher Meinung dar (An-germüller 2001; Donati 2001).

Vor diesem Hintergrund wird in der vorliegenden Studie unter Dis-kursen die Auseinandersetzung im Hinblick auf bestimmte, thematisch abgrenzbare und umstrittene Themen verstanden, die als Resultat legiti-me und handlungsleitende Deutungsmuster produziert (Hardy et al. 2004). Die poststrukturalistischen Annahmen über Diskurse werden in der Studie so operationalisiert, dass analytisch zwischen (gesellschaftli-chem) Erinnerungsdiskurs und staatlicher Vergangenheitspolitik unter-schieden wird. Die Analyse des Armenierdiskurses wird stets in den Kontext »realer« politischer Entwicklungen und vergangenheitspoliti-scher Entscheidungen gestellt und damit die Diskursentwicklung zu einem bestimmten Zeitpunkt in den konkreten (innen- und außen) politi-schen Rahmen eingeordnet.

Im Gegensatz zu der marginalen Rolle, die poststrukturalistische Diskurstheorien Akteuren und Akteurshandeln zuweisen, wird in der vorliegenden Studie davon ausgegangen, dass es Akteurshandeln gibt (vgl. Holzscheiter 2005). In Anlehnung an Waever (2004) wird indivi-duelles strategisches Verhalten als »in-between discursive structures« konzipiert. Diskurse geben die Strukturen vor, während sich die Akteure anhand, entlang und zwischen diesen Strukturen positionieren können.

POLITIK UND ERINNERUNG

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Abb. 1: Verhältnis zwischen Diskursen und Akteuren (eigene Darstellung) Wie in Abbildung 1 dargestellt, bewegen sich Akteure (gezackt darge-stellt) innerhalb diskursiver Räume, die ihrerseits in internationale und nationale Kontexte eingebettet sind. Innerhalb gegebener Räume können sich Akteure für die eine oder andere diskursive Option (als Dreiecke dargestellt) entscheiden und haben damit die Möglichkeit den Diskurs-raum neu zu bestimmen. Dieser Vorschlag mildert die zentrale diskurs-theoretische Annahme der diskursiven Beschaffenheit der sozialen Welt und damit der Eigenschaft, dass Subjekte und Akteure sich nicht außer-halb diskursiver Strukturen bewegen (u.a. Carver 2002: 51), ab.

Diskursanalyt ische Instrumente: Rahmen- und Toposanalyse

In Bezug auf die Frage der methodischen Umsetzung diskursanalyti-scher Prämissen fehlen akzeptierte disziplinenübergreifende Verfahren (vgl. Milliken 1999; Fischer 2003; Kerchner/Schneider 2006). In der vorliegenden Studie werden die Instrumente der Rahmen- und Toposa-nalyse herangezogen, um den zu untersuchenden Diskurs über die Ar-menierfrage in der Türkei zu analysieren.50 Der Diskursbegriff steht als

50 Zwar spezifizierte Foucault in der »Archäologie des Wissens« seine Vor-

stellung über die Analyse von Diskursen, indem er zwischen verschiede-nen Einheiten von Diskursen – diskursiven Formationen, die Formation der Gegenstände, der Äußerungsmodalitäten, Begriffe und Strategien – unterschied. Aber er selbst hat das vorgeschlagene Analyseraster in »kei-ner seiner Studien explizit und systematisch umgesetzt« (Schwab-Trapp 2001: 262), so dass kritisiert wurde, »dass sich im Werk von Foucault zwischen theoretischem Anspruch und materialer Durchführung ständig ein irritierender Widerspruch auftut« (Honneth 1990 zitiert nach Knob-lauch 2001: 211).

Internat. Kontext Nationaler Kontext

Diskursräume & Akteure

Internat. Kontext Nationaler Kontext

Diskursräume & Akteure

KONZEPTIONELLE GRUNDLAGEN

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Oberbegriff, während Diskursrahmen und -topoi als Unterkategorien bzw. Teilaspekte des Gesamtdiskurses zu verstehen sind.

Generell können Rahmen als Deutungsmuster oder Interpretations-schemata verstanden werden, die der Wahrnehmung, Interpretation und Benennung der Situation dienen und damit das Verstehen von Ereignis-sen ermöglichen (vgl. Nullmeier 1997). Rahmen organisieren die indivi-duelle Wahrnehmung der sozialen Umwelt und sind als Bindeglied zwi-schen Individuum und Gesellschaft zu sehen. Begriffe wie Schema und scripts sind mit dem Rahmenbegriff verwandt (vgl. Snow/Benford 1992: 136; Vowe 1994).

Ferner sind Rahmen nicht mit Meinungen oder Haltungen in Bezug auf politische Fragen gleichzusetzen. Vielmehr handelt es sich bei Rah-men um »a way of selecting, organizing, interpreting, and making sense of a complex reality to provide guideposts for knowing, analyzing, per-suading, and action. A frame is a perspective from which an amorphous, ill-defined, problematic situation can be made sense of and acted upon« (Rein/Schön 1993: 146). Nicht zuletzt sind Rahmen handlungsleitend: »By rendering events or occurrences meaningful, frames function to or-ganize experience and guide action, whether individual or collective« (vgl. Gamson 1988: 222; Snow et al. 1986 zitiert nach Gerhards et al. 1998: 196).

Goffman (1977) unterscheidet zwischen Rahmen (frame) und Rah-mung (framing): Während frames als sozialer Sinn zu verstehen sind, handelt es sich bei framing um den Prozess der Aktualisierung des Sinns (vgl. Willems 1996: 443; Hettlage/Lenz 1991). In diesem Sinne wird zwischen Rahmen als Struktur (frame-as-structure) und framing als sinnaktualisierende Praxis (frame-in-use) unterschieden (vgl. Grook/ Taylor 1980), wobei beide in einem komplexen und zugleich anfälligen wechselseitigen Verhältnis zueinander stehen. Um eine Analogie zu den vorgestellten diskurtheoretischen Termini herzustellen, würden frames die strukturellen diskursiven Rahmen für die Sprecher darstellen, wäh-rend frames-in-use als gesellschaftliche und politische Praxis verstanden werden können, die handlungsleitende Rahmen reproduzieren, stabilisie-ren, aber auch in Frage stellen können.

Der Vorteil des rahmenanalytischen Vorgehens für die Analyse von Diskursen liegt darin, dass hier strategisches Handeln im Sinne des stra-tegischen Einsatzes von Deutungsrahmen für die Herstellung von gesell-schaftlichem Konsens über umstrittene Themen gefasst werden kann. Schließlich weist die Metapher des Rahmens auf die Möglichkeit von Deutungsvielfalt innerhalb eines Deutungsrahmens. Diese ist zwar inso-fern begrenzt, als dass Deutungsmöglichkeiten den Hauptrahmen nicht überschreiten dürfen. Dennoch ist es möglich, innerhalb des Rahmens

POLITIK UND ERINNERUNG

82

und solange die Grenzziehung nach Außen nicht überschritten wird, unterschiedliche Inhalte zu betonen (Vowe 1994). Das bedeutet, dass Deutungsrahmen nicht mit festgefügten und unveränderlichen Deutun-gen und Interpretationsmustern einhergehen, sondern dass wenige zen-trale Ideen konstitutiv für einen Rahmen sind und weitere Ideen, Vor-stellungen, Meinungen innerhalb dieses Hauptrahmens möglich sind.

Neben der Konzentration auf diskursleitende Rahmen wird nach den Rechtfertigungs- und Argumentationsmustern und ihren spezifischen Trägern gefragt. Hierzu wird das Topos-Konzept herangezogen. Topoi werden als Gemeinplätze der politischen Kommunikation verstanden, die einen für das Alltagsverständnis spontanen identifikationsfähigen Interpretationsrahmen abgeben. Topoi stehen für common sense (Billig 1997), d.h. für soziale und kollektiv geteilte Muster und ihre Träger, und nicht für individuelle Überzeugungen. Im Sinne von allgemeingültigen gesellschaftlichen Wissensbeständen, aus denen als selbstverständlich wahrgenommene Inhalte folgen, spezifizieren Topoi auch die jeweiligen Träger dieser Bestände (Knoblauch 2000: 652).

Vor diesem Hintergrund zieht die Studie den Toposbegriff für dieje-nigen Deutungen heran, die sich einer bestimmten sozialen Gruppe zu-rechnen lassen. Die Eigenschaft, dass Topoi für das Allgemeinverbindli-che in einer Gesellschaft stehen und auf mehr oder weniger gleichlau-tenden sprachlichen Beschreibungen, Redewendungen u.ä. beruhen, wird empirisch für die Identifizierung der Argumentations- und Deu-tungsmuster über die Armenierfrage in der Türkei herangezogen. Im Vergleich zu Topoi stehen Diskursrahmen für umfassendere Strukturen. Topoi bilden eine Untereinheit von Rahmen und spezifizieren sowohl die Sprecher bzw. Akteure als auch Inhalte.

Untersuchungsdesign und Methodik Bei der Studie handelt es sich um eine qualitative Fallstudienanalyse mit der Türkei als Untersuchungseinheit und den weiter unten erörterten »kritischen Diskursmomenten« als Einzelfällen (Gerret 2004). 51 Die

51 Die Wahl des methodischen Vorgehens, d.h. ob man sich für mathemati-

sche Verfahren und statistische Auswertungen oder qualitative, nicht-mathematische Verfahren entscheidet, hängt maßgeblich von dem Er-kenntnissinteresse und der Fragestellung ab. Qualitatives Vorgehen bietet sich insbesondere dann an, wenn es sich um einen empirisch noch wenig erforschten Untersuchungsgegenstand handelt und seine spezifischen Aus-prägungen im Blickpunkt des Interesses stehen. In solchen Fällen zeigt sich qualitatives Vorgehen bisweilen als einziges mögliches Vorgehen, um

KONZEPTIONELLE GRUNDLAGEN

83

Arbeit bedient sich eines sogenannten »diszipliniert-konfigurativen« Vorgehens (Verba 1967), indem sie Deduktion und Induktion kombi-niert. Einerseits werden im Rahmen des Analyserahmens Bestandteile bestehender Theorien aufgegriffen, andererseits wird die Verfeinerung, Ausarbeitung und Erweiterung eben jenes Analyserahmens vorgenom-men. Soweit die Untersuchung induktiv vorgeht, basiert sie methodisch auf der Grounded Theory, einem weitgehend explorativen Verfahren, bei dem die Theoriebildung wie bei anderen induktiven Studien auch auf der Basis des zugrunde liegenden (›grounded‹) empirischen Datenmate-rials erfolgt (Glaser/Strauss 1998).

Charakteristisch für die induktive Herangehensweise im Sinne der Grounded Theory ist, dass der Forschungsprozess im Hinblick auf die Sammlung und Auswertung von Daten nicht nacheinander, sondern nebeneinander und parallel abläuft. Es handelt sich um ein reflexives Vorgehen, bei dem die Ergebnisse vorangegangener Phasen im Laufe des Forschungsprozesses berücksichtigt und die Auswertung der Daten unter Umständen angepasst werden und ggf. nach weiteren Daten ge-sucht wird. Der Vorteil des prozessualen und sukzessiven Vorgehens ist insbesondere im Hinblick auf das Problem der Auswahl relevanter Texte in quantitativer und qualitativer Hinsicht und der Identifizierung rele-vanter Diskursmuster in den Texten von größter Relevanz.

Die von der Grounded Theory eingeräumte und geforderte Berück-sichtigung von Ergebnissen vorangegangener Analysephasen erwiesen sich in der Studie von entscheidender Bedeutung. Denn aufgrund des enormen Bedeutungszuwachses der Armenierthematik in der Türkei nahmen die Texte im Diskursfeld der türkischen Printmedien im Verlauf der Forschungsarbeit stark zu. Die komplette Erfassung und Auswertung aller Publikationen, insbesondere gegen Ende des Untersuchungszeit-raums, wäre selbst mit einem großen Forscherstab schwer gewesen. An-gesichts dieses Problems machte die empirische Fundierung der Vorge-hensweise in der Grounded Theory die Ausweitung und Berücksichti-gung immer neuer Quellen kontrollier- und steuerbar. Bereits gewonne-ne Erkenntnisse dienten als Ausgangspunkt für die Entscheidung, ob und welche Texte für die weitere Analyse heranzuziehen waren. Nur so war es möglich, der zahlenmäßigen Flut von Dokumenten und Texten unter forschungsrelevanten inhaltlichen Gesichtspunkten gerecht zu werden.

In diesem Kontext wurde das Konzept des »theoretical samplings« angewendet (Strauss/Corbin 1996: 161f). »Theoretical sampling« ge-

zu fundierten, gegenstandsbezogenen Informationen und Erkenntnissen zu gelangen (vgl. Blatter/Janning/Wagemann 2007).

POLITIK UND ERINNERUNG

84

währleistet die Repräsentativität der herangezogenen Konzepte. Im Gegensatz zum statistischen Sampling, bei dem das Sample Repräsenta-tivität für eine Gruppe beansprucht, zielt das theoretische Sampling da-rauf ab, Daten zu sammeln, die repräsentativ für die zugrunde liegenden Konzepte – und daher auch miteinander vergleichbar – sind (vgl. Strauss/Corbin 1996: 163). Die entscheidende Frage, wann mit dem Sampling aufgehört werden kann, hängt von der »theoretischen Sätti-gung« (saturation) ab: Das Sampling wird so lange durchgeführt, bis für jede Kategorie – in diesem Fall Deutungsrahmen und -topoi – theoreti-sche Sättigung erreicht ist. Dies ist dann der Fall, wenn »1. keine neuen oder bedeutsamen Daten mehr in Bezug auf eine Kategorie aufzutau-chen scheinen; 2. die Kategorieentwicklung dicht ist, insoweit als alle paradigmatischen Elemente einschließlich Variation und Prozess be-rücksichtigt wurden; 3. die Beziehungen zwischen den Kategorien gut ausgearbeitet und validiert sind« (Strauss/Corbin 1996: 159).

Critical Discourse Moments – Untersuchungszeiträume

Die Fragestellung der Arbeit, namentlich welche Deutungsmuster über die Armenierfrage existieren und welche Rolle nationale Identität und außenpolitischer Druck dabei spielen, bestimmte die Festlegung des Untersuchungszeitraums von 1973 bis 2005. Während 1973 die erste türkeiweite Auseinandersetzung mit der Geschichte von 1915 seit Ende der 1920er Jahre stattgefunden hatte, kennzeichnete der 90. Jahrestag der Massendeportation der Armenier weltweit einen Höhepunkt der Er-innerung an die Geschichte der Armenier.

Angesichts des Untersuchungszeitraums von 32 Jahren und der Ent-scheidung für Printmedien als Hauptquellen der Empirieerhebung stellte sich das Problem, nicht nur eine Auswahl geeigneter Texte treffen zu müssen, sondern zielorientiert im Hinblick auf die Frage vorzugehen, für welche konkreten Zeiträume und Tage nach relevanten Zeitungsartikeln recherchiert werden sollte.

In diesem Kontext war das Konzept der »critical discourse mo-ments« forschungsleitend (Chilton 1987), welches mit dem Ansatz des theoretischen Sampling kompatibel ist. Charakteristisch für kritische Diskursmomente ist, dass Diskursteilnehmer aus ganz unterschiedlichen sozialen und gesellschaftlichen Bereichen zu einem Schlüsselthema Stellung nehmen.

KONZEPTIONELLE GRUNDLAGEN

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Abb. 2: Analyse des Diskurses anhand kritischer Diskursmomente (eigene Darstellung) Generell wurden Anlässe wie armenische terroristische Anschläge und die Behandlung der »Armenierfrage« im Ausland oder in internationalen Organisationen als zentrale Orientierungspunkte für die Erfassung von kritischen Diskursmomenten herangezogen. Es wurde davon ausgegan-gen, dass Zeiten intensivierter internationaler Debatten nicht nur mit einer zunehmenden öffentlichen Auseinandersetzung hinsichtlich der Armenierfrage einhergehen würden, sondern dass sich zu diesen Zeiten auch die innen- und außenpolitischen Rechtfertigungsprobleme der Tür-kei in Bezug auf die Armenierfrage besonders in der türkischen Presse-berichterstattung widerspiegeln würden. Nach diesen Kriterien wurden die folgenden Untersuchungszeiträume als kritische Diskursmomente identifiziert.

• 27. Januar 1973. Ein armenischer Überlebender des Genozids er-schießt den türkischen Generalkonsul und seinen Stellvertreter in Los Angeles.

• 22. und 24. Oktober 1975. Anschläge von Armeniern auf türkische Botschaftsangehörige in Wien und Paris mit drei türkischen Todes-opfern.

• 18. Juni 1987. Das Europäische Parlament regt an, den Eintritt der Türkei in die EWG bzw. EG von einem Schuldbekenntnis der Tür-kei zum Armenier-Genozid von 1915/16 abhängig zu machen.

• 20. Oktober 2000. Der Vorstoß der Republikaner im amerikanischen Repräsentantenhaus, eine Resolution (House Resolution 398) zur Anerkennung des Genozids an den Armeniern zu verabschieden, scheitert am massiven Druck des Pentagons und des Präsidenten Bill Clinton mit Verweis auf bedeutende nationale Interessen.

• 18. Januar 2001. Die Französische Nationalversammlung erkennt die Massentötung der Armenier von 1915 als Völkermord an.

1973 2005

türkischePrintmedien

Critical Discourse Moments

1973 2005

türkischePrintmedien

Critical Discourse Moments

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• 25.-27. Mai 2005. Die drei türkischen Universitäten Bogazici, Sa-banci und Bilgi kündigen zum 90. Jahrestag des Völkermords eine alternative Konferenz zur Armenierfrage an. Es handelt sich um ein Novum in der Geschichte der modernen Türkei: Die Veranstaltung wird explizit als Gegenveranstaltung zum herrschenden nationalisti-schen Diskurs zur Armenierfrage angekündigt. Doch die Realisie-rung der Veranstaltung scheitert nach heftiger öffentlicher Kritik und politischem Druck. Im zweiten Anlauf Ende September 2005 stoßen die Veranstalter erneut auf starken Widerstand. Ein ähnlicher Eklat wie im ersten Anlauf wird in letzter Minute verhindert und die Konferenz nach großen Widerständen letztlich doch realisiert.

Textkorpus: Art der Quellen und Quellenbestand

Das empirische Material der Untersuchung setzt sich aus 1039 Berichten und Kommentaren aus türkischen Tageszeitungen zusammen. Es handelt sich dabei um die populistisch-nationalistische Hürriyet, die islamis-tisch-fundamentalistische Milli Gazete und die linksnationalistische und radikal-laizistische Cumhuriyet. Für den Untersuchungszeitraum von 1973 bis Ende der 1990er Jahre stellen diese drei Printmedien die Hauptquellen für die Analyse dominanter gesellschaftlicher und politi-scher Diskursrahmen dar.

Für die kritischen Diskursmomente 2001 und 2005 wurden weitere Tageszeitungen hinzugezogen und das Diskursfeld erweitert. Es handelt sich dabei um die liberale Radikal und die beiden islamisch-konservati-ven Zeitungen Zaman und Yeni Safak. Aus der Milliyet, die eine ähnli-che Ausrichtung hat wie die Hürriyet, lagen ebenso Texte vor. Das fol-gende Schaubild zeigt die Anzahl der Pressestexte während der kriti-schen Diskursmomente und ihre Verteilung auf die herangezogenen Presseorgane.

KONZEPTIONELLE GRUNDLAGEN

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Abb. 3: Anzahl der kodierten Presseartikel zwischen 1973 und 2005 und Verteilung pro Zeitung (N=1039)52 (eigene Darstellung) Die zum Teil selektive Hinzuziehung weiterer Presseorgane wurde not-wendig, erstens weil die türkische Medienlandschaft seit Mitte der 1990er Jahre enormen Veränderungen unterlegen ist. Der Boom privater Fernsehkanäle wurde von einem größeren Angebot an Printmedien be-gleitet. Die Radikal stellte dabei insofern eine nicht zu vernachlässigen-de qualitative Bereicherung der türkischen Medienlandschaft dar, als sich die Zeitung an eine bis dahin relativ vernachlässigte Schicht von Akademikern und Intellektuellen wendet, die nicht nur über soziales Prestige verfügen, sondern materiell zu den besser Gestellten gehören. Die Hinzuziehung der Zaman erfolgte, weil diese Zeitung es binnen we-niger Jahre auf eine im Vergleich mit den größten Tageszeitungen der Türkei hohe Auflagenzahl brachte und ein breiteres muslimisch-konservatives Klientel anspricht als die Milli Gazete. Die Milli Gazete wurde für die letzten kritischen Diskursmomente ganz durch die Beiträ-ge der Zaman und der Yeni Safak, die dieselbe muslimisch-konservative Schicht anspricht, ersetzt.53

52 Bei diesen Zahlen handelt es sich um den Textbestand, der systematisch

kodiert wurde. Der komplette Datensatz mit dem Gesamtbestand an zur Verfügung stehenden Artikeln, Kommentaren und Berichten ging weit über diese Zahl hinaus. Es handelt sich dabei um relevante Artikel, die zeitlich außerhalb der engen vordefinierten Diskursmomente erschienen und bei der Analyse des Erinnerungsdiskurses zwar ebenso berücksichtigt wurden, aber in der Tabelle nicht aufgelistet sind.

53 Ein weiterer Grund ist die elektronische Verfügbarkeit der Zeitungen: Während die Milli Gazete kein zuverlässiges elektronisches Archiv be-

Anzahl der kodierten Presseartikel und Verteilung auf die Tageszeitungen nach kritischen Diskursmomenten

1130 25

483432

73

39

189

80

12 16

3346

3549

34

0

20

40

60

80

100

120

140

160

180

200

1973 1975 1987 2001 2005

CumhuriyetHürriyetMilli GazeteRadikal Zaman/Yeni Safak

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Zweitens machte die Fragestellung der Arbeit die fallweise Berück-sichtigung weiterer Tageszeitungen notwendig. In der Untersuchung geht es darum, dominante sowie vergleichsweise abweichende gesell-schaftliche und politische Deutungsmuster über die Armenierfrage zu erfassen. Das Ziel dabei ist keine statistische Repräsentativität der Er-gebnisse, sondern einen empirisch fundierten Einblick in die Bandbreite diskursiver Rahmungen über die Armenierfrage und die Entwicklung dieser Bandbreite im Zeitverlauf zu geben und damit die »Repräsentati-vität des Konzeptes«, d.h. also die Repräsentativität der Diskursrahmen und -topoi im Sinne von Strauss/Corbin zu gewährleisten (1998). Dies begründet den Verzicht auf eine starre und rigorose Heranziehung von Texten derselben Zeitungen über den gesamten Untersuchungszeitraum. Abgesehen davon kann davon ausgegangen werden, dass die systemati-sche und exklusive Heranziehung der Hürriyet, Milli Gazete und der Cumhuriyet für den Zeitraum von 1973 bis 2000 die »theoretische Sätti-gung« in Bezug auf die Frage garantiert, wie in den systematisch und kontinuierlich herangezogenen Zeitungen die Armenierfrage gerahmt wurde, welche Deutungsmuster dominierten und welche variierten. Inso-fern trägt die Ersetzung der Milli Gazete durch die Zaman und die Yeni Safak als weitere islamisch-orientierte Zeitungen seit dem kritischen Diskursmoment von 2001 dazu bei, die Frage zu erhellen, ob und in-wieweit andere Deutungsrahmen als die in der Milli Gazete an isla-misch-konservative Lager gerichtet werden.

Neben diesem Hauptbestandteil des Textkorpus wurden Interviews mit Schlüsselakteuren der staatlichen türkischen Leugnungspolitik durch-geführt. Dabei ging es um die Offenlegung der politischen Praktiken, mit denen Akteure die staatliche Leugnungspolitik realisierten. Abbildung 4 veranschaulicht zusammenfassend das Vorgehen der Untersuchung für die Erfassung des Diskursverlaufs zur Armenierfrage in der Türkei.

Abb. 4: Vorgehensweise bei der Erfassung des Diskursverlaufs (eigene Darstellung)

sitzt, können auch ältere Ausgaben der Zaman und der Yeni Safak über das Internet abgerufen werden.

Armeniermordvon 1915

Verlauf Erinnerungsdiskurs

Ausgangssituation

1973 2005

türkische Printmedien

Critical Discourse Moments

Intern. Kontext NationaleKontext

Diskursräume& Akteure

Armeniermord

von 1915

Verlauf Erinnerungsdiskurs

Ausgangssituation

1973 2005

türkische Printmedien

Critical Discourse Moments

Intern. Kontext

Nationaler Kontext

Diskursräume & Akteure

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Zu den herangezogenen Zeitungen: Auflagen, politische Orientierungen, Journalistenstäbe Die Auswahl der Zeitungen erfolgte zunächst nach den jeweils in erster Linie angesprochenen gesellschaftlichen Gruppierungen und der Aufla-genzahl.54 Der Verbreitungsgrad der Zeitungen geht in den meisten Fäl-len über die Auflagenzahl hinaus. An öffentlichen Plätzen wie Cafés, Moscheen, Clubs usw. lesen meist mehrere Personen die dort verfügbare oder von jemandem hinterlassene Zeitung (Necef 2003).

Hürriyet: Die Hürriyet spricht mit einer Auflage von etwa 600.000 Exemplaren eine große Leserschaft an. Die politisch-ideologische Aus-richtung ist nationalistisch populistisch, vor allem gilt die Hürriyet als eine militärnahe Zeitung. Die Berichterstattung in der Hürriyet trug z.B. entscheidend zum sogenannten »postmodernen Coup« – der Militär-intervention vom 27. Februar 1997 – bei, in dessen Folge die Regierung unter dem islamistischen Necmettin Erbakan zurücktreten musste. Her-vorzuheben ist ferner, dass die Hürriyet einen äußerst populistischen und agitatorischen Auftritt an den Tag legt. Die langjährigen Kommentato-ren der Hürriyet decken von linksliberalen bis zu ultranationalistischen Einstellungen eine große politisch-ideologische Bandbreite ab. Der Chef-Kommentator Oktay Eksi etwa steht für die kemalistischen Prinzi-pien und Werte der Republik. Der Chefredakteur, Ertugrul Özkök, teilt mit Emin Cölasan, einem weiteren einflussreichen und viel gelesenen Journalisten des Blattes, trotz des unterschiedlichen Schreibstils eine nationalistische bis ultranationalistische Orientierung. Während Cölasan äußerst aggressiv schreibt und als ein ultranationalistischer Agitator auf-trat, gibt Özkök seinen nationalistischen Botschaften eine elitär-gebildete Note. Allerdings gibt es eine Reihe von weiteren Meinungs-machern in der Hürriyet, die der dominanten Gruppe der Nationalisten entgegenstehen und sich in fundamentalem Gegensatz zu diesen positio-nieren. Dazu gehören der linksliberale Hadi Uluengin und der liberale und bedingungslose Europabefürworter Mehmet Ali Birand.

Cumhuriyet: Die Cumhuriyet ist eine linksorientierte, radikallaizisti-sche Zeitung, die in erster Linie eine elitär-bildungsbürgerliche Klientel anspricht. Mit einer Auflage von etwa 50.000 Exemplaren gehört sie 54 Die anschließenden Ausführungen über die türkische Presse beruhen auf:

Alpkaya/Celebi 1994; Cebi 1994; Yumul/Özkirimli 2000; Oktar 2001; Yagcioglu/Cem-Deger 2001; Necef 2003. Die Einschätzung der politisch-ideologischen Orientierungen der Zeitungen und der tonangebenden Kom-mentatoren gehen auf eigene Expertise auf der Grundlage der täglichen Durchsicht der Presseberichterstattung und dem Vergleich zurück, wie die tonangebenden Meinungsmacher in den jeweiligen Presseorganen Stellung zu politischen Ereignissen nehmen.

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zwar eher zu den kleineren Zeitungen, ist aber, was gesellschaftliches Prestige und politische Bedeutung betrifft, ein einflussreiches Organ. Unter den türkischen Printmedien ist die Cumhuriyet das Symbol der modernen Türkei. Ihr Gründervater Yunus Nadi zählte bei der Repu-bliksgründung zu den Weggefährten von Mustafa Kemal. Die Zeitung identifiziert sich wie keine andere mit der laizistischen Ausrichtung der Republik und verteidigt bedingungslos den Kemalismus. Seit der Regie-rungsübernahme der islamisch-konservativen AKP 2002 gebärdet sich die Cumhuriyet als letzte Bastion im vermeintlichen Prozess der reak-tionären Entwicklung der Türkei zu einem islamistischen Gottesstaat. Die Zeitung führte eine massive Kampagne gegen die AK-Partei und den Regierungschef Recep Tayyip Erdogan im Vorfeld der vorgezoge-nen Parlamentswahlen 2007. Auf der Titelseite bildete das Blatt tagelang ein schwarzes Rechteck mit einem rechteckigen Schlitz in der Mitte ab, hinter dem Augen zu sehen waren. Das Bild erinnerte unweigerlich an eine Frau im schwarzen Schleier. Der Titel lautete: »Sehen Sie die Dun-kelheit, die sich hinter der Urne versteckt?« (z.B. Cumhuriyet, 8.7.2007) Darüber hinaus veranlasste die erbitterte Gegnerschaft zur islamisch-konservativen AKP-Regierung den Chef-Redakteur Ilhan Selcuk, sich für die ultra-nationalische Nationale Bewegungspartei (Milli Hareket Partisi) einzusetzen.55 Mit der Sorge um die Aushöhlung der laizisti-schen Prinzipien der Türkei und der entschiedenen Kritik am EU-Beitrittsprozess ist es zu der paradoxen Entwicklung gekommen, dass die politisch links orientierte Cumhuriyet sich zu einem nationalisti-schen Organ entwickelt hat, das Diskurskoalitionen mit dem rechten und militärnahen politischen Lager eingeht. Doch auch in den Reihen der Cumhuriyet befinden sich langjährige und renommierte Meinungs-macher, die der Gesamtstoßrichtung der Zeitung kritisch gegenüberste-hen. Hierzu gehört Oral Calislar, dessen politische Biographie mit vielen kritischen Stimmen in der Armenierfrage zusammenfällt.

Milli Gazete: Was die islamistisch-fundamentalistische Milli Gazete betrifft, so verfügt auch sie nur über eine kleine Auflagenzahl von etwa 50.000 Stück, ist aber was ihren Einfluss und ihre Reichweite im Hin-blick auf die islamistisch-orientierten Schichten betrifft von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Die Zeitung gilt darüber hinaus als Partei-

55 So schrieb das einstige Symbol der türkischen Linken, dass er für das na-

tionale Wohl sogar bereit sei, mit seinen einstigen Peinigern und Folterern zusammenzuarbeiten (Cumhuriyet, 8.7.2007). Mit dieser offenen Unter-stützung des rechtsextremen politischen türkischen Lagers löste Ilhan Sel-cuk eine öffentliche Debatte darüber aus, inwieweit der Zweck die Mittel heiligt. Vgl. exemplarisch Murat Belge, Iskenceci ile Ittifak, Radikal, 21.8.2007.

KONZEPTIONELLE GRUNDLAGEN

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organ von Necmettin Erbaken, der neben dem inzwischen verstorbenen Bülent Ecevit und Süleyman Demirel zu jener Garde der türkischen Politiker gehört, die die türkische Politik zwischen 1970 und 2000 be-stimmt haben. Erbakan war in dieser Zeitspanne immer wieder an der Regierung beteiligt oder stellte zum Teil selbst die Regierung. Interes-sant ist die Milli Gazete darüber hinaus, weil sie zum Teil offen anti-laizistisch und im Grunde anti-kemalistisch ausgerichtet ist. Angesichts der diametral entgegensetzten politisch-ideologischen Ausrichtungen der herangezogenen Zeitungen, insbesondere der Cumhuriyet und der Milli Gazete, ist die Frage, wie beide Zeitungen zu der Armenierfrage Stel-lung nehmen, besonders aussagekräftig. Spiegeln sich die ideologischen Unterschiede in dieser Frage wider oder ist die Armenierfrage gar ein Thema, bei dem sich republikfeindliche Fundamentalisten und radikale Laizisten nicht widersprechen bzw. nur unwesentlich unterscheiden?

Für den Diskurszeitraum von 1973 bis 2001 wurden diese Organe einheitlich und ausschließlich herangezogen, während das Diskursfeld für die Entwicklung des Erinnerungsdiskurses seit der Jahrtausendwende mit weiteren Presseorganen erweitert wurde. Es handelt sich um die fol-genden drei Zeitungen.

Radikal: Die Auflagenzahl der Radikal, die 1996 ins Leben gerufen wurde, ist mit 40.000 Exemplaren ebenso wie die der Milli Gazete und der Cumhuriyet relativ niedrig, aber auch hier darf die Auflagenzahl nicht über die qualitative Bedeutung und Stellung der Zeitung im öffent-lich politischen Leben der Türkei hinwegtäuschen. In der Beilage »Ra-dikal Zwei« (Radikal Iki) tummeln sich die etabliertesten Akademiker des Landes. Die liberalen Zeitungsmacher werden als die »Zweiten Re-publikaner« (Ikinci Cumhuriyetciler) bezeichnet, womit auf ihre liberale Ausrichtung und kritische Einstellung gegenüber den autoritären Zügen der kemalistischen Staatsideologie abgehoben wird. Insbesondere in der Kopftuchdebatte zeichnen sich die Zweiten Republikaner im Gegensatz zu den traditionellen Kemalisten dadurch aus, dass sie sich für die Aus-weitung der individuellen Freiheit und für die Zulassung von Kopftuch tragenden Frauen an die Universitäten einsetzen. Auffällig ist die Radi-kal nicht zuletzt speziell im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Studie. So gehört es zu der Politik des Hauses, den in den meisten türkischen Zeitungen obligatorischen oder mindestens ver-breiteten Zusatz »so genannter« Völkermord wegzulassen oder Völker-mord nicht mit Zitierzeichen, also als »Völkermord«, zu veröffentlichen. Auch für die Radikal gilt, dass ihre Kommentatoren nicht durchweg die-se politisch-ideologische Grundausrichtung teilen. So hatte etwa der ehemalige Diplomat Gündüz Aktan zwischen 1998 und 2007 eine Ko-lumne in der Radikal. Aktan, der bis zu seinem Tod in 2008 zu dem

POLITIK UND ERINNERUNG

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politischen Aktivisten in der Abwehr der armenischen Behauptungen geworden war, nahm hier regelmäßig Stellung zu der Armenierfrage. Die ultranationalistische politische Orientierung des brillianten Rhetori-kers Aktan zeigte sich nicht zuletzt darin, dass er im Gegensatz zu vielen seiner ehemaligen Kollegen aus dem Auswärtigen Amt nicht für die ke-malistische Partei CHP, sondern für die ultranationalistische Partei MHP in die vorgezogenen Parlamentswahlen im Juli 2007 ging. Die Radikal bietet auch eine Plattform für Schriften von Akteuren, die der offiziellen staatlichen Deutung der Armenierfrage kritisch gegenüber stehen, auch wenn sie nicht dezidiert von Völkermord sprechen. Hierzu ist in erster Linie Murat Belge, Professor für englische Philologie, zu zählen, der zu den renommiertesten Figuren des linken Establishments zählt.

Zaman: Die islamisch-konservative Zeitung erschien wie die Radikal erstmals 1996 und gehört im Hinblick auf die Auflagenzahl neben der Hürriyet zu den größten Tageszeitungen des Landes. Der Chefredakteur der Zaman, Ekrem Dumanli, spricht von einer Auflagenzahl von 700.000 herausgegebenen Exemplaren.56 Zaman gehört in vielerlei Hin-sicht inzwischen zu den wichtigsten Presseorganen der Türkei und sie bietet, etwa im Vergleich zur Hürriyet, eine sachliche und qualitativ gute Berichterstattung. Die in erster Linie angesprochene Bevölkerungsgrup-pe der Zaman ist die gebildete muslimisch-konservative Mittelschicht. In der Türkei wird die Zaman als Organ der so genannten Fethullah-Gemeinschaft angesehen. Fethullah Gülen ist ein einflussreicher, sehr wohlhabender islamischer Prediger, dem vorgeworfen wird, einen sys-tematischen Plan zum systemischen Sturz der Türkei zu haben und die-sen vor allem im Bereich der Jugend, Bildung und Erziehung einzuset-zen. Wie die übrigen Zeitungen integriert auch die Zaman Kommentato-ren unterschiedlicher politisch-ideologischer Orientierungen. In diesem Sinne ist die Zaman auch keine rein islamische Zeitung. In Bezug auf den Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Studie ist Folgendes relevant: Mit Hrant Dink und Etyen Mahcupyan schrieben die beiden bekanntesten öffentlichen Figuren der armenischen Gemeinschaft der Türkei in der Zaman. Nach der Ermordung von Hrant Dink Anfang 2007 übernahm Etyen Mahcupyan die Herausgabe der armenisch-türkischen Wochenzeitung AGOS. Die Romanautorin Elif Safak zählte ebenso zu den Kommentatoren der Zaman. Safak rückte weltweit in den Blick-punkt des Interesses, weil sie neben anderen prominenten türkischen Intellektuellen wegen Verunglimpfung des Türkentums vor Gericht

56 Vgl. www.zaman.com.tr/webapp-tr/yazar.do?yazino=547503. Stand 6.6.2007.

KONZEPTIONELLE GRUNDLAGEN

93

stand. Der Fall war deshalb spektakulär, weil Elif Safak aufgrund einer fiktiven Romanfigur wegen Beleidigung angezeigt worden war.

Schließlich wurde in einigen Fällen – insbesondere anlässlich des 90. Jahrestags – die Yeni Safak für die Analyse der türkischen Deu-tungsmuster herangezogen worden. Yeni Safak ähnelt in vielerlei Hin-sicht der politisch-ideologischen Ausrichtung der Zaman und verfügt über eine Auflagenzahl von etwa 120.000 Exemplaren.57 Der Besitzer der Zeitung Albayrak ist eng mit dem AKP-Vorsitzenden und amtieren-den Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan befreundet. In den Reihen der Yeni Safak befinden sich mit Ali Bayramoglu und Kürsat Bumin zwei bekannte gesellschaftskritische Journalisten, die die autoritären Züge des Kemalismus und die damit verbundene Dominanz des türkischen Mili-tärs in der türkischen Politik in Frage stellen. Neben anderen namhaften Journalisten nahmen beide als aktive Teilnehmer an der alternativen Armenierkonferenz von 2005 teil und zählten zum engsten Freundes-kreis des ermordeten Hrant Dink.

Über den Codier- und Auswertungsprozess Für die Codierung und Auswertung des Textkorpus wurde eine Mi-schung aus einem induktiven und deduktiven Verfahren herangezogen. Alle Texte zu den kritischen Diskursmomenten wurden in drei Durch-gängen nach dem folgenden Schema gesichtet und ausgewertet: Im ers-ten Durchgang wurden die Texte zunächst komplett durchgelesen und erste Stichworte gemacht, welche Diskursrahmen auffielen. In einem zweiten Durchgang wurde die Codierung vorgenommen. In diesem Durchgang wurde das Codebuch entwickelt und gepflegt. Ein dritter Durchlauf der Sichtung und Codierung der Texte erfolgte schließlich, nachdem alle Texte der jeweiligen Diskursmomente erfasst und ausge-wertet worden waren. Hier standen die Kontinuitätsmomente und Brü-che zwischen den Diskursmomenten im Vordergrund. Die Ergebnisse für die einzelnen Diskursmomente wurden also aus dem perspektivi-schen Interesse an der Gesamtentwicklung im Zeitverlauf noch einmal näher betrachtet. Nicht zuletzt stand in diesem Durchgang der Zusam-menhang zwischen den Deutungsmustern, Diskursrahmen und -topoi auf der einen Seite und den innen- und außenpolitischen Veränderungen in Bezug auf die Armenierfrage auf der anderen Seite im Vordergrund. Während die ersten beiden Durchgänge sich auf die spezifischen Dis-

57 Vgl. www.zaman.com.tr/webapp-tr/yazar.do?yazino=547503. Stand 6.6.2007.

POLITIK UND ERINNERUNG

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kursmuster zu bestimmten Zeiten konzentrierten, ging es im dritten Durchgang um die Herstellung eines Gesamtbildes.

Die systematische Heranziehung von Printmedien soll nicht zu der Annahme verleiten, dass es sich bei der vorliegenden Untersuchung um eine Medienanalyse handelt, die sich mit Fragen wie etwa Agenda-Set-ting, den Zusammenhang von public, media und der policy Agenda (vgl. Dearing/Rogers 1996) oder den Bedingungen und Strukturen öffentli-cher Meinungsbildung aus dem Blickwinkel der Funktion von Medien (vgl. Gerhards et al. 1998) beschäftigt.

Printmedien werden in der vorliegenden Untersuchung als öffentli-cher Schauplatz herangezogen und dahingehend analysiert, wie sich der Diskurs über die Armenierfrage in diesem Diskursfeld entwickelt. Hier-bei liegt der Fokus nicht auf den einzelnen Zeitungen und ihren Positio-nen zur Armenierfrage, sondern darauf, welche Positionen es generell im Diskurs gibt, welche Widersprüche zu entdecken sind etc. Die heran-gezogenen Zeitungen dienen als Feld für die Eruierung von existieren-den Diskursrahmen. Daher wurden die Positionen, die in den Zeitungen zum Ausdruck kommen, zwar systematisch aufgezeigt, aber nicht sys-tematisch mit denjenigen der übrigen Zeitungen verglichen. Auf die Rahmungsunterschiede zwischen den Zeitungen ist nur dann eingegan-gen worden, wenn sich diese in besonderem Maße qualitativ abzeichne-ten.

TEIL II: EMPIRIE

97

DIE GEGENWART DER VERGANGENHEIT

Der Erinnerungskampf der Armenier

Schweigen und Nicht-Thematisierung charakterisierten viele Jahre den Umgang der türkischen Gesellschaft und Politik mit der Vertreibung der osmanischen Armenier. Für den Staat galt die Armenierfrage mit den Friedensverhandlungen von Lausanne, die die Geburt der modernen Türkei symbolisieren, als gelöst: Hier hatten sich die Gründerväter er-folgreich gegen die Schaffung eines armenischen Staates eingesetzt, die im Friedensvertrag von Sèvres (1920) noch vorgesehen war.

Erst das Attentat eines armenischen Überlebenden der jungtürki-schen Vertreibungspolitik von 1915, bei dem 1973 in Los Angeles zwei türkische Diplomaten getötet wurden, brach in der Türkei das Schwei-gen über die armenische Geschichte. Der Attentäter Mıgırdaç Yanıkyan hatte einen Großteil seiner Familie während der Vertreibungs- und Er-mordungspolitik von 1915 verloren. Er berichtete, dass ihn die traumati-schen Erinnerungen an die Deportationsjahre nicht losgelassen und ihn zu seinem sorgfältigen Plan der Ermordung der türkischen Diplomaten veranlasst hatten. Unter dem Vorwand, er besitze antike Stücke aus der Zeit von Sultan Abdulhamid II, die er türkischen Museen zur Verfügung stellen wolle, vereinbarte er ein Treffen mit den Vertretern der türki-schen Botschaft, um sie dann aus nächster Nähe zu erschießen. In einem Bekennerschreiben schrieb Yanıkyan: »Armenians everywhere should pursue this tactic. This new type of war. I am ending my writing so that I can start taking my first step […] Perhaps my act will be more effective

POLITIK UND ERINNERUNG

98

in awakening the sleeping conscience of many« (zitiert nach Şimşir 2000:117, FN 79).58

In den kommenden Jahren nahm der militante Erinnerungskampf einen organisierten Charakter an. Im Gegensatz zu der Einzelaktion von 1973 handelte es sich um organisierte Aktionen, die auf die in Beirut gegründete Terrororganisation »Armenian Secret Army for the Libera-tion of Armenia« (ASALA) zurückgingen. Mit zwei kurz aufeinander folgenden und gut geplanten Anschlägen auf die Botschaften der Türkei in Wien und Paris trat die ASALA 1975 erstmals in Erscheinung (Şimşir 2000: 17). Am 22. Oktober 1975 fiel der türkische Botschafter Danış Tunalıgil dem Anschlag in Wien zum Opfer. Bei dem Anschlag in Paris zwei Tage später erlagen der Botschafter İsmail Erez und dessen Chauf-feur ihren Schussverletzungen. In einem Bekennerschreiben gaben sich die Täter als die »Kinder der armenischen Nation« aus, die Rache für das Schicksal ihrer Vorfahren genommen hätten, und begründeten ihren Anschlag damit, dass die Täter international nie zur Rechenschaft gezo-gen worden seien (Cumhuriyet, 26.10.1975).

Das Ziel der ASALA war die Türkei dazu zu bringen, die Verant-wortung für die Opfer von 1915 zu übernehmen, Reparationszahlungen zu leisten und Land für die Errichtung eines armenischen Staates abzu-treten.59 Die Organisation operierte mit der Unterstützung anderer inter-nationaler Terrororganisationen, insbesondere der PLO. Die IRA und die PKK werden als weitere Terrororganisationen aufgelistet, die die ASA-LA unterstützten. In Folge interner Rivalitäten zerfiel die ASALA Mitte der 1980er Jahre. Der Begründer Hagop Hagopyan fiel 1988 selbst einem Mordanschlag in Athen zum Opfer. Die Täter, bei denen es sich um interne Gegner oder professionelle Killer im Auftrag des türkischen Geheimdienstes handeln könnte, konnten nie gefasst werden.

Wie reagierten die türkische Gesellschaft und Politik auf den plötzli-chen Einbruch der Vergangenheit in die Gegenwart? Wie wurde an den Armeniermord von 1915, der das zentrale Motiv für die Attentate auf türkische Diplomaten in den 1970ern war, erinnert? Diese Fragen wer-den im folgenden Kapitel untersucht. Ausgehend von der Annahme, dass aktuelle soziale und politische Bedingungen kollektive Erinnerung beeinflussen (Halbwachs 1985), werden zunächst der innen- und außen-politische Kontext vorgestellt. In Bezug auf die innenpolitische Situation ist die starke gesellschaftlich-politische Polarisierung von Bedeutung. Außenpolitisch stellte der Einmarsch der türkischen Truppen in Zypern das herausragende Ereignis der 1970er Jahre dar. Nach der Einbettung 58 Der Brief wurde am 29.1.1973 in der Santa Barbara News abgedruckt. 59 Vgl. Patterns of Global Terrorism: 1991, U.S. Department of State; www.

terrorisminfo.mipt.org/pdf/1991pogt.pdf. Stand 15.8.2007.

GEGENWART DER VERGANGENHEIT

99

der Diskursauslöser in den innen- und außenpolitischen Kontext, werden im letzten Teil des Kapitels die Deutungsmuster über die Armenische Frage in der öffentlichen Auseinandersetzung in der Türkei analysiert.

Innen- und außenpoli t ischer Kontext der 1970er

Der Beginn des Erinnerungsdiskurses fiel mit einer Phase in der Ge-schichte der Türkei zusammen, die von politischer und gesellschaftlicher Instabilität und Unsicherheit gekennzeichnet war. Wenige Monate vor dem Attentat in Los Angeles hatte das Militär zum zweiten Mal in der Geschichte der Republik in die Politik interveniert. Die politischen Par-teien waren tief zerstritten und büßten zunehmend an Vertrauen in der Bevölkerung ein (Özbudun 2002). Die Polarisierung der Gesellschaft in den 1970er Jahren entlang ideologischer Linien kulminierte schließlich 1980 in dem dritten und bis dahin schwerwiegendsten Militärputsch in der Geschichte des Landes.

Das Militärmemorandum vom 12. März 1971

Mit einem Memorandum intervenierten die türkischen Streitkräfte 1971 in die Politik des Landes. Die konservative Fraktion im Militär ergriff dabei vor der als progressiv und links geltenden Gruppe von Offizieren die Initiative (Karabelias 1999: 133), denen eine Nähe zu den prominen-ten Linksintellektuellen der Ära Doğan Avcıoğlu und İlhan Selçuk nachgesagt wurde. Mit wachsender Skepsis hatte der konservative Flü-gel des Militärs auch die zunehmende Organisierung der Arbeiter- und Jugendbewegung beobachtet, in der sozialistische Ideen und anti-ame-rikanische Ressentiments verbreitet waren.

In dem Memorandum wurde die Regierung ultimativ dazu aufgefor-dert, die anarchischen Bedingungen zu beenden und Reformen im Geiste Atatürks durchzuführen. Die Regierung und das Parlament wurden für das politische und soziale Chaos verantwortlich gemacht. Schließlich machte das Militär klar, dass es entschlossen sei, die Werte der Republik zu beschützen und erforderlichenfalls die Führung direkt zu übernehmen (Çavdar 1995: 193). Die Regierung unter Ministerpräsident Süleyman Demirel trat zurück. Nach einer Reihe von Interimslösungen konnte der Einfluss des Militärs aber mit den allgemeinen Wahlen im Herbst 1973 wieder eingedämmt werden. Die Wahl des Präsidenten im April dessel-ben Jahres, bei der sich der Kandidat der Militärführung nicht durchset-zen konnte, hatte ihr bereits eine schwere politische Niederlage bereitet (Jenkins 2001).

POLITIK UND ERINNERUNG

100

Politische Säuberungen und Verfassungsänderung

Die Militärintervention von 1973 schwächte insbesondere die Gewerk-schaften und führte zur Auflösung der kommunistischen Türkischen Arbeiterpartei und der islamistischen Milli Nizam Partisi unter Necmet-tin Erbakan. Die Mitglieder der illegalen kommunistischen THKP und der THKP-C wurden verhaftet und teilweise zum Tode verurteilt. Die grundlegenden demokratischen Aspekte der Verfassung von 1961, die als die liberalste Verfassung in der Geschichte der modernen Türkei gilt, wurden rückgängig gemacht. Bürgerliche Freiheiten wie Versamm-lungs-, Meinungs- und Pressefreiheit wurden mit dem Hinweis auf die nationale Sicherheit und die Einheit des Landes aufgehoben oder dras-tisch eingeschränkt. Das Streikrecht von Arbeitnehmern wurde aufgeho-ben, die Autonomie der Hochschulen eingeschränkt, der Status des Ver-fassungsgerichts geändert (Adanir 2000). Demgegenüber wurden Staats-sicherheitgerichte eingeführt (Devlet Güvenlik Mahkemesi), die für poli-tische Dissidenten zuständig waren. Zwar stellte das Verfassungsgericht 1975 die Arbeit der Staatssicherheitsgerichte ein (Rumpf 2005), sie wurden jedoch von den Juntisten des 1980er Putsches wieder ins Leben gerufen. Erst im Zuge des EU-Beitrittsprozesses konnten die Staatssi-cherheitsgerichte in den 2000er Jahren wieder abgeschafft werden.

Die Verfolgung von linksorientierten Gruppen und die Einschrän-kung der Grundfreiheiten werden in der Literatur als »faschistischer Korrekturversuch« (Çavdar 1996) bezeichnet, der sich gegen die libera-len gesellschaftlichen und politischen Errungenschaften der 1960er Jah-re richtete. Der Rücktritt der amtierenden konservativen Regierung schwächte demnach nur auf den ersten Blick die Konservativen – die eigentlichen Verlierer waren linke und sozialistische Gruppen (Özdemir 1989).

Die Militärintervention löste einen erbitterten Machtkampf um die Führung in der Republikanischen Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi, CHP) zwischen İsmet İnönü, der zusammen mit Atatürk die Partei ge-gründet hatte, und der jungen politischen Figur Bülent Ecevit aus. Letz-terer konnte sich gegen den greisen Inönü durchsetzen. Mit einer über-wältigenden Mehrheit wurde er 1972 zum neuen Vorsitzenden der Re-publikanischen Partei gewählt. Der Zypernkonflikt

Die Militärintervention von 1973 und die im Zuge dieses Eingriffs zu-nehmende Polarisierung der türkischen Politik und Gesellschaft stellten den unmittelbaren innenpolitischen Kontext der ersten Erinnerungswelle

GEGENWART DER VERGANGENHEIT

101

an die Armenische Frage dar. Die außenpolitisch entscheidende Ent-wicklung war der türkische Einmarsch auf Zypern.

Die Grundlinien des Zypernkonfliktes entstanden während der 1950er Jahre in der Phase der Unabhängigkeitsbewegung der Insel, in der die griechisch-zyprische und die türkisch-zyprische Volksgruppe unterschiedliche Vorstellungen über die Zukunft eines unabhängigen Zyperns entwickelten. Die griechisch-zyprische Befreiungsorganisation »Ethniki Organisos Kyprion Agoniston« (EOKA), die im Untergrund mit Sabotageanschlägen gegen die britische Verwaltung mobil machte, setzte sich für die »Enosis«, d.h. das Zusammengehen mit dem griechi-schen Mutterland, ein. Das nationalistische Modell auf der Seite der tür-kischen Zyprioten, das von Rauf Denktaş formuliert wurde, lautete »Taksim« bzw. Teilung und sah die Teilung der Insel in eine griechische und türkische Hälfte vor (Choisi 1993).

Im Zürich-Londoner Abkommen (1956), das die Unabhängigkeit Zyperns regelt, wurde dem interkommunalen Konflikt mit der bi-kommunalen Regelung entgegenzukommen versucht, die im Wesentli-chen in der getrennten Gemeindeverwaltung der beiden Volksgruppen bestand. Keine der beiden konnte damit auf kommunaler Ebene über-stimmt werden. Zudem enthielt das Abkommen eine Garantieerklärung, die ein Interventionsrecht für die Türkei, England und Griechenland im Falle der Missachtung der Verfassung einräumte.

In der politischen Praxis behinderte die bi-kommunale Verwaltungs-form allerdings die Entscheidungsfindung erheblich. Als Präsident Erz-bischof III Makarios 1963 unter anderem auch aus diesem Grund den Versuch unternahm, die Verfassung zu ändern, führte dies zu einem Bürgerkrieg zwischen den beiden Volksgruppen. Mit der Stationierung von UN-Friedenstruppen konnten die Zusammenstöße eine zeitlang unter Kontrolle gebracht werden.

Im Gegensatz zu seiner früheren Haltung im Hinblick auf eine Ver-einigung mit dem griechischen Mutterland nahm Makarios nach dem Sturz der Regierung 1967 durch die Nationale Garde eine kritische Hal-tung gegenüber der Militärdiktatur in Griechenland ein und begann sich für die Erhaltung der Unabhängigkeit der Insel einzusetzen. Die griechi-sche Militärführung förderte daher die Gegner von Makarios im extre-mistischen Lager und unterstützte die Neugründung der nationalisti-schen Untergrundorganisation EOKA unter dem Nachfolgernamen EO-KA-B. Makarios konnte nach mehreren gescheiterten Versuchen 1974 schließlich gestürzt werden. Die griechischen Nationalisten wollten die »Hellenische Republik Zypern« ausrufen und die Enosis realisieren.

POLITIK UND ERINNERUNG

102

Nachfolger von Makarios wurde Nikos Sampson, der den bezeichnen-den Beinamen »Türkenkiller« trug.60

Der türkische Premierminister Bülent Ecevit forderte England und Griechenland als Garantiemächte auf, sich für die Unabhängigkeit und territoriale Integrität Zyperns einzusetzen. Nachdem diese nicht handel-ten, entschied Ecevit sich für einen Alleingang und ließ Truppen auf den nördlichen Teil von Zypern landen. Nach einem vom UNO-Sicherheits-rat geforderten Waffenstillstand am 21. Juli 1974, der die Unruhen und Zusammenstöße zwischen den beiden Volksgruppen nach dem Sturz von Makarios eindämmte, starteten die türkischen Truppen am 14. Au-gust 1974 eine zweite Offensive und besetzten 40 Prozent des Inselterri-toriums. Eine Welle von Flucht und Vertreibung von griechischen Zy-prioten aus der Nordhälfte und von türkischen Zyprioten aus der Süd-hälfte der Insel folgte.

Der Einmarsch stieß innenpolitisch auf uneingeschränkte Unterstüt-zung, schädigte aber das außenpolitische Image der Türkei beträchtlich (Celik 1999). Die USA suspendierten ihre militärischen Unterstützungs-leistungen für die Türkei. Das Embargo hielt bis 1978 an und gilt als einer der Tiefpunkte in den amerikanisch-türkischen Beziehungen (Hale 2000). Auch Frankreich stellte sich auf die Seite Griechenlands. Als es während der türkischen Einmarschwelle zu einer Kriegsgefahr zwischen der Türkei und Griechenland kam, schickte Frankreich Kriegsflugzeuge nach Griechenland. Der französische Vertreter in der UN erklärte am 24./25. Juli 1974, dass die Zusagen Frankreichs an Ankara im Falle eines weiteren Vordringens der Türkei nicht mehr haltbar seien (Chiclet 1989).

In Griechenland löste der Einmarsch eine schwere Regierungskrise aus. Als der Junta-Chef Ioannidis einen Gegenangriff befahl, den der Generalstab angesichts der militärischen Überlegenheit der Türkei ver-weigerte, musste er zurücktreten. An seine Stelle trat der im Pariser Exil lebende ehemalige Ministerpräsident Karamanlis (Meinardus 1984). Den Putsch gegen Makarios hatten die griechischen Juntisten ausgehend von der Fehleinschätzung angestoßen, dass sich die USA auf die Seite Griechenlands stellen würden. Der Umstand, dass der amerikanische Geheimdienst CIA in die Planungen des Sturzes von Makarios einge-weiht war, hatte die griechische Militärführung zu dieser fälschlichen Annahme veranlasst.

60 Während des Bürgerkriegs in den 1960er Jahren zwischen den griechi-

schen und türkischen Zyprioten hatte sich Sampson damit gebrüstet, zahl-reiche türkische Frauen und Kinder umgebracht zu haben. Vgl. Die Zeit, Nr. 30, 2002.

GEGENWART DER VERGANGENHEIT

103

Der Zypernkonflikt harrt bis in die Gegenwart der Lösung. Mehrere Anläufe unter Führung der UN, im Konflikt zu vermitteln und die Tei-lung der Insel zu überwinden, sind gescheitert. Zuletzt schlug ein müh-sam mit den beiden Volksgruppenführern ausgearbeiteter Vorschlag des UN-Generalsekretärs Kofi Annan 2004 aufgrund des Widerstandes des griechisch-zyprischen Teils der Inselbevölkerung fehl (Kramer 2005a). Die Abstimmung fand wenige Wochen vor dem offiziellen Beitritt des griechisch-zyprischen Teils in die EU statt, so dass es für den griechi-schen Teil der Inselbevölkerung im Gegensatz zu dem türkischen Teil keinen besonderen Anreiz zur Zustimmung gab, zumal Papadopoulos im Vorfeld eine »regelrechte Ablehnungskampagne« betrieben hatte (Dembinski 2006: 12). Der amtierende Erweiterungskommissar Günther Verheugen machte keinen Hehl aus seiner Enttäuschung über die gerin-ge Kooperationsbereitschaft des Staatspräsidenten (Lätt 2007). Damit endete die Zypernpolitik der EU, die im Zuge der Osterweiterung im Zypernkonflikt aktiv geworden war und immer wieder betonte, die Insel vereint aufnehmen zu wollen, in einem Fiasko.61 Die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft des griechisch-zyprischen Teils der Insel hatte zwar die türkisch-zyprischen Inselbewohner nicht aber die griechischen unter Druck gesetzt, den Annan-Plan anzunehmen.

Die von der internationalen Gemeinschaft unmittelbar nach dem Re-ferendum gemachten Zusagen, die Isolationspolitik gegenüber dem türki-schen Teil Zyperns abzumildern, wurden bislang nicht realisiert. Ebenso wenig ist die Forderung des EU-Erweiterungskommissars Oli Rehn ein-getreten, dass die Isolation des türkischen Teils aufgehoben werden müsse (Milliyet, 13.1.2007). Zypern blockiert als EU-Mitglied jedwede Aufhe-bung der Isolation des türkischen Teils der Insel. Der Konflikt belastet den EU-Beitrittsprozess der Türkei erheblich (Suvarierol 2003; Kramer 2006b). Bereits im ersten Verhandlungsjahr wurden die Verhandlungen teilweise eingefroren. Die Türkei weigert sich, die Zollunion auf Zypern auszuweiten und verweist dabei darauf, dass sich die Inselgriechen gegen eine Lösung ausgesprochen haben und die internationale Gemeinschaft keine ihrer Zusagen im Hinblick auf die Aufhebung der Isolationspolitik gegenüber dem türkischen Teil Zyperns eingehalten hat.

61 Einem Bericht der Milliyet vom 6.7.2007 zufolge, räumte die deutsche

Bundeskanzlerin in diesem Zusammenhang ein, dass es ein Fehler gewe-sen sei, Zypern vor der Lösung des Konflikts in die EU aufzunehmen.

POLITIK UND ERINNERUNG

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Übergriffe auf Nichtmuslime – die Pogrome vom 6./7. September 1955

In der Entstehungsphase begann sich die Zypernfrage in der Türkei zu einer Frage von nationaler Bedeutung zu entwickeln. Dabei wurde die griechische Minderheit in der Türkei bald zur Zielscheibe nationalisti-scher Ressentiments. Die Regierung Menderes trug aktiv zur wachsen-den Feindseligkeit gegenüber den griechischen Bevölkerungsteilen bei. Die eigenen Staatsbürger wurden als politisches Druckmittel eingesetzt, um im Unabhängigkeitsprozess der Insel die Maximalforderung der Inselgriechen, mit dem Mutterland Griechenland zusammenzugehen, zu blockieren.

In der Nacht vom 6. auf den 7. September 1955 griff ein wütender Mob die griechische Minderheit, die nach dem Bevölkerungsaustausch der Türkei und Griechenland in den 1920er Jahren noch im Land geblie-ben war, an. Es stellte sich heraus, dass die Ausschreitungen von der Regierung Menderes von langer Hand geplant und gesteuert worden wa-ren. Die Häuser und Geschäfte von Nichtmuslimen, insbesondere der griechischen Bevölkerung Istanbuls, waren zuvor mit Pinselstrichen kenntlich gemacht worden (Güven 2005). Eine Meldung, die in der re-gierungsnahen Zeitung »İstanbul Ekspres« lanciert wurde, das Geburts-haus von Atatürk in Thessaloniki sei bombardiert worden, diente als Vorwand, der die geplanten Ausschreitungen auslöste. Während der spä-teren gerichtlichen Untersuchung stellte sich dann heraus, dass der An-schlag auf das Geburtshaus des Republikgründers vom türkischen Ge-heimdienst durchgeführt worden war (Dosdogru 1993).

Das Ausmaß der spontanen Beteiligung an den Übergriffen und der Zerstörung von nicht-muslimischem Eigentum entglitt der Kontrolle der Sicherheitskräfte und der Polizei. Zehntausende – Schätzungen reichen bis zu Hunderttausend Personen (Kuyucu 2005; Vryonis 2005) – erwie-sen sich als Trittbrettfahrer und gesellten sich zu den ultranationalisti-schen Mobtruppen der Ülkü Ocakları, die im Vorfeld von der Regierung eingeheizt worden waren. Es gab kaum Plünderungen oder physische Gewalt gegen die Nichtmuslime, was die These zu stützen scheint, dass die Ausschreitung in erster Linie für außenpolitische Zwecke inszeniert worden waren.62

Eine zum 50. Jahrestag der Ausschreitungen organisierte Ausstel-lung im Istanbuler Stadtviertel Taksim, wo die Pogrome von 1955 die größten Zerstörungen verursacht hatten, führte zu Übergriffen ultrana- 62 Im Gegensatz dazu betonen Güven (2005) und Vyronis (2005), dass die

Ausschreitungen der endgültigen Vertreibung von Nicht-Muslimen aus der Türkei dienten.

GEGENWART DER VERGANGENHEIT

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tionalistischer Demonstranten auf die Veranstalter (Milliyet, 7.9.2005). Es handelte sich dabei um dieselben Agitatoren, die auch gegen die zeit-gleiche »alternative Armenierkonferenz« mobil machten.

Trotz dieser aggressiven Ablehnung im ultranationalistischen Lager ist eine vergleichsweise selbstkritische Haltung bezüglich der Pogrome vom 6./7. September in der Türkei zu beobachten. Die türkische Gesell-schaft ist sich nicht nur bewusst, dass es sich bei den Ausschreitungen um eine von staatlicher Seite initiierte Hetzkampagne handelte. Viel-mehr gilt dieser Abschnitt der türkischen Zeitgeschichte als besonders beschämend, weil sich die Hassaktion gegen die eigenen Bürger und Mitbürger richtete, die aufgrund ihrer ethnischen Herkunft diskriminiert, verfolgt und vertrieben wurden. Es werden Rufe laut, die nach einer Entschuldigung bei den ehemaligen Staatsbürgern verlangen. Im Gegen-satz zu der Vertreibung der Armenier von 1915 wird der 6./7. September 1955 offen als »nationale Schande« bezeichnet, die es aufzuarbeiten gilt (TDN, 25.8.2007).

Diskursive Reakt ionen auf den Er innerungskampf der Armenier

Wie bereits dargelegt wurden die ersten großen Diskurswellen über die Vertreibung der Armenier von gewaltsamen Angriffen armenischer Ak-tivisten auf türkische Diplomaten in den 1970er Jahren ausgelöst. In der öffentlichen Auseinandersetzung der Türkei dominierten dabei drei Deu-tungsrahmen im Hinblick auf die Armenische Frage: erstens der Rah-men des Terrorismus, zweitens die Sorge der Entstehung eines einem Minderheitenkonflikts und drittens die Vorstellung von einem harmoni-schen osmanisch-armenischem Verhältnis, das von den Armeniern auf-gekündigt wurde. Von »armenischem« zu »internationalem Terrorismus«

In der 1973er-Diskurswelle dominiert der Diskursrahmen des »armeni-schen Terrorismus« die öffentliche Auseinandersetzung in der Türkei mit der Armenierfrage. Der Erinnerungsdiskurs in Folge der Attentate von 1975 hingegen findet im Kontext der umfassenderen Problematik des »internationalen Terrorismus« statt. Die Verschiebung vom »arme-nischem« zum »internationalen Terrorismus« schlägt sich zunächst in unterschiedlichen Täterkonstruktionen in den jeweiligen kritischen Dis-kursmomenten von 1973 und 1975 nieder: die Beschäftigung mit dem Täter findet 1973 noch personenbezogen statt, wo eine starke Negativ-

POLITIK UND ERINNERUNG

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Positivkontrastierung zwischen dem armenischen Täter und den türki-schen Opfern dominiert. 1975 hingegen stehen nicht einzelne armeni-sche Täter im Vordergrund, sondern das Problem des »internationalen Terrorismus«. »Kaltblütiger Armenier« versus »unschuldige Diplomaten« (1973) Der nahe liegendste Aspekt der Anschläge vom Januar 1973 und Okto-ber 1975, nämlich dass es sich dabei um Gewaltakte handelte, dominier-te den Erinnerungsdiskurs. Es findet eine intensive Auseinandersetzung mit Fragen statt, die sich konkret auf die Attentate, die Tatumstände, Ermittlungen etc. beziehen. So konzentriert sich die Presseberichterstat-tung von 1973, als der Täter im Gegensatz zu 1975 bereits von Anfang an bekannt war, vergleichsweise stärker auf seine Person, d.h. also den armenischen Überlebenden von 1915.

Während der Täter ausschließlich negativ – etwa als »kaltblütig«, »rachsüchtig«, »unzivilisiert« oder »wahnsinnig« – beschrieben wird, erscheinen die Opfer als »unschuldige«, »pflichtbewusste« Repräsentan-ten der Nation. Der Attentäter wird mit Eigenschaften versehen, die durchweg im semantischen Feld des Irrationalen und Brutalen liegen. Betont wird vor allem, dass er die Tat akribisch vorbereitet und äußerst abgeklärt umgesetzt hätte.63

Allerdings fällt auf, dass Informationen über den Täter, die Hinweise auf seine traumatischen Erfahrungen während der Zwangsdeportations-jahre geben könnten, ausgeblendet oder nur nebenbei erwähnt werden. Dass es sich bei dem Täter um einen aus der Türkei stammenden Arme-nier handelte, der die Zwangsvertreibungspolitik am eigenen Leibe er-lebt und überlebt hatte, fällt im Vergleich zu der ausführlichen Beschäf-tigung mit den Biographien und den privaten Lebensumständen der Op-fer weniger detailliert aus.64 So erfährt man nur am Rande oder indirekt, dass es sich bei dem Täter um einen Zeitzeugen von 1915 handelte, wenn etwa von dem »in der Türkei geborenen«65 oder dem »aus der Türkei ausgewanderten Armenier«66 die Rede ist. Die Erfahrungen des Überlebenden während der Deportationszeit werden im 1973er Diskurs 63 »Ermeni Patriği cinayeti kınadı«, Cumhuriyet, 30.1.1973. 64 Folgende Artikel beschäftigen sich mit dem Privatleben der getöteten Di-

plomaten: »Annesi Bahadır’ın yanına gidecekti.« Hürriyet, 29.1.1973; »Baydarlar son mektuplarında ›Çok mutluyuz‹ diyorlardı«, Hürriyet, 29.1. 1973.

65 »2 Diplomatımız Amerika’da öldürüldü«, Cumhuriyet, 29.1.1973; »Sui-kastı, ›HINCAK KOMİTESİ‹ tertiplemiş«, Milli Gazete, 30.1.1973.

66 »Amerika’da iki diplomatımızı öldürdüler«, Milli Gazete, 29.1.1973.

GEGENWART DER VERGANGENHEIT

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nicht einmal ansatzweise aufgegriffen. Yanıkyans Aussage, dass der Großteil seiner Familie und Verwandtschaft bei der Zwangsumsiedelung ums Leben kam, wird in Frage gestellt. Da heißt es, der Täter würde be-haupten, seine Familie sei von Türken umgebracht worden.67

Das Ausblenden der persönlichen Erfahrungen des Täters aus den Deportationsjahren fällt umso mehr auf, wenn man berücksichtigt, dass der Anschlag von Anfang an als Rache deklariert wird. In keinem der Texte wird angenommen oder auch nur spekuliert, dass es sich bei dem Attentat um eine Einzeltat im Sinne eines gewöhnlichen Kapitalverbre-chens handeln könnte. Die Frage jedoch, wofür sich der Täter rächen wollte, bleibt in all jenen Texten unklar, die sich mit dem Themenkom-plex Täter, Opfer und Rache auseinandersetzen. Die Geschichte von 1915 und die gewaltsame Vertreibung der armenischen Bevölkerung werden in anderen Texten thematisiert.

Das Tatmotiv Rache wird als unzivilisiertes und irrationales Verhal-ten verurteilt. Die generelle Kritik an Racheakten dominiert somit die Auseinandersetzung mit dem aktuellen Attentat und der geschichtliche Auslöser des Anschlags tritt in den Hintergrund. Ein Kommentar in der Cumhuriyet ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich. Nachdem der Verfasser, Oktay Akbal,68 Rache zunächst als Ausdruck primitiver Ge-sinnung kritisiert, führt er aus, dass der Erste Weltkrieg zu »blutigen Ereignissen« in Ostanatolien geführt hätte. In den »dunklen Seiten der Geschichte« sei aber untergegangen, wer für die Ereignisse verantwort-lich sei. In der zivilisierten Welt wäre es heute unvorstellbar, dass bei-spielsweise ein Franzose einen Deutschen mit der Begründung töten würde, dass dessen Vorfahren im Krieg seine Familie getötet hätten. Solch ein Vorgehen sei schlicht Ausdruck einer kranken Gesinnung.69 Das Beispiel verdeutlicht die Konzentration auf den Vergeltungsaspekt und kann als Versuch verstanden werden, die Tat von ihrem geschichtli-chen Hintergrund abzukoppeln.70

Die beiden türkischen Opfer des Attentats von 1973, Mehmet Bay-dar und Bahadır Demir, werden im Gegensatz zum Täter ausschließlich positiv beschrieben. Die Zeitungen gehen auf ihre Karriereverläufe, Pri-

67 »Ermeni Patriği cinayeti kınadı«, Cumhuriyet, 30.1.1973. 68 Akbal ist schreibt immer noch für die Cumhuriyet. 69 Oktay Akbal, »Bir Cinayet«, Cumhuriyet, 30.1.1973. 70 In dieser Passage kommt darüber hinaus ein weiteres Deutungsmuster zum

Tragen, das weiter unten eingehend erläutert wird. Es handelt sich dabei um die Deutung, dass die Geschichte von 1915 ein abgeschlossenes Kapi-tel der Vergangenheit ist und nicht wieder aufgeschlagen werden sollte, um alte Wunden und ehemalige Feindschaften nicht wieder aufleben zu lassen.

POLITIK UND ERINNERUNG

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vatleben und ihre Hinterbliebenen vergleichsweise ausführlich ein.71 Die Opfer treten dabei aber nicht als Privatpersonen, sondern in ihrer Funk-tion als Repräsentanten der Türkei auf. Sie erscheinen als »Angehörige der Republik« (Cumhuriyet fertleri), »Kinder der Republik« (Cumhuri-yet çocuğu Türk diplomatı), »wertvolle Angehörige unseres Ministe-riums« (Bakanlığımızın iki değerli mensubu), »unsere auserwählten Di-plomaten« (seçkin diplomatlarımız). Auch die Darstellung der Opfer als Märtyrer (şehit) unterstreicht, dass die Opfer in erster Linie als Angehö-rige der Nation und weniger als individuelle Opfer eines Anschlags wahrgenommen werden.

Der Tod der Diplomaten gilt als »unser nationaler Verlust« (milletçe kaybımızdır), der von unterschiedlichen gesellschaftlichen und politi-schen Akteuren hervorgehoben wird. Sowohl die politische Elite als auch Vertreter der armenischen Gemeinde in der Türkei betonen dies. Hochrangige Politiker wie der in Folge des Militärmemorandums vom 12. März 1971 gestürzte ehemalige Regierungschef, Süleyman Demirel, oder der Führer der islamistischen Partei, Necmettin Erbakan, kommen in den Zeitungen zu Wort. In einer Erklärung, die in allen drei herange-zogenen Zeitungen im Wortlaut abgedruckt ist, verurteilt der amtierende armenische Patriarch Sinork Kalustyan den Mord »der offensichtlich von einem Wahnsinnigen« verübt wurde »mit Nachdruck und tiefer Ab-scheu«.72

Im 1973er Diskurs sticht insgesamt ein deutlicher Positiv-Negativ-Kontrast zwischen den Opfern und dem Täter hervor. Die Bezugnahme auf den Täter hört jedoch bei seiner negativen Charakterisierung auf, die individuellen Beweggründe für die Tat, nämlich seine Erfahrungen aus den Jahren 1915, werden ausgeblendet. Die Identifizierung von Rache als Tatmotiv auf der einen und das Ausblenden der (individuellen) Er-fahrungen des armenischen Überlebenden auf der anderen Seite könnten so erklärt werden, dass jeder Hinweis, der die Tat tendenziell entschul-digen könnte, vermieden wurde. Trotzdem bedeutet die Auslassung der biographischen Erfahrungen und damit der historischen Hintergründe der Tat eine logische Lücke, die im Diskurs nicht aufgegriffen wird. Denn so bleibt die Frage offen, wofür sich der Täter genau rächen woll-te.

Abgesehen davon ist die negative Beschreibung des Täters im Gegensatz zu der positiven Beschreibung der Opfer aber nicht besonders erstaunlich. Schließlich handelte es sich bei Mıgırdaç Yanıkyan tatsäch-

71 Die Hürriyet räumte den größten Raum für das Privatleben der Opfer ein. 72 Vgl. »Ermeni Patriği Cinayeti Kınadı«, Cumhuriyet, 30.1.1973; siehe auch

»Patrikin Açıklaması«, Milli Gazete, 30.1.1973 und »Ermeni Patriği ›Ci-nayeti nefretle karşılıyoruz‹ dedi«, Hürriyet, 30.1.1973.

GEGENWART DER VERGANGENHEIT

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lich um einen Attentäter, der zwei Menschen auf den Gewissen hatte. Auch hatte er öffentlich bekannt, dass er sich seit Jahren mit dem Ge-danken beschäftigt hatte, sich zu rächen. Aus dieser Perspektive ist der in den Texten konstruierte deutliche Täter-Opfer Gegensatz weniger auf eine historisch begründete diskriminierende Wahrnehmung zurückzu-führen, sondern eine Darstellung, die auf den realen Ablauf des aktuel-len Ereignisses zurückgeht.

Armenier als »notorische Terroristen« (1973)

Retrospektiv stellt das Attentat von Mıgırdaç Yanıkyan von 1973 den Auftakt einer Reihe weiterer Anschläge durch Armenier dar. Der Vorfall von Los Angeles unterscheidet sich aber von den späteren Anschlägen dadurch, dass es keine Tat im Rahmen einer organisierten terroristischen Bewegung war. Der Täter von 1973 erschoss die türkischen Diplomaten nicht im Auftrag oder in Absprache mit einer militanten Organisation.

Dennoch wurde diese Einzeltat im Erinnerungsdiskurs bereits von Beginn an als »armenischer Terrorismus« gerahmt, und nicht etwa retro-spektiv, als weitere türkische Repräsentanten im Ausland Opfer des or-ganisierten Terrorismus geworden waren. Die Ermordung führender Jungtürken durch eine armenische Geheimorganisation, die die Verfol-gung und Bestrafung der Täter in den 1920er Jahren in die Hand ge-nommen hatte, diente maßgeblich dazu, eine Kontinuität zwischen dem aktuellen Attentat und den historischen Vergeltungsanschlägen herzu-stellen.73 Die Ermordung von Talat Pascha, der Schlüsselfigur bei der Vernichtung der Armenier, durch einen jungen Armenier namens Sog-homon Tehlirjan 1921 in Berlin diente als exemplarisches Beispiel für diese Kontinuität.74

Die Ermordung von führenden Mitgliedern der jungtürkischen Partei wurde vor allem in der Cumhuriyet im Kontext der Frage diskutiert, ob es sich bei dem Anschlag von 1973 um den Beginn eines systematischen

73 Die Geheimorganisation wurde von armenischen Überlebenden der jung-

türkischen Mordpolitik unter dem Namen Nemesis gegründet. Ziel der Organisation war die Verfolgung der Haupttäter des Armeniermords, die sich ins Ausland abgesetzt hatten. Die meisten waren im Rahmen der os-manischen Kriegsgerichtsprozesse zwar zum Tode verurteilt worden, konnten sich ihrer Strafe aber durch Flucht ins Ausland oder ins Landes-innere und der Beteiligung an dem kemalistischen Widerstand widersetzen (Hosfeld 2005).

74 Tehlirjan stammte aus Erzincan und hatte die Mordpolitik der Jungtürken nur mit großem Glück überlebt. Das besondere an dem Fall Talat-Pascha war, dass Tehlirjan vom Berliner Landgericht, das die Mitgliedschaft Teh-lirjans in der Nemesis nicht kannte, freigesprochen wurde.

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Angriffs auf die Türkei handelte.75 So wurde davor gewarnt, dass man nicht vergessen dürfe, dass sich die armenischen »Provokateure« nach dem Ersten Weltkrieg derselben Methode, wie sie jetzt in Los Angeles angewandt worden sei, bedient hatten. »Damals waren die Opfer dieses blutigen Vorgehens die im Ausland lebenden Führungspersonen der Einheits- und Fortschrittspartei – allen voran Talat Pascha.«76 Die Er-mordung von Jungtürken durch Armenier wird auch im folgenden Kommentar aufgegriffen: Die »anti-türkische Haltung« der Armenier würde sich nicht auf Propaganda beschränken, sondern in »blutige Ak-tionen münden […] wie es seinerzeit die Führer der Einheits- und Fort-schrittspartei erwischte und heute zu dem Mord unserer zwei Diploma-ten geführt hat.«77 Diese Beispiele machen deutlich, dass eine histori-sche Kontinuität und ein Zusammenhang zwischen Terrorismus und Armeniern konstruiert wurden.

Der Deutungsrahmen des armenischen Terrorismus, der auch in der Milli Gazete und der Hürriyet zum Ausdruck kommt, unterscheidet sich von dem in der Cumhuriyet insofern, als hier stärker auf eine stereotype Konstruktion von Armeniern als »notorische Anhänger von militanten Organisationen« (komiteci Ermeniler) abgehoben wird, als auf die ob-jektiv zu nennende historische Tatsache, dass türkische Offizielle auch in den 1920er Jahren Opfer von terroristischen Anschlägen wurden. Während die Cumhuriyet den armenischen Terrorismus in den Zusam-menhang der Diskussion stellt, inwieweit das Attentat als Vorbote wei-terer blutiger Aktionen gegen türkische Bürger im Ausland zu sehen ist, wird das Bild des armenischen Terroristen in der Milli Gazete und der Hürriyet für die Beschreibung »des« Armeniers schlechthin herangezo-gen.

Der Diskurs in der Cumhuriyet ist demnach als problemorientiert einzustufen, während Milli Gazete und Hürriyet eine populistisch-stereotypisierende Stoßrichtung annehmen. In der Milli Gazete heißt es zum Beispiel: »In der Stadt Fresno wurde dem Mörder von Talat Pasha, Solohmon Tehlirian, ein Denkmal gesetzt. Wundern Sie sich nicht, wenn in derselben Stadt ein Denkmal für den Mörder der beiden Märtyrer, Baydar und Demir […] aufgestellt wird.«78 In einem anderen Text wird erklärt, dass die radikale armenische Huntschakpartei bereits seit ihrem

75 »Los Angelos Olayı«, Cumhuriyet, 30.1.1973. 76 »Los Angelos Olayı«, Cumhuriyet, 30.1.1973; Auch in »Bu bir dava değil

bir ›cinnet’tir«, Cumhuriyet, 30.1.1973, wird darüber geklagt, dass bereits die Führer der Einheits- und Fortschrittspartei zu den Opfern der »rach-süchtigen armenischen Diaspora« gezählt hätten.

77 »Santa Barbara cinayeti«, Cumhuriyet, 31.1.1973. 78 »Türkiye’de 75 bin Ermeni var!«, Milli Gazete, 31.1.1973.

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Bestehen »unseren Staat und unsere Staatsmänner im Visier ihrer An-griffe« hatte. Cemal Pascha, Talat Pascha und Salim Halim Pascha seien bereits von Mitgliedern der Huntschak »hinterrücks ermordet« worden.79

Eine oft herangezogene und eng mit dem Bild des »notorischen ar-menischen Terroristen« zusammenhängende Charakterisierung von Ar-meniern ist, dass sie als Anhänger oder Mitglieder von geheimen Orga-nisationen, radikalen Parteien und militanten Gruppen dargestellt wer-den. Die Milli Gazete und die Hürriyet gehen im Zusammenhang mit dem Attentat vor allem auf die in die 1880er Jahre zurückgehende revo-lutionäre armenische Huntschak Partei ein. Die Hürriyet stellt bereits am ersten Tag der Berichterstattung den Täter als Mitglied der Huntschak vor und führt unter dem Titel »Was bedeutet Huntschak?« aus, dass die Organisation für die armenischen Aufstände in den 1890er Jahren mit-verantwortlich war. Fast wortgleich erscheint die Titelseite der Milli Gazete vom 30. Januar 1973. Auch hier wird ausgeführt, dass der An-schlag gegen die beiden türkischen Diplomaten von der Huntschak or-ganisiert worden sei. Die Entstehungsgeschichte der Huntschak Partei wird ebenso erläutert.80 Während sich die Kernaussage über die Partei in der Milli Gazete mit den Ausführungen in der Hürriyet deckt, fällt auf, dass die Milli Gazete einen populistischeren Ton als die Hürriyet ein-schlägt. Denn bevor auf die historischen Gründung der Huntschak ein-gegangen wird, wird die Organisation und mit ihr die Armenier pauschal als feige diffamiert. Auch die verantwortlichen Behörden im Fall Los Angeles hätten davon gesprochen, dass solche linken Morde nur von der Huntschak Organisation verübt würden.81

Diese Art der Darstellung von Armeniern in der Hürriyet und der Milli Gazete findet keine Entsprechung in der Cumhuriyet. Hier wird stärker darauf abgehoben, dass das anti-türkische Engagement von Diaspora-Armeniern auf historische Feindschaften zurückgreifen und diese reproduzieren würde. Die Betonung liegt also nicht darauf, dass Armenier immer noch in militanten Gruppen organisiert sind, sondern darauf, dass sie dem Image der Türkei im Ausland schaden. Cumhuriyet kritisiert damit, dass die Armenier sich zu sehr auf die Vergangenheit fixieren und eine Art Blutfehde austragen. Aber Rache und Vergeltungs-absichten für vergangene Ereignisse stellen ein unzivilisiertes, anorma-les Verhalten dar. So warnt ein Kommentator: »Wenn sich zivilisierte Menschen an solche Blutfehden klammern würden, dann könnten heute

79 »Hıncak Komitesi nedir?« Milli Gazete, 30.1.1973. 80 »Suikasti, ›Hıncak Komitesi‹ tertiplemiş«, Milli Gazete, 30.1.1973 81 »Hıncak Komitesi nedir?« Milli Gazete, 30.1.1973.

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weder Protestanten mit Katholiken, noch Indianer mit Weißen und selbst Amerikaner mit Engländern zusammen leben.82

Internationaler Terrorismus (1975)

Der Deutungsrahmen Terrorismus spielte auch im Herbst 1975 eine zen-trale Rolle, als es in Folge zweier Anschläge auf die türkischen Bot-schaften in Wien und Paris zu einer breiten Debatte über Täter, Motive und die türkische nationale Geschichte kam. Allerdings änderte sich die inhaltliche Ausrichtung des Deutungsrahmens Terrorismus insofern von der Ausprägung in 1973, als nicht mehr exklusiv vom »armenischen Terrorismus« die Rede war. Zudem wurden im Diskursmoment von 1975 die Attentate stärker in den aktuellen innen- und außenpolitischen Kontext eingebettet als 1973. Der innenpolitische Druck auf zivilgesell-schaftliche, insbesondere linksgerichtete, Gruppen und vor allem der Zypernkonflikt bildeten den entscheidenden Bezugspunkt für die Bewer-tung und Deutung der Anschläge in Wien und Paris.

Im Gegensatz zu 1973, als noch spekuliert wurde, inwieweit es sich bei dem Anschlag des armenischen Überlebenden um ein Verbrechen im Rahmen einer organisierten Gruppe handelte, war bei den Anschläge in Wien und Paris von Beginn an klar, dass es sich um von langer Hand geplante und von einer terroristischen Organisation durchgeführte Taten handelte. So öffnete die Cumhuriyet am 25. Oktober 1975 mit den Wor-ten des Premierministers Süleyman Demirel: »Türkischer Staat Ziel-scheibe der Morde«. Der Außenminister İhsan Sabri Çağlayangil ging davon aus, dass die Türkei »vor einer politischen Offensive« stünde (Cumhuriyet 25.10.1975). Der Vorsitzende der Sozialistischen Partei erklärte, dass der neue Terrorismus eine Kriegsqualität aufweise und man der Türkei den Krieg erklärt habe.83 Die Einschätzung, dass die Ta-ten mit einer terroristischen Organisation in Verbindung standen und in Zukunft mit weiteren Taten gerechnet werden musste, wurde in den al-len herangezogenen Medien geteilt. Die Anschläge wurden als Zeichen für die zunehmende außenpolitische Isolierung der Türkei aufgrund des Zypernkonflikts und als Angriff auf die Existenz der Republik gedeu-tet.84 82 »Bu bir dava değil bir ›cinnet’tir«, Cumhuriyet, 30.1.1973. 83 »Tunalıgil, Erez ve Yener için özel tören yapıldı«, Cumhuriyet, 28.10.

1975. 84 »Karanlık Niyetler«, Cumhuriyet, 26.10.1975; »Savunma Dönemi«, Cum-

huriyet, 27.10.1975; »Dostu Düşmanı iyi tanımak«, Cumhuriyet 31.10. 1975; »Büyük Elçimizi kim Öldürdü?« Hürriyet, 23.10.1975; »Üçüncüsü var mı?« Hürriyet, 26.10.1975; »Türk Diplomatları Namlunun Ucunda«, Hürriyet, 23.10.1975.

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Der 1975er Diskurs drehte sich um die Frage, welche von den im In- und Ausland in Frage kommenden terroristischen Gruppen verantwort-lich für die Anschläge sein konnte. Die innen- und außenpolitische Situ-ation zum Zeitpunkt der Anschläge von 1975 legte verschiedene Grup-pen nahe: Die wachsenden Spannungen zwischen linken und rechten Gruppen sowie das Wiederaufleben der kurdischen ließen Rechts- und Linksextreme oder kurdische Rebellen als Täter in Frage kommen. An-dererseits deuteten der Anschlag von 1973 und ein in der Presse kursie-rendes Bekennerschreiben der mit »Kinder der armenischen Nation« unterzeichnet war auf eine armenische Herkunt der Täter hin. Schließ-lich kam die zyprisch-griechische Organisation EOKA-B in Frage. Ver-einzelt wurden die Anschläge auch mit der Terrororganisation IRA und der palästinensischen Befreiungsorganisation PLO in Verbindung ge-bracht.85

Diese Gruppen kamen also als Verantwortliche für die Anschläge auf die türkischen Ermordeten in Wien und Paris in der Berichterstat-tung von 1975 in die engere Auswahl. In der Cumhuriyet dominierten die Vermutungen, dass es sich bei der Tätergruppe um die EOKA-B ha-ndelte. Die Möglichkeit, dass die Taten auf armenische Terroristen zu-rückgehen konnten, wurde erst in zweiter Linie in Erwägung gezogen. In allen herangezogenen Zeitungen wurde am wenigsten davon ausgegan-gen, dass es sich um türkische Linksextremisten oder kurdische Frei-heitskämpfer im In- oder Ausland handelte.

Dass die EOKA-B als Verantwortliche der Attentate bevorzugt in Erwägung gezogen wurde, ist angesichts der Tatsache, dass in der türki-schen Presse kurz nach den Anschlägen von einem armenischen Beken-nerschreiben zu lesen war, widersprüchlich. Die Konzentration auf die EOKA-B stand auch im Gegensatz zu Stimmen in der ausländischen Presse, von denen viele eher auf Armenier schlossen als auf die zyprio-tisch-griechisch Terrorgruppe. Zudem gingen die österreichischen und französischen Ermittler der türkischen Berichterstattung zufolge glei-chermaßen von der Möglichkeit armenischer und zypriotisch-grie-chischer Täterschaft aus. Nicht zuletzt wurde die aktuelle Tat in der Türkei selbst mit dem ersten Anschlag von 1973 in Verbindung ge-bracht.86 Trotz all dieser Faktoren, die auf eine armenische Tat deuteten, favorisierte die türkische Presse aber insgesamt die EOKA-B.

Der Zypernkonflikt und die damit verbundene internationale Kritik an der Türkei prägten offensichtlich den Blick auf die neuerlichen Atten-

85 »Viyana’da Cinayet«, Hürriyet, 24.10.1975; »Savunma Dönemi«, Cumhu-

riyet, 27.10.1975; »Paris ve Viyana polisi susmayı tercih ediyor«, Milli Gazete, 30.10.1975.

86 »Kim Öldürdü«, Hürriyet, 23.10.1975.

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tate. Einige Titel legen diese Einschätzung ebenfalls nahe: »Mord in Stadt vollzogen, wo Zyperngespräche stattfinden«, »Griechische Presse in Lefkose berichtet: CIA Morde verübt« oder »Griechische Einheiten in höchster Alarmbereitschaft.«87 Darüber hinaus wurde über die Attentate immer wieder Bezug auf Griechenland genommen, indem z.B. auf die dortige Presseberichterstattung eingegangen wurde. Griechenland warf hier der Türkei vor, eine Kriegsatmosphäre zu schüren und griechische Kommentatoren gingen ihrerseits von einer Verschwörung gegen Grie-chenland aus, wie aus der Rezeption der griechischen Haltung in der türkischen Presse deutlich wird.88

Ein Titel in der Hürriyet im Kontext der Vermengung des Attentats mit dem Zypernkonflikt ist besonders interessant: »Selbst Griechen-freund Giscard tut es leid«.89 Den französischen Präsidenten verband eine enge Freundschaft mit dem Karamanlis, der bis zum Sturz des Mili-tärregimes 1974 im Pariser Exil lebte. D’Estaing machte kein Geheimnis aus seinen Sympathien für Griechenland, als er bei einem Staatsbesuch in Griechenland vom »mutigen und stolzen griechischen Volk« sprach und dabei versicherte, dass Griechenland sich der Unterstützung Frank-reichs sicher sein könne: »Wir sind Euer Freund, es lebe Griechenland.« (Zitiert nach Chicklet 1989: 210.)90

Minderheitenkonflikt vermeiden

Die bisherige Analyse des Diskurses hat gezeigt, dass die Anschläge von 1973 und 1975 zwar Racheakte armenischer Akteure für die Geschichte von 1915 darstellten, aber als »armenischer« und »internationaler Terro-rismus« gerahmt wurden. Die Bezugnahme auf die Ermordung führen-der Jungtürken durch Armenier ging mit unterschiedlichen Armenierbil-

87 »Cinayet Kıbrıs görüşmelerinin yapıldığı şehirde işlendi«, Hürriyet,

24.10.1975; »Lefkose Rum Basınına göre, cinayetler CIA’nin marifeti«, Hürriyet, 28.10.1975, »Yunanistan, Katiller Rum Çıkarsa Açıklama ya-pılmasın«, Hürriyet, 2.11.1975; »Yunan birlikleri birinci derece alarma geçti«, Hürriyet, 26.10.1975.

88 »Rumlar ne diyor«, Hürriyet, 29.10.1975; »Paris ve Viyana Polisi susmayı tercih ediyor«, Milli Gazete, 30.10.1975.

89 »Yunan Dostu Giscard bile üzüldü«, Hürriyet 25.10.1975. 90 Die kritische Haltung des französischen Präsidenten gegenüber der Türkei

weist insofern Kontinuität auf, als Giscard D’Estaing mit seinen Äußerun-gen in Zusammenhang mit dem EU-Konvent Anfang der 2000er Jahre die kritische Debatte in der europäischen Öffentlichkeit im Hinblick auf den EU-Beitritt der Türkei im Wesentlichen auslöste. Als Vorsitzender des Verfassungskonvents erklärte D’Estaing, dass eine EU-Mitgliedschaft der Türkei »das Ende der Europäischen Union« bedeuten würde. Le Monde, 9.11.2002.

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dern einher. Eine problemorientierte Herangehensweise konzentrierte sich zunächst auf den Aspekt des Terrorismus durch Armenier, wobei die historisch vorausgegangenen Aktionen aufgegriffen wurden. In einer stereotypisierenden Herangehensweise hingegen wurde ein Armenier-bild konstruiert, wo Armenier als notorische Terroristen und Militante abgebildet wurden.

Der Deutungsrahmen des Terrorismus stellte sich aber nicht nur als elastisch heraus, was die Integration unterschiedlicher Deutungsmuster betrifft, sondern auch kompatibel mit einem weiteren Deutungsrahmen, der sich in der Unterscheidung zwischen Diaspora-Armeniern und »unseren« Armeniern darstellte. Dieser Deutungsrahmen, der im folgen-den Kapitel behandelt wird, beinhaltete Topoi über erfolgreiche Integra-tion und nationale Identität. In diesem Kontext wurde vor einer neuen »nationalen Schande«, wie die der Ausschreitungen des 6./7. September 1955, gewarnt.

»Diaspora-Armenier« versus »unsere Armenier« (1973)

Der Deutungsrahmen Terrorismus, der Armenier in der einen oder ande-ren Form in Zusammenhang mit Militanz und Rebellentum in Verbin-dung bringt, wird von einem Deutungsrahmen begleitet, der durch seine differenziertere Sicht auf Armenier genau in die entgegengesetzte Rich-tung zielt. Diese Differenzierung besteht in der klaren Trennung zwi-schen Diaspora-Armeniern und armenischen Staatsbürgern der Türkei. Während die armenischen Bürger der Türkei bis auf wenige Ausnah-men, auf die weiter unten gesondert eingegangen wird, als ein integraler Teil der Nation dargestellt werden, repräsentieren Auslandsarmenier im wesentlichen »Ewiggestrige«, die die Vergangenheit nicht auf sich ru-hen lassen können. Die öffentliche Beileidsbekundung des armenischen Patriarchen, die in allen drei Zeitungen im Wortlaut abgedruckt ist, kann in diesem Zusammenhang als Beleg dafür gelten, dass zwischen der ar-menischen Gemeinschaft in der Türkei und den Armeniern in der Dias-pora deutlich zu unterscheiden versucht wird.

Betont wird, dass türkische Armenier ein Teil »dieser Nation« dar-stellen und dieselben Bürgerrechte wie die übrigen Bürger der Republik genießen. Das Bild, das über die Nation und ihre Haltung zu Minderhei-ten konstruiert wird, stellt sich folgerdermaßen dar: Die moderne Türkei legte die blutige Geschichte ad acta und macht keine diskriminierende Unterscheidung zwischen ihren Bürgern. Alle, die auf dem Boden der Türkei leben, sind unabhängig von ihrer ethnischen oder religiösen Her-kunft Bürger der Türkischen Republik. So habe man die letzten fünfzig Jahre in Brüderlichkeit und Einheit gelebt. Diese nationale Einheit wird

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durch den Verweis auf das jahrzehntelange friedliche Zusammenleben (kardeşlik duyguları içinde) der verschiedenen ethnischen Gemeinschaf-ten in der Türkei unterstrichen.91

Allerdings würde diese Einheit von den Diaspora-Armeniern be-wusst sabotiert, die mit ihrer anti-türkischen Propaganda einen Keil zwi-schen Türken und den Armeniern in der Türkei treiben wollten. Die At-tentate verfolgten das Ziel, einen ethnischen Konflikt in der Türkei aus-zulösen, indem versucht würde, friedlich miteinander lebende Menschen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit gegeneinander aufzuwiegeln. Zudem wendeten sich vor allem »unsere armenischen Mitbürger ange-ekelt« von den Morden ab. Der Schmerz »unserer Armenier« ist größer als »unser aller Schmerz.« 92 Diese Beispiele machen deutlich, dass Diaspora-Armenier zu den eigentlich Schuldigen konstruiert werden.

Die explizite Unterscheidung zwischen »unseren Armeniern« und der Diaspora scheint zunächst auf eine Diskriminierung der armenischen Gemeinde in der Türkei im positiven Sinne hinzudeuten. Doch pejorati-ve Momente überwiegen, wobei rassistische Vorstellungen offen zu Ta-ge treten. So ist z.B. zu lesen, dass Türken ihre armenischen Mitbürger liebten, weil es sich bei den Armeniern um eine Gemeinschaft handelt, die sich am besten angepasst hätte. Unter den Minderheiten in der Ge-schichte ragten die Armenier insofern heraus, als sie es am besten ge-schafft hätten, sich zu Türken zu entwickeln.93 An anderer Stelle heißt es: »Keine, aber auch keine andere Minderheit konnte sich mit ihren Traditionen, Gewohnheiten, Musik und ihrem alltäglichem Leben, ja selbst mit ihrer Küche den Türken so gut anpassen wie die Armenier.«94

Die Haltung der Milli Gazete ist deutlich armenierfeindlicher als die der Cumhuriyet und Hürriyet. Hier dominiert das Bild »des« Armeniers, der pauschal an den Pranger gestellt und diffamiert wird. In einem Text ist zu lesen: »Die Minderheiten in unserem Land haben uns während unserer gesamten Geschichte einen Dolch in den Rücken gestoßen. Unter diesen Minderheiten befinden sich Griechen und Armenier.«95 Anschließend folgt eine Reihe von Aufzählungen, die Zeugnis über die »Undankbarkeit« und »Gewaltbereitschaft« von Armeniern im Osmani-schen Reich ablegen sollen. Die als »Armenische Akte« betitelte Serie wird am nächsten Tag fortgesetzt. Die Überschrift »75 Tausend Arme-nier leben (noch) in der Türkei!« macht die Armenier der Türkei offen

91 »Bu bir dava değil bir ‚cinnet’tir«, Cumhuriyet, 30.1.1973. 92 »Bir Cinayet«, Cumhuriyet, 30.1.1973. 93 »Bu, Rusyanın sahnelediği bir oyundur.« Hürriyet, 3.2.1973. 94 Sakin olmak gerek, Hürriyet, 30.1.1973. 95 »Suikasti, ›Hıncak Komitesi‹ tertiplemiş«, Milli Gazete, 30.1.1973.

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zu Zielscheiben.96 Auch hier kommt es zu einer Bestandsaufnahme der armenisch-türkischen Beziehungen seit dem Osmanischen Reich. Eine Reihe von Beispielen »armenischer Kollaboration« mit den westlichen Staaten wie den USA und Großbritannien wird aufgezählt, »armenischer Terrorismus« an den türkischen Soldaten hinzugefügt und schließlich gefolgert, dass »nur wir uns selbst am nächsten stehen.« Man liest wei-ter, dass die Minderheiten in der Türkei »unsere Gutmütigkeit und Gast-freundschaft« sabotieren/ausnutzen, sobald sich eine Gelegenheit dazu ergibt. Über den Täter Mıgırdaç Yanıkyan kommentiert der Autor: »Glauben Sie, dass Mıgırdaç Yanıkyan ein Einzelgänger ist? Nein. Nein. Er ist in erster Linie ein Armenier. Er ist ein Huntschak-Sympathisant, er ist ein Saboteur, er ist ein Militant.«97

Ein weiteres auffälliges Beispiel ist der Aufhänger der Milli Gazete vom 30. Januar 1973, in dem es heißt: »Vertreter des Patriarchen äußert Anerkennung für Huntschak«. In dem Artikel wird berichtet, dass sich der armenische Patriarch nach dem Anschlag in Los Angeles verleugnen ließ und jegliche Interviewanfragen der Zeitung abschlug. Nur sein Ver-treter sei ansprechbar gewesen. Auf die Frage, ob er die Organisation der Huntschak unterstützen würde, hätte dieser geantwortet, »Ja, die Huntschak ist eine existierende Organisation, wir erkennen die Hunt-schak an.« Nachdem der Vertreter zitiert wird, folgt der Kommentar: »Der Vertreter des Patriarchen Dederyan fand es nicht schlimm, offen zuzugegeben, den Urheber des blutigen Anschlags, namentlich die Huntschak Organisation, zu unterstützen.«98

Weder in der Hürriyet noch in der Cumhuriyet ist eine vergleichbare Äußerung aus der armenischen Gemeinde zu lesen, die als Sympathie-bekundung für radikale armenische Organisationen ausgelegt werden könnte. Auch nach der Veröffentlichung in der Milli Gazete nimmt kei-ne der beiden anderen Zeitungen Bezug auf diese – im Falle ihres Zu-treffens – bedeutende Nachricht. Diese Unterlassung könnte darauf zu-rückzuführen sein, dass Hürriyet und Cumhuriyet populistischen Aus-schreitungen gegen die Armenier der Türkei vorbeugen wollten. Eine zweite Möglichkeit besteht darin, dass die Nachricht eine falsche oder verzerrte Nachricht darstellte. Jedenfalls scheint es relativ unwahr-scheinlich, dass sich ein Repräsentant der armenischen Gemeinde öf-fentlich für die radikale Huntschak aussprach und eine derartige Par-teinahme aufgrund eines gesellschaftlichen »Verantwortungsbewusst-seins« der Zeitungen weder in der Hürriyet noch in der Cumhuriyet ge-bracht wurde. 96 »Türkiye’de 75 bin Ermeni var!« Milli Gazete, 31.1.1973. 97 »Türkiye’de 75 bin Ermeni var!« Milli Gazete, 31.1.1973. 98 »Patrik Vekili Hıncak teşkilatını tasvip ediyor!« Milli Gazete, 30.1.1973.

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Gefahr einer neuen »nationalen Schande« (1973)

Der Trennung zwischen Diaspora-Armeniern und »unseren« Armeniern folgen immer wieder Aufforderungen, die Situation rational zu verarbei-ten und die Reaktionen entsprechend abzuwägen.

In einem Cumhuriyet-Kommentar, bei dem es um das unterstellte Ziel des Attentäters geht, einen Minderheitenkonflikt in der Türkei zu provozieren, heißt es: »Falls die Armenier im Ausland solche Pläne ha-ben, […] würde das lediglich zeigen, wie wenig sie die türkische Nation kennen […] Die Reaktion des türkischen Volkes wird sich nur auf den oder die für die Morde Verantwortlichen beziehen und es dabei bewen-den lassen.«99 Der Autor fährt fort, dass sich die türkische Nation nicht von dem Vorfall in Los Angeles aufwiegeln lassen werde, indem sie Armenier pauschal beschuldigt. Die unglücklichen Pläne einer »kleinen Minderheit draußen« werden scheitern und die verschiedenen Ethnien in der Türkei werden ihr friedliches und harmonisches Zusammenleben unberührt weiterführen.

Hier wird also betont, dass die türkische Nation besonnen und ratio-nal auf die Attentate reagieren werde. Doch Aussagen wie die, dass »eine reife Reaktion« durch die türkische Nation der »größte Trost der Hinterbliebenen« sein wird, scheint eher daraufhin zu deuten, dass hier gerade eine unbesonnene Reaktion befürchtet wird. Diesen Eindruck bestätigen die im vorausgegangenen Kapitel herausgestellte explizite Unterscheidung zwischen Diaspora-Armeniern und »unseren Arme-niern« sowie die Betonung, dass es sich bei solchen Gewaltakten um Taten einer kleinen, unzivilisierten armenischen Minderheit handelt. Die rassistischen und diskriminierenden Aspekte der Unterscheidung schränken die Stoßrichtung nicht ein, dass sich dahinter ein Appell ver-birgt, nicht die türkischen Armenier für das Attentat verantwortlich zu machen, geschweige denn mit Gegengewalt zu reagieren.

In keinem der zur Verfügung stehenden Texte für die Diskurswelle des Jahres 1973 wird auf die Ausschreitungen vom 6./7. September 1955 explizit Bezug genommen. Dennoch scheint die Erinnerung an diese Ereignisse eine Schlüsselrolle in der Reaktion auf das Attentat von 1973 zu spielen. Explizite und implizite Aufforderungen in den Zeitun-gen, ruhig zu bleiben und zwischen den Armeniern in der Türkei und den »radikalen« Teilen der Diaspora-Armenier zu unterscheiden, deuten darauf hin, dass die Erinnerung an die gewalttätigen Ausschreitungen von 1955 der leitende Bezugspunkt ist. Der Hinweis, dass der Attentäter

99 »Santa Barbara Cinayeti«, Cumhuriyet, 31.1.1973.

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einen Minderheitenkonflikt in der Türkei provozieren wollte, bestätigt diese Interpretation.

Zusammenfassend differenzieren Hürriyet und Cumhuriyet zwischen Diaspora-Armeniern und den armenischen Staatsbürgern der Türkei. In diesem Zusammenhang konzentriert sich vor allem die Cumhuriyet da-rauf, die Leser zu einer maßvollen Reaktion aufzufordern und warnt vor emotionsgetriebenen Ausbrüchen gegen die Armenier. Das Armenier-bild in der Milli Gazete fällt vergleichsweise populistisch und undiffe-renziert aus. Der Ton hier ist minderheitenfeindlich im Allgemeinen und Armenier-feindlich im Speziellen. Wichtig ist schließlich, dass die im Erinnerungsdiskurs mitschwingende Angst, die Mehrheitsgesellschaft könnte die Minderheit der Armenier stigmatisieren und sogar Gewalt anwenden, deutlich zu Tage tritt. Es liegt nahe, dass diese Angst mit den Erfahrungen der »nationalen Schande« von 1955 zusammenhängt. Allerdings wird der 6./7. September in keinem der zur Verfügung ste-henden Texte 1973 explizit erwähnt.100

Warnung vor einer neuen »nationalen Schande« (1975)

Im Gegensatz zu 1973 wurden die Pogrome von 1955 gegen die nicht-muslimischen Minderheiten der Türkei im Diskursmoment von 1975 explizit aufgegriffen. Anlass waren die Protestmärsche der nationalisti-schen Ülkü Ocakları, die Formen annahmen, die an die Ausschreitungs-welle von 1955 im Istanbuler Stadtteil Taksim erinnerten. Die Nationa-listen skandierten Parolen wie »Minderheiten raus«, »Wir werden uns rächen«, »Auge um Auge, Zahn um Zahn« oder »Schluss mit Kirchen-glocken«.101 Die Demonstranten drohten zudem, ihre »eigenen Metho-den« bei der Suche nach den Verantwortlichen anzuwenden, sollten die-se nicht bald von den französischen und österreichischen Ermittlern ge-stellt werden. Es kam zu Mahnwachen und Kranzniederlegungen vor Auslandsvertretungen wie denen Frankreichs, der USA oder Griechen-lands. Wieder andere marschierten zum Istanbuler Stadtviertel Taksim, der unweit von der Prachtstraße İstiklal Caddesi liegt, wo die Pogrome von 1955 zu den größten Zerstörungen geführt hatten. All diese Formen des öffentlichen Protestes erinnerten zumindest bezüglich der Orte und Parolen an die Eskalation und die gegen die Minderheiten gerichteten Ausschreitungen von 1955.

100 Dies gilt auch für die Haltung der Tageszeitung Milliyet, für die 17 Arti-

kel und Kommentare für den Zeitraum vom 29. Januar bis zum 7. Febru-ar 1973 vorlagen.

101 Cumhuriyet, 26.10.1975; Hürriyet, 26.10.1975; Milli Gazete, 26.10. 1975.

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An der Reaktion der türkischen Linken wurde ebenfalls deutlich, dass die Erinnerung an 1955 der relevante historische Bezugspunkt für die Einordnung der aktuellen Anschläge war. Die Nachwuchsorganisa-tion der Republikanischen Volkspartei warnte davor, dass die Anschläge von rechtsextremen Aktivisten instrumentalisiert wurden, um gegen die Minderheiten mobil zu machen und rief dazu auf, sich nicht aufwiegeln zu lassen.102

Die Furcht vor einer Eskalation wie 1955 wurde auch direkt zum Ausdruck gebracht. Der namhafte Journalist Uğur Mumcu, der in den 1990er Jahren einem Anschlag islamistischer Radikaler zum Opfer fiel, warnte explizit vor populistischen Kurzschlussreaktionen wie am 6./7. September 1955.103 Sein Kollege Ali Sirmen, die Ausschreitungen im September 1955 als eine der »größten Schanden unserer nationalen Ge-schichte« bezeichnete, vertrat dieselbe Ansicht.104 Der Vorsitzende der türkischen Arbeiterpartei forderte, dass der »abscheuliche Mord keinen neuen 6./7. September« hervorbringen dürfe und rief die Regierung und die Öffentlichkeit zu verantwortungsbewusstem Handeln auf (Cumhuri-yet, 26.10.1975). Aus Regierungskreisen war zu hören, dass die Öffent-lichkeit sich besonnen (serinkanlı) verhalten solle (Hürriyet, 26.10. 1975). In einer Regierungserklärung wurden alle Bürger dazu aufgefor-dert, mit Bedacht zu handeln und sich nicht provozieren zu lassen. Die Regierung sei sich sicher, dass »die Bürger einer erhabenen und großen Nation« sich angesichts jedweder Art von Provokation klug verhalten würden (Milli Gazete, 26.10.1975).105

Osmanisch-Armenische Beziehungen und 1915

Von »Harmonie« zum »Dolchstoß« (1973)

Die bisherige Analyse des Diskurses hat Deutungsrahmen identifiziert, die mit der unmittelbaren innen- und außenpolitischen Situation der Türkei zusammenhingen. Wie verhält es sich aber mit dem historischen Hintergrund der Anschläge: Welche Vorstellungen über die nationale Geschichte kamen in den kritischen Diskursmomenten von 1973 und 1975 zu Tage?

102 Tatsächlich war vereinzelt von Übergriffen auf armenische Häuser, wie

etwa in der Stadt Elazığ, zu lesen. Vgl. Cumhuriyet, 26.10.1975. 103 Uğur Mumcu, Cinayetlerin Ardından, 26.10.1975. 104 Ali Sirmen, »Cinayetler ve Sağduyu«, Cumhuriyet 26.10.1975. Sirmen

schreibt immer noch für die Cumhuriyet. 105 »Hükümet, menfur suikastleri görüştü ve bir tebliğ yayınladı«, Milli

Gazete, 26.10.1975.

GEGENWART DER VERGANGENHEIT

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Zunächst wurde der historischen Dimension der Armenischen Frage im Diskursmoment von 1973 mehr Platz eingeräumt als im Diskursmo-ment von 1975. Die Hürriyet startete anlässlich des Attentats von Los Angeles eine 5-teilige Dokumentationsserie. Die Milli Gazete ging ebenfalls näher auf den historischen Kontext des Anschlags ein. Dage-gen spielte der historische armenisch-türkische Konflikt in der öffentli-chen Auseinandersetzung von 1975 eine vergleichsweise untergeordnete Rolle.106

Die Hürriyet und die Milli Gazete kündigten bereits am ersten Tag der Berichterstattung über die Diplomatenmorde in den USA Dokumen-tationsserien an, die die Tat in den unmittelbaren Zusammenhang mit der armenisch-türkischen Geschichte stellten. Die Hürriyet kündigte die Serie als »Die Wahrheit hinter der Armenischen Frage« an. Im Ver-gleich dazu schlug die Milli Gazete mit der Wahl des Ankündigungsti-tels »Die Massaker durch Armenier in unserer Geschichte« bereits von Beginn an einen hetzerischen und tendenziösen Ton ein.107 In der Cum-huriyet gibt es im 1973er Diskursmoment keine vergleichbaren Texte, die sich ausschließlich auf die türkisch-armenische Geschichte konzen-trieren.

Die Dokumentationsserie in der Hürriyet, die vom 30. Januar bis zum 4. Februar 1973 dauerte, erweckt den Anschein, dass die Politik der Zwangsdeportation von 1915 als Auslöser des Anschlags umfassend aufgegriffen wird. Doch das kritische Jahr von 1915 wird in der 5-teiligen Serie mit einigen wenigen Sätzen behandelt. Die Serie liest sich vielmehr als eine Abhandlung armenischer Aufstände, Kollaboration und Instrumentalisierung durch äußere Mächte. Die Zwangsumsie-delungspolitik und mit ihr die Vernichtung der armenischen Bevölke-

106 Es muss aber eingeräumt werden, dass erst gegen Ende des im Jahr 1975

untersuchten Zeitraums feststand, dass es sich bei den Tätern um Arme-nier handelte. Außerdem tendierte die türkische Presse 1975 zunächst dazu, nicht von Armeniern, sondern mit Blick auf den Zypernkonflikt von griechischen Attentätern auszugehen, so dass die geringe Themati-sierung der Geschichte von 1915 auch darauf zurückzuführen ist. Aber auch die historischen Zusammenhänge des Zypernkonflikts wurden in der unmittelbaren Rezeption der Anschläge nicht aufgegriffen. Vielmehr standen außenpolitische Fragen im Vordergrund, so dass man davon ausgehen kann, dass die Thematisierung von 1915 auch dann gering ausgefallen wäre, auch wenn von Beginn an klar gewesen wäre, dass es sich um armenische Täter handelte.

107 Auffällig in der Milli Gazete ist darüber hinaus, dass die Ankündigung nicht nur auf der Titelseite zu lesen war, sondern auch auf den folgenden Seiten mehrfach angekündigt wurde. Die einzelnen Titel der Milli Gaze-te-Serie lauteten: »Suikasti, ›HINCAK KOMİTESİ‹ tertiplemiş«, 30.1.1973; »Türkiye’de 75 bin Ermeni var«, 31.1.1973.

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rung des Osmanischen Reiches werden nicht thematisiert. Es wird ledig-lich angedeutet, dass die Armenier in der einen oder anderen Form gelit-ten haben. Dasselbe Bild der Auslassung des kritischen Jahres 1915 trifft auf die Milli Gazete zu, die die anti-armenischen Zwangsumsie-delungsmaßnahmen als eine notgedrungene Reaktion des osmanischen Staates auf unaufhörliche armenische Massaker an Türken und Musli-men abbildet, bei der die Armenier in »andere Regionen verschickt« wurden.108

Von harmonischer Koexistenz zu armenischer Undankbarkeit109 Im Gegensatz zu der Milli Gazete geht die Hürriyet ausführlich auf die Entwicklung der armenisch-osmanischen Beziehungen in der Grün-dungsphase des Osmanischen Reiches ein. Im ersten Teil wird folgendes Bild gezeichnet: Das Zusammenleben von Osmanen und Armeniern ist von großer Harmonie geprägt. Das 19. Jahrhundert markiert sowohl den Höhepunkt, auf dem der Grad der Integration der Armenier, ihre politi-schen Möglichkeiten und der Zugang zu politischen Schlüsselstellen am größten sind, als auch die Wende der friedlichen Koexistenz.

Unter osmanischer Herrschaft erhielten die Armenier zum ersten Mal in ihrer Geschichte die Möglichkeit, ihre Religion, Sprache, Tradi-tionen und Gewohnheiten frei auszuüben. Sie führen ein glückliches Dasein. Bereits seit Beginn der osmanischen Herrschaft sind Armenier in den Aufbau des Reiches eingebunden und seit dem 17. Jahrhundert können sie sogar in staatliche Laufbahnen eintreten. Mitte des 19. Jahr-hunderts steigt die Zahl und die Bedeutung armenischer Bediensteter im osmanischen Dienst, »Armenier erhalten Rechte wie sie sie nirgendwo sonst genossen.« Diese Phase des Zusammenlebens und des Zusam-menwachsens geht soweit, dass die Armenier von selbst darauf be-stehen, ihren Pflichten als osmanische Bürger nachzukommen. Freiwil-lig möchten sie Militärdienst in der osmanischen Armee leisten.

Im 19. Jahrhundert kommt es aber zu ersten Spannungen. Obwohl die Armenier bereits über umfangreiche Rechte und Privilegien verfü-gen, wollen sie immer neue, weitere Rechte. Die Protektion Russlands und Europas treibt die Armenier an, immer neue Forderungen zu stellen, so dass »eine Minderheit, die nirgends die Mehrheit darstellte, sich ge-radezu gegen den türkischen Staat aufzulehnen versuchte.« Die Zwie-tracht, Unruhe und Gewalt, die armenische Aufständische innerhalb der regionalen Bevölkerung schüren, halten auch zeitgenössische Beobach- 108 »Türkiye’de 75 bin Ermeni var«, Milli Gazete, 31.1.1973. 109 Die folgenden Ausführungen und Zitate beziehen sich auf die Serienfol-

ge »Ermeni meselesinin iç yüzü«, in der Hürriyet, ab dem 30.1.1973.

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ter fest und folgern, dass »keine Reform der Welt unter solchen Bedin-gungen jemals auf fruchtbaren Boden« fallen könne.110

Dieser erste Teil der Serie konzentriert sich auf die Frühphase der osmanisch-armenischen Beziehungen bis Ende des 19. Jahrhunderts. Der Erste Weltkrieg spielt also keine Rolle, und doch wird die Seite von einem Foto mit einer Szene aus dem Ersten Weltkrieg und der Über-schrift »Sie haben an der Seite der Russen gekämpft« überragt. Ein an-derer kurzer Artikel unter der Überschrift »Armenier verstärken Aktivi-täten in Europa«, in dem berichtet wird, dass die Armenier Journalisten renommierter europäischer Zeitungen bestechen würden, ist auf der Sei-te ebenfalls zu finden. Auf diese Weise hätten sie einen Journalisten der französischen Tageszeitung Le Soir dazu gebracht, »pro-armenische« Thesen zu veröffentlichen. Schließlich fällt ein weiteres Bild unter der Überschrift »Rachedenkmal in Los Angeles« aus dem gesamtinhaltli-chen Rahmen des ersten Teils der Dokumentationsserie. Das Denkmal wird als ein armenischer Vorstoß präsentiert, die Feindschaft zwischen Türken und Armeniern zu verewigen.

Chronische Rebellion und Aufstände Hürriyet widmet eine Folge der Serie den beiden historisch wichtigs-ten armenischen Parteien Huntschak und Daschnak.111 Gleich zu Beginn werden ausländische Quellen herangezogen, die die aufrührerischen Ak-tivitäten der armenischen Rebellen betonen. Die Beobachtungen auslän-discher Zeitzeugen eignen sich besonders, die Authentizität des Topos zu belegen, dass es sich bei den osmanischen Armeniern um Aufwiegler handelte.

Im Rahmen der Gründungsgeschichte der armenischen Organisatio-nen wird mehrfach unterstrichen, dass Armenier im Ausland hinter die-sen Bewegungen standen. Die Huntschak ist demnach eine Organisation mit marxistischem Hintergrund, die von Exilarmeniern in der Schweiz gegründet wurde. Bald setzt ein Abspaltungsprozess ein, wie er »für marxistische Organisationen typisch ist.«112 Die osmanischen Armenier werden von diesen aus dem Ausland stammenden Armeniern mit natio-nalen Unabhängigkeitsideen angesteckt. Es gilt als verwunderlich, dass der Großteil der revolutionären Gruppierungen von Auslandsarmeniern und besonders von russischen Armeniern angeführt wird.113

Während die »russische Aufwiegelungspolitik« den Anschein ge-weckt haben, dass alle Armenier mit dem Vorgehen der Rebellen ein-

110 »Ermeni meselesinin iç yüzü«, Hürriyet 30.1.1973. 111 »Hıncak ve Tasnak örgütleri«, Hürriyet, 31.1.1973. 112 »Hıncak ve Tasnak örgütleri«, Hürriyet, 31.1.1973. 113 »Hıncak ve Tasnak örgütleri«, Hürriyet, 31.1.1973.

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verstanden seien, habe es sich in Wahrheit aber nur um eine handvoll armenischer Abenteurer gehandelt, die von der Masse osmanischen Ar-menier zu trennen seien.114 Die Mehrheit der osmanischen Armenier trägt nach dieser Lesart keine Schuld an den zunehmenden interethni-schen Spannungen im ausgehenden 19. Jahrhundert.

Diese Betonung, dass Auslandsarmenier die osmanischen Armenier mit nationalistischen Ideen angesteckt und damit das traditionell harmo-nische Zusammenleben von Muslimen und Christen gestört hätten, nimmt parallele Züge zu der Unterscheidung von Diaspora-Armeniern und »unseren« Armeniern an. Die – fast schon akribische – Trennung zwischen der Masse der armenischen Bevölkerung und einer Minderheit von radikalen Armeniern wirft jedoch die Frage auf, warum die gesamte armenische Bevölkerung für Aufstände einer Minderheit verantwortlich gemacht und auf Todesmärsche geschickt wurde. Dieser Widerspruch wird jedoch nicht thematisiert.

Der Umstand, dass die Mehrheit der osmanischen Armenier unab-hängig von individueller Schuld und allein aufgrund ethnisch-religiöser Zugehörigkeit deportiert wurde, ist im Erinnerungsdiskurs der Türkei erst Anfang der 2000er Jahre öffentlich kritisch hinterfragt worden.115 In einem Interview gegenüber der Tageszeitung Radikal kritisierte der His-toriker Halil Berktay, dass der osmanische Staat in jedem Fall für die katastrophalen Folgen der Deportationsmaßnahmen für die Armenier verantwortlich war. Denn die Zwangsdeportation hatte sich gegen die eigenen Untertanen gerichtet, zu deren Schutz und Fürsorge der Staat verpflichtet war. Einmischung und Schutz für Armenier von Außen In engem Zusammenhang mit dem Rahmen der »chronischen Rebel-lion und Aufstände« steht der Topos der Einmischung und Schutz für Armenier von Außen kommt. Der Titel einer Folge der besagten Hürri-yet-Serie »Ein Staat auf dem Papier« deutet dies bereits an.116 Die Über-schrift bezieht sich dabei auf die kurze Existenz der Armenischen Repu-blik, die sich nur von 1918 bis 1920 halten konnte.

Hier wird insgesamt ein Bild über die geschichtliche Entstehung und Formierung der nationalen Bewegung der Armenier gezeichnet, aus dem hervorgeht, dass sie nicht aus eigener Kraft zustande kam, sondern stets auf die Hilfe und Unterstützung von Außen angewiesen war. Nicht nur war es – wie oben erläutert – eine Minderheit von gewaltbereiten Aus-landsarmeniern, die die armenischen Aufstände im Osmanischen Reich 114 »Kağıt üzerinde bir Devlet«, Hürriyet, 2.2.1973. 115 »Ermenileri özel örgüt öldürdü«, Neşe Düzel, 9.10.2000. 116 »Kağıt üzerinde bir Devlet«, Hürriyet, 2.2.1973.

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anzettelte. Sie trauten sich vielmehr allein aufgrund der Rückendeckung der europäischen Mächte zu ihren aufrührerischen Aktionen. Der osma-nische Staat hätte es »zweifellos mit den Aufständischen aufnehmen und sie bestrafen können.«117 Aber Russland und der Westen breiteten im-mer wieder seine schützende Hand über die Armenier aus.

Wohl mit Blick auf die Niederschlagung armenischer Aufstände in den 1890er Jahren wird von der »Abwehr« der armenischen Aufstände durch die osmanischen Streitkräfte gesprochen.118 Bei dieser Beschrei-bung, bei der kein Raum für Fragen nach den sozialen oder politischen Hintergründen der beschriebenen Aufstände bleibt, überwiegt der reak-tive Aspekt osmanischer staatlicher Repressionshandlungen: Der Staat ist angesichts von Rebellion dazu gezwungen zu reagieren, was von un-entwegter Einmischung von Außen begleitet wird. Dabei wird eine Pa-rallele zur Gegenwart gezogen: Damals wie heute agieren die Armenier mit Hilfe und Unterstützung des Westens. Die gegenwärtige »anmaßen-de Haltung« der Armenier speist sich ebenfalls aus den historischen Vorurteilen des Westens gegenüber der Türkei.119

Die Verbindung von armenischen Aufständen und der notorischen Einmischung des Westens im Namen der Armenier führt zu einem Ar-menierbild, das einerseits Dynamik, hohes Gewaltpotential und mobili-sierende Wirkung beinhaltet. Andererseits werden Armenier als passive Minderheit ohne eigene Machtressourcen dargestellt, die von anderen, mächtigeren Akteuren gesteuert und gelenkt werden.120

Türken und Muslime als eigentliche Opfer der Geschichte Türken und Muslime erscheinen als die eigentlichen Opfer der Ge-schichte. Der »erschreckende Auftrag der armenischen Komitees« habe gelautet: »Vernichte die Türken und Kurden, egal wo, egal wie.«121 Da-für dringen armenische Rebellen aus Russland in die Region ein und bewaffnen die regionale armenische Bevölkerung. Die Folge ist, dass »Millionen von unschuldigen Türken […] bei den armenischen Massa-kern getötet« werden. »Aber« heißt es weiter, »sie haben die Quittung dafür natürlich bekommen […] Sie mussten die Quittung bekommen. Denn wenn es etwas gibt, was Türken nicht ertragen, dann sind es Unge-rechtigkeit und feiges Vorgehen.«122

117 »Kağıt üzerinde bir devlet«, Hürriyet, 2.2.1973. 118 »Tarihimiz Ermeni İsyanlari ile doludur.« Hürriyet, 1.2.1973. 119 »Tarihimiz Ermeni İsyanlari ile doludur.« Hürriyet, 1.2.1973. 120 »Kağıt üzerinde bir devlet«, Hürriyet, 2.2.1973. 121 »Hıncak ve Tasnak örgütleri«, Hürriyet, 31.1.1973. 122 »Hıncak ve Tasnak örgütleri«, Hürriyet, 31.1.1973.

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Weder in Bezug auf die »Millionen von unschuldigen türkischen Opfer« noch in Bezug auf die »berechtigte türkische Reaktion« finden sich genaue Zeitangaben, so dass aus dem Kontext die Jahrhundertwen-de als die relevante Phase für die vorgegeben Millionen muslimischer Opfer naheliegt. Demgegenüber gibt es auf die Frage, welche Reaktion mit »Quittung« gemeint ist, zwei Möglichkeiten: Die »Quittung« könnte sich auf die Niederschlagung der armenischen Aufstände in den 1890er Jahren oder auf die jungtürkische Zwangsdeportationspolitik beziehen. Während die Hürriyet-Serie hier eine Antwort schuldig bleibt, ist die Antwort in der Milli Gazete eindeutig: »Die osmanische Regierung hat diesen Mördern, die selbst während des Überlebenskampfes nichts unge-tan ließen, zum ersten Mal in unseren Geschichte eine Antwort erteilt: Blut für Blut, Leben für Leben.«123

Die armenischen Aufstände erreichen im Vorfeld des Zweiten Welt-kriegs ihren Höhepunkt, als die Armenier an der Seite Russlands dem Osmanischen Reich den Krieg erklären. Als es erneut zu einem Auf-stand – dieses Mal in Zeytun – kommt, weil die einheimischen Armenier sich der generellen Mobilmachung entziehen und in die Berge flüchten, beginnt die »schreckliche Phase in den türkisch-armenischen Beziehun-gen. Was wurde nicht alles bei dem Aufstand in Zeytun verbrochen? Soldaten wurden ausgeraubt und ermordet […] Dörfer angezündet und Kinder und Frauen ermordet.«124 Diese Grausamkeiten überbieten die Armenier bei den Gewaltzügen durch Erzurum und Beyazıt. Ein russi-scher Offizier bestätigt, dass die armenischen Gräuel unvorstellbare Ausmaße annehmen. Er prophezeit, dass die Armenier »Wind gesät ha-ben, aber Sturm ernten werden.«125 »Tatsächlich«, heißt es später, »ha-ben sich die Türken gegen diese gemeinen und hinterhältigen Attacken aufgebäumt. Der Grund für das Aufbäumen war aber nicht Rache, son-dern einzig und allein das Ziel, das Vaterland zu retten.«126

Ohne dass dies explizit zum Ausdruck kommt, ist hier wohl von der Vernichtungsaktion von 1915 die Rede. Aber 1915 ist eine Art Black Box, die im Diskurs nicht aufgemacht wird, wie an der Nicht-Benennung des Jahres und dem Ausbleiben von jeglichen näheren In-formationen zu 1915 deutlich wird. Zudem führt die unpräzise Darstel-lung zu falschen Ursache-Wirkung-Vorstellungen.

Denn die historische Forschung bestätigt zwar Massaker durch Ar-menier in Erzurum (Akçam 1999). Doch es handelt sich dabei um Mas-saker, die im Jahre 1918 bei dem Rückzug der russischen Truppen durch

123 »Türkiye’de 75 bin Ermeni var!« Milli Gazete, 31.1.1973. 124 »Hıncak ve Tasnak Örgütleri«, Hürriyet 31.1.1973. 125 »Hıncak ve Tasnak Örgütleri«, Hürriyet 31.1.1973. 126 »Hıncak ve Tasnak Örgütleri«, Hürriyet 31.1.1973.

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armenische Soldaten oder Überläufer verübt wurden. Die Heranziehung dieser historischen Gegebenheit als Beweis für die Gewaltbereitschaft von Armeniern oder die Hervorhebung von muslimisch-türkischen Op-fern der Gewalt von armenischer Seite übersieht die zeitliche Abfolge der historischen Ereignisse: Die mörderische Zwangsumsiedelungspoli-tik, die ohne Rücksicht auf Alte, Kranke, Frauen und Kinder durchge-führt und zu hunderttausenden von Opfern führte, ging den Gewaltex-zessen armenischer Soldaten zeitlich voraus. Die falsche zeitliche Zu-ordnung von historischen Ereignissen führt zu einem verzerrten Bild im Diskurs über realhistorische Abläufe, bei denen unwahre Kausalzusam-menhänge konstruiert werden.

Dieses Muster des Opferdiskurses ist auch in »Unsere Geschichte ist voll von armenischen Aufständen« zu finden, wo türkische Tote aufge-listet und beziffert werden, ohne die armenischen Opfern im ausgehen-den 19. Jahrhundert oder gar während der jungtürkischen Vernichtungs-politik auch nur zu erwähnen.127

Die Zwangsumsiedelung als notgedrungene Maßnahme gegen Rebellion und Intervention Die jungtürkische Zwangsumsiedelungspolitik erscheint im Diskurs der 1970er Jahre in erster Linie als eine reaktive Maßnahme auf die ar-menische Kollaboration mit dem Kriegsgegner des Osmanischen Reichs. Die Rolle der Jungtürken wird dabei nur am Rande aufgegriffen. In der Hürriyet werden sie als Akteure dargestellt, die sich um eine Einigung mit den armenischen Parteien bemühten. So hatten sie sich selbst nach dem Aufstand in Adana (1909) weiterhin um Freundschaft mit den Ar-meniern bemüht. Diese wurde von den armenischen Parteien, nicht von den Jungtürken aufgekündigt. Den Jungtürken bleibt schließlich keine andere Wahl als die Zwangsdeportation der Armenier. »Eine Nation, die sich im Krieg befand, wollte die Gefahr, wenigstens durch die Verschi-ckung derjenigen dämmen, die einen Dolch in ihren Rücken gestoßen hatten.«128

Auch die Milli Gazete stellt bei der Darstellung der Deportations-politik von 1915 auf den reaktiven Aspekt ab. Dieser wird in der Milli Gazete im Vergleich zur Hürriyet jedoch ausgebaut. Die jungtürkische Führung ermahnte die Armenier mehrmals, bevor sie schließlich das Deportationsgesetz erließ und die Armenier in verschiedene Regionen »verschickte«.129

127 »Tarihimiz Ermeni İsyanlari ile doludur.« Hürriyet, 1.2.1973. 128 »Tarihimiz Ermeni İsyanlari ile doludur.« Hürriyet, 1.2.1973 129 »Türkiye’de 75 bin Ermeni var«, Milli Gazete, 31.1.1973.

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Wie eingangs dieses Kapitels hervorgehoben wurde, handelt es sich in diesen beiden Fällen des Aufgreifens des Jahres 1915 um die einzigen Fälle ihrer Art. Der Rahmen der »armenischen Rebellion« dominiert die gesamte Dokumentationsserie der Hürriyet, dem kritischen Jahr 1915 werden nur wenige Sätze gewidmet. Dasselbe Muster der Verlagerung des Schwerpunktes bei der Erinnerung an die nationale Geschichte fin-det sich auch in der Milli Gazete.

Westlicher Imperialismus (1975)

Der Topos der »Intervention von Außen« zeigte sich 1975 in einer ande-ren, spezifischeren Variante. Die Vorstellung von »Außen« nahm hier die Form des »imperialistischen Westens« an. Es handelte sich also um eine Verschiebung im Diskurs von dem neutralen Terminus »Außen« zu der Gleichsetzung mit dem »imperialistischen Westen«. Zwei Texte sind in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung.

In dem Kommentar »Die eigentlich Schuldigen« des einflussreichen Chefredakteurs der Cumhuriyet, Ilhan Selçuk, haben die »westlichen Imperialisten« die Armenische Frage kalkuliert inszeniert.130 Sie waren es, die die Armenier dazu bewegten, »Türken und Kurden zu ermorden, Dörfer in Brand zu setzen.« Auf diese Weise sollten interethnische Zu-sammenstöße ausgelöst werden, die dann als Vorwand für europäische Interventionen unter dem Deckmantel der humanitären Intervention oder der Gründung eines unabhängigen Armeniens dienen sollten. Da sich die Interessenlage Russlands änderte, protegierte England die Armenier zu-nächst alleine weiter. So wurde die »Reaktion« des osmanischen Staates auf armenische Aufstände im Jahre 1893 in England unter dem Slogan »ausgeschlachtet«, dass die christliche armenische Bevölkerung ermor-det würde. Die Verteidigungsmaßnahmen des Staates oder der muslimi-schen Bevölkerung wurden in den »europäischen Kapitalismuszentren« verdreht und als Massaker von Muslimen an armenischen Dorfbewoh-nern gebracht. Doch die muslimische Bevölkerung wurde sich der exis-tentiellen Frage von »Sein oder Nicht-Sein« bewusst und kämpfte ums Überleben. Denn »keine Nation liefert sich freiwillig der Auslöschung aus.« Die Ursache des armenisch-osmanischen Konfliktes ist damit der »westliche Imperialismus«, wobei England und Frankreich als die »Hauptschuldigen« (baş suçlular) gelten.

Der Hinweis des Autors, dass diese Analyse sich auf die For-schungsergebnisse des Historikers Stephan Yerasimos stütze, verlieh

130 İlhan Selçuk, »Asıl Suçlular«, Cumhuriyet, 30.10.1975. Die folgenden

Ausführungen und Zitate gehen auf diesen Text zurück.

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dem Text eine besondere Autorität. Denn bei Yerasimos handelte es sich um einen aus der Türkei stammenden armenischen Historiker, der zu dem Zeitpunkt an einer französischen Universität lehrte. Das Argument, dass die osmanisch-armenische Geschichte zwischen die Fronten impe-rialistischer Politik geraten war, wurde also von einem Experten vorge-bracht, der als Armenier vom Verdacht einer nationalistisch-protürki-schen Parteinahme frei schien.131

Nicht zuletzt wird in »Die eigentlich Schuldigen«, wie im 1973er Diskurs auch, lediglich die Vorgeschichte von 1915 thematisiert, das Problem der Zwangsdeportation selbst aber nicht explizit und näher auf-gegriffen. Stattdessen wird vage von »einigen historischen Wahrheiten« oder einem »gewaltsamen Auseinandersetzungsprozess, der den Ersten Weltkrieg beinhaltete« gesprochen. Die Ausblendung von 1915 wirft die Frage auf, woran konkret der »westliche Imperialismus« eigentlich Schuld war: an den interethnischen Gewaltwellen in den 1890er Jahren, an pogromartigen Übergriffen auf Armenier nach der Jahrhundertwende und vor dem Ersten Weltkrieg, an der Zwangsdeportationspolitik von 1915 oder gar an den aktuellen Attentaten in Paris und Wien?

Bei dem zweiten relevanten Diskursbeitrag im Zusammenhang mit dem Topos der »Intervention von Außen« handelt es sich um einen Ar-tikel in der Hürriyet mit dem Titel »Die Morde und Frankreich«, in die historisch gewachsenen Vorurteile des Westens gegenüber der Türkei stark kritisiert werden.132 Der Umgang Frankreichs mit der Ermordung der türkischen Diplomaten zeigte, dass »ein großer Teil des Westens […] nicht frei von Vorurteilen (ist). Für sie stellen Türken immer Barba-ren dar.«

Kritisiert wurde hier, dass die französischen Medien bei der Darstel-lung der Mordanschläge stets auf 1915 zurückgreifen und von »Rache für die Zwangsumsiedelung der Armenier« sprechen würden. Doch während die dunklen Seiten der Geschichte und Politik europäischer Staaten als Relikte der Geschichte ad acta gelegte würden, würde die türkische Gegenwartsgesellschaft für etwas verantwortlich gemacht, das mit dem Untergang des Osmanischen Reiches ein abgeschlossenes Kapi-tel der Geschichte sei. Ein exemplarischer Beleg für die Kritik an dop-pelten Standards, die die Europäer gegenüber der Türkei an den Tag leg-ten, ist folgender: »Beispielsweise werden die Deutschen aufgrund des millionenfachen Mordes an den Juden nicht zu Barbaren gemacht. Die

131 Stephan Yerasimos gehörte zu den Organisatoren der »alternativen Ar-

menierkonferenz« 2005 in Istanbul, starb aber kurz vor der Realisierung der Veranstaltung.

132 »Cinayetler ve Fransa«, Hürriyet 28.10.1975. Die Zitate in den folgen-den Abschnitten gehen auf diesen Artikel.

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Schuld trägt hier allein Hitler. Von Barbarei spricht auch niemand, wenn es um den Kugelhagel von Briten gegen die für die Freiheit kämpfenden Iren geht. Die Überfälle von Juden auf arabische Dörfer und das Töten von Menschen ungeachtet der Frage, ob es sich um Frauen oder Kinder handelt, gelten nicht als Schande für die Juden […] Hat die westliche Welt die Griechen jemals wegen der Ermordung der Türken in den letz-ten 20 Jahren angeklagt?«

Der Westen legte damit also keine kritische Haltung im Hinblick auf die eigenen Untaten an den Tag, sehr wohl aber wenn es sich um die Türkei handelte. Dementsprechend wurde die »Bestrafung einer Min-derheit, die sich gegen den Staat aufgelehnt« hatte, nicht nur nicht den eigentlich dafür verantwortlichen Armeniern zur Last gelegt. Vielmehr wurde die Gegenwartsgesellschaft der Türkei und die neuen Generatio-nen für etwas in Verantwortung gezogen, das sich vor ihrer Lebzeit ein halbes Jahrhundert vorher ereignet hatte.

Zusammenfassung Die entscheidenden Auslöser der ersten größeren Diskurswellen in der Türkei über die Vertreibung und Ermordung der osmanischen Armenier waren gewaltsame Übergriffe auf türkische Repräsentanten in den 1970er Jahren, die einen organisierten terroristischen Charakter annah-men. Der Zusammenhang zwischen den aktuellen Attentaten und den dunklen Seiten der nationalen Vergangenheit wurde in den herangezo-genen Medien im Hinblick auf Inhalt und Umfang unterschiedlich her-gestellt. Insgesamt nahm die Auseinandersetzung mit den Anschlägen selbst den größten Raum ein. Von unmittelbarem Interesse war dabei die Frage, inwieweit es sich um organisierte und mit Ressourcen ausgestat-tete terroristische Aktionen handelte, die im Kontext des steigenden internationalen Terrorismus standen und eine langfristige Bedrohung für die Türkei darstellten.

Dieser Frage wurde in dem umfassenden Diskursrahmen Terror und Gewalt nachgegangen, innerhalb dessen die Armenier zu notorischen Gewalttätern in Gegenwart und Geschichte gemacht wurden. Dabei fiel auf, dass vor allem die Milli Gazete einen pauschalen und diffamieren-den Wir-Sie-Gegensatz zwischen Armeniern und Türken konstruierte. Im Gegensatz dazu unterschieden die Cumhuriyet und Hürriyet zwi-schen den armenischen Bürgern der Türkei und Diaspora-Armeniern. Während Erstere als loyale, angepasste und rechtlich gleichgestellte Bürger präsentiert wurden, wurde Gewalt, Terror, Rachsucht und »anti-türkisches« Engagement allein der armenischen Diaspora zugesprochen.

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Diese betont positive Darstellung der armenischen Minderheit der Tür-kei stellt selbst eine Diskriminierung dar.

Die Thematisierung der Armenischen Frage innerhalb des Diskurs-rahmens Terror wurde von eindringlichen Appellen begleitet, die vor gewalttätigen Ausschreitungen warnten. Im Laufe der untersuchten Pe-riode verstärkten sich die Aufrufe, besonnen und rational zu reagieren. Dies hing direkt mit der Erinnerung an die Pogrome vom 6./7. Septem-ber 1955 zusammen. Während die Sorge vor einer ähnlichen Gewaltwel-le als Reaktion auf den Anschlag von 1973 noch indirekt und unter-schwellig befürchtet wurde, wurde 1975 explizit vor einer Wiederholung der »nationalen Schande« von 1955 gewarnt. Die außenpolitische Situa-tion seit dem Einmarsch der türkischen Truppen auf Zypern und die an-fänglich verbreitete Annahme, dass die Anschläge von 1975 von der zyprisch-griechischen Terroristengruppe EOKA-B verübt wurden, leg-ten eine Analogie zu 1955 besonders nahe. Denn auch die Pogrome in Istanbul hatten sich an der Unabhängigkeitsbewegung auf Zypern und den unterschiedlichen Vorstellung der griechisch-zypriotischen und tür-kischen Volksgruppenführer im Hinblick auf das Verhältnis zu den Mut-terländern Griechenland und Türkei entzündet.

Im Gegensatz zu dem Erinnerungsdiskurs des Jahres 1975 fand die Auseinandersetzung von 1973 exklusiver und abgekoppelter von ihrem sozio-politischen und internationalen Kontext statt. Die öffentliche Aus-einandersetzung konzentrierte sich auf den Anschlag selbst. Das ist inso-fern verwunderlich, als die Tat zeitlich mit der zweiten Militärinterven-tion seit der Gründung der Türkei zusammenfiel, die zu erheblicher poli-tischer Instabilität führte, und politische Verfolgungen an der Tagesord-nung waren. In keiner der Zeitungen wurde das Attentat zum Anlass genommen, Kritik an der Regierung zu üben, obwohl es sich um drei Organe handelt, die völlig unterschiedliche Leserklientele ansprechen. Kritik an den innenpolitischen Umständen hielt sich auch im 1975er Diskurs in Grenzen und wurde nur in der Cumhuriyet vorgebracht – hier aber umso schärfer.133 Insbesondere wenn man beachtet, dass sich nicht nur die politisch Verfolgten dieser Phase mit dem Klientel der Cumhuriyet deckten, sondern auch führende Journalisten in den Reihen der Zeitung selbst verhaftet und verfolgt wurden, fällt auch der 1975er Diskurs insgesamt durch seine von der Innenpolitik abgekoppelte Thematisierung der Arme-nierfrage auf.

133 Vgl. z.B. Oktay Akbal, »Bu olaylar bir uyarıdır«, Cumhuriyet, 29.09.

1975. Der Autor kritisiert, dass die Regierung bei ihrem Kampf gegen die »inneren Feinde« die eigentlichen Gefahren für das nationale Wohl übersieht.

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Politische Repression und autoritäre Herrschaft eignen sich damit nicht als Erklärung, warum in den 1970er Jahren kaum ein Zusammen-hang zur Innenpolitik hergestellt wurde. Mehr als politische Repression scheint der Erinnerungsdiskurs gedächtnistheoretische Erwartungen zu bestätigen, dass plötzliche Infragestellungen der Identität von Außen meist mit reaktiven Verteidigungsmustern einhergehen und auf die Wie-derherstellung der sozialen Ordnung abzielen. Zwar besagt die Theorie, dass dieser reaktive Aspekt augenscheinliche innen- und außenpolitische Probleme »vorschiebt« und Auseinandersetzungen mit tieferen histori-schen Fragen – die gewissermaßen essentielle Identitätsfragen aufwerfen – vermeidet. Im vorliegenden Zusammenhang bestätigt aber das Nicht-Vorschieben von nahe liegenden aktuellen Problemen die These sogar noch zusätzlich. Denn trotz der Tatsache, dass von Beginn an von Ver-geltungsanschlägen ausgegangen wurde, wurde der Grund für die Ver-geltungen im Unklaren gelassen. Die Thematisierung der historischen Armenierfrage fand abgekoppelt von der Berichterstattung und den Kommentaren statt, die zwar immer wieder von Rache sprachen, aber auf das Tatmotiv, namentlich die Zwangsdeportation der Armenier, nicht explizit eingingen. Dieses Vorgehen kann als Versuch gedeutet werden, die bestehenden kollektiven Bilder über die nationale Geschich-te nicht in Frage zu stellen.

Abschließend kann im Hinblick auf den Umgang mit dem Mord an den osmanischen Armenier Folgendes festgehalten werden: Die Kons-truktion eines Armenierbildes, das die Armenier zu »notorischen Terro-risten« machte, wurde bei der Thematisierung der Geschichte von 1915 fortgesetzt, im Rahmen derer ein Bild fortwährender armenischer Auf-stände gegen den osmanischen Staat präsentiert wurde. In dieser Erzäh-lung hatte 1915 insofern keinen Platz, als in beiden Diskursmomenten – wenn überhaupt – nur indirekt und meist mit wenigen Sätzen auf 1915 eingegangen wurde. Der Diskurs der 1970er Jahre setzt den Schwer-punkt in der Vorgeschichte von 1915, also dem historischen Kontext und der Entstehung der historischen Armenischen Frage im ausgehenden 19. Jahrhundert. Der historische Kontext wurde im Diskurs zur Haupt-geschichte, wohingegen 1915 zu einem Ausläufer eines vermeintlich unvermeidbaren Prozesses relativiert wurde. Nicht zuletzt wurde dabei die türkisch-muslimische Bevölkerung zu den Opfern der Geschichte im Allgemeinen und der armenischen Aufständen im Speziellen gemacht.

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VERGANGENHEIT ALS POLITIKUM

In den 1980er Jahren wandelten sich die Auslöser für die Erinnerung an die Armenierfrage. Die armenischen Diasporagemeinden organisierten sich zunehmend in ihren jeweiligen Aufenthaltsländern und setzten sich mit legalen Mitteln der politischen Partizipation gegen das Vergessen der Geschichte ihrer Vorfahren ein. Der militante Erinnerungskampf der ASALA wurde Mitte des Jahrzehnts eingestellt.

Das Vorgehen der armenischen Diasporagemeinschaften, die Arme-nierfrage innenpolitisch zu thematisieren und die eigenen Regierungen zum Erinnern an den Armeniermord zu drängen, war die einzige Mög-lichkeit für die weltweit verstreute armenische Diaspora, die Leug-nungspolitik der Türkei zu kritisieren und gegen das Vergessen der Ge-schichte der Vorfahren einzutreten. Diese Strategie des indirekten Drucks auf die Türkei konnte erst mit der Unabhängigkeit der Armeni-schen Republik 1991 abgelöst bzw. ergänzt werden, auf Grundlage derer Armenien als konstitutives Mitglied der internationalen Gemeinschaft die Armenierfrage auf die internationale politische Agenda bringen konnte.

Die Internationalisierung der Armenischen Frage und die damit ver-bundene Kritik an der Vergangenheitspolitik der Türkei fielen mit einer äußerst schwierigen und bedeutsamen Phase in der Geschichte der mo-dernen Türkei zusammen. Nach der Militärintervention vom 12. Sep-tember 1980 betrieb das Militärregime eine massive Gleichschaltungs-politik. Die institutionellen und verfassungspolitischen Änderungen die-ser Ära wirken bis in die Gegenwart fort. Die Militärintervention führte zu einem enormen außenpolitischen Imageschaden der Türkei.

Im folgenden Kapitel steht der Erinnerungsdiskurs über die Arme-nierfrage während des Zeitraumes ihrer Verlagerung auf die internatio-

POLITIK UND ERINNERUNG

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nale politische Bühne im Vordergrund des Interesses. Zunächst wird auf die Internationalisierung der Armenischen Frage eingegangen: Die Fra-ge des Völkermordcharakters der Massenvertreibung der Armenier be-schäftigte in den 1980er Jahren mehrere Male den amerikanischen Kon-gress und im europäischen Kontext erkannte das Europäische Parlament 1987 die Vertreibungspolitik von 1915 als Völkermord im Sinne der UN-Genozidkonvention an. Dabei wurde ein direkter Zusammenhang zwischen der leugnerischen Vergangenheitspolitik der Türkei und ihrer Europafähigkeit hergestellt. Anschließend wird der innenpolitische Kon-text der Internationalisierung der Armenischen Frage innerhalb der Tür-kei aufgezeigt. Vor dem Hintergrund der Internationalisierung und der einschneidenden innenpolitischen Entwicklungen setzt sich der dritte Abschnitt dieses Kapitels mit der staatlichen Vergangenheitspolitik aus-einander. Im vierten und letzten Abschnitt wird schließlich der öffentli-che Erinnerungsdiskurs über die Armenierfrage analysiert.

International is ierung des Deutungskonf l ikts

Anerkennungsinitiativen in den USA Anfang der 1980er Jahre gelang es der armenisch-amerikanischen Lob-by unter der Führung des »Armenian National Committee of America« (ANCA) und unterstützt von griechisch-amerikanischen Interessengrup-pen, die Genozidfrage in die amerikanische Innenpolitik einzubringen. Diesen beiden Lobbygruppen standen mit der türkisch-amerikanischen »Assembly of Turkish-American Associations« (ATAA) und jüdisch-amerikanischen Interessengruppen ebenso einflussreiche Verbände gegenüber, die sich gegen eine Völkermordanerkennung durch die USA einsetzten. Während die ATAA versuchte, das Terrorismusargument vorzubringen, waren die jüdisch-amerikanischen Organisationen daran interessiert, die Vertiefung der türkisch-israelischen Beziehungen An-fang der 1980er Jahre nicht zu gefährden.134 Vor allem der Umstand, dass die Türkei das einzige mehrheitlich muslimische Land im Nahen Osten ist, das freundliche Beziehungen zu Israel hegt, veranlasste die jüdisch-amerikanische Lobby die Vergangenheitspolitik der Türkei zu unterstützen.

Vor dem Hintergrund dieser Interessenkonstellationen beschäftigte sich der amerikanische Kongress 1984, 1987 und 1990 mit der Vertrei-

134 Vgl.www.ataa.org/reference/topalian/ATAA_Armenian_Terror_

Reports.pdf. Stand: 15.11.2009.

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bungsgeschichte der Armenier. Mit Blick auf den 70. Jahrestag der Zwangsdeportation bestand die erste Initiative darin, den 24. April 1985 zu einem nationalen Gedenktag an »Man’s Inhumanity to Man« zu ma-chen. Dieser Vorstoß passierte am 24. September 1984 das Repräsentan-tenhaus.

Seit der Einführung des nationalen Gedenktages hat kein amerikani-scher Präsident bei der alljährlichen Gedenkrede zum 24. April explizit von der Vertreibung der Armenier als Genozid gesprochen. Doch zum 75. Jahrestag des Armeniermords wurde aus armenischer Sicht ein poli-tischer Durchbruch verzeichnet: Präsident Bush erinnerte in seinem Statement zum 24. April 1990 an das Schicksal der Armenier, indem er von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und »terrible massacres suffe-red in 1915-23 at the hands of the rulers of the Ottoman Empire« (zitiert in Hovannisian 1994: 135) sprach. In dieser Deutlichkeit hatte sich bis dahin noch kein amerikanischer Präsident offiziell zum Mord an den Armeniern geäußert.

Im Gegensatz zu dem erfolgreichen Vorstoß zur Einführung des na-tionalen Gedenktages scheiterten die Anerkennungsinitiativen von 1987 und 1990. Trotzdem ist das erinnerungspolitische Vorgehen der arme-nisch-amerikanischen Verbände insofern als erfolgreich zu bewerten, als nicht nur das gänzliche Vergessen der Geschichte von 1915 verhindert werden konnte. Vielmehr haben die politischen Aktivitäten auch dazu geführt, dass die amerikanische Öffentlichkeit für die mit der Geschichte von 1915 verbundenen Anliegen der Armenier sensibilisiert wurde.135 Zudem gelang es, die Geschichte von 1915 in einigen Bundesstaaten in den Schulunterricht und die Geschichtsbücher aufnehmen zu lassen. Die politische Gegenstrategie des türkisch-amerikanischen Interessenver-bandes ATAA scheiterte, bei der auf den Topos der »einseitigen Sicht von 1915« gesetzt wurde. Die ATAA forderte, die Expertise von Histo-rikern einzuholen, die die Völkermordanschuldigungen gegen die Türkei als nicht haltbar auswiesen (Cumhuriyet, 16.5.1987).

Die Debatten in den USA konnte die türkische Regierung nicht ver-hindern. Mit ihren diplomatischen Vertretungen, den amerikanisch-türkischen Interessenverbänden sowie Wirtschaftsunternehmen versuch-te sie aber, deren Verlauf zu beeinflussen. In erster Linie brachte die Türkei das NATO-Argument und die militärisch-wirtschaftlichen Bezie-

135 Der Anerkennungsvorstoß von 1990 etwa wurde mehrere Tage, vom 22.

bis 27. Februar 1990, im Kongress debattiert. Siehe New York Times, No End in Sight to Filibuster in Senate on Armenian Issue. 22.2.1990; New York Times, Turkish Killings Echo Across 75 years to create a din in the Senate, 21.2.1990; New York Times, Senate Again Blocks Arme-nian Resolution. 27.2.1990.

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hungen vor. Ministerpräsident Turgut Özal drohte z.B. in Zusammen-hang mit der Resolutionsinitiative von 1987, die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Verteidigungs- und Wirtschaftskooperation nicht zu ver-längern (Hale 2000). 136 Zuvor war der türkische Botschafter Şükrü Elekdağ zu Beratungen aus Washington abgezogen worden. Schließlich wurde 1987 und 1990 die Nutzung des US-Stützpunktes auf Incirlik eingeschränkt (Hale 2000: 166).137

Die wichtige Rolle, die die strategische Bedeutung der NATO-Verbündeten Türkei in der Phase des Kalten Krieges in den amerikani-schen Völkermorddebatten spielte, belegen auch die Reden von Kon-gressabgeordneten, die sich gegen die Anerkennung des Völkermord-charakters der Ereignisse des Jahres 1915 durch die USA einsetzten. Vor allem in der Debatte von 1990 war die »narrative of power« (Hovanissi-an 1994) erkennbar, in der vehement auf die amerikanisch-türkischen Beziehungen hingewiesen und mit den nationalen Interessen der USA argumentiert wurde. Dabei machten die Gegner der Anerkennungsinitia-tive gleichzeitig deutlich, dass sie an der moralischen Richtigkeit einer Anerkennung nicht zweifelten.

Die militärstrategischen und wirtschaftlichen Argumente der Türkei wurden mit Public Relations-Kampagnen flankiert. Um Imagepflege zu betreiben, finanzierte die Türkei die Gründung von Instituten und stellte Stipendien zur Förderung der Forschung der türkischen Kultur und Ge-schichte bereit (vgl. Hovanissian 1994). Das »Institute of Turkish Stu-dies« in Washington D.C. spielte in diesem Zusammenhang eine wichti-ge Rolle. Der Princetoner Professor Heath Lowry, der in den 1980ern das Institut leitete, sammelte im Vorfeld von Anerkennungsdebatten ge-zielt Unterschriften von führenden Turkologen und Nahostexperten und schaltete Anzeigen in den wichtigsten Medienorganen des Landes.138 Dieses Vorgehen war insofern erfolgreich, als in Kongressreden Argu-mente vorgebracht wurden, die »straight out of materials produced by the Turkish embassy, the Institute of Turkish Studies, and the Turkish-American Associations, all linked closely with Ankara« (Hovanissian 1994: 131) stammten.

136 Vgl. »Soykırım’a’karşı, SEIA«, Hürriyet, 26.7.1987. 137 Vgl. New York Times, »U.S. Resolution on Armenians Angers Turks«,

28.11.1989. 138 Vgl. New York Times und Washington Post vom 19.5.1985.

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Die Völkermordresolution des Europäischen Parlaments 1987 Während die Erinnerungspolitik der armenischen Diaspora eine breite Öffentlichkeit in den USA im Hinblick auf die Vertreibungsgeschichte der Armenier herstellte, wurde auf dem europäischen Schauplatz ein Durchbruch in Hinblick auf die Völkermordthematik erzielt. Das Euro-päische Parlament verabschiedete am 18. Juni 1987 die Resolution »Zur politischen Lösung der armenischen Frage«, in der die historischen Er-eignisse von 1915 als Völkermord anerkannt wurden. 139 Die Türkei wurde dabei nicht nur dazu aufgefordert, diesen Abschnitt ihrer Ge-schichte als Völkermord anzuerkennen, das Parlament gab vielmehr die Empfehlung an den Europäischen Rat, eine solche Anerkennung zu einem Beitrittskriterium für die Türkei zu machen. Selbstkritische Erinnerung als europäische Erinnerungsnorm Die Resolution »Zur politischen Lösung der armenischen Frage« kam in Folge eines langwierigen Prozesses zu Stande, der vom Einbringen des Antrags bis zur Annahme etwa drei Jahre, namentlich von Oktober 1984 bis Juni 1987, dauerte. Die Befürworter setzten sich knapp gegen die Gegner durch: Von den 518 Mitgliedern des Europäischen Parlaments beteiligten sich 190 an der Abstimmung. 68 Mitglieder stimmten für und 60 gegen die Resolution. 42 Parlamentsmitglieder enthielten sich der Stimme.140 Neben der Armenierfrage wurden auch der Zypernkonflikt, die Ägäisfrage und die Kurdenfrage in den endgültigen Resolutionstext eingebracht.

Der Resolutionsentwurf, der am 25. Februar 1987 vom Politischen Ausschuss zur Abstimmung an das Parlament weitergereicht wurde, sprach nicht vom Völkermord an den Armeniern, sondern »bedauert(e) das am armenischen Volk 1915 verübte Unrecht.«141 Er verurteilte darü-ber hinaus, »nachdrücklich jede Gewaltanwendung und jede Form von Terrorismus durch armenische Gruppierungen.«142

Die Beschreibung »Tragödie des armenischen Volkes« wurde in der türkischen Öffentlichkeit als ein »geringeres Übel« wahrgenommen. Für 139 Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften C 190 vom 20.7.1987. 140 Vgl. Süddeutsche Zeitung, 5.7.1987. 141 Entschließungsanträge des Politischen Ausschusses des Europa-

Parlaments über eine politischen Lösung der armenischen Frage nebst dazugehörigen Anlagen 15. April 1987; abgedruckt in (Armenisch-Apostolische Kirchengemeinde zu Berlin – Armenische Kolonie zu Ber-lin 1988), S. 54.

142 Vgl. ebenda: 54.

POLITIK UND ERINNERUNG

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den langjährigen Experten der europäisch-türkischen Beziehungen, Mehmet Ali Birand, war die Türkei »knapp einer Katastrophe« entgan-gen.143 Denn die Streichung des Völkermordbegriffs im europäischen Kontext würde sich nach seiner Meinung positiv auf die bevorstehende Abstimmung im amerikanischen Kongress auswirken. Birand war sich jedoch bewusst, dass es sich bei dem Papier um einen Entwurf handelte, der in der Abschlusssitzung des Parlaments noch geändert werden konn-te. Die zentrale Bedeutung, die der terminologischen Beschreibung der Ereignisse von 1915 im Resolutionstext des Europäischen Parlaments beigemessen wurde, trat auch in einem anderen Kommentar zu Tage.144 Metin Toker unterstrich in der Milliyet, dass die Charakterisierung der Armenischen Frage als Tragödie keinerlei juristischen Konsequenzen mit sich bringen würde, weder in Form von Schadenersatz oder Wieder-gutmachungsansprüchen noch in Form territorialer Ansprüche. Die Verwendung des Begriffs Völkermord im Sinne der UN-Konvention hingegen würde völkerrechtlich bindende Auswirkungen beinhalten.

Diese Beispiele zeigen die zentrale Bedeutung, die in der türkischen Öffentlichkeit der begrifflichen Charakterisierung der Ereignisse von 1915 beigemessen wurde. Während im 1970er Diskurs bereits die Be-zeichnung Massaker (katliam) abgelehnt wurde, hatten sich die türki-schen Eliten auf die politische Realität der Internationalisierung der Ar-menischen Frage eingestellt und konzentrierten sich nunmehr auf die Abwendung von größerem Schaden.

Der Resolutionsentwurf des Politischen Ausschusses wurde am 18. Juni 1987 auf der Plenarsitzung des Parlaments debattiert. Die Gegner der Resolution, die aus den Reihen der Konservativen und Liberalen stammten, argumentierten, dass das Europäische Parlament nicht die geeignete Instanz für solche Fragen sei. Sie machten zwar deutlich, dass sie an der moralischen Richtigkeit des Entschlusses keinen Zweifel heg-ten, kritisierten aber, dass es sich um eine historische Frage handeln würde, die »Gegenstand der Geschichtsforschung, nicht aber der aktuel-len politischen Diskussion« sei.145 Mit dem Aufgreifen der Armenierfra-ge würde sich das Parlament zu einer Gerichtsinstanz für Geschichtsfra-gen erklären und damit einen Präzedenzfall schaffen, dessen Folgen für die zukünftige Tätigkeit des Parlaments nicht abzuschätzen seien. Die Kritik des Europaabgeordneten Lemmer, dass die »[h]istorische Wahr-

143 Vgl. Mehmet Ali Birand, »Ermeniler istediklerini tam olarak elde ede-

medi«, Milliyet, 27.2.1987. 144 Vgl. Metin Toker, »Neye pek yazık olmuş!« Milliyet 1.3.1987. 145 Sitzungsprotokoll des Europäischen Parlaments zur Aussprache über die

Armenische Frage vom 18. Juni 1987, abgedruckt in Armenisch-Apostolische Kirchengemeinde, 1988: 61.

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heit […] nicht durch parlamentarische Mehrheitsentscheidungen gefun-den werden [kann]«146, gehörte zu den zentralen Einwänden der Gegner der Entscheidung. Viele brachten zum Ausdruck, dass sie nicht an der Abstimmung teilnehmen oder sich der Stimme enthalten würden.

Die Befürworter des Entwurfs, die den Reihen der Sozialistischen Fraktion, den Grünen und Kommunisten angehörten, brachten morali-sche Argumente vor. Danach handelte es sich nicht um eine historische Frage, sondern darum, einem »Volk Gerechtigkeit zu geben.«147 Mit Blick auf die Gegenwartsgesellschaft der Türkei wurde herausgestellt, dass die türkische Regierung nicht für die Verbrechen von 1915 verant-wortlich sei, wohl aber für ihre Weigerung den Völkermord als solchen anzuerkennen.148

Unter den Befürwortern befand sich eine Gruppe griechischer Abge-ordneter, die sich nicht nur für die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern aussprach, sondern dafür plädierte, einen Zusammen-hang zwischen der Beitrittsbewerbung und der Vergangenheitspolitik der Türkei herzustellen. Demnach kollidierte die leugnerische Haltung der Türkei mit europäischen Werten. Der Abgeordnete Tzounis führte dies in drastischen Worten aus: »Ohne den armenischen Völkermord zu ächten, verlangt die von ihrer sündhaften Vergangenheit besudelte Tür-kei von uns, sie mit offenen Armen aufzunehmen. Die Gemeinschaft muss ihr mitteilen, dass sie sie reuelos nicht aufnehmen wird.«149

Anerkennung des Völkermords als EU-Beitrittskriterium In der Plenarsitzung wurden mehrere Änderungsanträge vorgebracht. Der wichtigste betraf die Wiederaufnahme des Völkermordbegriffs. Im endgültigen Resolutionstext hieß es, dass »die armenische Frage und die Frage der Minderheiten in der Türkei im Rah-men der Beziehungen zwischen der Türkei und der Gemeinschaft einen neuen Stellenwert erhalten müssen; […] die Demokratie in einem Land nur auf Dau-er bestehen kann, wenn dieses zu seiner Geschichte steht und diese um seine ethnische und kulturelle Vielfalt bereichert.«

146 Ebenda: 61f. 147 Redebeitrag des Parlamentsabgeordneten Saby (Sozialistische Fraktion

Frankreich) abgedruckt in Armenisch-Apostolische Kirchengemeinde, 1988: 60f.

148 Sitzungsprotokoll des Europäischen Parlaments zur Aussprache über die Armenische Frage vom 18. Juni 1987, abgedruckt in Armenisch-Apostolische Kirchengemeinde, 1988: 63.

149 Zitiert in Armenisch-Apostolische Kirchengemeinde 1988: 67.

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»die tragischen Ereignisse, die von 1915-17 stattgefunden und sich gegen die Armenier des Osmanischen Reiches gerichtet haben, Völkermord im Sinne der von der Vollversammlung der UNO am 9. Dezember 1948 angenommenen Konvention zur Verhinderung und Verfolgung von Völkermordverbrechens sind.« »das gegenwärtige türkische Regime nicht für das von den Armeniern im Os-manischen erlebte Drama verantwortlich gemacht werden kann und betont nachdrücklich, dass aus Anerkenntnis dieser historischen Ereignisse als Völ-kermord weder politische noch rechtliche oder materielle Forderungen an die heutige Türkei abgeleitet werden können.« Der EG-Rat wurde ersucht, »von der gegenwärtigen türkischen Regie-rung die Anerkennung des an den Armeniern 1915-17 verübten Völker-mords zu verlangen und die Aufnahme eines politischen Dialogs zwi-schen der Türkei und den Vertretern der Armenier zu fördern.« Die Weigerung der Anerkennung des Völkermords durch die Türkei stellte dem Parlament zufolge »unüberwindbare Hindernisse für die Prüfung eines etwaigen Beitritts der Türkei zur Gemeinschaft« dar. Zu diesen zu überwindenden Hindernissen zählte das Parlament auch das »Zögern [der Türkei], bei ihren Unstimmigkeiten mit Griechenland völkerrechtli-che Bestimmungen anzuwenden, die Belassung der türkischen Besat-zungstruppen auf Zypern, […] die Weigerung, die Kurdenfrage anzu-erkennen zusammen mit dem Fehlen einer wirklichen parlamentarischen Demokratie und der Nichtachtung der persönlichen und kollektiven Freiheiten.«

Mit der Benennung der Ereignisse von 1915 als Völkermord wurde der von dem verantwortlichen Berichterstatter Jaak Vandemeulebroucke zuvor beklagte Verlust des »eigentlichen Kerns« des Berichts, der bei der Prüfung im Politischen Ausschuss am 25. Februar 1987 eingetreten war, wieder hergestellt. Der Zusatz, dass der Türkei keine rechtlichen Folgen aus der Völkermordanerkennung entstehen würden, sollte dabei den von den Befürwortern betonten moralisch-ethischen Aspekt der Re-solution unterstreichen. Während diese Teile der Resolution auf eine späte Genugtuung für die armenischen Überlebenden und ihrer Nach-kommen hindeuten, machen die darauf folgenden Bestimmungen aber deutlich, dass es sich bei der Entschließung um ein Dokument mit weit-reichenden und langfristigen Auswirkungen auf die europäisch-türkischen Beziehungen handelte.

Dies betrifft insbesondere die »unüberwindbaren Hindernisse«, die in der Resolution für einen Beitritt der Türkei in die EG aufgelistet wur-den. So ruft das Parlament den Rat dazu auf, die Anerkennung des Völ-kermords und den Abzug der türkischen Truppen auf Nordzypern zu

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einem Beitrittskriterium der Türkei in die EG zu erklären. Die Hinzuzie-hungen von politischen Problemen, die nichts mit der historischen Ver-antwortung der Türkei zu tun hatten, zeugen von der politisch-strategi-schen Stoßrichtung der Entscheidung. Die moralische Absicht, die An-erkennung des Völkermords durch die Türkei zu forcieren, wurde mit politischen Forderungen gekoppelt, die die Interessen des EG-Mitglieds Griechenland widerspiegelten. Unabhängig davon hat das Europäische Parlament mit der Völkermordresolution von 1987 aber insgesamt den Weg dafür geebnet, dass der Umgang der Türkei mit der Armenischen Frage zu einem beitrittsrelevanten Aspekt im EU-Beitrittsprozess ge-worden ist.

Innen- und außenpoli t ischer Kontext der 1980er Die Miliärjunta vom 12. September 1980 Die Internationalisierung der Armenierfrage im Laufe der 1980er Jahre fiel mit der dritten Militärjunta in der Geschichte der Türkischen Repu-blik zusammen, die mit zum Teil bis in die Gegenwart anhaltenden Fol-gen für die türkische Gesellschaft und Politik verbunden war. Das türki-sche Militär reagierte auf die bürgerkriegsähnlichen Zustände im Land, bei denen es aufgrund gewaltsamer Auseinandersetzungen zwischen rechten und linken politischen Gruppierungen täglich zu Opfern kam. Die politischen Parteien waren unfähig, über parteipolitische und takti-sche Kalküle hinaus auf Stabilität hinzuwirken. Das Ansehen der Partei-en war an einem Tiefpunkt angelangt. Seit 1973 zeichnete sich ein durchgehendes Bild fragiler Koalitionsregierungen ab. Fragmentierung, ideologische Polarisierung und hohe Volatilität führten dazu, dass die türkischen Parteien angesichts der schweren sozio-ökonomischen Pro-bleme des Landes versagten (Karabelias 1999: 133; Özbudun 2002: 46).

Im Vergleich zu den vorausgegangenen Militärinterventionen von 1960 und 1971 hatte die Junta von 1980 weit langfristigere und nachhal-tigere Folgen für das politische und gesellschaftliche Leben. Unmittelba-ren Verhaftungswellen von als verdächtig Eingestuften folgte eine rigo-rose Gleichschaltungspolitik. Das Parlament wurde aufgelöst, die Regie-rung abgesetzt und die führenden Politiker und Gewerkschafter des Landes entweder unter Arrest gestellt oder verhaftet.

Eine Besonderheit in der Geschichte der türkischen Militärinterven-tionen ist, dass sie sich selbst stets als vorübergehende Eingriffe ver-standen (Karpat 1988; Toprak 2006). Die Weichen für einen Übergang

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zu einer zivilen Herrschaft wurden im Fall der Junta von 1980 mit der Durchführung von allgemeinen Wahlen am 6. November 1983 gestellt. Bei den Wahlen entschieden sich die Wähler gegen den Kandidaten des Militärs. Der ehemalige General Turgut Sunalp verlor mit seiner Partei »Milliyetçi Demokrasi Partisi« gegen Turgut Özal und dessen Mutter-landspartei (Anavatan Partisi). Gegen den Willen der Militärführung fiel auch die Entscheidung einer knappen Mehrheit der Bevölkerung für die Aufhebung des Politikverbots führender politischer Akteure aus.

Diese Reaktion, die demokratischen Möglichkeiten der politischen Mitsprache gegen die Präferenzen der Militärführung zu nutzen, ist ein kontinuierlicher Aspekt in dem Verhältnis der türkischen Zivilgesell-schaft zum Militär, obwohl die Institution der türkischen Streitkräfte auf ein hohes Maß an gesellschaftlichen Ansehen und Respekt blicken kann. Die Bevölkerung lehnt politische Interventionen des Generalstabs nicht per se als Eingriff in die Demokratie ab. In diesem Sinne stieß auch die Junta vom 12. September 1980 auf eine vergleichsweise breite Zustim-mung in der Bevölkerung, die bis in die Gegenwart anhält. Noch jüngst strich der Chefredakteur der Hürriyet, Ertuğrul Özkök, die »humanitäre Seite« der Militärintervention von 1980 heraus, da sie das elementare Bedürfnis nach Sicherheit von Leib und Leben auf den Straßen gewähr-leistet hätte (Hürriyet, 15.11.2006).150

Verfassungsänderung – Ausbau der staatlichen Autorität Die Militärjunta von 1980 führte eine Verfassungsänderung durch, mit der die Autorität des Staates und die politische Tradition, den Staat über den Bürger zu stellen (vgl. dazu Kramer 2004; Rumpf 2005), gefestigt wurden. In der neuen Verfassung, die mit Veränderungen bis heute fort-besteht, wurde insbesondere die Rolle des Staatsoberhaupts gestärkt. Während der Staatspräsident den Staat als solchen verkörpert, sind das Parlament, das Kabinett und die Verwaltung für die Tagespolitik »within the framework set by the state« zuständig (Karpat 1988). Jede Art von Verfassungsänderung konnte in den nächsten sieben Jahren von dem Staatspräsidenten mit einem Veto versehen werden. Indem der General-stabschef in der neuen Verfassung als nächster Präsident festgeschrieben wurde, wurde sichergestellt, dass die institutionellen und gesellschaftli-

150 Gleichzeitig hat in den letzten Jahren aber auch die Kritik am türkischen

Militär in ungewöhnlichem Maße zugenommen. Ein Verband von Juris-ten zeigte 2006 den ehemaligen Generalstabschef Kenan Evren an, der öffentlich bekräftigt hatte, die Unterzeichnung der Todesstrafen in Folge des 12. September nicht zu bereuen.

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chen Errungenschaften des 12. September nach dem Übergang zu einer zivilen Führung nicht ohne weiteres revidiert würden.

Das Militär verankerte auch über die Person des Generalstabschefs hinaus seine Einflussmöglichkeiten in die Politik. So wurde die Institu-tion des Nationalen Sicherheitsrats gestärkt. In Fragen der nationalen Sicherheit, territorialen Integrität und Unteilbarkeit des Landes kann der Nationale Sicherheitsrat dem Kabinett seine Meinung unterbreiten und die Regierung ist verpflichtet, den Erwägungen des Nationalen Sicher-heitsrats Priorität einzuräumen. In diesem Sinne wurde der Nationale Sicherheitsrat zu dem höchsten nicht-gewählten »decision-making body of the state« (Karabelias 1999: 135).

Entpolitisierung des öffentlichen Lebens Das Militärregime leitete eine rigorose Gleichschaltungspolitik des so-zialen und gesellschaftlichen Lebens ein. Gewerkschaften, Vereinen und Stiftungen wurde verboten, sich politisch zu betätigen oder mit politi-schen Parteien zusammenzuarbeiten. Besonders die Selbstbestimmung der Gewerkschaften wurde eingeschränkt, ihre Finanzen durch den Staat kontrolliert (Böhmer 1990). Auch der Aktionsradius und die Organisa-tion der politischen Parteien wurde streng geregelt. So durften sie keine Frauenabteilungen, Jugendabteilungen oder Stiftungen gründen. Be-stimmten Personenkreisen wie etwa Richtern und Staatsanwälten, Hoch-schullehrern, Studenten, Angehörigen des öffentlichen Dienstes und des Militärs war es schließlich untersagt, sich in politischen Parteien zu be-tätigen.

Eine weitere institutionelle Neuschaffung des Regimes, die Grün-dung des staatlichen Hochschulrats »Yüksek Öğretim Kurulu« (YÖK) hat sich als besonders nachhaltig und umstrittene erwiesen. Mehrere Re-gierungsinitiativen, den Hochschulrat zu reformieren, sind bislang ge-scheitert. Der Hochschulrat ist die zentrale Institution, die über die Pla-nung, Kontrolle und die Ausrichtung des Unterrichts sowie der wissen-schaftlichen Forschung der Universitäten verantwortlich ist. Mit der Be-stimmung, dass die Mitglieder des Hochschulrats vom Staatspräsidenten bestätigt werden müssen, wurde die staatliche Bindung der Universitäten gesichert. Diese Vorschrift hob die Autonomie der Hochschulen auf. Insgesamt wurde mit diesen Maßnahmen darauf gezielt, den »Hoch-schulbetrieb, die Organe der Gerichtsbarkeit und der Exekutive sowie die Streitkräfte […] vor einer Politisierung und Polarisierung« zu be-wahren, die vor dem Militäreingriff vom 12. September 1980 für »den Zerfall des türkischen Staates« verantwortlich gemacht wurden (Oehring 1983: 310).

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Türkisch-Islamische Synthese

Die institutionellen Änderungen wurden auf der ideologischen Ebene durch die sogenannte Türkisch-Islamische Synthese (Türk-Islam-Sentezi) ergänzt (Hoffmann 2003). Diese war in den 1970er Jahren von national-konservativen Intellektuellen formuliert worden. Hier wurden islamistische, pantürkistische und nationalistische Positionen zusam-mengefasst, die als »firm barriers against potential sources of instabili-ty« gedacht waren (Önis 1997: 750) . Es handelte sich um eine Neufor-mulierung der türkisch-islamischen Geschichte, mit der eine »nationale Kultur« konstruiert wurde, die aus der Synthese zwischen vorislami-scher Kultur der Türken und dem Islam bestand.

Unter der Militärführung wurde die Türkisch-Islamische Synthese zu einem Teil einer staatlichen Ideologie, die moralische Tugenden und den Gehorsam gegenüber staatlichen Autoritäten stärken sollte (Karakas 2007). Der Islam wurde als die Religion propagiert, die der türkischen Identität am nächsten stand. Eine der Neuerungen im Zuge der Konzen-tration auf den Islam als Gegenpol zu dem politischen Aktivismus der 1970er Jahre war die Einführung des Religionsunterricht als Pflichtfach für Grund- und Mittelschulen. Auch bediente sich Generalstabschef Ke-nan Evren bei seinen öffentlichen Auftritten einer ausgeprägt islami-schen Rhetorik, indem er auf die überlieferten Aussagen des Propheten Mohammed Bezug nahm (Oran 2001a). Mit der Konzentration auf kon-servative Werte und der Rückbesinnung auf den Islam förderte das Mili-tärregime von 1980 langfristig die Entstehung und Etablierung des poli-tischen Islam in der Türkei (vgl. Toprak 2006; Karakas 2007).

Außenpolitischer Imageschaden Die Militärintervention von 1980 resultierte in unterschiedlichen Reak-tionen bei den außenpolitischen Partnern der Türkei. In den USA wurde eine kritische Auseinandersetzung mit dem Militärputsch hinter Fragen der politischen Stabilität der NATO-Partnerin Türkei gestellt. Im Gegensatz dazu formierte sich in den europäischen Ländern eine kriti-sche Öffentlichkeit, die die Aushöhlung der Demokratie, die desolate Menschenrechtsbilanz – vor allem bei der brutalen Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung in den 1990er Jahren – aufmerksam beobachte-te.

Die erste Reaktion der EG auf den Militärputsch vom 12. September 1980 fiel milde aus. Die kritischen Stimmen im EG-Rat, die sich unter der Führung von Frankreich für die Aufhebung der Beziehungen mit der Türkei aussprachen, konnten sich zunächst nicht durchsetzen. England

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und Deutschland wiesen auf die Zusage der türkischen Militärführung hin, dass sie zu einem demokratischen System übergehen würde. Das Militärregime war auf die Unterstützung der EG aus politischen und vor allem aus ökonomischen Gründen angewiesen. Daher hatte es von An-fang an betont, dass es die bestehenden Beziehungen zu der EG auf-rechterhalten und auch an der Mitgliedschaft im Europarat festhalten wolle. In der Erklärung des Europäischen Rates am 16. September 1980 hieß es dementsprechend, dass man sich auf die Zusicherung des Mili-tärs verlassen würde, dass die demokratischen Institutionen schnell wie-der ins Leben gerufen, die unter Arrest stehenden Politiker gut behandelt und die Menschenrechte respektiert würden (Erhan/Arat 2001b).

Nach dieser anfänglich milden Reaktion verschlechterten sich die türkisch-europäischen Beziehungen aber vergleichsweise rapide. Die autoritäre Führung und vor allem die desolate Menschenrechtsbilanz wurden in der europäischen Öffentlichkeit kritisch verfolgt (Cendrowicz 1988). So wurde zum Beispiel zwischen 1980 und 1984 für 5000 Ange-klagte die Todesstrafe gefordert, in 517 Fällen angenommen und schließlich in 50 davon ausgeführt (Oran 2001c: 20).

Das Europäische Parlament machte immer wieder auf die alarmie-rende Situation der Menschenrechte in der Türkei aufmerksam. Im Janu-ar 1982 entschied das Parlament, den Assoziationsvertrag von 1963 zu suspendieren und die Beziehungen zur Türkei einzufrieren. Darüber hi-naus blockierte es die regulären Treffen des Joint Parliamentary Com-mittee, einem im Rahmen des Assoziationsvertrages von 1963 geschaf-fenen Gremium, das aus dem Präsident der EG, dem EG-Kommissar und dem türkischen Außenminister bestand und das in regelmäßigem Turnus unter alternierendem Vorsitz zusammentrat. Erst 1989 wurde dieses Organ wieder belebt (vgl. Erhan/Arat 2001b).

Trotz der schweren Krise in den türkisch-europäischen Beziehungen bewarb sich die Türkei 1987 formell für eine EG-Mitgliedschaft. Die Bewerbung wurde von dem Gedanken getragen, dass nur eine »Schock-therapie« die stagnierenden und kritischen Beziehungen zwischen der EG und der Türkei retten könne. Für diese erste formale Bewerbung am 14. April 1987 spielten neben dem zivilisatorischen Ziel der modernen Türkei, zu einem Teil Europas zu werden, innenpolitische und insbeson-ders wirtschaftspolitische Gründe eine maßgebliche Rolle (Çelik 1999: 97).

Doch nach der Erweiterung der EG mit den Beitritten Griechen-lands, Spaniens und Portugals war die EG zum Zeitpunkt der türkischen Bewerbung noch nicht für die Aufnahme weiterer Mitgliedsstaaten be-reit. Zumal die Bewerbung der Türkei die EG gewissermaßen überrum-pelte und eine kritische Haltung in den europäischen Öffentlichkeiten

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aufgrund der Menschenrechtsbilanz der Türkei dominierte (vgl. Cen-drowicz 1988; Çelik 1999: 97f). Griechenland zeigte offen, dass es eine Aufnahme der Türkei in die EG nicht tragen würde. Die übrigen EG-Länder schoben Griechenland als Bremser vor, hatten selbst aber eben-falls Bedenken gegen ein EG-Beitritt der Türkei (Erhan/Arat 2001b: 98).

Die Politik der Türkei, die Europäer umzustimmen, konzentrierte sich zum einen auf Griechenland, das durch eine türkisch-griechische Annäherung gewonnen werden sollte. Dazu wurde der Davosprozess eingeleitet, der zu einer zeitweiligen Annäherung zwischen beiden Staa-ten führte (Birand 1989). Zum anderen wurde in bilateralen Gesprächen mit den einzelnen EG-Staaten versucht, für die Aufnahme der Türkei zu werben. Die Zulassung von europäischen Firmen zu öffentlichen Aus-schreibungen war schließlich ein weiteres Instrument, deren Regierun-gen für die EG-Kandidatur der Türkei zu gewinnen. Diese Strategie, die sich insbesondere auf Spanien und Frankreich richtete, ging insgesamt jedoch nicht auf. Es blieb vor allem das Griechenlandproblem bestehen. Trotz Annäherung hielt Griechenland an seiner harten Haltung gegen-über einer EG-Mitgliedschaft der Türkei fest. Darüber hinaus versuchte Griechenland weiterhin, den Zypernkonflikt auf die europäische Agenda zu bringen.

Im Dezember 1989 erklärte die EG-Kommission, dass eine Verhand-lungsaufnahme mit der Türkei nicht vor 1993 stattfinden könne. Die europäische Integration, die Schaffung des Binnenmarktes sowie die Wirtschafts- und Währungsunion hatten Vorrang vor einer Erweiterung. Der Bericht verwies darüber hinaus auf fundamentale wirtschaftliche Diskrepanzen zwischen der EG und der Türkei, die problematische Menschenrechtslage und die demokratischen Defizite des türkischen po-litischen Systems.

Die Reaktion der Türkei auf die Absage hat sich inzwischen zu einem stabilen Muster entwickelt. Auf der einen Seite wurde gesagt, dass die Türkei sich zu Europa bekennen und ein Teil dieser Zivilisation werden wolle. Auf der anderen Seite wurde signalisiert, dass es auch die Option der Abwendung von Europa und der Hinwendung zum islami-schen Osten gäbe. Auf seinem Deutschland-Besuch bekräftigte Staats-präsident Evren diese Botschaft, indem er sogar die türkische NATO-Mitgliedschaft in Frage stellte (Erhan/Arat 2001: 99).

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Staat l iche Vergangenheitspol it ik Professionalisierung der Leugnung Während die Regierung den außenpolitischen Imageschaden in Folge der Militärintervention und der desolaten Menschenrechtsbilanz durch eine Annäherung an die EG begrenzen wollte, lancierte sie im Hinblick auf die Internationalisierung der Armenierfrage und die damit verbunde-ne Kritik an der türkischen Vergangenheitspolitik zunächst die Produk-tion von Rechtfertigungsliteratur und konzentrierte sich gegenüber den außenpolitischen Partnern bei ihrer Abwehrpolitik auf das Argument der Terrorismusbekämpfung.

Das Wiederaufleben der Vergangenheit durch die Erinnerungsarbeit der armenischen Überlebendengemeinde hatte zunächst deutlich gemacht, dass es an Experten und Spezialisten mit fundierten Kenntnissen der Ge-schichte von 1915 fehlte. Doch der Aufruf des Außenministeriums an den staatlichen Hochschulrat wissenschaftliche Untersuchungen zur Arme-nierfrage zu fördern, die im Sinne von Rechtfertigungsliteratur die argu-mentative Grundlage der Vergangenheitspolitik bilden sollte; 151 hatte nicht die erhoffte Resonanz. Die staatlichen Eliten beklagten daraufhin, dass die türkische Wissenschaft bei der Verteidigung der nationalen Ge-schichte versagt hatte (Cumhuriyet, 1.7.1987).152 Ein hochrangiger Büro-krat des Außenministeriums und zeitweiliger Außenminister, Kamuran Gürün, griff schließlich gezwungenermaßen selbst zur Feder und schrieb »Die armenische Akte«, die seitdem als Standardwerk in der türkischen Geschichtsschreibung zur Armenierfrage dient.

Im Außenministerium formierte sich fortan eine Kerngruppe von Experten, die immer dann zum Einsatz kam, wenn die Armenische Fra-ge im Ausland thematisiert wurde. Die diplomatischen Vertretungen der Türkei informieren dabei Ankara über bevorstehende wissenschaftliche oder politische Debatten zur Armenierfrage in ihrem Einsatzland. Das Außenministerium rekrutiert daraufhin aus seinem Expertenpool geeig-nete Kandidaten, die die türkische Seite bei den betreffenden wissen-schaftlichen Konferenzen vertreten oder hinter den Kulissen politische

151 So soll Turgut Özal, der als Minister- und Staatspräsident die Politik der

Türkei bis Anfang der 1990er Jahre maßgeblich steuerte, direkt die pro-fessionelle Beratung von Historikern eingeholt haben, um zu erfahren, »was denn 1915 wirklich geschehen« sei. Interview mit Heath Lowry am 8.5.2003 in Princeton, USA.

152 Dieselbe Kritik wurde in den 2000er Jahren formuliert, wo sie sich gegen die Türkische Geschichtsgesellschaft und ihren Vorsitzenden Yu-suf Halaçoğlu richtete. Vgl. Oktay Ekşi, Hadi hayırlısı, Hürriyet 9.3. 2005.

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Lobbyarbeit leisten. Neben staatsnahen Wissenschaftlern nehmen re-gelmäßig auch hochrangige Bürokraten aktiv als Redner an wissen-schaftlichen Konferenzen teil.153

Diese Gruppe von Diplomaten und die mit ihnen eng zusammen arbeitenden Wissenschaftler haben sich zu einem Team von professio-nellen Abwehrakteuren entwickelt, die sich systematisch und unabhän-gig von beruflichen Erfordernissen, gewissermaßen ehrenamtlich, für die Abwehr der »armenischen Behauptungen« engagieren. So hat eine Gruppe von ehemaligen Diplomaten die »Gruppe der türkischen Bot-schafter a.D.« gegründet und formuliert politische Stellungnahmen zur Armenischen Frage, die in verschiedenen Sprachen an ausländische Adressaten gesendet werden. Besonders aktiv war die Gruppe im Vor-feld des 90. Jahrestags des Mordes an den Armeniern in 2005, als sie internationale Experten dazu einlud, »die historischen Ereignisse von allen Seiten zu beleuchten und in der Frage der Verantwortung für die Tragödie nicht einseitig zu urteilen.«154

Das besondere Engagement von Diplomaten bei der Verteidigung der staatlichen türkischen Sicht hängt damit zusammen, dass die meisten unter ihnen die Erfahrung gemacht haben, selbst Zielscheibe von arme-nischer Militanz geworden zu sein. Die Aufforderung der Diplomaten, »die bei Terroraktionen ermordeten Mitarbeiter des türkischen Außen-ministeriums« nicht zu vergessen, macht die Bedeutung der persönli-chen Erfahrungen dieser Diskursteilnehmer deutlich.155 Es erstaunt da-her kaum, dass der Topos »armenischer Terrorismus« insbesondere von (ehemaligen) Diplomaten vorgetragen wird.156 Diese Kerngruppe einigt

153 Beispielsweise nahm der ehemalige Leiter der Sondereinheit Istihbarat

ve Araştırma Müdürlüğü Ömer Engin Lütem als Redner an der Konfe-renz »Von der schweren Last der Geschichte. Der Versuch eines arme-nisch-türkischen Dialogs«, teil, die von der Evangelischen Akademie Mühlheim an der Ruhr vom 23. - 25.3.2001 veranstaltet wurde. Ein wei-teres Beispiel ist die Teilnahme der ehemaligen Diplomaten Pulat Tacar und Gündüz Aktan an der in Kopenhagen durchgeführten Konferenz »The ›Armenian Question‹: Allegations and Denial«, die vom Danish Center for Holocaust- and Genocide Studies von 10. bis 11. Mai 2002 veranstaltet wurde.

154 Erklärung, der »Gruppe der türkischen Botschafter a.D« vom 25.03. 2005.

155 Erklärung, der »Gruppe der türkischen Botschafter a.D« vom 25.03. 2005. Die kollektive Erfahrung der direkten und indirekten Bedrohung durch armenische Aktivisten war auch ein immer wiederkehrendes Thema in Interviews mit den ehemaligen Diplomaten Gündüz Aktan, Sükrü Elekdag, Pulat Tacar, Ömer Engin Lütem und dem Leiter des »Is-tihbarat ve Araştırma Genel Müdürlüğü«, Ecvet Tezcan.

156 Dass der Topos des »armenischen Terrorismus« insbesondere von Di-plomaten vorgebracht wird, zeigt sich auch in der exklusiven Beschäfti-

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schließlich, dass sie denselben Sozialisationsprozess als erste Generation der modernen Türkei erfahren haben, die sich mit dem Gründungsmy-thos besonders identifiziert.

Terrorismusbekämpfung als Vergangenheitspolitik Neben der Strategie, fundierte Argumente zu produzieren, konzentrierte sich die türkische Abwehrpolitik in den 1980er Jahren auf das Sicher-heitsrisiko, das von den gewaltsamen Übergriffen armenischer Aktivis-ten ausging. Der Staat griff dabei zu konkreten sicherheitspolitischen Maßnahmen der Terrorabwehr, die in den Aufgabenbereich der staatli-chen Sicherheitsinstitutionen der Polizei und Gendarmerie, des Militärs und insbesondere des Nachrichtendienstes MIT (Milli Istihbarat Teşkila-tı) fielen.

Der Staat war schließlich in paramilitärische Vergeltungsaktionen in europäischen Ländern verwickelt. Die Gruppe um den Mafiachef Abdul-lah Catli, der in den 1970er Jahren die ultranationalistische Organisation der Grauen Wölfe aufbaute, spielte dabei eine Schlüsselrolle. Unter sei-ner Führung wurden Anschläge auf Genoziddenkmäler in Marseille und Paris verübt.157 Die Gruppe soll auch an der Ermordung von ASALA-Mitgliedern beteiligt gewesen sein. Abdullah Çatlı ging mit Unterstüt-zung und in Abstimmung mit staatlichen Stellen vor. Der türkische Ge-heimdienst sorgte für die finanziellen Ressourcen im französischen Untergrund und versorgte ihn mit falschen Papieren (Vatandaş 2005: 127-137). Die engen Verbindungen Abdullah Çatlıs zu hochrangigen Vertretern staatlicher Sicherheitsinstitutionen, die nach einem Autoun-fall in der Nähe der Stadt Susurluk 1996 zufällig herauskamen und zu einem der größten politischen Skandale in der Geschichte des Landes führten, sind weitere Belege dafür, dass die nationalistisch motivierte anti-Terror-Mission paramilitärischer Einheiten im Ausland direkt von dem türkischen Staat unterstützt wurde.158

gung des ehemaligen Diplomaten Bilal Şimşir mit den Opfern armeni-scher Anschläge, die in einem zweibändigen Werk mit dem Titel »Unse-re gefallenen Diplomaten« dokumentiert ist. Vgl. Simsir 2001.

157 Çatlı war darüber hinaus in internationale Drogengeschäfte verwickelt. Die Fraktion Bündnis90/Die Grünen richtete in diesem Zusammenhang eine Anfrage an die Regierung, in der sie nach Informationen der Regie-rung über die Querverbindungen und die Vorgehensweise der türkischen Geheimdienstes und Drogenhändlern in der BRD fragte. Vgl. BT-Drs. 13/7348 vom 24.3.1997.

158 Im Unfallwagen waren neben dem zu diesem Zeitpunkt von Interpol gesuchten Abdullah Çatlı der ehemalige stellvertretende Polizeichef von Istanbul, Hüseyin Karadağ, und Sedat Bucak, der für die an der Regierung beteiligte Partei des Rechten Wegs (DYP) im türkischen

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Im Außenministerium wurde zudem die nachrichtendienstliche Son-dereinheit »Istihbarat ve Arastirma Genel Müdürlügü« (Abteilung für Nachrichten und Forschung) ins Leben gerufen, die sich speziell auf die Armenische Frage konzentrierte. 159 Sie entwickelte Abwehrstrategien und agierte als zentrale Koordinationsinstanz, in der bereits laufende oder neue Maßnahmen der Regierung zusammen liefen.

Die mit der Konzentration auf den Sicherheitsaspekt des Wiederauf-lebens der Armenischen Frage verbundene außenpolitische Strategie der Türkei, die Armenische Frage ausschließlich als gegenwärtiges Terror-problem zu rahmen, stieß bei den außenpolitischen Partnern in der inter-nationalen Politik auf Zustimmung und Unterstützung – zumal die An-

Parlament saß. Im Wagen wurde eine große Anzahl von Waffen gefun-den, die sich als Eigentum des Innenministeriums herausstellten. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss brachte das enge Geflecht aus organisiertem Verbrechen, Militär, Justiz, Politik und Verwaltung in Ansätzen zu Tage. Beispielsweise stellte sich heraus, dass Çatlı unter anderem über zwei gültige diplomatische Ausweise verfügte, die von dem amtierenden Innenminister, Mehmet Ağar, persönlich unter-zeichnet waren (Meyer 1997). Dieser und der einzige Überlebende des Unfalls, Sedat Bucak, genossen als Abgeordnete Immunität, die durch das Parlament nicht aufgehoben wurde. Bucak wurde 2007 noch zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Gegen Mehmet Ağar, der bis 2007 den Parteivorsitz der DYP inne hatte, konnte bislang rechtlich nicht vorgegangen werden. Der Susurluk-Skandal konnte also bis in die Gegenwart nicht aufgedeckt und die Verantwortlichen zur Rechen-schaft gezogen werden. Auf der einen Seite löste der Vorfall zwar ein tiefes Unbehagen in der Öffentlichkeit angesichts der teils mafiösen Strukturen des Staatsapparates aus. Auf der anderen Seite wurde aber auch deutlich, dass eine Zusammenarbeit des türkischen Nachrichten-dienstes mit illegalen paramilitärischen Gruppen als ein legitimes Mit-tel der Terrorbekämpfung gesehen wurde. So stellte sich etwa die am-tierende Außenministerin Tansu Çiller öffentlich hinter Çatlı. Für sie war er ein »Held«, der für das Vaterland geschossen hatte. Çiller sagte wörtlich: »Für uns sind diejenigen, die für das Vaterland eine Kugel abschießen ebenso Helden, wie solche, die von einer Kugel getroffen werden.« Siehe Can Dündar, Şerefli kurşunlar ve ilahi yumruklar, Mil-liyet, 30.11.1996. Auf einer Veranstaltung mit dem Titel »Die Wahr-heit hinter der Armenischen Frage« an der Bilgi Universität am 15. April 2006 erklärte Gündüz Aktan, der neben dem Vorsitzenden der Türkischen Geschichtsgesellschaft Yusuf Halaçoğlu zu den Hauptred-nern zählte, dass die armenischen Terroristen auch ihre »gerechte Stra-fe« bekommen hatten und hob damit offensichtlich auf die vom türki-schen Geheimdienst durchgeführten Racheaktionen gegen die ASALA ab. Vgl. auch den Kommentar des ultranationalistischen Hürriyet-Kommentators Emin Çölaşan, »Fransa’nın intikamı«, Hürriyet, 20.1.2001.

159 Interview mit Ömer Engin Lütem am 1.3.2004, der die Sondereinheit von 1981 bis 1983 leitete.

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schläge außerhalb der Türkei verübt wurden und nicht nur türkische Di-plomaten oder Staatsbürger betrafen. Bei dem 1983 von der ASALA verübten Anschlag am Pariser Flughafen Orly befanden sich beispiels-weise zahlreiche Franzosen, Schweden und Amerikaner unter den Op-fern.

Das Institut für Armenische Studien In direkter Kontinuität der nachrichtendienstlichen Sondereinheit steht das »Institut für Armenische Studien« (»Ermeni Araştırmaları Enstitü-sü«), das im Jahr 2000 unter dem Dach des konservativ-nationalistischen Think Tanks »Avrasya Stratejik Araştırma Merkezi« (ASAM) in Ankara gegründet wurde. Die Kontinuität spiegelt sich sowohl in den Akteuren als auch den Zielen des Instituts wider. So war beispielsweise der Grün-der, Ömer Engin Lütem, zugleich auch der erste Leiter der nachrichten-dienstlichen Sondereinheit. Amtierende und ehemalige Diplomaten, die während ihres Einsatzes im Ausland mit internationalen Anerkennungs-initiativen konfrontiert und in der Hochphase des militanten Erinne-rungskampfes der Armenier tätig waren, zählen zum Kernpersonal des Instituts. Insbesondere mit dem staatlichen Hochschulrat findet eine en-ge Zusammenarbeit statt, bei der der Hochschulrat geeignetes wissen-schaftliches Personal für einen Gastaufenthalt am Institut frei stellt. Da-rüber hinaus bestehen enge Kontakte zwischen dem Institut und dem türkischen Geheimdienst, dem Außenministerium und dem Nationalen Sicherheitsrat.

Ziel des Institutes ist laut seinem Gründer die systematische und ef-fektive Koordination, Aufbereitung und Veröffentlichung von Quellen und Materialien, die in türkischer Sprache vorliegen würden, aber auf-grund von Ressourcenknappheit oder fehlenden Sprachkenntnissen we-der dem breiten türkischen Publikum noch dem externen Fachpublikum zugänglich seien.160 Lütem suchte daher zunächst nach öffentlichen und privaten Sponsoren, die die Veröffentlichung von wichtigen Quellen, die im Kern die türkische Sicht der geschichtlichen Abläufe bestätigen, fi-nanziell unterstützen. Die Veranstaltung von internationalen wissen-schaftlichen Konferenzen oder die Finanzierung der Teilnahme an sol-chen zählten ebenso zu den Prioritäten des Instituts. In der ersten Etappe wurde die Zeitschrift »Armenische Studien« (Ermeni Araştırmaları) he-rausgegeben, die unter dem Titel »Review of Armenian Studies« auch in englischer Sprache erschien. Das Institut verfügt über einen aufwendi-gen Internetauftritt, in dem aktuelle Informationen zu wissenschaftlichen

160 Interview mit Ömer Engin Lütem am 1.3.2004.

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Aufsätzen, Medienberichten und anderen relevanten Materialien zur Armenierfrage zu finden sind.161

Türkische Migranten in der Abwehrpolitik des Staates Eine weitere Säule der staatlichen Abwehrpolitik bilden die türkischen Immigranten in den USA und Europa, die eng mit den Konsulaten ihres Herkunftslandes zusammenarbeiten. Die aktive Rolle türkischer Ein-wanderer bei dem Deutungskonflikt über die Geschichte von 1915 zeig-te sich zunächst in den USA, wo die armenischen Interessengruppen die Armenische Frage zwar wie bereits ausgeführt auf die politische Agenda des Kongresses bringen konnten, aber mit Gegenkampagnen der tür-kisch-amerikanischen Organisation ATAA konfrontiert wurden, die die Terrorismusdimension der Armenischen Frage in den Vordergrund rück-te und wesentlich dazu beitrug, dass die Armenische Frage als ein Terro-rismusproblem wahrgenommen wurde.

Inzwischen ist die ATAA zu einer proaktiven Politik bei der Vertei-digung der türkischen staatlichen Version der Geschichte von 1915 übergegangen. Sie reagiert nicht mehr nur auf Anerkennungsinitiativen der Gegenseite, sondern arbeitet daran, selbst eine Genozidinitiative in den Kongress einzubringen, in der vom Völkermord an den Türken die Rede ist (Cumhuriyet, 19.9.2005; Wall Street Journal, 27.10.2005). Ein weiteres Beispiel für die proaktive Abwehrpolitik der ATAA ist die Ein-reichung einer Klage gegen das Bildungsministerium des Bundesstaates Massachusetts. Die ATAA kritisiert, dass Massachusetts eine »einseitige Darstellung der Geschichte von 1915« fördern und dabei gegen die Mei-nungsfreiheit verstoßen und andere Meinungen zensieren würde.162 Die ATAA setzt sich dafür ein, dass »History should be left to the historians, not the politicians« (Jewish Advocate, 31.1.2006) und knüpft auch hier an die türkische Vergangenheitspolitik an, die den Topos »Sache der Historiker« vorbringt, wenn es Anerkennungsdebatten gibt.

Auch in Europa spielen türkische Migrantenorganisationen eine zu-nehmend aktive Rolle bei der Verteidigung der staatlichen türkischen Version der Geschichte von 1915. Dabei zeichnet sich eine enge Zu-sammenarbeit zwischen dem bereits oben vorgestellten Team professio-neller Abwehrakteure, den türkischen Konsulaten in Europa und den Migrantenverbänden ab. Die Außenvertretungen der Türkei nehmen die Funktion einer Anlauf- und Koordinationsstelle wahr, wenn es um die Rekrutierung von geeigneten Referenten für Veranstaltungen, Sympo- 161 Siehe www.eraren.org/index.php?Lisan=tr&Page=Sayfa&No=1. Stand 10.4.2008. 162 www.ataa.org/press/prl_1024109.html. Stand 15.11.2009

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sien oder Vorträgen bezüglich der Armenierfrage geht.163 Auch werden die türkischen Verbände mit Informationsmaterialien versorgt, die die staatlichen Thesen der Türkei in der Armenierfrage unterstützen.

In Deutschland avancierte der Autor des Buches »Die andere Seite der Medallie«, Ali Söylemezoğlu, zu einem aktiven Streiter für die tür-kische Vergangenheitspolitk. Was Konferenzen türkischer Verbände in Deutschland zu der Armenierfrage betrifft, ist er im Dauereinsatz. In Stuttgart trat er mehrmals auf Einladung der European Academic Tur-kish Association (EATA), einem europaweiten Verbund türkischer Aka-demiker, auf.164 Die EATA hatte sich im Vorfeld der Armenierresolu-tion von 2005 des Deutschen Bundestags und im Branderburger Schul-buchskandal mehrfach eingeschaltet.165 Im Fall von Brandenburg warnte der Vorsitzende des Verbandes davor, dass die Aufnahme des Arme-niermords in den Lehrplan des Landes Brandenburg, den Holocaust rela-tiveren würde und rief dazu auf, den »Schülern in Brandenburg histo-risch unumstrittenes Wissen zu vermitteln.«166

Ein Vorfall, der sich an der Universität Konstanz im Zusammenhang mit der vorliegenden Studie abspielte, macht die skizzierte Kooperation zwischen türkischen staatlichen Institutionen, professionellen Abwehr-akteuren sowie den türkischen Migrantenorganisationen beispielhaft deutlich und soll aus diesem Grund hier erwähnt werden, auch wenn er nicht in den eigentlichen Untersuchungszeitraum fällt.

Die Autorin suchte im Sommer 2005 nach einer wissenschaftlichen Hilfskraft, die Türkisch beherrschen musste, und bat die türkische Stu-dentenorganisation der Universität Konstanz »Türkische Studenten Kon-stanz e.V.« (TSK) um die Verbreitung einer Stellenausschreibung über den Email-Verteiler des Vereins. Der TSK-Vorstand lehnte die Anfrage mit der Begründung ab, dass »ein Genozid wissenschaftlich nicht bewie-sen wurde.«167 Auf die Nachfrage der Autorin, was dieser Einwand mit

163 www.eata.info/bawue/031_conference.html. Stand 11.4.2008. Auch auf

der von der islamischen Föderation Bremen und diversen türkischen Vereinen in Bremen organisierten Veranstaltung »Was widerfuhr den Armeniern um 1915« trat Söylemezoğlu als Hauptredner auf. Vgl. Taz.de, 2.7.2005.

164 www.eata.info/bawue/031_conference.html. Stand 11.4.2008. Söyleme-zoğlu trat beispielsweise auch auf der von der türkischen Moschee, der islamische Föderation Bremen und diverse türkischen Vereinen in Bre-men organisierten Veranstaltung »Was widerfuhr den Armeniern um 1915« als Hauptredner auf. Vgl. Taz.de, 2.7.2005.

165 Vgl. www.eata.info/bawue/026_ermeni.html. Stand 10.4.2008. 166 Brief des EATA Vorsitzenden Aslan an Ministerpräsident Matthias

Platzeck siehe www.eata.info/bawue/media/ermeni/Platzeck050214.pdf. Stand 11.04.2008.

167 Mail vom Vorstand der TSK an Onur Pehlivanlı vom 17.5.2005.

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der laufenden Suche nach einer türkisch-sprechenden wissenschaftlichen Hilfskraft zu tun habe,168 warf die TSK-Vorsitzende der Autorin mit scharfen Worten vor, dass die gesuchte »wissenschaftliche Hilfskraft [ihrem] eigensinnigen Bemühen der historischen Verklärung des inter-ethnischen Bürgerkriegs dienlich sein« solle. Dies würde der TSK-Vorstand aber »aus ethisch-moralischen Gründen als verwerflich« emp-finden. Anschließend hieß es: »Nach unserem Genozidverständnis, wo-nach die eine Seite eindeutig die tötende und die andere Nation die um-gebrachte Nation ist, gab es kein Völkermord an Armeniern, was Sie aber krampfhaft zu beweisen suchen.« Ein weiterer Kritikpunkt war, dass »nur die türkischen Übergriffe auf Armenier oder damit verbunde-ne Phänomene einseitig« untersucht würden und die Autorin damit »lei-der […] selbst einen Beitrag [zur] Deutungsvorherrschaft der armenisch-westlichen Erinnerungskultur« leisten würde.169

Während dieser Emailverkehr in Gang war, beschwerte sich eine an-dere Mitarbeiterin des Projektes, die selbst Mitglied der TSK e.V. war, beim Allgemeinen Studierenden Ausschuss (AStA) der Universität, dass eine Hochschulgruppe versuchen würde, ein laufendes Forschungspro-jekt zu behindern. Da sie aber anonym bleiben wollte, bezog sich der AStA bei seiner Nachfrage bei der TSK auf den Lehrstuhlinhaber Wolf-gang Seibel.170 Am 25. Mai 2005 schrieb der AStA Folgendes an die TSK:

»Lieber tsk-Vorstand, der Lehrstuhl Seibel hat unsere Unterstützung für euch kritisch hinterfragt. Grund hierfür ist eine Äußerung eurerseits, dass der Genozid an den in der Türkei lebenden ArmenierInnen wissenschaftlich (sic!) nicht bewiesen sei. […] Wir würden gerne mit euch darüber reden, um zu erfahren, wie ihr dazu steht und was an den Vorwürfen dran ist. Es wäre schön, wenn ihr euch ein-fach melden könntet, damit wir ein Treffen ausmachen können.«171

Nach dieser Anfrage, die weder der Autorin noch dem Lehrstuhlinhaber bekannt war, erschien am 2. Juni 2005 in der Europaausgabe der türki- 168 Mail Seyhan Bayraktar an TSK vom 18.5.2005. 169 Mail von Asuman Keretli an Seyhan Bayraktar vom 22.5.2005. 170 Das Bedürfnis anonym zu bleiben, schien auf dem ersten Blick unbe-

gründet und etwas übertrieben. Doch im Laufe der weiteren Entwicklung des Vorfalls zeigte sich, dass der soziale Druck in den TSK-Kreisen tat-sächlich groß war. Der Autorin war es in den nächsten Monaten nicht möglich, einen türkischen Studenten für die Mitarbeit an dem Projekt zu gewinnen. Zwei Kandidaten sagten nach anfänglichem Interesse bei einer persönlichen Unterredung explizit mit dem Verweis auf den TSK-Vorfall und der politischen Brisanz des Forschungsprojektes ab.

171 Mail der ASTA an die TSK, 25.5.2005.

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schen Tageszeitung Zaman ein Artikel mit dem Titel »Druck auf türki-sche Studenten an einer deutschen Universität, weil sie Nein zum ›Völ-kermord‹ sagen.«172 Darin war zu lesen, dass Wolfgang Seibel als Pro-fessor der Universität Konstanz türkische Studenten unter Druck setzen würde, sich der »armenischen Genozidthese zu beugen«. Am nächsten Tag meldete die Zaman »Türkische Studierende wehren sich gegen Völ-kermorddruck.«173 Darin wurden die hiesige türkische Gesellschaft und das türkische Konsulat aufgerufen, den Konstanzer Studenten angesichts des Drucks von Seiten des »deutschen Professors« den Rücken zu stär-ken.

Der Vorfall wurde schnell in türkischen Internetforen aufgegriffen und landete auch im Emailverteiler der Dachorganisation der türkischen Studentenvereine Deutschlands. Ali Söylemezoğlu schaltete sich in die Debatte ein. Er lobte die TSK-Studenten für ihre Haltung und legte ein-dringlich nahe, »ja keinen Millimeter gegenüber Prof. Seibel preiszuge-ben« und machte konkrete Vorschläge, wie sich der Vorstand der TSK verhalten könne. Eine Möglichkeit bestand darin, Wolfgang Seibel in einem offenen Brief zu einer Podiumsdiskussion einzuladen. Söyleme-zoğlu gab der TSK auch den genauen Wortlaut eines solchen offenen Briefes vor.174

Im weiteren Verlauf des Vorfalls zeigte sich, dass das Verhalten der TSK-Vorsitzenden tatsächlich mit den Vorschlägen übereinstimmte. Denn bei einer Aussprache zwischen allen Beteiligten, d.h. also dem in der Zaman der Ausübung des Drucks beschuldigten Wolfgang Seibel, der Autorin, der studentischen Hilfskraft, die sich bei dem AStA be-schwert hatte, Vertretern des AStA und den Vorstandsmitgliedern der TSK, am 8. Juni 2005 wiesen die TSK Vertreter nicht nur jegliche Ver-antwortung für die Artikel in der Zaman strikt von sich, sondern rückten tatsächlich keinen Millimeter von ihrer unnachgiebigen Haltung ab – und das, obwohl auf der Sitzung klar gestellt wurde, dass sich nicht der Lehrstuhlinhaber in seiner Funktion als Professor beim AStA »be-schwert« hatte.175 Am Ende der Unterredung gingen die TSK-Beteilig-ten aber zu einer deutlich kooperativeren Haltung über, indem sie Wolf-

172 Zaman, 2.6.2005. 173 Zaman, 3.6.2005. 174 Mail von Ali Söylemezoğlu in dem Verteiler der BTS datiert zwischen

3. und 7. Juni 2005. 175 Um den Eindruck einer ex post Interpretation zu vermeiden: die Auffäli-

keit der Unnachgiebigkeit haben die von Lehrstuhlseite beteiligten Per-sonen just nach der Unterredung am 8. Juni 2005 festgehalten. Die bun-desweite interne Emailkorrespondenz, in der Ali Söylemezoğlu, die TSK aufforderte, »keinen Millimeter« preiszugeben, hat die Autorin im Laufe weiterer Recherchen später ausfindig gemacht.

POLITIK UND ERINNERUNG

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gang Seibel zu einer Podiumsdiskussion mit Ali Söylemezoğlu einluden und ihm zum Abschied dessen Buch »Die andere Seite der Medaille« schenkten.

Diskursive Reakt ionen auf die Pol i t is ierung der Vergangenheit

Auf die Politisierung der Armenierfrage im Laufe der 1980er Jahre re-agierte der türkische Staat mit den oben beschriebenen vergangenheits-politischen Maßnahmen. Wie aber wurde mit dem weltweiten Interesse und dem steigenden außenpolitischen Druck auf die Türkei aufgrund ihrer Geschichte von 1915 im öffentlichen Diskurs umgegangen? Im restlichen Teil des Kapitels wird dieser Frage am Beispiel der diskursi-ven Reaktionen auf die Völkermordresolution des Europäischen Parla-ments von 1987 nachgegangen.

Die Resolution löste zunächst eine Welle der Kritik über alle politi-schen und gesellschaftlichen Lager hinaus aus. Die politischen, militäri-schen und zivilgesellschaftlichen Diskursteilnehmer verurteilten die Ent-scheidung einstimmig. Die Empörung bezog sich dabei nicht nur darauf, dass eine internationale Institution vom Rang des Europäischen Parla-ments die Ereignisse von 1915 offiziell als Völkermord dokumentiert hatte. Die Hinzuziehung »irrelevanter Klauseln«, wie der Abteilungslei-ter des Auswärtigen Amtes Nuzhet Kandemir die Aufnahme weiterer politischer Probleme wie der Kurdenfrage in die Resolution ausdrückte, stieß ebenso auf strickte Ablehnung (Cumhuriyet, 24.6.1987).

Das Zustandekommen der Resolution mit den Stimmen griechischer Abgeordneter, die unabhängig von ihrer Fraktionszugehörigkeit für die Resolution gestimmt hatten, bescheinigte dabei nicht nur in der türki-schen Wahrnehmung die »anti-türkische« Motivation der Entscheidung als den Willen einer späten moralischen Genugtuung für die armeni-schen Überlebenden und die Opfer. In der Süddeutschen Zeitung war von einem »gelungenen Coup einer Minderheit« die Rede (SZ, 5.7. 1987).

Wenige Tage nach der Völkermordresolution des Europäischen Par-laments ereignete sich ein Vorfall, der die türkischen Reaktionen auf die Resolution zusätzlich anheizte. Am 22. Juni 1987 kam es zu einem Mas-saker in dem ostanatolischen Dorf Pınarcık durch kurdische Rebellen. Unter den 30 Toten befanden sich 16 Kinder und acht Frauen. Bereits unmittelbar nach der Resolution, also noch vor diesem erschütternden Vorfall, war die Entscheidung des Parlaments in dem Terrorrahmen dis-

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kutiert worden. Das Massaker in Pınarcık gab dem Terrorismusrahmen zusätzliche Legitimation.

»Europäischer Verrat« Die Völkermordresolution des Europäischen Parlaments bewertete die türkische Öffentlichkeit in erster Linie als Verrat durch die eigenen Freunde. Die Cumhuriyet und Hürriyet stellten die Entscheidung als »Harte Entscheidung« und »europäischen Verrat« dar.176 In der Milli Gazete wurde der Verrat Europas besonders drastisch ausgedrückt: Die Zeitung titelte sinngemäß, dass sich Europa nur so sehr als Freund eig-nen würde wie sich Schweinsleder als Wärmeschutz anbiete.177

Die politischen Reaktionen fielen ähnlich aus: Die Regierung sprach von einer »rassistischen und parteiischen« Entscheidung und erklärte, das Europäische Parlament habe sich zu einem »Gericht für historische Fragen« gemacht. Durch die einseitige Parteinahme seien schließlich die unversöhnlichen, rach- und vergeltungssüchtigen Kräfte unterstützt worden (Cumhuriyet, 19.06.1987). Das Außenministerium versuchte die die Bedeutung der Entscheidung zu relativieren, indem die politische Motivation hinter der Entscheidung herausgestellt und betont wurde, dass die Resolution mit keinerlei materiellen Konsequenzen verbunden sei (Hürriyet 19.6.1987). Das türkische Parlament warnte, dass die euro-päischen Abgeordneten jegliche Folgen der Entscheidung verantworten müssten, womit in erster Linie das Wiederaufflammen terroristischer Aktivitäten gemeint war (Cumhuriyet, 20.06.1987; Hürriyet, 20.06. 1987). Auch bei den gesellschaftlichen Eliten dominierte die Vorstel-lung des »Verrats durch die eigenen Freunde«.178

176 »Ağır Karar«, Cumhuriyet, 19.06.1987; »Avrupalı Ihaneti«, Hürriyet,

19.06.1987. Auch die Milliyet titelte am 19.06.1987 ähnlich der Hürriyet »Verrat Europas an der Türkei«.

177 »Domuz Derisinden Post, Avrupa’dan Dost Olmaz«, Milli Gazete, 24.6. 1987. Berücksichtigt man, dass das Schwein in der islamischen Tradi-tion als besonders unreines Tier gilt, mit dem man nicht in Berührung kommen möchte, so wird die stark abwertende Dimension der Kritik der Zeitung umso deutlicher. Die islamistische Tercüman machte mit der Schlagzeile auf: »Sie haben sich dem armenischem Terror ergeben und haben die Resolution angenommen« und »Europa wurde armenisch«.

178 Vgl. Ilhan Selçuk, »Anlamı«, Cumhuriyet, 22.6.1987; Ömer Vehbi Hati-poğlu, »Döktükleri Kanda Boğulacaklar«, Milli Gazete, 24.6.1987; Ilhan Selçuk, »Beyler! Fesleri Atalım, Kalpakları takalım«, 30.6.1987; Sami Kohen, »Kimden Yanasınız«, Milliyet, 25.6.1987. Bereits im April 1987 hatte der renommierte Cumhuriyet Redakteur Uğur Mumcu die politi-schen Debatten in den USA, den 24. April zum Gedenktag an das Un-recht an den Armeniern zu machen, als Verrat der wichtigsten Verbün-

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Am entschiedensten wurde der Deutungsrahmen des »Verrats der europäischen Freunde« aber von Staatspräsident Kenan Evren vorge-bracht. Einen Tag nach der Resolution des Europäischen Parlaments fragte er vorwurfsvoll: »Was ist das für eine Freundschaft, was ist das für ein Bündnis?« Die Entscheidung kam für ihn einer tiefen Verletzung der türkischen Nation gleich. Diese Verletzung fiel laut Evren umso schwerer ins Gewicht, nachdem die Türkei zur Demokratie zurückge-kehrt und kein Militärregime mehr war.179 Die zentralen Inhalte dieser Rede werden in allen herangezogenen Zeitungen übereinstimmend wie-dergegeben. Die Zeitungen unterscheiden sich lediglich in den Aufhän-gern, mit denen sie die Reaktion des Staatspräsidenten einleiten. Wäh-rend die Cumhuriyet die Rede unter einem vergleichsweise inhaltsorien-tiertem Titel »Heftige Reaktion« wiedergibt, fügte die Hürriyet der Rede des Präsidenten die Unterüberschrift hinzu »Zum Teufel mit solch einem Europa«. Die Milli Gazete titelte am 22. Juni 1987 »Staatspräsident lässt Wut gegen Europa freien Lauf.«

Evren, der die Resolution des Europäischen Parlaments in mehreren öffentlichen Reden aufgriff, dominierte im Erinnerungsdiskurs von 1987. Der Staatspräsident und Juntachef der Militärintervention von 12. September 1980 setzte auch die zentralen Rahmen für den Diskurs in Bezug auf die Armenierfrage.180 In allen herangezogenen Presseorganen nimmt Evrens Reaktion eine prominente und herausgehobene Stellung ein. Seinen Worten räumen die Zeitungen im Vergleich zu den übrigen politischen Akteuren den größten Raum ein. In seinen Stellungnahmen zur Völkermordresolution griff er ganz unterschiedliche Topoi wie »europäischer Verrat«, »wir sind Teil Europas«, »wir sind Moslems, sie sind Christen«, »unsere Verbündeten bedrohen unsere territoriale Inte-grität« gleichzeitig auf.

Evren richtete sich vor allem an das innenpolitische Publikum und er schlug einen dezidiert scharfen Ton an. Er beschwor den Zusammenhalt

deten der Türkei gerahmt. Vgl. Uğur Mumcu, »Ermeni Tasarısı«, Cum-huriyet, 24.04.1987. In Bezug auf den Resolutionsentwurf des Europäi-schen Parlaments vom Februar 1987 wurde die Frage nach der Zuverläs-sigkeit der europäischen Freunde ebenso aufgeworfen. Vgl. Hikmet Bil, »Geçmişteki gibi gene insanlarımız öldürülüyor«, Hürriyet, 4.3.1987.

179 Vgl. »Ağır Tepki«, Cumhuriyet 20.06.1987; »Topraklarımızda hain gö-zü var«, Hürriyet, 20.06.1987; Milli Gazete, 22.06.1987.

180 Siehe »Cumhurbaskanı Avrupa’ya ateş püskürüyor«, Milli Gazete, 21.6.1987; »Evren: Saçma kararı yakında kaldırırlar«, Cumhuriyet 21.6.1987; »Evren diyor ki«, Milli Gazete, 24.06.1987; »Topraklarımız-da hain gözü var«, Hürriyet, 20.06.1987; »Evren: Bölünmeyelim«, Hür-riyet, 21.06.1987« Evren: ›Avrupa sevinsin‹, Hürriyet, 22.06.1987; »Ev-ren’in konuşması«, Hürriyet, 23.06.1987; »Evren: ›Nato, gözden geçi-rilmeli‹«, Hürriyet, 23.06.1987. »Ağır Tepki«, Cumhuriyet, 20.6.1987.

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und die Einheit des Landes angesichts äußerer Anfeindungen, wie sie in Form der europäischen Resolution zu Tage traten und die zeigten, dass die Türkei keine wahren Freunde habe. Solchen »boshaften Unterstel-lungen« konnte nach Evren nur mit bedingungslosem und« festem na-tionalen Zusammenhalt entgegengetreten werden. 181 Denn fehlender Zusammenhalt und der Verlust an nationaler Einheit waren bereits dem Osmanischen Reich zum Verhängnis geworden. Nach Evren waren »Na-tionen, die ihre nationale Identität nicht finden, […] anderen Nationen zum Fraß ausgesetzt.« (Hürriyet 21.6.1987)

Neben der unmittelbaren Rahmung der Resolution des Europäischen Parlaments als Verrat trat die Sorge zu Tage, dass die Entscheidung einen Präzedenzfall darstellen und zu weiteren Anerkennungen führen konnte. In den Beiträgen der Regierung, des Staatspräsidenten und Ver-tretern der politischen Parteien kamen diese Bedenken deutlich zum Ausdruck. Es wurde befürchtet, dass die armenische Diaspora sich er-mutigt durch diesen Erfolg systematisch für weitere Anerkennungen einsetzen würde. Im Speziellen bezog sich die befürchtete Ausbrei-tungsgefahr auf die bevorstehende Entscheidung im amerikanischen Kongress, dem ein Gesetzesentwurf vorlag, den 24. April zum Gedenk-tag »Man’s inhumanity against man« zu machen. Danach schien es nur noch ein kurzer Weg zu sein, bis das Armenierproblem vor die Verein-ten Nationen gebracht würde.182

Die Berichterstattung der Hürriyet und der Cumhuriyet über die Völkermordanerkennung konzentrierte sich unter anderem auf das Ab-stimmungsverhalten der Fraktionen des Europäischen Parlaments. Die Entscheidung war mit den Stimmen der Sozialisten, der Kommunisten, der Grünen sowie der Stimmen von griechischen Abgeordneten unab-hängig von deren Fraktionszugehörigkeit zustande gekommen. Die Ent-haltung von Liberalen und Christdemokraten, die als vergleichsweise »pro-türkisch« galten, hatte den entscheidenden Ausschlag für die An-nahme der Resolution gegeben.

Was die Haltung der griechischen Abgeordneten betrifft, so fällt auf, dass die Berichterstattung ihre zentrale Rolle in der Entscheidung deut-lich macht. Der Brüsselkorrespondent der Hürriyet berichtete, dass 42 der insgesamt 72 Änderungsanträge im Plenum auf die griechischen Abgeordneten des Parlaments zurückgingen.183 Der Korrespondent der Cumhuriyet unterstrich ebenfalls die entscheidende Bedeutung der grie-

181 »Cumhurbaskanı Avrupa’ya ateş püskürüyor,« Milli Gazete, 21.06.1987. 182 Vgl. u.a. »Ağır Karar«, Cumhuriyet, 19.06.1987; »Avrupalı Ihaneti«,

Hürriyet, 19.06.1987; »Bundan sonra ne olacak?«, Cumhuriyet, 20.06. 1987; Metin Toker »Neye pek yazık olmuş?«, Milliyet, 1.3.1987.

183 Vgl. »Avrupalı Ihaneti«, Hürriyet, 19.06.1987.

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chischen Abgeordneten. Diese Beobachter betteten die Rolle einer ge-wissermaßen naturgemäß anti-türkisch eingestellten Gruppe aber in den Kontext des Gesamtverfahrens und der Haltung aller beteiligten europäi-schen Abgeordneten ein, so dass die griechischen Abgeordneten nicht als alleinige »Sündenböcke« da standen.

Während die Berichterstattung in der Hürriyet und Cumhuriyet kaum dezidiert anti-griechische Züge aufweist, stellt sich dies in der Milli Gazete anders dar. Hier kommt der Führer der zyprischen Türken, Rauf Denktaş, zu Wort, der die europäischen Abgeordneten beschuldigt, sich für den Imperialismus instrumentalisieren zu lassen.184 Denktaş kri-tisiert, dass die Entscheidung des Parlaments eine Lösung des Zypern-konflikts nicht erleichtern, sondern erschweren werde. Nach dieser Ein-schätzung handelte es sich bei der Entscheidung des Europäischen Par-laments um die Machenschaften von Türkei-feindlichen Griechen (Milli Gazete, 21.06.1987).

Die Entscheidung des Parlaments wurde als historische Entschei-dung (tarihi karar) wahrgenommen. Im Vorfeld war die Bedeutung der Entscheidung als »existentiell« für die türkische Außenpolitik bewertet worden. Als sich das Europäische Parlament schließlich für die An-erkennung des Völkermords entschied, war entsprechend von einem »niederschmetternden Schlag« für die Türkei zu lesen. Dabei fällt auf, dass Hadi Uluengin, der inzwischen eine Kolumne in der Hürriyet hat, in der Cumhuriyet immer wieder explizit von der »offiziellen türkischen These« spricht.185 Das ist insofern auffällig, als in keinem anderen Be-richt oder Kommentar von der »offiziellen« türkischen Version gespro-chen wird. Darüber hinaus lässt diese Beschreibung den Umkehrschluss zu, dass es neben der staatlichen türkischen Version der Geschichte eben auch andere Versionen der Geschichte von 1915 gibt.

Entscheidung nach Innen relativieren

Die emotionalen Reaktionen der ersten Tage gingen in einen Diskurs über, an dem sich Akteure aus unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Lagern beteiligten und sich dabei an unterschiedliche Adres-saten richteten. Hierbei zeichnete sich zum einen ein Diskurs mit Blick auf das innenpolitische Publikum ab und zum anderen ein Diskurs, der seinen Blick auf eine außenpolitische Öffentlichkeit richtete.

184 Vgl. »Denktaş: ›Avrupalı Parlamenterler emperyalizme alet oluyor‹«,

Milli Gazete, 21.06.1987. 185 Vgl. »Ermeni Raporu için kaygılı bekleyiş«, Cumhuriyet, 16.6.1987;

»Ağır karar«, Cumhuriyet, 19.6.1987.

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Gegenüber den innenpolitischen Adressaten spielte die politische Führungsriege die Bedeutung der Entscheidung zunächst herunter. Sie wurde als bedeutungslos präsentiert, da sie jeglicher (juristischer) Kon-sequenz entbehrte. Demnach hatte sich im Grunde nichts geändert. Der Staatspräsident sprach von einer »unsinnigen« Entscheidung, die »si-cherlich zurückgezogen« würde (Cumhuriyet 21.06.1987). Ministerprä-sident Özal relativierte die Bedeutung der Entscheidung, indem er sie als »Minderheitenmeinung« und Ergebnis »linker Zusammenarbeit« dar-stellte. Mit dem ersten Topos hob Özal darauf ab, dass die Entscheidung des Parlaments knapp ausgefallen war. Der zweite Topos der »linken Zusammenarbeit« diente dazu, das Ansehen der beteiligten Abgeordne-ten in Misskredit zu bringen und sie als eine marginale Gruppe zu prä-sentieren. Nach Özal wurde diese Gruppe selbst in ihren eigenen Län-dern nicht Ernst genommen. Özal hatte bereits zuvor versucht die Träger der Entscheidung zu diskreditieren, indem er unterstellt hatte, dass sie offensichtlich der »armenischen Militanz« ausgeliefert waren (Cumhuri-yet, 20.06.1987). Es handelte sich bei den Resolutionsbefürwortern also um eine Gruppe »armseliger Menschen«, die die Armenierfrage unter dem »Deckmantel der Menschenrechte« thematisiert hätten. Doch die Türkei hätte es nicht nötig, sich in Menschenrechts- oder der Demokrati-sierungsfragen belehren zu lassen. Sie hätte sich schließlich ganz allein, aus eigener Kraft und eigenem Willen zur Demokratie bekannt (Cumhu-riyet, 21.6.1987).

Die Regierungsmitglieder reihten sich in diesen Relativierungsdis-kurs ein: Der Außenminister warf ähnlich wie Özal ein, dass es sich um eine Minderheitenmeinung handeln würde und dass drei Viertel der Ab-geordneten der Abstimmung nicht beigewohnt hätten (Hürriyet, 20.6. 1987). Staatssekretär Kamran Inan bemerkte, dass die Entscheidung kei-nerlei Bedeutung und Gewicht habe. Sie würden über die Entscheidung »nur lachen« (Milli Gazete, 22.6.1987).

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Warnung nach Außen – Türkei garantiert die Sicherheit Europas

Im Gegensatz zu der öffentlichen Beschwichtigungsrhetorik der Regie-rung zeigten die Aktivitäten des Auswärtigen Amtes, dass man die Lage durchaus ernst nahm. Die Gegenstrategie, die westlichen Partner auf die Bedeutung solcher Anerkennungen für die Beziehungen zwischen den betreffenden Staaten und der Türkei hinzuweisen, konzentrierte sich im Kern auf die Botschaft, dass die Türkei eine Schlüsselrolle in der Si-cherheit Europas spielte. Die Botschaft der türkischen Regierung an die außenpolitischen Verbündeten war also: »Was würden sie machen, wenn wir unseren NATO-Verpflichtungen nicht mehr nachkommen würden?« (Cumhuriyet, 21.6.1987)

Mit dieser Strategie wandte sich die Türkei an die Regierungen der Mitgliedstaaten der EG. Die Grundlage der Abwehrpolitik war, dass zwischen dem Europäischen Parlament als einer Art Beratungsgremium und dem Europäischen Rat als die eigentlich entscheidungsmächtige Institution der EG unterschieden wurde. Zwar wurde die Entscheidung des Europäischen Parlaments nicht als völlig unbedeutend erachtete, weil sie eine gewisse Initial- und Signalwirkung besaß. Doch letztlich war sie mit keinerlei konkreten juristischen oder politischen Konsequen-zen verbunden, sondern lediglich als Ratschlag für die Entscheidungs-findung im Rat zu verstehen.

So konzentrierte sich die türkische Regierung auf die einzelnen Mit-gliedsstaaten und deren Regierungen. Ministerpräsident Özal bemerkte in einem Fernsehinterview, das er dem deutschen Fernsehsender ARD gab, dass es zunächst nicht von großer Bedeutung sei, dass das Europäi-sche Parlament diese Entscheidung getroffen hätte. Ausschlaggebend seien vielmehr die Länder, die in diesem Parlament repräsentiert wür-den. Wenn sich die nationalen Parlamente und Regierungen diese Ent-scheidung zu Eigen machen würden, würde das eine Ernst zu nehmende Krise in den jeweiligen bilateralen Beziehungen hervorrufen (Hürriyet 26.6.1987).

Türkische Beobachter bescheinigten dieser Strategie der Konzentra-tion auf die nationalen Parlamente und Regierungen insofern Erfolg, als bis dahin tatsächlich keine Regierung im westlichen Staatenbündnis den Völkermord anerkannt hatte.186 Als das Auswärtige Amt in Reaktion auf die Entscheidung die Diplomaten der europäischen Staaten einbestellte und die Einzelmitglieder dazu aufforderte, sich von der Völkermordent-

186 Vgl. Mehmet Ali Birand, »Bundan sonra ne yapmak gerek?« Milliyet,

30.6.1987.

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scheidung zu distanzieren, betonten auch die europäischen Diplomaten die beratende Funktion des Europäischen Parlaments. Der Türkei wurde versichert, dass der Ministerrat der Entscheidung vom 18. Juni nicht fol-gen würde, und man versuchte auf diese Weise, die Türkei milde zu stimmen (SZ, 5.7.1987). Orientierungslosigkeit – Wohin gehören wir?

Außenpolitische Unfähigkeit der Regierung

Die Relativierungsrhetorik der Regierung stieß aber auf erhebliche Kri-tik in der türkischen Öffentlichkeit. Die Opposition, die unter Politik-verbot stehenden politischen Parteiführer und zivilgesellschaftliche Ak-teure kritisierten, dass Özal die Tragweite des Entschlusses wohl nicht verstanden habe.187 Der Regierung wurde dabei nicht nur vorgeworfen, angesichts der Entscheidung des Europäischen Parlaments versagt zu haben. Vielmehr wurde die Völkermordresolution als Anlass genom-men, grundsätzlich das Demokratiedefizit, die anhaltenden Menschen-rechtsverletzungen, die außenpolitische Annäherung zum Osten und wirtschaftspolitische Entscheidungen zu kritisieren.

Einen Tag nach der Völkermordresolution des Europäischen Parla-ments kam es zu einem Eklat im türkischen Parlament. Die Vertreter der Opposition verließen den Saal, nachdem sie Staatssekretär Kamran Inan vorgeworfen hatten, die politische Verantwortung für den Entschluss des Europäischen Parlaments zu tragen. Die Regierung rief angesichts der Infragestellung von Außen jedoch zum Zusammenhalt in nationalen Fragen auf. Das Parlament einigte sich schließlich doch auf eine ge-meinsame Erklärung, in der die Entscheidung als Wiederaufflammen der »Kreuzfahrermentalität« bezeichnet wurde, die die Beziehungen zwi-schen der EG und der Türkei auf die Probe stellte. Betont wurde zudem, dass das Europäische Parlament mit seiner Entscheidung dem armeni-schen und internationalen Terrorismus in die Hände gespielt hätte (Cum-huriyet, 20.6.1987).

Die öffentliche Kritik an der Regierung, nicht rechtzeitig und effek-tiv etwas unternommen zu haben, unterscheidet die politische Reaktion auf das Aufflammen der Armenierfrage Ende der 1980er von den Reak-tionen auf die terroristischen Attacken der 1970er Jahre. Der Politprofi Süleyman Demirel kritisierte die Regierung dafür, dass sie die Rechte der Türkei nicht verteidigt hätte. Der Vorsitzende der konservativen Mit- 187 Vgl. Aydın Güngör Alacakaptan, »Ermeni Saldırısı karşısında ne yaptık,

ne yapıyoruz?« Cumhuriyet, 1.7.1987; Ilhami Soysal, »Serinkanlılıkla«, Milliyet, 24.6.1987. Ilhan Selçuk, »Anlamı«, Cumhuriyet, 23.6.1987.

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te-Rechts Partei DYP, Hüsamettin Cindoruk sprach von Führungs-schwäche und fehlender Demokratie als den ausschlaggebenden Fakto-ren für die Entscheidung des Europäischen Parlaments. Nach dem Vor-sitzenden der linken DSP, Bülent Ecevit, spiegelte die Entscheidung den innen- und außenpolitischen Bankrott der Regierung wider. Aus den Reihen der Islamisten klang es nicht anders: Hier wurde kritisiert, dass die Regierung Özal nicht fähig war, eine »ehrenhafte Außenpolitik« zu betreiben, und die Regierung zum Rücktritt aufgefordert (Milli Gazete, 22.6.1987).

Im Laufe der Auseinandersetzung entwickelte sich die Kritik an der Regierung aber zu einer umfassenden Selbstkritik, die die Entscheidung auf fehlendes oder ungenügendes politisches und gesellschaftliches En-gagement zurückführte. Die türkischen Mitglieder des Joint Parliamenta-ry Committees stellten fest, dass angefangen vom Militärregime und den Hinterlassenschaften des 12. September bis zum Bürger auf der Straße alle Türken eine Verantwortung für die gegen die Türkei gerichtete Ent-scheidung trugen (Hürriyet 21.06.1987). Einflussreiche Meinungs-macher wie Oktay Ekşi, Mehmet Ali Birand oder Hasan Cemal klagten über zu wenig systematisches Engagement und zu viel emotionale Aus-brüche.188 Oktay Ekşi empfahl ironisch, dass sich die türkische Seite »auf keinen Fall fragen« sollte, was sie gemacht habe, um den Ent-schluss zu verhindern. Andernfalls würde sie deprimiert sein. Birand gab zu Bedenken, dass jedes als »anti-türkisch« wahrgenommene Ereignis in der Türkei stets auf Europa geschoben würde, statt sich selbst »an der Nase zu fassen«.

Re-Islamisierung – gen Osten statt gen Westen Unter dem Militärregime in den 1980er Jahren wurde eine Entpolitisie-rungspolitik in der Türkei eingeleitet, deren wichtigste Komponente die Rückbesinnung auf den Islam als integrative Kraft war. In diesem Kon-text begann die Türkei, ihre Beziehungen zu den islamischen Nachbar-staaten zu stärken und auszubauen. Diese Neuausrichtung der türkischen Außenpolitik führte zu Unsicherheit bei den laizistisch-kemalistischen Eliten. Wenige Wochen vor der Entscheidung des Europäischen Parla-ments war es während des Türkei-Besuchs des iranischen Präsidenten Musawi zu einem Eklat gekommen (FAZ 19.6.1987). Dieser hatte den obligatorischen Besuch am Atatürk Mausoleum verweigert, dafür aber

188 Vgl. Hasan Cemal, »Lütfen«, Cumhuriyet, 20.06.1987; Mehmet Ali Bi-

rand, »Bundan sonra ne yapmak gerek«, Milliyet, 30.6.1987; Oktay Ek-şi, »Kızmak önemli, sebep değil«, 20.06.1987; Uğur Mumcu, »Yeşil Işık«, Cumhuriyet, 20.06.1987.

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die Stadt Konya, die die Heimstätte eines der bedeutendsten islamischen Mystikers Celalettin Rumi ist, besucht. Die Stadt gilt als konservativ-islamische Hochburg.

Vor diesem Hintergrund spielte der Re-Islamisierungsaspekt eine wichtige Rolle in der Debatte über die Völkermordanerkennung von 1987. Die kemalistischen Eliten, sowohl linksorientierte als auch natio-nalistisch-konservative Kreise, kritisierten dabei den neuen Fokus der türkischen Außenpolitik. In diesem Diskurs wurde sowohl die Unsicher-heit über die grundsätzliche außenpolitische Orientierung der Türkei deutlich, als auch die Bedenken, wie diese Neuausrichtung bei den euro-päischen Partnern ankam.

In der Hürriyet stellte Oktay Ekşi die Ausrichtung der türkischen Außenpolitik gen Osten massiv in Frage. Für ihn war der enorme Pres-tigeverlust der Türkei aufgrund der Junta und der »Arabisierung« der türkischen politischen Führung der eigentliche Grund für die Entschei-dung des Europäischen Parlaments. Die Türkei hatte sich zu sehr von der westlichen Kultur entfernt.189 Es war kein Zufall, dass die Türkei gerade jetzt, wo sie gen Osten tendierte, mit einer solchen Entscheidung konfrontiert wurde. Eine Türkei, die immer mehr einem Ägypten glich, verprellte einem Diplomaten zufolge die europäischen Freunde.190

Die Geschichte des nationalen Unabhängigkeitskrieges, in dem die Türkei von »allen Seiten« umzingelt war und zu zerfallen drohte, wie-derholte sich in der Gegenwart, warnte Ilhan Selçuk in der Cumhuriyet. In so einem kritischen Zustand wie heute hatte sich die Türkei nach Sel-çuk seit der existentiellen Bedrohung nach dem Ersten Weltkrieg nicht befunden. Während die äußeren Kräfte die territoriale Integrität der Tür-kei gefährdeten, drohte im Innern die reaktionäre Rückständigkeit auf-grund der Islamisierung und der »Rückkehr zu Schleier und Turban«.191

Der Topos der Islamisierung findet sich in der Milli Gazete in ande-rer Form wieder als in der Hürriyet und der Cumhuriyet. Hier ist es ge-rade die fehlende Besinnung auf die eigenen nationalen und religiösen Werte, die zu der anti-türkischen Entscheidung des Europäischen Parla-ments geführt haben. Die Kandidatur der Türkei für eine Mitgliedschaft in der EG stellt sich in der Milli Gazete als eine von der politischen Füh-rung vorgesetzte Entscheidung dar, die von der Mehrheit der Nation nicht getragen wird. Die Regierung traue sich auch nicht ein Referen-dum durchzuführen, mit dem Ergebnis, dass sich Armenier, in Anatolien

189 Vgl. Oktay Ekşi, »Kızmak önemli, sebep değil«, Hürriyet, 20.06.1987. 190 Vgl. Aydın Güngör Alacakaptan, »Ermeni Saldırısı karşısında ne yaptık,

ne yapıyoruz?« Cumhuriyet, 1.7.1987. 191 Vgl. Ilhan Selçuk, »Beyler! Fesleri Atalım, Kalpakları Giyelim!« Cum-

huriyet, 30.6.1987

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ausbreiten würden so wie es die Juden in Palästina gemacht hätten.192 Dabei fordert die Zeitung in ihrem Aufhänger vom 23. Juni 1987 auf, »Lasst Europa Europa sein und kehrt zur nationalen Sicht« zurück.193 Dies war eine mehrdeutige Aufforderung. Denn die einflussreichste und mitgliederstärkste islamistische Organisation in der Türkei ist die Milli Görüş, was auch nationale Sicht bedeutet.194 Demokratie als Allheilmittel Was die Frage betrifft, wie weitere Anerkennungen der ›armenischen Thesen‹ verhindert werden konnten, traten entsprechend den politisch-ideologischen Ausrichtungen zwei Konzepte zu Tage. Die islamistischen Sprecher setzten sich mit Nachdruck für eine »ehrenhafte Außenpolitik« ein, die sie mit der Rückbesinnung auf die islamischen kulturellen Werte gleichsetzten. Eine Gegengruppe konzentrierte sich auf das Demokratie-defizit der Türkei und machte die geringen Fortschritte zur Erreichung einer vollwertigen Demokratie für die Entscheidung des Europäischen Parlaments verantwortlich.

Angesichts des Versagens der türkischen Politik bei der Verhinde-rung der Völkermordresolution wurde Rufe nach einer bedingungslosen Demokratisierung laut. Demokratie wurde als das einzige effektive Mit-tel gesehen, ähnliche anti-türkische Entscheidungen in der internationa-len Politik zu verhindern. In diesem Diskursstrang wurde die Entschei-dung des Europäischen Parlaments auf das anhaltend schlechte Ansehen der Türkei in der internationalen Gemeinschaft zurückgeführt. Hier stand es außer Zweifel, dass die Türkei in Folge des Militäreingriffs von 1980 und der anhaltenden Menschenrechtsverletzungen außenpolitisch isoliert war. Der Erfolg der »armenischen Thesen« war also das Ergeb-nis des desaströsen türkischen Images in der internationalen und euro-päischen Öffentlichkeit. Der türkischen Regierung, empfahlen die ge-

192 Vgl. »Neler Oluyor«, Milli Gazete, 23.6.1987. 193 »Avrupa’yı bırakın Milli Görüşe dönün«, Milli Gazete, 23.6.1987. 194 Die Milli Gazete stellt 1987 eine Analogie zwischen einer unterstellten

armenischen Besiedlung Ostanatoliens und der jüdischen Besiedelung im Nahen Osten her. Neben der islamistischen und nationalistischen Rhetorik fällt die Zeitung mit ihrer dezidierten und offen antisemitischen Haltung auf. Vgl. dazu Äußerungen wie »jüdische und armenische Ma-chenschaften« in »Ermeni ve Yahudi Oyunu«, Milli Gazete, 18.6.1987 oder »Wir haben uns dem Juden ergeben« in Milli Gazete, 23.6.1987. Darüber hinaus veröffentlichte die Zeitung während der Untersuchungs-periode eine tägliche Spalte unter der Überschrift »Wer hat was über die Juden gesagt? Was ist weltweiter Zionismus? Zitate berühmter Persön-lichkeiten.«

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sellschaftlichen Akteure die Etablierung eines demokratischen Systems als einzige erfolgsversprechende Möglichkeit.195

Die Lösungsformel lautete, dass die Türkei als demokratischer Staat an Ansehen in der Welt gewinnen und damit zu einem akzeptierten Partner in der westlichen Staatengemeinschaft werden würde.196 Eine auf Demokratie nach westlichem Muster basierende Gesellschaft würde nicht nur Ansehen in der Welt genießen, sondern auch mehr Macht ha-ben. Denn Ansehen kam politischer Macht gleich.197 Die Etablierung von demokratischen Verhältnissen und die Achtung der Menschenrechte waren also von »existentieller Bedeutung«, wenn es um die Frage ging, wie der Verbreitung der ›armenischen Thesen‹ effektiv entgegen zu tre-ten war.198

Machtdiskurs und Terror- und Umzingelungsszenarien

Terrorproblem

Auch im Erinnerungsdiskurs von 1987 spielte der Deutungsrahmen des Terrors eine zentrale Rolle. Die türkischen Diskursteilnehmer stellten in der einen oder anderen Form einen Zusammenhang zwischen der als pro-armenisch bzw. anti-türkisch wahrgenommenen Entscheidung des Europäischen Parlaments und dem Terrorproblem in und außerhalb der Türkei her. Dazu gehörte auch die Vorstellung, dass die Entscheidung des Europäischen Parlaments auf den Druck armenischer Terrorgruppen oder radikaler Aktivisten zurückging (Hürriyet, 21.6.1987).199 Diese Ak-teure sahen sich bestätigt, als es nach wenigen Tagen zu dem von kurdi-schen Rebellen verübten Massaker in Pınarcık kam.

Innerhalb des Deutungsrahmens Terror können in 1987 zwei Inter-pretationsweisen unterschieden werden: Die gemäßigtere Variante geht davon aus, dass die Europäer und der Westen die Dimension der Gefahr, die der Separatismuskampf der PKK für die Türkei darstellt, nicht an-gemessen wahrnahmen bzw. schlicht unterschätzten. Während die euro-päische Öffentlichkeit terroristische Anschläge in europäischen Staaten

195 Vgl. dazu den heutigen Kommentatoren der Hürriyet, Yalçın Doğan,

»Oyunun Adı Açık Poker«, Cumhuriyet, 21.6.1987. 196 Vgl. Hikmet Bil, »Şimdi ne yapacağız«, Hürriyet, 28.6.1987. 197 Vgl. Hikmet Bil, »Şimdi ne yapacağız«, Hürriyet, 28.6.1987. 198 Vgl. Hasan Cemal, »Lütfen«, Cumhuriyet, 20.06.1987. 199 Auch der Diplomat a.D., Pulat Tacar, der zur Zeit der Völkermordent-

scheidung des Europäischen Parlaments die ständige Vertretung der Türkei in Brüssel innehatte, betonte, dass die Völkermordentscheidung unter Druck des armensichen Terrorismus entstanden sei. Interview mit Tacar am 3.3.2004 in Ankara.

POLITIK UND ERINNERUNG

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wie Spanien oder Korsika aufmerksam verfolgte, gingen die Terroran-schläge der PKK in der Türkei unter.200 Die schärfere Position hingegen unterstellte den europäischen Staaten, dass sie den Terrorismus gegen die Türkei direkt und indirekt unterstützen würden.

Der Terrorrahmen wurde insbesondere von dem renommierten Cumhuriyet-Journalisten und Experten auf dem Gebiet des internationa-len Terrorismus Ugur Mumcu nachhaltig vorgetragen. Für ihn stellte die Völkermord-Entscheidung des Europäischen Parlaments einen Sieg des armenischen Terrors dar.201 Mumcu argumentierte, dass terroristische Organisationen, wie die ASALA oder die PKK, nicht unrealistische Forderungen wie die Bekämpfung des türkischen Staates auf ihrer Agenda hatten. Das eigentliche Ziel der Terrorgruppen bestand darin, mit der Durchführung spektakulärer Anschläge die internationale Auf-merksamkeit auf ihre politischen Anliegen zu richten. War dies einmal erreicht, gingen die Terrorgruppen dazu über, ihre Ziele durch die An-erkennung in politischen Gremien schrittweise zu verwirklichen. Ein Beleg für den Erfolg dieses etappenweisen Vorgehens war für Mumcu, dass die Armenische Frage vor allem in jenen Ländern Zugang in die politischen Debatten gefunden hatte, in denen die ASALA am meisten Anschläge verübt hatte, wie etwa in den USA oder Frankreich.202 Im vorliegenden Zusammenhang kam die europäische Entscheidung aus seiner Sicht aber nicht nur einem Etappensieg des armenischen Terro-rismus gleich. Vielmehr hatte das Europäische Parlament dem Terror »Grünes Licht« gegeben und ihn ex post legitimiert.

Diese Einschätzung wurde von den meisten türkischen Diskursteil-nehmern in der einen oder anderen Form geteilt. Die Regierung über-nahm dabei die Herstellung eines kausalen Zusammenhangs zwischen dem Terror in Pınarcık und der Völkermordentscheidung des Parla-ments.203 Am 23. Juni, als das Auswärtige Amt europäische Diplomaten einbestellt hatte, wurden Bilder von dem Massaker in Pınarcık gezeigt, das zwei Tage zuvor stattgefunden hatte. Auch der Abteilungsleiter des Amtes bezeichnete die Entscheidung des Europäischen Parlaments als »grünes Licht für den Terror« und forderte die Regierungen der EG-Mitgliedstaaten auf, sich offen von der Entscheidung zu distanzieren.204

200 Vgl. Mehmet Ali Birand, »Son Olayların dışarıdaki tepkileri«, Milliyet,

24.6.1987. 201 Vgl. Uğur Mumcu, »Yeşil Işık«, Cumhuriyet, 20.06.1987. 202 Uğur Mumcu, »Ermeni Tasarısı«, Cumhuriyet, 24.04.1987. 203 Vgl. »Haçlı Ittifakının kara çehresi«, Milli Gazete, 22.6.1987; »Vahşet:

16’sı çocuk 30 ölü«, Cumhuriyet, 22.6.1987; 204 Vgl. »Avrupa’ya toplu uyarı«, Cumhuriyet, 24.6.1987; »AET Büyü-

kelçilerine katliam albümü«, Hürriyet, 24.6.1987; »Canilerin arkasında Avrupa var«, Milli Gazete, 24.6.1987.

VERGANGENHEIT ALS POLITIKUM

169

Der Deutungsrahmen des Terrors wurde somit von allen als Sprecher in Erscheinung tretenden Diskursteilnehmern gestützt. Unabhängig von der politisch-ideologischen Orientierung aktualisierten Islamisten, Rechts-Konservative, linke Radikal-Laizisten, Ultranationalisten und Vertreter aus den Reihen des Militärs und der Bürokratie den Terror-rahmen und sahen in der Völkermordanerkennung des Europäischen Parlaments ein Anzeichen dafür, dass sich das Parlament dem Terror gebeugt hatte.

Unter diesen Akteuren trat der Staatschef Kenan Evren dominant in Erscheinung. Mit Blick auf das Massaker von Pınarcık sprach Evren davon, dass sich Europa freuen könne. Denn die Entscheidung des Europäischen Parlaments habe »sofort Wirkung« gezeigt und die Täter ermutigt, das Massaker in Pınarcık zu verüben. »Woher nehmen sich diese Schergen denn diesen Mut und die Ressourcen? Eben, von der Entscheidung des Europäischen Parlaments.« (Hürriyet 22.6.1987)

Diese extreme Variante des Terrorismusrahmens, der einen direkten Zusammenhang zwischen der Entscheidung und dem Massaker herstell-te, stieß jedoch auch auf Kritik. Der unterstellte unmittelbare Zusam-menhang zwischen dem Massaker und der europäischen Entscheidung war selbst für den Nationalisten Oktay Ekşi in der Hürriyet zu weit her-geholt, übertrieben und unglücklich.205 Für Ekşi war die zeitliche Abfol-ge zwischen der Entscheidung und dem Vorfall in Pınarcık ein bloßer Zufall. Auch die These, dass der armenische Terrorismus mit der Ent-scheidung wieder angefacht würde, hielt Eski nicht für ebensowenig glaubwürdig, wie Sami Kohen in der Milliyet, der betonte, dass die ASALA bereits einen Strategiewechsel von Gewalt zu Politik vollzogen habe.206

Bedrohung der territorialen Integrität und Umzingelung von Innen und Außen In seiner unmittelbaren Reaktion auf die Völkermordresolution hatte der Staatschef, wie beschrieben, die Loyalität und Zuverlässigkeit der euro-päischen Verbündeten und in Frage gestellt. Nach Evren trieb die Ent-scheidung die geheime Agenda der Armenier voran, eines Tages Gebiete von der Türkei für einen armenischen Staat einzufordern. Während das Auswärtige Amt gerade das Gegenteil herausgestellt hatte, nämlich dass die Entscheidung keinerlei Konsequenzen hätte, warnte der Staatschef

205 Vgl. Oktay Ekşi, »Söz Pınarcık’tan açılmışken«, Hürriyet, 24.6.1987. 206 Vgl. Sami Kohen, »Kimden yanasınız?« Milliyet, 25.6.1987; vgl. auch

Mehmet Ali Birand, »Son Olayların Dışarıdaki Tepkileri«, Milliyet, 24.6.1987.

POLITIK UND ERINNERUNG

170

also vor den materiellen Implikationen der Entscheidung und den »wah-ren« armenischen Absichten.207

Diese beiden konträren Haltungen, die den türkischen Staat reprä-sentieren, wurden in der öffentlichen Auseinandersetzungsarena in unterschiedlichem Maße aufgegriffen. Die Relativierungsversuche der Regierung fanden im Vergleich zu dem Bedrohungsszenario des Staats-präsidenten weniger Anklang. Das Bedrohungsszenario überschattete in qualitativer und quantitativer Hinsicht die Relativierungsrhetorik. Die Warnungen von Evren vor den Spaltungsabsichten sowohl der eigenen Verbündeten als auch armenischer und kurdischer Separatisten wurden wiederholt in den Zeitungen aufgegriffen. Zudem aktualisierte Evren das Bedrohungsszenario bei seinen öffentlichen Auftritten.208

Die zivilgesellschaftlichen Diskursträger führten die Ursachen für die Internationalisierung der Armenischen Frage im 1987er Diskurs auf die außenpolitische Schwäche der Türkei zurück.209 Dabei wurde ein Umzingelungsszenario konstruiert, das sich sowohl im Innern als auch von Außen abzeichnete. Exemplarische Beispiele dafür sind zwei sym-bolträchtige Kommentare, von denen einer in der Milli Gazete und der andere in der Cumhuriyet veröffentlicht wurden.210

In beiden Kommentaren bedienen sich die Autoren zentraler Aspek-te der nationalen Geschichte und knüpfen an kollektive Geschichtsbilder wie die Besetzung durch die »imperialistischen Feinde«, den nationalen Befreiungskampf gegen die widrigsten Umstände und den Kampf gegen die Spaltung des Landes an. Bereits an den Titeln werden die symbol-trächtigen Inhalte deutlich. In der Milli Gazete lautet die Überschrift »Sie werden in dem Blut ertrinken, das sie vergossen haben« und in der Cumhuriyet ist zu lesen »Herren: ziehen Sie den Fes ab und setzten sich die Fellmütze auf«, was sinngemäß einer Aufforderung nahekommt, sich warm anzuziehen.211

Interessant ist, dass beide Texte sich in Bezug auf die Verwendung nationaler Symbole und identitätsbezogener Aspekte sehr ähnlich sind. Beide ziehen kollektive Erfahrungen und Bilder der nationalen Ge-schichte heran. Die Kommentare unterscheiden sich jedoch fundamental im Hinblick auf die Schlussfolgerung, worin die gegenwärtige Bedro-hung der Türkei besteht. Während sich der Milli Gazete Kommentator 207 Vgl. »Topraklarımızda Hain Gözü var«, Hürriyet, 20.6.1987. 208 Vgl. »Evren: Nato, Gözden geçirilmeli«, 23.6.1987. 209 Vgl. Oktay Ekşi, »Kızmak önemli, sebep değil«, Hürriyet 20.06.1987; 210 Ömer Vehbi Hatipoğlu, »Döktükleri kanda boğulacaklar, Milli Gazete,

24.6.987; »Beyler! Fesleri Atalım; Kalpaklarımızı Giyelim!« Cumhuri-yet, 30.6.1987. Für einen ähnlich stark symbolbeladenden Text vgl. »Kutsal Değerlerimiz için canımızı veririz«, Milli Gazete, 25.6.1987.

211 Ebenda.

VERGANGENHEIT ALS POLITIKUM

171

über die geringe Besinnung auf die fundamentalen islamischen Werte als eigentlichen Grund für die Degeneration der Türkei und ihres An-sehens in der internationalen Welt beklagt, diagnostiziert der Cumhuri-yet Vertreter Selçuk die Re-Islamisierung und die damit zusammenhän-gende zunehmende Rückständigkeit der Türkischen Republik als gegenwärtiges Kernproblem des Landes.

Die Erinnerung an die nationale Geschichte als Überlebenskampf um Sein oder Nicht-Sein ist also ausgesprochen integrativ. Sie kann diametral ausgerichtete ideologische Orientierungen zusammenführen: In der nationalen Geschichts- und Identitätskonstruktion können sich Radikalislamisten wie Radikallaizisten wiederfinden.

Für die Vorstellung des Alleinseins und der Umzingelung der Türkei durch äußere und innere Feinde dient der Begriff Sèvres, der in der tür-kischen kollektiven Erinnerung als das Symbol für das nationale Trauma steht. Mit Sèvres werden die Spaltungsabsichten der imperialistischen Mächte verbunden. Ugur Mumcu sieht in der Völkermordentscheidung des Europäischen Parlaments, dass die armenischen Terroristen ihr Ziel erreicht haben, die Friedensbedingungen von Sèvres wiederherzustel-len.212 Aus dieser Perspektive wird die europäische Entscheidung als Ausdruck der Umzingelung der Türkei gesehen. Der Staatssekretär Kamran Inan spricht dabei von dem Abbild der armenischen, griechi-schen und griechisch-zypriotischen Front.213

NATO-Mitgliedschaft zur Disposition stellen? Die zentrale Rolle des Staatschefs im Erinnerungsdiskurs von 1987 in inhaltlich-qualitativer Hinsicht ist bereits deutlich geworden.214 So auch,

212 Vgl. Uğur Mumcu, »Ermeni Tasarısı«, Cumhuriyet, 24.4.1987; Uğur

Mumcu, »Yeşil Işık«, 20.6.1987; Ilhan Selçuk, »Anlamı«, Cumhuriyet, 22.6.1987; Ilhan Selçuk, »Beyler Fesleri Atalım, Kalpakları Takalım« Cumhuriyet, 30.6.1987; »Ermeni ve Yahudi Oyunu«, Milli Gazete, 18.4.1987; »Ne Bekliyordunuz«, Milli Gazete, 23.6.1987.

213 Vgl. Milli Gazete, 22.6.1987. 214 Siehe »Cumhurbaşkanı Avrupa’ya ateş püskürüyor«, Milli Gazete,

21.6.1987; »Evren: Saçma kararı yakında kaldırırlar«, Cumhuriyet 21.6. 1987; »Evren diyor ki«, Milli Gazete, 24.06.1987; »Topraklarımızda hain gözü var«, Hürriyet, 20.06.1987; »Evren: Bölünmeyelim«, Hürri-yet, 21.06.1987« Evren: »Avrupa sevinsin«, Hürriyet, 22.06.1987; »E-vren’in konuşması«, Hürriyet, 23.06.1987; »Evren: ›Nato, gözden geçi-rilmeli‹«, Hürriyet, 23.06.1987. »Ağır Tepki«, Cumhuriyet, 20.6.1987. Darüber hinaus ist der Titel »Evren: Haçlı Kafası Yaşıyor«, Milli Gaze-te, 22.06.1987 zu lesen, der in die Irre führt. Denn dabei handelt es sich nicht um den Staatschef, sondern um einen zivilgesellschaftlichen Ak-teur.

POLITIK UND ERINNERUNG

172

als er sich in Reaktion auf das Massaker in Pinarcik über die Doppelmo-ral der Verbündeten in Bezug auf die Frage der territorialen Integrität der Türkei beklagte und die NATO-Mitgliedschaft der Türkei in Frage stellte.

Die Doppelmoral der Europäer bestand nach Evren darin, dass sie in der NATO die Garantin territorialer Integrität und Sicherheit sahen, der Türkei das Recht auf territoriale Integrität aber nicht im selben Maße zugestanden. Im Gegenteil, die Verbündeten schienen sogar bereit, tür-kisches Territorium an Armenier abzutreten. Dies war nach Evren ein Grund, die Mitgliedschaft in dem Bündnis zu überdenken.

Die Doppelmoral der westlichen Verbündeten zeigte sich nach Ev-ren auch in der Frage des Beitritts der Türkei in die EG. Zwar war die Türkei als Mitglied der NATO, der OECD und des Europarat bereits ein Teil des westlich-europäischen Institutionengefüges. Trotzdem versuch-te man sie aus der EG herauszuhalten. Den »eigentlichen« Grund sah der Staatschef in der Diskriminierung der Türkei als muslimisches Land.215

Die diskursive Vermengung der verschiedenen westlich-euro-päischen Institutionen durch den Staatspräsidenten bedeutete, dass ein Gegensatz zwischen dem westlichen Bündnis NATO und der EG auf der einen Seite und dem muslimischen NATO-Mitglied Türkei auf der ande-ren Seite aufgestellt wurde. Die Verurteilung der internationalen westli-chen Gemeinschaft verschärfte Evren zusätzlich, als er Europa vorwarf, die Türkei lediglich als Reservoir für die Rekrutierung billiger Arbeits-kräfte zu betrachten.216

Diese Rahmung des aktuellen politischen Problems der Völkermord-anerkennung durch Evren löste eine innenpolitische Debatte aus, bei der zunächst die Seriosität und Realisierbarkeit eines NATO-Austritts disku-tiert wurde. Für Ministerpräsident Özal konnte von einem möglichen Austritt der Türkei keine Rede sein.217 Der rechts-konservative Demirel kritisierte Evrens Aussagen scharf als emotionale Reaktion und warf ihm verantwortungsloses Handeln vor. Zudem machte er auf die popu-listische Vermischung von NATO und Europäischen Parlament durch den Präsidenten aufmerksam. Er forderte eine sachliche Analyse der Europäischen Entscheidung statt in unrealistische, »tollkühne« Forde-

215 Vgl. Evren »Nato Gözden Geçirilmeli«, Hürriyet, 23.6.1987; »Evren

Diyor ki«, Milli Gazete, 24.6.1987. 216 Vgl. »Avrupa, Türkiye’yi insan deposu görüyor«, Hürriyet, 25.6.1987. 217 Vgl. »Özal: Nato’dan çıkamayız«, Hürriyet, 25.6.1987. Der Titel des

Artikels, dass die Türkei nicht aus der Nato austreten könne, führt in die irre: Özal spricht nicht von Können oder Nichtkönnen, sondern davon, dass diese Frage gar nicht zur Debatte steht.

VERGANGENHEIT ALS POLITIKUM

173

rungen zu verfallen.218 Der Vorsitzende der DYP und Nachfolger von Demirel, Cindoruk, fragte öffentlich, ob der Staatspräsident die Türkei zu einem Land der Dritten Welt machen wolle.219 Cindoruk führte aus, dass es Menschen gäbe, die aufgrund politischer Äußerungen ähnlich denen des Präsidenten in Haft saßen. Damit kritisierte der Politiker nicht nur die aktuellen Äußerungen von Evren, sondern vor allem die im Zuge des 12. September autoritäre und die fundamentale Menschenrechte missachtende politische Atmosphäre im Land.220

Im Vergleich zu dem rechts-konservativen Lager gingen die links-orientierten Politiker mit ihrer Bewertung der Aussagen des Staatspräsi-denten nicht so weit. Der politische Kontrahent von Süleyman Demirel, Bülent Ecevit, kam Evren sogar insoweit entgegen, als er Evren zuge-stand, dass er eine berechtigte Kritik an Europa geäußert hätte und spiel-te verschiedene Szenarien durch, wie ein Austritt aus der NATO ausse-hen könnte.221 Auch der Nachfolger von Bülent Ecevit, der Parteivorsit-zende der DSP, bestätigte Evrens kritische Haltung gegenüber der NATO in der Tendenz. 222 Schließlich fand sich auch eine kleinere Gruppe von Diskursteilnehmern, die Evren Recht gaben und den Austritt der Türkei aus der NATO forderten. Dazu gehörten die Mitglieder der islamistischen Organisation Milli Görüş, die sich teilweise aus dem Aus-land zu Wort meldeten.223

Die NATO-Äußerungen Evrens wurden aber nicht nur mit dem Hinweis kritisiert, dass sie unrealistisch und emotional seien und sich undifferenziert gegen alle westlich-dominierten Institutionen richteten. Auch die Begründung Evrens, warum die EG die Türkei nicht aufneh-me, nämlich, weil es sich bei »uns um Moslems und bei ihnen um Chris-ten« handeln würde, beschäftigte die türkischen Eliten stark.224 Dabei ging es um die umstrittene Frage, wohin die Türkei kulturell gehörte.

So distanzierte sich z.B. Ecevit in seinem oben aufgegriffenen Dis-kursbeitrag von diesem Teil der Rahmung des Problem durch Evren, während er die implizite und undifferenzierte Gleichsetzung von EG und NATO nicht kritisierte. Bezeichnend für die herrschende Unsicherheit

218 Vgl. die Kritik von Demirel in »Cumhurbaşkanı, öfke ile konuştu«, Hür-

riyet, 25.6.1987. 219 Vgl. die Kritik von Cindoruk in »Haklı, Cindoruk: Anlamadım, Hürri-

yet, 24.6.1987. 220 Vgl. Cindoruks Aussagen in »NATO güvencemizdir«, Milli Gazete,

27.6.1987. 221 Vgl. »Evren tepkisinde cok haklı, ama«, Hürriyet, 25.6.1987. 222 Vgl. »Cindoruk: Anlamadım«, Hürriyet, 24.6.1987. 223 Vgl. »Domuz Derisinden Post, Avrupa’dan Dost Olmaz«, Milli Gazete,

24.6.1987; »Türkiye NATO’dan Çekilmelidir«, Milli Gazete, 27.6.1987. 224 »Evren: Nato Gözden Geçirilmeli«, Hürriyet, 23.6.1987.

POLITIK UND ERINNERUNG

174

der kemalistischen Eliten im Hinblick auf die mit der staatlich geförder-ten Ideologie der türkisch-islamischen Synthese zunehmende Islamisie-rung der türkischen Politik und Gesellschaft ist der Kommentar des Chefkolumnisten der Hürriyet, der die kulturalistische Argumentation Evrens ablehnte.225 Ein Austritt aus der NATO hatte nicht nur eine si-cherheitspolitische Bedeutung. Vielmehr stellte die türkische Mitglied-schaft in der NATO eine historische Entscheidung und Präferenz der modernen Türkei dar. Sie war Ausdruck des Modernisierungsprojektes der Türkei, ein Teil der westlichen zivilisierten Gesellschaft zu werden. Zwar hielt Eksi ausdrücklich fest, dass einige NATO-Verbündete sich in Bezug auf die territoriale Sicherheit der Türkei tatsächlich widersprüch-lich verhalten würden. Diese Widersprüche gründeten jedoch nicht zu-letzt in der türkischen Außenpolitik und der politischen Führung selbst. Denn in jüngster Zeit hatten anti-westliche Parolen in der türkischen Öffentlichkeit zugenommen, die die westlichen Partner verunsicherten. Das Kernproblem bestand demnach in der Distanzierung der Türkei von Europa.226

Mit dem Aufwerfen der Frage der Fortsetzung der türkischen NATO-Mitgliedschaft zielte Evren im Grunde darauf ab, dem innenpoli-tischen Publikum die Schlüsselposition der Türkei in der NATO vor Augen zu führen. Nach den USA war die türkische Armee die zweit-stärkste im Bündnis und leistete für die Sicherheit des Westens einen entscheidenden Beitrag.227

Zusammenfassung Spätestens mit der Entscheidung des Europäischen Parlaments vom 18. Juni 1987 trat der armenisch-türkische Deutungskonflikt in eine neue Phase ein. Zum ersten Mal hatte eine internationale Institution vom Rang des Europäischen Parlaments die historischen Ereignisse von 1915 als Völkermord anerkannt und den Deutungskonflikt damit in die inter-

225 Oktay Ekşi, »Söz Pınarcık’tan açılmışken«, Hürriyet, 24.6.1987. 226 Ebenda. Die außenpolitischen Reaktionen auf die NATO-Polemik des

Staatspräsidenten fielen verhalten aus. Denn die NATO und die Verbün-deten werteten die Rede Evrens als emotionale und innenpolitisch moti-vierte Rede. Vgl. »Türklerin NATO tehdidi«, Hürriyet, 24.6.1987; Die indifferente Haltung der NATO-Repräsentanten zu den Äußerungen Ev-rens veranlassten die Milli Gazete zu dem Vorwurf, dass die Massaker von Pınarcık die westlichen Verbündeten kalt lassen würde. In diesem Sinne war zu lesen, dass den Europäern »die Sorgen der Türken egal« sei. »Türklerin meselesi umurlarında değil«, Milli Gazete, 24.6.1987.

227 »Topraklarımızda hain gözü var«, Hürriyet, 20.6.1987.

VERGANGENHEIT ALS POLITIKUM

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nationale politische Arena verlagert. Für die Türkei bedeutete diese Ent-wicklung, dass sie sich in der einen oder anderen Form mit ihrer Ver-gangenheit auseinandersetzen musste. Andernfalls bestand die Gefahr, dass sich weitere internationale Institutionen und Staaten der Entschei-dung des Europäischen Parlaments anschlossen.

Der von der Völkermordresolution in Gang gesetzte Erinnerungsdis-kurs zur Armenierfrage war von dem zeitlichen Zusammentreffen der offiziellen EG-Bewerbung der Türkei und der innen- und außenpoliti-schen Hinterlassenschaft der Militärintervention vom 12. September 1980 geprägt. Die politischen und gesellschaftlichen Eliten der Türkei brachten die Anerkennung des Völkermordcharakters der historischen Ereignisse von 1915 im Europäischen Parlament nicht mit mangelndem oder kritischem Umgang mit der nationalen Geschichte der modernen Türkei in Verbindung. Vielmehr wurden die Demokratiedefizite, die Menschenrechtsverletzungen und der damit zusammenhängende außen-politische Prestigeverlust der Türkei für die Entscheidung des Parla-ments verantwortlich gemacht. In diesem Sinne spiegelte der Diskurs die tiefe Verunsicherung der westlich-orientierten türkischen Eliten bezüg-lich des innen- und außenpolitischen Kurs der politischen Führung wi-der. Die parlamentarische Opposition und zivilgesellschaftliche Kritiker der politischen Ordnung nutzten die Völkermordanerkennung dazu, den autoritären und gewaltsamen Eingriff durch das türkische Militär und dessen politische Hinterlassenschaft zu kritisieren.

In dieser Situation demonstrierte die politische Führung Stärke und Kontinuität und relativierte die Bedeutung der Entscheidung. Die Regie-rung richtete unterschiedliche Appelle nach Innen und nach Außen. Während dem innenpolitischen Publikum Glauben gemacht wurde, dass die Entscheidung keinerlei Bedeutung hätte, wurde den außenpolitischen Partnern deutlich gemacht, dass die Türkei jegliche strategischen Vortei-le einsetzen würde, um weitere Entscheidungen dieser Art zu verhin-dern. Im Gegensatz zur Regierung, die beide Zielgruppen berücksichtig-te, wandte sich der Staatspräsident mit der Rhetorik des Kalten Krieges und der Betonung der militärischen Stärke an das innenpolitische Publi-kum. Die Anerkennung stellte einen Verrat der Verbündeten dar, den Evren nicht zuletzt kulturell begründete. Europa hatte sich demnach gegen die Türkei gewandt und sich die armenischen Thesen zu eigen gemacht, weil es sich um ein muslimisches Land handelte. Kenan Ev-rens Rhetorik der Stärke stellte nicht zuletzt einen Versuch dar, die Mili-tärintervention vom 12. September 1980 ex post zu legitimieren.

Die gesellschaftlichen Eliten lehnten die islamische Rhetorik des Staatspräsidenten und die außenpolitische Hinwendung der Regierung zu muslimischen Länder mehrheitlich ab. Die Völkermordentscheidung

POLITIK UND ERINNERUNG

176

des Europäischen Parlaments war für sie nicht eine Folge kultureller Differenz bzw. orientalistischer Vorurteile der Europäer, sondern eine Folge konkreter Politikdefizite und der schwachen türkischen Demokra-tie. Nach dieser Einschätzung hatte sich Europa nicht gegen eine musli-mische sondern eine undemokratische Türkei gewandt.

Diesem laizistischen Elitendiskurs stand eine islamistische Variante gegenüber, die den außenpolitischen Imageverlust der Türkei nicht mit der Militärintervention in Verbindung brachte, sondern mit der westli-chen Orientierung der türkischen Außenpolitik und der türkischen Be-werbung für den Eintritt in die EG. Der Verlust der traditionellen islami-schen Grundwerte in der türkischen Bevölkerung und Politik war hier das entscheidende Kriterium für das geringe Ansehen der Türkei in der internationalen Politik. Diese Kritiker befanden sich jedoch in der Min-derheit und kamen nur in der Milli Gazete zu Wort.

Demokratiedefizite, außenpolitische Isolation und fehlender Rück-halt in den Reihen der Verbündeten waren also die zentralen Topoi, in deren Rahmen die Armenierfrage von 1915 diskutiert wurde. Insofern thematisierte der Diskurs nicht die Armenierfrage von 1915, sondern konzentrierte sich auf die Gegenwart. Kaum ein Diskursbeitrag ging auf die historische Dimension der Armenischen Frage ein, versuchte die Geschichte zu rechtfertigen oder mit historischen Argumenten zu be-gründen. Die Frage, was sich 1915 wirklich zugetragen hatte, war 1987 irrelevant. Dieser Diskurs machte 1915 nicht zum Problem der unaufge-arbeiteten Geschichte, sondern zum Beleg für die politische Außensei-terrolle, in der sich die türkischen Eliten aufgrund der Militärjunta vom 12. September 1980 sahen, und kann insgesamt als eine Auseinanderset-zung um die eigene nationale Identität verstanden werden.

177

SYMBOLPOLITIK

Der Internationalisierung der Armenischen Frage in den 1980er Jahren folgte eine Phase, bei der drei Entwicklungen den weiteren Verlauf der türkischen Vergangenheitspolitik und des Erinnerungsdiskurses maß-geblich beeinflussten. Erstens zeichnete sich mit der Unabhängigkeit der Armenischen Republik 1991 nach dem Zerfall der Sowjetunion ab, dass die Türkei nicht mehr nur indirekt, d.h. über die innenpolitische Thematisierung der Armenierfrage durch armenische Diasporaverbän-de, mit ihrer nationalen Vergangenheit konfrontiert werden würde. Die Armenische Republik konnte als souveräner Staat und Teil des interna-tionalen Systems die geschichtspolitischen Belange der Armenier auf internationaler Ebene direkt zum Ausdruck bringen. Zweitens löste die Entscheidung der EU auf dem Gipfeltreffen in Helsinki (1999), die Türkei zu einer offiziellen EU-Kandidatin zu machen, eine Welle von kritischen Debatten in den Öffentlichkeiten einzelner Mitgliedstaaten aus, in denen erstmals die Europafähigkeit eines Beitrittskandidaten hinterfragt und im Fall der Türkei an die unaufgearbeitete Geschichte von 1915 gekoppelt wurde. Drittens führte eine Reihe von zeitlich zum Teil überlappenden und zum Teil sich aneinander anschließenden internationalen Völkermordanerkennungs- und Erinnerungsinitiativen dazu, dass die Armenische Frage zu einem Dauerthema in der interna-tionalen Politik wurde. So erkannte Frankreich Anfang 2001 die Ver-treibungsgeschichte der Armenier von 1915 offiziell als Genozid an. Mit Frankreich sprach sich nicht nur ein wichtiges EU-Mitglied son-dern auch ein Staat gegen die türkische staatliche Version der Ge-schichte von 1915 aus, mit dem die Türkei eine ausgeprägte militär-technische und wirtschaftliche Zusammenarbeit unterhält.

POLITIK UND ERINNERUNG

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Wie wurde auf diesen zunehmenden Anerkennungs- und Erinne-rungsdruck in der Türkei reagiert? Welche Erinnerungsrahmen wurden in der öffentlichen Auseinandersetzung herangezogen, in welcher Form unterschieden sie sich von den vorausgegangen Diskursmustern der 1970er und 1980er Jahre? Wie in den vorausgegangenen Kapiteln wird zunächst der innen- und außenpolitische Kontext aufgezeigt. Im An-schluß erfolgt die Analyse des Erinnerungsdiskurses.

Internat ionale Völkermorddebatten Die Genozidanerkennungspolitik der Armenischen Republik Die Erinnerung an die Vertreibungsgeschichte der Armenier gewann mit der Unabhängigkeit der Armenischen Republik Anfang der 1990er Jahre eine neue Dynamik. Bis dahin hatten die einzelnen Diasporagesellschaf-ten weitgehend unabhängig voneinander und über legale Wege der Inte-ressenverfolgung auf das Schicksal ihrer Vorfahren aufmerksam ge-macht. Zwar wurden auch auf internationaler Ebene Erfolge verbucht, wie die Völkermordanerkennung des Europäischen Parlaments 1987 zeigt. Doch einen direkten Zugang zur internationalen Politik hatte die armenische Gemeinschaft nicht. Dies änderte sich mit der Unabhängig-keit der Armenischen Republik 1991. Fortan gab es einen Akteur in der internationalen Politik, der die Genozidanerkennungspolitik auf interna-tionaler Ebene betreiben konnte.

Die Vergangenheitspolitik Armeniens knüpft an die Strategie der Diasporagemeinschaften an, die Türkei unter moralischen Druck zu set-zen. Da es zwischen Armenien und der Türkei keine diplomatischen Be-ziehungen gibt, verfolgt Armenien seine Druckpolitik über Drittstaaten bzw. über die internationale Gemeinschaft. Dabei ist es im Laufe der Zeit zu einem Politikwechsel gekommen. Im Gegensatz zu der Regie-rung unter Präsident Ter Petrosyan haben Präsident Robert Kotscharjan und sein Nachfolger die Anerkennung des Völkermords durch die Tür-kei in den Mittelpunkt der armenischen Vergangenheitspolitik gerückt. Allerdings wird der Aufnahme von diplomatischen Beziehungen mit dem Nachbarland Türkei und der offiziellen Grenzöffnung eine zeitliche Priorität eingeräumt.

Die Vergangenheitspolitik Armeniens besteht aus zwei Strängen: Erstens findet eine enge und koordinierte Zusammenarbeit mit den ar-menischen Diasporagemeinschaften statt. Den innenpolitischen Druck, den Letztere auf ihre jeweiligen Regierungen ausüben, verstärkt die Ar-

SYMBOLPOLITIK

179

menische Republik in den bilateralen Beziehungen zu dem jeweiligen Land. Zweitens nutzt die Armenische Republik als souveräner Staat den Zugang zu internationalen Institutionen, um die Notwendigkeit der An-erkennung des Völkermords zu kommunizieren. So hat Armenien An-fang der 2000er Jahre die Völkermordthematik etwa ins Plenum der UN eingebracht oder den Europaratsgipfel in Warschau 2005 dazu genutzt, um für die internationale Anerkennung des Genozids – nicht zuletzt an die EU gerichtet – zu werben.228

Diese im Vergleich zu den Anfangsjahren aktivere Anerkennungs-politik der Armenischen Republik hat Bewegung in die türkisch-armenischen Beziehungen gebracht. Die akzelerierte Entwicklung, die seit dieser Vergangenheitspolitik Armeniens im Hinblick auf die Zu-nahme von internationalen Genoziddebatten und -anerkennungen zu be-obachten ist, bestätigt dies.

Türkisch-Armenische Beziehungen Die Türkei zählte zu den ersten Staaten, die die Unabhängigkeit der Ar-menischen Republik anerkannt haben. Doch seit der Anerkennung An-fang 1992 hat die Türkei die Aufnahme von diplomatischen Beziehun-gen mit Armenien verweigert. Begründet wird dies mit dem Berg-Karabach-Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, bei dem sich die Türkei auf die Seite des sprachlich und ethnisch verwandten Aser-baidschan gestellt und die 325 Kilometer lange gemeinsame Grenze zu Armenien geschlossen hat (Safrastyan 2003).

Der Grenzschließung in 1993 durch die Türkei folgte eine Blocka-depolitik durch Aserbaidschan, so dass Armenien einer West-Ost-Umzingelung gegenüberstand und mit wirtschaftlichen Engpässen kon-frontiert war. Während die Wirtschaft des Landes sich erstaunlich gut an diese Situation anpassen konnte (Milliyet, 19.9.2007), sah sich Ar-menien zu Beginn der 1990er Jahre angesichts der Isolationsversuche und türkischer Bestrebungen, zu einer Regionalmacht im Kaukasus zu werden, aus sicherheitspolitischer Perspektive gefährdet.229 Dies wurde

228 Vgl. Permanent Mission of Armenia to the United Nations, Press Re-

lease »Statement by the Representative of Turkey to the UN, in the Exercise of the Right to Reply (First Reply), 18. September 2002; Speech by Robert Kocharian, President of Armenia in www.coe.int/ t/dcr/summit/20050516_speech_kocharian_en.asp. Stand 20.4.2008.

229 Mit dem Zerfall der Sowjetunion versuchte die Türkei, eine Führungs-position in der Region zu erlangen und das politische Vakuum zu füllen. Diese ehrgeizigen Pläne der türkischen Regierung wurden von den USA und der NATO unterstützt, bedeutete eine türkische Vormachtstellung doch, dass der bestehende Einfluss Russlands und eine mögliche Erwei-

POLITIK UND ERINNERUNG

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nicht zuletzt durch die instabile politische Situation in Armeniens drit-ten Nachbarland, Georgien, verstärkt. Armenien hat sich in der Folge eng an Russland angelehnt und die Stationierung russischer Truppen zugelassen. Seine Sicherheitsbedürfnisse sieht es damit und durch die Anbindung zum Iran eher gesichert als durch eine Mitgliedschaft im Sicherheitsbündnis der NATO. Im Gegensatz zu Georgien zieht die Armenische Republik einen Eintritt in die NATO daher auch nicht in Erwägung (Der Spiegel, 20.08.2007).

Trotz des Fehlens von diplomatischen Beziehungen gibt es auf der zivilgesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ebene eine rege armenisch-türkische Kooperation. Die türkisch-armenische Grenze ist zwar offiziell geschlossen, aber im Hinblick auf den Handels- und Arbeitstourismus sehr durchlässig. Eine Direktflugverbindung zwischen Eriwan und Is-tanbul, die mehrmals wöchentlich angeboten wird, wird rege in An-spruch genommen. Der Tageshandel floriert und die Zahl der Arbeits-kräfte aus Armenien in der Türkei steigt (NZZ, 18.4.2006; The Econo-mist, 16.11.2007). Zudem wurde 1997 der »Turkish-Armenian Business Development Council« (TABDC) gegründet, der sich als »the only Tur-kish Armenian joint institution in the world« versteht.230 Der Verband fördert den wirtschaftlichen Austausch und zielt darauf ab, auch die of-fiziellen türkisch-armenischen Beziehungen positiv zu beeinflussen. In den Kontext von nicht-staatlicher armenisch-türkischer Kooperation fal-len auch die in der Grenzregion um Kars, Iğdır und Erzurum existieren-den grenzüberschreitenden lokalen Wirtschaftsbeziehungen.

Armenien hat immer wieder signalisiert, dass es ohne Vorbedingun-gen bereit ist für die Normalisierung der Beziehungen zur Türkei (Die Welt, 20.4.2005). Dabei hält es jedoch an dem übergeordneten Ziel der Völkermordanerkennung fest. So betonte zum Beispiel Präsident Kot-scharjan bei einem Frankreichbesuch Anfang 2007, dass die Armenische Republik keine Vorbedingungen für die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen erhebe (siehe RFE/RL, 19.2.2007). Auch Außenminister Oskanian appellierte am Rande des Treffens der Organisation für Si-cherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) 2007 in Wien an die Türkei, sie solle es wie die Armenische Republik handhaben und von

terung des iranischen Einflusses in der Region von einer zuverlässigen und westlich-orientierten NATO-Partnerin eingedämmt wurde. Doch Russland leistete den türkischen Plänen, die sich letztlich aus Kapazi-tätsgründen als zu ehrgeizig erwiesen, erheblichen Widerstand (Gumpel 2000). Nach anfänglich umfangreichem Engagement in der Region zeig-te sich, dass die Türkei über zu wenige wirtschaftliche Ressourcen ver-fügte, um am Aufbau der turksprachigen Länder mitzuwirken.

230 www.tabdc.org/about.php. Stand 21.01.2008.

SYMBOLPOLITIK

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Vorbedingungen für die Aufnahme von diplomatischen Bedingungen absehen (RFE/RL 23.4.2007).

Demgegenüber knüpft die Türkei die Aufnahme von direkten Bezie-hungen zum Nachbarland Armenien und damit auch die Öffnung der Grenzen an mehrere Voraussetzungen. Die Reihenfolge und Prioritäten der Bedingungen haben sich seit den 1990er Jahren je nach Situation und den Regionalmachtsambitionen der Türkei in der Kaukasusregion oder der Intensität der internationalen Genoziddebatten geändert (Saf-rastyan 2003). Die Lösung des Berg-Karabach Konflikts, die die Türkei in dem Rückzug Armeniens aus der Enklave sieht, zählt zu den zentralen Forderungen der Türkei.231 Zudem soll Armenien eine Passage in seiner Verfassung ändern, in der im Zusammenhang mit türkischen Territorien von »Westarmenien« gesprochen wird. Darin sieht die Türkei den 1921 zwischen der Sowjetunion und der Türkei vertraglich geregelten Grenz-verlauf zur Disposition gestellt (SZ, 29.12.2005). Doch Eriwan verweist darauf, dass die Mitgliedschaft Armeniens in der OSZE die Infragestel-lung von nationalen Grenzen automatisch ausschließt. Außenminister Oskanian brachte gegenüber türkischen Medien zum Ausdruck, dass Armenien das Karsabkommen (1921) und damit die gegenwärtigen Grenzen akzeptieren würde (Turkish Weekly, 4.12.2006). Aber eine formelle Bestätigung des Grenzverlaufs sieht die Armenische Republik als Bestandteil der bilateralen Beziehungen nach der Aufnahme von di-plomatischen Beziehungen (Tocci et al. 2007). Schließlich verlangt die Türkei von Armenien, von der Hinzuziehung dritter Parteien in den Deutungskonflikt über die gemeinsame Geschichte von 1915 abzusehen.

Um Armenien im Hinblick auf seine Genozidpolitik zum Einlenken zu bewegen, hat die Türkei den stillschweigend geduldeten Waren- und Personenverkehr immer wieder als Druckmittel eingesetzt. Die Visums-pflicht für die Einreise von armenischen Bürgern in die Türkei wurde abhängig von internationalen Anerkennungsdebatten relativ willkürlich gehandhabt.

Diese auf staatlicher Ebene verfolgte Politik des Drucks auf Arme-nien wurde auf der diskursiven Ebene von Vorschlägen führender Poli-tiker begleitet, die die Abschiebung von in der Türkei arbeitenden Ar-meniern forderten. Die ehemalige Ministerpräsidentin Tansu Ciller, die im Kontext der amerikanischen Genoziddebatte Ende 2000 mit einem solchen Vorschlag vorpreschte, erntete aber schwere öffentliche Kritik

231 Interview mit Ecvet Tezcan am 9.3.2004 in Ankara. Tezcan war Anfang

der 2000er Jahre türkischer Botschafter in Baku und leitete zum Zeit-punkt des Interviews die Abteilung »Istihbarat ve Araştırma Müdürlü-ğü«, die ursprünglich eigens für die Abwehr der »Armenischen Thesen« eingerichtet wurde.

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(Cumhuriyet 8.10.2001).232 Ciller beeilte sich, klar zu stellen, dass sie die Armenier der Armenischen Republik, die in der Türkei legal oder illegal arbeiteten, gemeint habe und dass die Abschiebung der Arbeits-migranten oder Geschäftsleute als ein Mittel angesehen werden könne, die internationalen Völkermorddebatten einzudämmen. Doch auch diese Richtigstellung machte den Vorschlag in den Augen der Öffentlich- keit nicht akzeptabler. Ciller wurde des Rassismus beschuldigt und in der Cumhuriyet gar in einer Hitlerpose mit der Bildunterschrift abge-bildet: »Tja, es ist eine alte, aber bewährte Methode.« (Cumhuriyet, 10.10.2000) Aus den Reihen der professionellen Leugner machte der Abgeordnete der kemalistischen CHP Şükrü Elekdağ einen ähnlichen Vorschlag: Eine Möglichkeit der politischen Reaktion auf die Genozid-anerkennungspolitik Armeniens sei die Abschiebung der geschätzt 70000 legal und illegal in der Türkei arbeitenden Armenier. Doch auch er wurde mit öffentlicher Kritik konfrontiert und musste anschließend betonen, dass er sich nicht auf die armenischen Staatsbürger der Türkei bezogen habe (Zaman, 24.11.2006).

Die türkisch-armenische Versöhnungskommission TARC

Wie im Laufe der Untersuchung deutlich geworden ist, hat die Armeni-sche Frage immer wieder die amerikanische Innenpolitik belastet. Der Anerkennungsdruck stellte die US-Administration stets vor das Dilem-ma zwischen innenpolitischen und moralischen Fragen auf der einen Seite und außenpolitischen Notwendigkeiten auf der anderen Seite ent-scheiden zu müssen.

Dieses Dilemma hat mit der Unabhängigkeit Armeniens zugenom-men. Die USA müssen zum einen auf die nationalen Befindlichkeiten der wichtigen strategischen Verbündeten Türkei Rücksicht nehmen, zu-mal es sich bei der Türkei um das einzige muslimisch-dominierte Land im Nahen Osten mit freundlichen Beziehungen zu Israel handelt, das seinerseits eine Schlüsselrolle in der amerikanischen Innen- und Außen-politik spielt. Zum anderen haben die USA ein strategisches Interesse, der engen Anlehnung Armeniens an Russland entgegenzuwirken und Armenien für die amerikanische Kaukasuspolitik zu gewinnen (Spiegel online, 24.8.2007).

Vor diesem Hintergrund haben sich die USA in die Lösung des Deu-tungskonflikts und die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zwi-schen der Türkei und Armenien eingeschaltet. Das US-Außenminis-terium forcierte 2001 das Zustandekommen der ersten inoffiziellen tür-

232 Vgl. etwa Oktay Ekşi, »Çiller’in Kafasıyla«, Hürriyet, 8.10.2000.

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kisch-armenischen Versöhnungskommission. Nach monatelangen ge-heimen Verhandlungen wurde am 9. Juli 2001 die Gründung der »Tur-kish Armenian Reconciliation Commission« (TARC) verkündet, die aus sechs türkischen und vier armenischen Vertretern bestand und unter dem Vorsitz des amerikanischen Diplomaten David Phillips stand. Die Kommission hatte keinen offiziellen Status. Sie wurde als eine private Initiative deklariert, die dazu beitragen sollte, die Kommunikation auf politischer Ebene zu erleichtern. Die Idealvorstellung war, dass die Kommissionsarbeit in direkte Gespräche zwischen beiden Ländern mündete. Der Vorsitzende Phillips erklärte in diesem Zusammenhang: »This is not a substitute for what the Turkish and Armenian govern-ments must do, but it can contribute momentum and develop recom-mendations« (NYT, 10.7.2001). Die Völkermordthematik wurde aus der Arbeit der Kommission herausgehalten. Einer der türkischen Mitglieder von TARC, der Diplomat Özden Sanberk, wies darauf hin, dass es nicht darum ginge, »to find what the truth is, but […] to open new horizons for the future and enhance mutual understanding« (NYT, 10.7.2001).

Die Gründung der TARC führte zu einer kontroversen Debatte in den armenischen Diaspora-Gemeinschaften über die Frage der Reprä-sentativität der beteiligten Akteure auf armenischer Seite. Die Tatsache, dass die Völkermordproblematik aus dem Programm ausgeklammert worden war und dass es sich bei den türkischen Beteiligten um erfahrene Diplomaten handelte, die in der Vergangenheit die staatliche Leug-nungspolitik mitgetragen hatten, ließ von Beginn an große Zweifel an den Zielen und Absichten der Kommission aufkommen. In dem armeni-schen Nachrichtennetz Groong schrieb die Genozidexpertin Rubina Pe-roomian, dass sie fest davon überzeugt sei, dass die TARC »an innovati-ve and ingenious initiative in the Turkish campaign of denial of the Ar-menian Genocide« sei (Groong, 7.8.2001). Die Daschnak-Partei kritis-ierte: »Nobody is allowed to circumvent the issue of Turkey’s recogni-tion of the Armenian Genocide under the guise of ›reconciling‹ the two nations, which jeopardizes the process of the international recognition of the Genocide. There can be no reconciliation without the recognition of the historical truth« (Goshgarian 2005).

Dieser Pilotversuch, einen türkisch-armenischen Dialog zu initiieren scheiterte bereits nach wenigen Monaten. Ein halbes Jahr nach ihrer Gründung wurden die Treffen der Kommission ausgesetzt und die Zu-sammenarbeit schließlich mit einem letzten gemeinsamen Auftritt am 14. April 2004 beendet, im Rahmen dessen die TARC bekannt gab, Empfehlungen an die jeweiligen Regierungen abgegeben zu haben (RFE/RL, 21.1.2002). Was die Empfehlungen beinhalteten und ob die

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jeweiligen Regierungen im Sinne der Empfehlungen handelten, wurden nicht öffentlich bekannt gemacht (Goshgarian 2005).

Die Vertreter der Parteien machten sich gegenseitig für das Scheitern verantwortlich. Auslöser war die Auseinandersetzung über die Frage, die Menschenrechtsorganisation »International Center for Transitional Jus-tice« (ICTJ) in New York mit einer rechtlichen Meinung für die Charak-terisierung von 1915 zu beauftragen. Die armenischen Delegierten war-fen den türkischen Vertretern Wortbruch vor. Danach waren die türki-schen Delegierten entgegen vorherigen Absprachen von der Zusage zu-rückgetreten, die ICTJ anzurufen. Für die türkische Gegenseite stellte sich der Grund des Scheiterns der Kommission genau umgekehrt dar. Danach hatte die armenische Seite einseitig und ohne vorherige Ab-stimmung mit den türkischen Kommissionsmitgliedern das ICTJ einge-schaltet. Damit trug sie für die türkischen Kommissionsvertreter auch die alleinige Verantwortung für das Scheitern.233

Das Timing der Gründung von der TARC und die Besetzung der Kommission auf türkischer Seite deuten darauf hin, dass es sich bei die-sem ersten Dialogversuch um einen strategisches Vorgehen der Türkei handelte, das den internationalen Druck abfangen sollte. Denn die Inter-nationalisierung der Armenischen Frage hatte um die Jahreswende 2000/ 2001 einen bis dahin ungekannten Höhepunkt erreicht. Eine Genozidre-solution in den USA war nur knapp gescheitert. In Frankreich hatten sich die Befürworter einer Völkermordanerkennung durchgesetzt. Dass es sich um taktische Konzessionen von türkischer Seite handelte, zeigte auch die Auswahl der Kommissionsmitglieder. Die erfahrenen Diploma-ten sprachen einerseits davon, dass sie nach neuen Räumen für einen armenisch-türkischen Dialog suchen wollten, belasteten die Arbeit der Kommission aber gleichzeitig mit konventionellen Leugnungsaussagen zu 1915.

Die an das außenpolitische Publikum adressierte Vergangenheits-politik des Dialogs zeigte Wirkung. In Deutschland unterstützte die PDS 2002 eine Petitionsaktion zur Anerkennung des Völkermords, die im April 2000 von der Arbeitsgruppe Anerkennung, dem Zentralrat der Armenier in Deutschland und anderen Menschenrechtsvereinen an den Bundestag gerichtet worden war. Der Petitionsausschuss des Bundestags leitete die Anfrage an das Auswärtige Amt weiter, der aber mit Blick auf die TARC von »ersten Ansätzen zur Aufarbeitung der gemeinsamen Vergangenheit« sprach.234

233 Interview Gündüz Aktan am 27.2.2004 in Ankara, der zu den türkischen

Delegierten von TARC zählte. 234 Vgl. Boulerian (2001) auf www.wsws.org/de/2001/mai2001/arm1m30.

shtml. Stand 20.4.2008.

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»Workshop for Armenian and Turkish Scholarship«

Der kurzzeitigen Existenz der türkisch-armenischen Versöhnungskom-mission auf der semi-offiziellen politischen Ebene steht ein Netzwerk armenisch-türkischer Intellektueller, Publizisten, Journalisten und ande-ren Personen des gesellschaftlichen Lebens gegenüber, das sich unter der Bezeichnung »Workshop for Armenian Turkish Scholarship« (WATS) zu einer wichtigen zivilgesellschaftlich-akademischen Institu-tion im türkisch-armenischen Deutungskonflikt etabliert hat. Es handelt sich um den Versuch »to see if a common language and historical frame-work can be established; a language and framework within which the events in question could be looked at as historical phenomena and dealt with as objectively as possible by scholars whose intellectual integrity and scholarly rigor are more important than their ethnic background« (Libaridian 2005).

Die Gründer sind drei Professoren der Universität Michigan: die rkisch-stämmige Soziologin Fatma Müge Göçek und die armenisch-amerikanischen Historiker Ronald Suny und Girard Libaridian. Letzterer war in den Anfangsjahren der Armenischen Republik politischer Berater und prägte die Türkeipolitik von Präsident Ter Petrosyan wesentlich mit.

Die Idee, einen Raum für Dialog über ethnische Grenzen zu schaf-fen, setzten die Initiatoren zunächst mit der Durchführung von wissen-schaftlichen Konferenzen um. Wie sehr auch der akademische Diskurs von der Vergangenheitspolitik der Türkei überschattet wurde, zeigen die Sorgen der Veranstalter. Kurz vor der Realisierung der ersten Konferenz im März 2000 an der University of Chicago bekamen sie ernsthafte Be-denken, dass es zu einer Eskalation kommen könnte. In kurzen Abstän-den folgten weitere Konferenzen: 2002 in Michigan, 2003 in Minnesota, 2005 in Salzburg, 2006 in New York und 2008 in Genf.235

In der Anfangsphase von WATS herrschte vor allem auf Seiten ar-menisch-stämmiger Wissenschaftler, die in der Vergangenheit persön-lich mit der Leugnungspolitik des türkischen Staates konfrontiert wor-den waren und beobachtet hatten, dass diese zum Teil aktiv von türki-schen Wissenschaftlern unterstützt wurde, große Skepsis gegenüber dem Vorhaben. In der ersten Runde fehlten daher bekannte Historiker der armenischen Geschichte, wie etwa Richard G. Hovannisian.236 Die-

235 Vgl. zur Konferenz in Genf Vicken Cheterian, »Eine gemeinsame Ges-

chichte schreiben. Ein Forschungsprojekt zu armenisch-türkischen Ver-gangenheit«, NZZ, 13.3.2008.

236 In Zusammenhang mit der von der Evangelischen Akademie Mülheim an der Ruhr veranstalteten Konferenz »Von der schweren Last der Ge-schichte. Der Versuch eines armenisch-türkischen Dialogs« März 2001,

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ser war gegenüber jeglicher türkischer Beteiligung grundsätzlich kri-tisch eingestellt, stieß damit aber auch innerhalb der armenischen wis-senschaftlichen Community auf Kritik (Lima 2000). Die Skepsis Ho-vannisians ist in der Zwischenzeit einer konstruktiven Beteiligung im WATS-Prozess gewichen. Hovanission zählt zu den Befürwortern und Unterstützern des Workshops, was den inzwischen großen Akzeptanz-grad von WATS innerhalb der armenischen Community und darüber hinaus deutlich macht. Bereits mit Blick auf die Durchführung der ers-ten Konferenz im Jahr 2000 war von »Another Crack in the Wall of Silence« (Lima 2000) oder einer »historischen Konferenz« (Akçam 2000) die Rede.

Eine der wichtigsten Errungenschaften von WATS ist der Aufbau eines Diskussionsforums im Internet, das in den Verantwortungsbereich von Müge Göçek fällt. Hier finden täglich Diskussionen über wissen-schaftliche und politische Fragen statt. Die Moderatorin hält sich im Hinblick auf die konkrete Zahl der Mitglieder bedeckt und gibt eine Größenordnung von etwa 500 Mitgliedern weltweit an (Davidian 2007). Die Internetliste stellt damit ein weltweit vernetztes Forum dar, auf dem wissenschaftliche oder künstlerische Projekte, politische Entwicklungen, die in der einen oder anderen Form die historischen Erfahrungen der Armenier und die osmanische Geschichte betreffen, diskutiert werden.

Die Organisatoren betonen, dass das Ziel von WATS in der Vertie-fung eines akademischen Diskurses liegt. Doch WATS ist Teil des poli-tischen Aufarbeitungs- und möglichen Versöhnungsprozesses geworden. Wie sehr die politische Dimension der historischen Ereignisse von 1915 die Auseinandersetzung beeinflusst, zeigt die Tatsache, dass sich die kontroversesten Debatten auch in diesem akademischen Forum meist an der Völkermordterminologie entzünden.237 Das Ziel, WATS zu einem

an dem Vertreter der türkischen staatlichen Leugnungspolitik die Fakti-zität des Genozids vehement in Frage stellten, klagte Hovanissian, dass er solche Debatten leid sei. Frank Ebbinghaus, »Wo die Simultanüberse-tzung auf taube Ohren stößt«, FAZ, 29.3.2001.

237 Die Auseinandersetzung über die Frage, ob 1915 ein Völkermord war, ist ein immer wieder kehrendes Diskussionsthema. In der Regel wird die Diskussion durch ein neues – meist türkisch-stämmiges Mitglied – ent-facht, das diejenigen realhistorischen Aspekte in die Diskussionsrunde wirft, die die Systematik und die Intentionalität des jungtürkischen Vor-gehens in Frage stellen. Für die älteren Mitglieder der Liste zeigt sich dann ein stabiles Muster im weiteren Diskussionsverlauf: Nachdem ein neues Mitglied den Völkermordcharakter der Ereignisse in Frage stellt, reagieren meist armenisch-stämmige Mitglieder mehr oder weniger ve-hement auf die Einwände. Diese Diskussionen nehmen einen breiten Raum ein und laufen ähnlich ab, ohne einen erkennbaren wissenschaftli-chen Erkenntnisgewinn zu produzieren (vgl. auch Davidian 2007).

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Austauschforum »beyond the sterile debates on whether there was a ge-nocide or not« zu machen, scheint in solchen Momenten nicht nur frag-lich zu sein. Vielmehr zeigen die immer wiederkehrenden, wenig fruchtbaren Völkermorddebatten, dass der akademisch-wissenschaft-liche Raum sich keineswegs von dem politischen Diskurs abhebt oder unabhängig von ihm operiert (Bayraktar 2008). Im Gegenteil, die türki-sche staatliche Vergangenheitspolitik und der mit ihr zusammenhängen-de Leugnungsdiskurs geben die maßgeblichen Parameter des akademi-schen Austausches vor. Bezeichnenderweise praktiziert die Initiatorin des WATS-Projekts Göçek eine Sprache in ihren Beiträgen, bei der sie sich konsequent dem Völkermordterminus verweigert. Mit der Nutzung von Termini wie etwa »Relokation«, »Zwangsdeportation« oder »Tra-gödie«, die sowohl von den zeitgenössischen Tätern zur Rechtfertigung eingesetzt wurden, als auch von der türkischen Politik zur Verschleie-rung der Dimension von 1915 herangezogen werden, reproduziert Gö-çek die diskursiven Leugnungsstrukturen des türkischen Staates (vgl. auch Kaiser 2003).

In diesem Sinne unterscheidet sich der faktische sprachliche Um-gang kritischer türkischer Intellektueller nicht von der leugnerischen Sprache des türkischen Staates und zeigt nicht zuletzt das Dilemma, mit denen türkische Intellektuelle bei ihrem Streben nach einer türkisch-armenischen Versöhnung konfrontiert sind. So beteiligen sich zwar im-mer mehr türkische Intellektuelle in kritischer Weise aktiv an dem Erin-nerungsdiskurs zur Armenierfrage und suchen nach neuen Diskursräu-men für einen offenen und konstruktiven türkisch-armenischen Aus-tausch. Doch die polarisierte und polarisierende Ausgangslage des Deu-tungskonflikts macht einen losgelösten und unbefangenen Vergangen-heitsdiskurs kaum möglich. So zeigt sich, dass bestimmte Vorschläge – wie etwa die Suche nach alternativen Begriffen zur Charakterisierung der historischen Erfahrungen der Armenier – bereits eine Folge der Im-perative bestehender Diskursstrukturen sind.

Der Zugang des Historikers Halil Berktay (Sabancı Universität) zum türkisch-armenischen Deutungskonflikt ist ein gutes Beispiel für dieses Dilemma. Für Berktay stellen die Ereignisse von 1915 Völkermord im Sinne der UN-Genozidkonvention dar. Doch angesichts der türkischen staatlichen Leugnungspolitik setzt sich Berktay für einen strategischen Umgang mit dem Terminus Völkermord ein. Das Ziel der Völkermord-anerkennung durch die Türkei kann demnach mit »certain notions of strategy and tactics, and building alliances or even uniting fronts« (Berk-tay 2007: 4) bewerkstelligt werden. Allerdings bedeutet dieser Versuch, dass die bestehenden diskursiven Leugnungsvorgaben zugunsten einer Annäherung oder sogar Genozidanerkennung zu umgehen versucht,

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nicht aber essentiell in Frage gestellt werden. Im schlimmsten Fall ver-leihen solche Umgehungsversuche den bestehenden Leugnungsdiskur-sen sogar zusätzliche Legitimation. Das Dilemma besteht also darin, dass die diskursiven Möglichkeiten von türkischen kritischen Intellek-tuellen nach alternativen Zugängen zur Armenierfrage gerade von dem Deutungskonflikt auf politischer Ebene und dem damit verbundenen leugnerischen staatlichen Diskurs beeinflusst werden und sich nicht un-abhängig davon entfalten können.

Anerkennungsinitiative in den USA (2000)

Im Jahre 2000 nahmen die armenisch-amerikanische Diasporavertretun-gen einen neuen Anlauf, die historischen Ereignisse von 1915 vom Kongress als Genozid anerkennen zu lassen. Die Anerkennung scheiter-te buchstäblich in letzter Minute, als sich Präsident Clinton mit dem Verweis auf nationale Sicherheitsinteressen persönlich beim Sprecher des Repräsentantenhauses Dennis Hastert gegen eine Anerkennung ein-setzen musste. Dass die Initiative im Kongress durchgehen würde, galt angesichts der Unterstützung durch den Sprecher selbst als sicher. Wie in den Debatten der 1980er Jahre wurde auch bei dieser Gelegenheit die Anerkennung des Genozids in moralisch-ethischer Hinsicht nicht be-zweifelt. Verteidigungsminister William Cohen versicherte, dass es nicht darum ginge, die Dimension der Tragödie des armenischen Volkes zu unterschlagen. Aber eine Anerkennung würde den vitalen nationalen Interessen der USA schaden. Er warnte, dass »passing judgment on this history through legislation could have a negative impact on Turkish-Armenian relations and on our security interests in the region« (Kolbert 2006).

Das US-Außen- und Verteidigungsministerium standen wie gewöhn-lich bei solchen Türkei-kritischen Vorstößen unter starkem Druck der Türkei. Die türkische Regierung stellte die Verlängerung der Nutzungs-rechte für den amerikanischen Militärstützpunkt in Incirlik in Frage, über die das türkische Parlament zur selben Zeit entscheiden musste (Cumhuriyet, 1.1.2001). Der Militärstützpunkt auf Incirlik ist von großer strategischer Bedeutung für die amerikanische Nahostpolitik. Zum Zeit-punkt der anstehenden Kongressentscheidung wurde die Flugverbotszo-ne über Nordirak von Incirlik aus überwacht. Die Entschlossenheit der Türkei, in der Frage des Völkermordes keine Kompromisse einzugehen, wurde durch die Absage des USA-Besuchs des Oberkommandierenden des türkischen Heeres Kıvrıkoğlu unterstrichen. Schließlich setzte die türkische Regierung wirtschaftliche Druckmittel ein. Eine dem US-Konzern Bell-Textron bereits zugewiesene Ausschreibung über 145

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Hubschrauber in einem Umfang von 500 Milliarden Dollar wurde abge-setzt (Gorvett 2000).

Der Ausbruch der zweiten Intifada in Israel und der Anschlag auf die amerikanische Kriegsflotte USS Cole gaben schließlich den endgültigen Ausschlag, von der Anerkennung des Genozids abzusehen. Angesichts der instabilen Situation im Nahen Osten benötigte die amerikanische Politik jedwede Unterstützung in der Region. In diesem Sinne spiegelten die Bedenken des Präsidenten, die der Sprecher des Hauses am 20. Ok-tober 2000 vortrug, vitale nationale Interessen der USA wider: »The president believes«, hieß es in der Erklärung, dass »the passage of this resolution may adversely impact the situation in the Middle East and risk the lives of Americans« (Gorvet 2000).238

Genozidanerkennung in Frankreich (2001)

Wenige Wochen nach dem Scheitern in den USA Ende 2000 wurde die Türkei mit einer neuerlichen Anerkennungsinitiative konfrontiert. In Frankreich war seit 1998 ein Verfahren für eine Armenierresolution in Gang, das Ende 2000 vom Senat wieder auf die Tagesordnung genom-men wurde, nachdem es zuvor von der Regierung ausgesetzt worden war. Sechs Senatoren hatten sich in einer individuellen Initiative für die Wiederaufnahme des Gesetzesvorhabens eingesetzt.239 Der vom Senat verabschiedete Gesetzesentwurf wurde am 11. Januar vom Auswärtigen Ausschuss des französischen Parlaments angenommen und am 18. Janu-ar 2001 in der Plenarsitzung der Nationalversammlung einstimmig an-genommen.

Das Gesetz besteht aus dem Satz: »Frankreich erkennt den Genozid an den Armeniern von 1915 öffentlich an« (SZ, 20.1.2001) und trat 14 Tage später, nach der Unterzeichnung durch Präsident Chirac in Kraft. Die Anerkennung schrieb keine Verhaltensregeln vor und war nicht mit Rechtsfolgen verbunden. Es beschränkte sich auf eine reine Feststellung

238 Spätestens seit dem knappen Scheitern von 2000 vergeht kein Jahr, an

dem in der Türkei nicht gespannt auf die jährliche Ansprache des US-Präsidenten zum 24. April gewartet wird. Vgl. exemplarisch Gündüz Aktan, Iyi ki söylemedi, Radikal, 28.4.2001; Dieses gespannte Warten und die anschließende kollektive Erleichterung haben in den letzten Jah-ren aber auch zu erheblicher Selbstkritik geführt. Vgl. u.a. Türker Alkan, Konuş bakalım, Radikal 29.05.2005; Murat Belge, Fırtınalar Takvimi, Radikal 17.3.2007.

239 Es war die erste Gesetzesinitiative in der Geschichte Frankreichs seit Ende des Zweiten Weltkriegs, die von Senatoren aller Fraktionen unter-stützt wurde (Demesmay/Fougier 2005: 58).

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(SZ 20.1.2001). Dies änderte sich 2006, als Frankreich die Leugnung des Völkermordcharakters von 1915 auch strafrechtlich sanktionierte.

Der off iz ie l le EU-Kandidatenstatus der Türkei

Die Türkei-EU-Beziehungen gewannen Ende der 1990er Jahre eine neue Dynamik. Die Entscheidung der EU in Helsinki (1999), die Türkei offi-ziell zu einer Kandidatin zu ernennen, stellte eine relativ überraschende Entwicklung dar. Nur zwei Jahre zuvor hatte die EU die Türkei als ein-ziges beitrittswilliges Land und im Gegensatz zu den elf übrigen Bei-trittsländern nicht in die Kandidatenliste aufgenommen. Die Türkei fühl-te sich wohl nicht ganz zu unrecht diskriminiert, zumal Zypern trotz der ungelösten Zypernfrage Eingang in den Kreis der Kandidaten gefunden hatte. Die türkische Regierung hatte daraufhin abgesehen von der Zoll-union alle Kontakte mit der EU abgebrochen und ihre Europapolitik nur noch im bilateralen Rahmen verfolgt (SZ, 15.12.1997).

Der Kurswechsel der EU-Türkeipolitik binnen zweier Jahre wurde innerhalb der EU mit Unterstützung Frankreichs von der neuen rot-grünen Regierung in Deutschland vorangetrieben (Kramer 2007). Die Argumente, die trotz der immer noch existierenden Defizite im Bereich der Menschenrechte langfristig für eine Aufnahme der Türkei sprachen, gingen auf sicherheitspolitische und geostrategische Überlegungen zu-rück. Auch ein Umdenken in Griechenland, dass eine fest in europäi-schen Strukturen eingebundene Türkei griechischen Interessen besser entsprach als ein sich von Europa abkehrendes Nachbarland, führte zum Fallen einer weiteren europapolitischen Hürde für die Türkei.240

240 Kurz zuvor hatte eine Reihe von Ereignissen die griechisch-türkischen

Beziehungen schwer belastet. Dazu zählte der Streit um Grenzfragen auf der Insel Imia/Kardak um die Jahreswende 1995/96, der die beiden Län-der an den Rand eines Kriegs führte. Dieser Krise folgten 1997/98 die Bestrebungen der griechisch-zyprischen Regierung, in Russland erwor-bene S-300 Raketen auf der Insel zu stationieren. In der Literatur wird in diesem Zusammenhang von einer »Militarisierung« der griechisch-türkischen Beziehungen gesprochen (Dembinski 2006). Einen Tiefpunkt erreichten die griechisch-türkischen Beziehungen aber schließlich, als 1999 bekannt wurde, dass der Führer der kurdischen Arbeiterpartei PKK, Abdullah Öcalan, vor seiner Festnahme durch den türkischen Ge-heimdienst sich nicht nur auf dem Weg in die griechische Botschaft in Nairobi befunden hatte, sondern über Griechenland nach Kenia gelangt war. Doch das politische Klima zwischen beiden Staaten verbesserte sich wesentlich, als Griechenland nach den verheerenden Erdbeben von 1999 in der Türkei spontan und unkompliziert bei den Aufräum- und Suchaktionen mithalf.

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In der Folge arbeitete die EU-Kommission eine Heranführungsstra-tegie für die Türkei aus, die die grundlegenden Parameter für den Bei-trittsprozess definierte und in der »2000 Accession Partnership« doku-mentiert wurde.241 Der EU-Rat nahm den Vorschlag der Kommission am 8. März 2001 an.242

Die Beitrittspartnerschaft 2000 enthält kurz- und mittelfristige Prio-ritäten, an die sich die Kommission bei ihrem regelmäßigen Bericht über die Fortschritte der Türkei hält. Unter kurzfristigen Prioritäten wurde die Gewährleistung des Rechts auf Meinungsfreiheit, der Erweiterung der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, die Abschaffung der Todes-strafe, die Zulassung von Rundfunk- und Fernsehsendungen in anderen Sprachen als Türkisch und die Verbesserung der Lage in den südöstli-chen Kurdengebieten aufgelistet. Zudem wurde gefordert, den institutio-nell über den Nationalen Sicherheitsrat gesicherten politischen Einfluss des türkischen Militärs einzuschränken. Die Türkei musste darüber hi-naus ein Nationales Programm erarbeiten, das konkrete Schritte zur Er-füllung der Kopenhager Beitrittskriterien enthalten sollte.

Die EU-Forderungen belasteten die fragile Koalitionsregierung be-stehend aus der ultranationalistischen MHP, der sozialdemokratischen DSP und der konservativen ANAP. Die nationalistischen und kemalisti-schen politischen Kreise sahen in den Forderungen der EU die nationale Einheit gefährdet. Den größten Widerstand erregte die unter »kurzfristi-ge Ziele« aufgelistete Forderung nach kultureller Vielfalt für die kurdi-sche Bevölkerung. Die rechtsnationalistischen Kreise warfen der EU vor, PKK-Forderungen übernommen zu haben und die Terrororganisa-tion damit indirekt zu unterstützen. Der Generalkommandant der Mili-tärakademie, Nahit Şenoğul, stellte fest, dass die Forderungen der spalte-rischen Terrororganisation sich mit den Forderungen der EU decken würden (Yeni Şafak, 13.1.2001).

Aufgrund der Blockade der nationalistischen Kräfte fiel das Nationa-le Programm, das die Regierung am 19. März 2001 vorlegte, durch »halbherzige und unzureichende Absichtserklärungen« auf (Kramer 2007). Die Aussicht auf eine Mitgliedschaft hatte sich zwar auf den Re-formwillen ausgewirkt. Dieser erstreckte sich aber zunächst auf jene

241 Proposal for a Council Decision on the principles, priorities, intermedia-

te objectives and conditions contained in the Accession Partnership with the Republic of Turkey. Annex »Turkey: 2000 Accession Partnership«, Brüssel, 8.11.2000. Dokument ELARG/234/00.

242 Rat der Europäischen Union (2001), Beschluss des Rates vom 8. März 2001 über die Grundsätze, Prioritäten, Zwischenziele und Bedingungen der Beitrittspartnerschaft für die Türkische Republik, Brüssel, 8.3.2001, Dokument 2001/235/EG.

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Politikbereiche, die nicht in den Kernbereich des Staates fielen (Schim-melfennig et al. 2003: 509).243

Neben der Heranführungsstrategie 2000 verfolgte die Türkei auf-merksam die Pläne zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungs-politik (ESVP) der EU. Um die militärischen und zivilen Fähigkeiten der EU aufzubauen und sie in solchen Fällen handlungsfähig zu machen, in denen sich die USA nicht oder nicht führend engagieren wollen, hatte die EU 1999 die ESVP gegründet. Auf dem Gipfel in Nizza (2000) ei-nigte man sich auf die Grundstrukturen der ESVP, wobei die Aufstel-lung einer schnellen Eingreiftruppe von 60 Tausend Soldaten ein we-sentlicher Bestandteil war.

Die Türkei stand den europäischen ESVP-Plänen kritisch gegenüber, weil sie als Nicht-Mitglied der EU die Entscheidungsprozesse nicht be-einflussen konnte. Sie fürchtete, dass ihre sicherheitspolitischen Interes-sen übersehen wurden und hatte daher insbesondere Bedenken gegen-über einer Beteiligung Zyperns an sicherheitspolitischen. Daher hatte sie bereits auf dem NATO-Gipfel 1999 durchgesetzt, dass die ESVP die NATO nicht ohne vorherige Zustimmung des NATO-Rats, in dem die Türkei über eine Stimme verfügt, für militärische Zwecke einsetzen durfte (Steinbach 2002).

243 Während das Nationale Programm von 2001 eher enttäuschte, verab-

schiedete das türkische Parlament am 3. August 2002 ein Reformpaket, das einen Wandel in dem bisher verhaltenen Anpassungswillen signali-sierte (Kramer 2002). Dies zeigte sich vor allem darin, dass sich das Par-lament in der politisch und gesellschaftlich umstrittensten Maßnahme einig wurde und sich dazu durchrang, die Todesstrafe abzuschaffen. De facto war die Todesstrafe zwar bereits seit Ende der 1980er Jahre außer Kraft, weil sie nicht vollzogen wurde. Doch die formaljuristische Ab-schaffung bedeutete, dass der inhaftierte und zu Tode verurteilte PKK-Führer Abdullah Öcalan davon profitieren würde. Auch Anfang 2001 umstrittenen EU-Forderungen im Bereich kultureller Vielfalt wurden im 2002er Reformpaket konstruktiv angegangen. Beschlossen wurde die Einführung von Fernseh- und Rundfunkveranstaltungen »in verschiede-nen Sprachen und Dialekten, die traditionell von türkischen Bürgern im Alltag benutzt werden« (zitiert nach Kramer 2007: 7). Die EU, in der die Türkei-kritischen Stimmen in der Zwischenzeit zugenommen hatten, ho-norierte diese vergleichsweise weitreichende Reformschritte zwar auf ihrem Gipfel in Kopenhagen (2002), dennoch sah sie davon ab, ein kon-kretes Datum für die Aufnahme von möglichen Beitrittsverhandlungen zu nennen. Die Entscheidung wurde auf Ende 2004 vertagt und schließ-lich nach zähen Verhandlungen für Oktober 2005 in Aussicht gestellt. Die letztliche Aufnahme offizieller Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei Oktober 2005 war aber auch damit keine beschlosse-ne Sache, sondern bedurfte erneut zäher und langwieriger Verhandlun-gen.

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Auf dem Treffen des NATO-Rats Ende 2000 stellte sich die Türkei gegen die Forderung, dass die geplante Eingreiftruppe im Fall regionaler Konflikte von NATO-Ressourcen Gebrauch machen durfte. Angesichts des Umstands, dass »die Türkei seit nunmehr fast 50 Jahren im Rahmen der NATO die Sicherheit Europas« garantierte, forderte der türkische Verteidigungsminister die Beteiligung der Türkei in den Entschei-dungsmechanismen der ESVP (Cumhuriyet, 16.12.2000). Der EU-Ratsvorsitzende Frankreich rügte die bremsende Haltung der Türkei scharf.

In dem »Berlin plus Abkommen« (2002) zeichnete sich schließlich ein Kompromiss ab. Die EU kann danach bei eigenen militärischen Ope-rationen auf Einrichtungen und Planungskapazitäten der NATO zurück-greifen. Ankara wird in die Entscheidungsprozesse miteinbezogen, wenn sich der vorgesehene Einsatz in geographischen Räumen vollzieht, die der Türkei benachbart sind oder ihre Sicherheitsinteressen berühren. Die Beteiligung Zyperns an ESVP-Operationen wurde ausgeschlossen (Hofmann/Reynolds 2007).

Symbolpoli t ik und Sankt ionsdiskurs Die Völkermordentscheidung Frankreichs fiel also zu einer Zeit, in der die Türkei im Hinblick auf ihr historisches Ziel, als EU-Mitglied zu einem Teil der europäischen Zivilisation zu werden, an einem Scheide-weg stand. Die Heranführungsstrategie der EU löste eine intensive in-nenpolitische Debatte zwischen den nationalistischen und den pro-europäischen Kreisen aus. In der diskursiven Auseinandersetzung über die Armenierfrage in Folge der französischen Völkermordanerkennung spielten das Thema europäische Kultur im Allgemeinen und die EU im Speziellen damit auch eine zentrale Rolle. Zudem konzentrierte sich der Einnerungsdiskurs anlässlich der Völkermordentscheidung Frankreichs auf konkrete Fragen nach der Verantwortung von Politik und Gesell-schaft, die Frage nach angemessenen politischen, gesellschaftlichen und individuellen Reaktionen sowie das Problem der »Ausbreitung der ar-menischen Thesen«.

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»Gegenschlag«

Symbol- und Protestpolitik der Regierung Die Interventionsversuche der Türkei, die Völkermordanerkennung Frankreichs zu blockieren, blieben erfolglos. Daraufhin setzte die türki-sche Regierung der französischen Regierung eine Frist von 14 Tagen, in der sie die ihr zur Verfügung stehenden Mittel der Gesetzesblockade nutzen sollte (Cumhuriyet, 19.1.2001).244 Der türkische Botschafter in Paris wurde zu Konsultationen nach Ankara berufen, wo er an einer Kri-sensitzung des Kabinetts teilnahm.245 Wegen der theoretischen Möglich-keit, dass das Gesetz vom Staatspräsidenten noch zu Fall gebracht wer-den könnte, übte die türkische Regierung Druck auf Jacques Chirac aus. In persönlichen Telefonaten wurde Chirac von Ministerpräsident Ecevit, Staatspräsident Sezer und dessen Vorgänger Demirel aufgefordert, das Gesetz nicht zu unterzeichnen. Chirac brachte gegenüber seinen türki-schen Gesprächspartnern »große Untröstlichkeit« zum Ausdruck und bedauerte, nichts unternehmen zu können, um das Gesetz zu verhindern (Hürriyet, 29.1.2001).

Um türkischer Missstimmung vorzubeugen, versicherte das französi-sche Außenministerium, dass sich das Gesetz nicht gegen die heutige Türkei richten und sie für die Vergangenheit verantwortlich machen würde. Dies wurde auch von französischen Parlamentariern herausge-stellt (Hürriyet 19.1.2001; Radikal 20.1.2001). Diese diplomatischen Schritte, die symbolhafte Bedeutung des Gesetzes zu betonen, sollten die Bedeutung der Entscheidung der Türkei gegenüber relativieren.246 Die türkischen staatlichen und gesellschaftlichen Eliten nahmen diese Botschaft Frankreichs, die Türkei nicht beleidigen zu wollen, deutlich wahr. Frankreich hatte »alles nur Erdenkliche getan, um die Türkei nicht zu verletzen: in dem Gesetzestext ist weder von der Türkei noch von den Osmanen die Sprache«, fasste Ömer Engin Lütem, ehemaliger Diplomat

244 Im französischen Gesetzgebungsverfahren kann ein Gesetz blockiert

werden, wenn sich entweder 60 Abgeordnete gegen die Entscheidung des Parlaments aussprechen und das Verfassungsgericht anrufen oder der Staatspräsident Verfassungsbeschwerde einlegt.

245 Anlässlich einer anstehenden Armenierresolution in den USA hatte An-kara bereits 1987 mit dieser diplomatischen Geste reagiert und den da-maligen Botschafter Şükrü Elekdağ abberufen.

246 Bloxham (2005) kritisiert, dass die relativierenden Äußerungen aus Frankreich, die Völkermordanerkennung im Grunde unbedeutend mach-ten.

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und Gründer des Instituts für Armenische Studien, die französische Völ-kermordentscheidung zusammen.247

Trotz dieser Einschätzung bediente sich die politische Führung aber einer bis dahin ungekannten Symbol- und Protestpolitik, die sich an das innenpolitische Publikum richtete und ihm gegenüber Einheit und Stärke demonstrieren sollte. Die Regierung konzentrierte sich zunächst auf die Frage, ob, in welcher Form und in welchem Umfang Frankreich sank-tioniert werden sollte. Das Militär hatte bereits angekündigt, französi-sche Firmen von öffentlichen Ausschreibungen auszuschließen und aus laufenden Ausschreibungen herauszuhalten (Cumhuriyet, 18.1.2001). Auf der Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats am 22. Januar 2001 wur-de der sogenannte »Gegenaktionsplan« der Regierung besprochen (Hür-riyet, 21.1.2001). Der Gegenaktionsplan sollte sich nach dem Verstrei-chen eines 14-Tage-Ultimatums zeitlich und räumlich stufenweise aus-breiten und auf verschiedenste Gebiete der Zusammenarbeit auswirken, von der kulturellen bis zur wirtschaftlichen.

Die auf der Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats beschlossenen Wirtschaftssanktionen nahmen in den nächsten Tagen konkrete Formen an. Das Verteidigungsministerium machte eine bereits an die französi-sche Firma Alcatel vergebene Ausschreibung rückgängig, bei der es um ein 259 Millionen Dollar umfassendes Militärprojekt ging (Hürriyet, 24.1.2001). Verteidigungsminister Sabahattin Çakmakoğlu stellte die Zulassung von Alcatel für eine Ausschreibung für den Kauf von 250 Tankern in Frage. Darüber hinaus erschwerte das Agrarministerium den Import von französischen Nahrungsmitteln durch Einfuhrrestriktionen und umging so die Bestimmungen der WTO und der Zollunion (Hürri-yet, 27.1.2001).

Die Symbolpolitik der Härte stieß in der Öffentlichkeit auf ein ge-teiltes Echo. Zwar wurden insgesamt Maßnahmen gutgeheißen, die Frankreich die Bedeutung und Schwere der Entscheidung deutlich machten. Doch Wirtschaftssanktionen würde die Türkei langfristig nicht durchhalten können.248 Vertreter der Wirtschaft, wie etwa der Vorsit-zende der größten international tätigen türkischen Unternehmensgruppe Koç, sprachen von einer »klassischen türkischen Reaktion« und dass ein Boykott eines Landes wie Frankreich nicht möglich wäre (Milli Gazete, 21.1.2001). Das »wütende Vorgehen« stellte auch für den Hürriyet Kommentator Mehmet Ali Birand eine klassische türkische Reaktion dar. Die Maßnahmen waren für die »Beruhigung der innenpolitischen Gemüter« gedacht.249 247 Interview mit Ömer Engin Lütem am 1.3.2004 in Ankara. 248 Ege Cansen, Fransa’yı boykot, Hürriyet, 24.1.2001. 249 Mehmet Ali Birand, Ermeniler Kazanıyor, Hürriyet, 19.1.2001.

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In diesem Sinne sprachen sich die Kommentatoren eher für eine sachliche und strategische Vergangenheitspolitik aus, die weitere Völ-kermordentscheidungen verhindern sollte.250 Eine Möglichkeit bestand darin, die französischen ESVP-Ziele zur Errichtung einer europäischen Armee und der Nutzung der NATO-Ressourcen weiterhin mit einem Veto im NATO-Rat zu blockieren.251

Die Tatsache, dass kaum mehr jemand ernsthaft damit rechnete, die Völkermordanerkennung rückgängig machen zu können, bestätigt die Einschätzung, dass es sich bei den Sanktionsandrohungen um Symbol-politik mit Blick auf das innenpolitische Klientel handelte.252 Als Chirac am 30. Januar 2001 das Anerkennungsgesetz unterzeichnete, reagierte die Regierung erneut mit einer scharfen Protestnote. Frankreich wurde angewiesen, sich um die Bewältigung der eigenen Geschichte zu küm-mern. In der Stellungnahme wurde zudem kritisiert, dass das Gesetz mit rechtsstaatlichen Prinzipien kollidierte und die Meinungs-, Presse- und Wissenschaftsfreiheit einschränkte (Radikal, 31.1.2001).

Die geringe öffentliche Aufmerksamkeit bezüglich eines wichtigen Wandels in der türkischen Außenpolitik als direkte Folge der Völker-mordentscheidung zeigt ebenso, dass die Symbolpolitik der Regierung den öffentlichen Diskurs bestimmte bzw. dass letzterer eher für die Symbol- und Protestpolitik rezeptiv war als für die substantiellen Reak-tionen der Regierung auf die Völkermordentscheidung. Denn in Folge der französischen Entscheidung überdachte das Außenministerium die Beziehungen zur Armenischen Republik. Während die Genoziddebatte in den USA im Herbst 2000 Ankara noch zur Vergrößerung des Drucks auf das Nachbarland mit der Einführung einer Visumspflicht für armeni-sche Bürger veranlasst hatte, wurde Anfang 2001 über eine Annäherung an die Armenische Republik nachgedacht. Damit verband Ankara die Hoffnung, dass die armenische Diaspora in Europa und den USA den Druck auf die jeweiligen Regierungen aufgeben würde. In diesem Fall könnte der Deutungskonflikt zudem von der politischen Bühne auf die wissenschaftlich-gesellschaftliche Ebene verlagert werden. Die ersten konkreten Schritte und Gesten des guten Willens zeigten sich in der Aufnahme diplomatischer Kontakte mit Yerewan auf niedriger Ebene sowie der gezielten Förderung zivilgesellschaftlicher Kontakte zwischen der Türkei und Armenien (Cumhuriyet, 22.1.2001).

250 Vgl. z.B. Sedat Ergin, Soğukkanlılığı kaybetmemek, Hürriyet,

21.1.2001; Hadi Uluengin, Motor ve Strateji, Hürriyet, 31.1.2001. Oktay Ekşi, Tepkimiz Ulusal Olmalı, 21.1.2001.

251 Oktay Ekşi, Yapacak çok şey var, Hürriyet, 20.1.2001. 252 Oktay Ekşi, Son tokadı kim atacak? Hürriyet, 19.1.2001; Hikmet Bila,

Küstah ve Ahlaksız, CU 24.1.2001

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Dieser Prozess der vorsichtigen Normalisierung der türkisch-arme-nischen Beziehungen stellte das türkische Außenministerium jedoch vor gravierende Probleme. Bis dahin hatte die Türkei ihre Beziehungen zu Armenien ausschließlich von dem Berg-Karabach Konflikt abhängig gemacht (Cumhuriyet, 14.1.2001). Daher reiste ein hochrangiger Büro-krat des Auswärtigen Amtes nach Baku, um die türkischen Annähe-rungspläne abzusprechen. Die neue Armenienpolitik des Auswärtigen Amtes stellte also eine vergleichsweise radikale Abkehr von der bis da-hin praktizierten Politik dar, die im Wesentlichen darin bestand, Arme-nien zu isolieren. Diese Änderung der türkischen Außenpolitik gegen-über Armenien hing direkt der Zunahme internationaler Völkermordde-batten zusammen (Cumhuriyet 22.1.2001).

Die von Außenminister Cem verfolgte schrittweise Annäherungs-politik an Armenien führte zu einem ersten direkten Treffen mit dem armenischen Außenminister Oskanyan und dem aserbaischanischen Au-ßenminister am Rande des NATO-Treffens in Reikyavik im Mai 2002. Zwar kam es bei dem halbstündigen Treffen nicht zu konkreten Ergeb-nissen. Aber allein das Zustandekommen wurde als positives Signal ge-wertet (TDN, 23.5.2002).

Die Politik der Annäherung an die Armenische Republik wurde in der Cumhuriyet als »Zickzackpolitik« kritisiert.253 Aber weder die Milli Gazete noch die Hürriyet beschäftigten sich mit der neuen Politik der Regierung gegenüber dem armenischen Nachbarland, was die bereits erwähnte dominante Rolle der Symbolpolitik im öffentlichen Diskurs zur Armenierfrage Anfang 2001 unterstreicht.254

Kritik an der Regierung

Die politische Führung suggerierte gegenüber der innenpolitischen Klientel eine Politik der Härte. Doch eine breite Front von Kritikern, die sich aus Kemalisten und Islamisten, Vertretern der Wirtschaft sowie ge-sellschaftlichen Akteuren zusammensetzte, klagte über die passive Hal-tung der Regierung im Vorfeld der französischen Entscheidung. Die Re-

253 Cüneyt Arcayürek, Dışarıdan içeriye gidişat, Cumhuriyet, 23.1.2001. 254 Wie im methodischen Teil ausgeführt, wurden für den Untersuchungs-

zeitraum ab der Jahrtausendwende weitere türkische Tageszeitungen für die Analyse des Diskursverlaufs hinzugezogen. In diesem Sinne sind im kritischen Diskursmoment von 2001 zwar auch die liberale Radikal und die beiden islamisch-konservativen Tageszeitungen Yeni Safak und Za-man hinzugezogen worden. Doch die Kodierung und Auswertung der Kommentare erfolgte vereinzelt, so dass offen bleiben muss, ob und in-wieweit diese drei Tageszeitungen auf den substantiellen Polikwechsel der Regierung in Bezug auf die Armenische Republik eingingen.

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gierung hatte demnach nicht nur nicht effektiv eingegriffen, sondern viel zu lange eine passive Zuschauerposition eingenommen.

Der Vorsitzende der kemalistischen CHP, Deniz Baykal, warf der Regierung Versagen angesichts einer Sache vor, in der »wir am meisten Recht haben« (Cumhuriyet, 19.1.2001). Politiker und Verbänden aus den islamisch-konservativen Reihen kritisierten, dass die türkische Poli-tik immer nur reagieren würde, wenn es im Ausland zu Völkermorddis-kussionen komme, statt langfristige Strategien der Prävention zu entwi-ckeln (Milli Gazete, 19.1.2001 und 22.01.2001).255 In der Hürriyet for-derte Sedat Ergin: »Sprechen wir es aus: das ist eine eindeutige Nieder-lage.«256

Aber trotz der scharfen Kritik an der Regierung riefen die politi-schen und gesellschaftlichen Akteure gleichzeitig zu nationaler Einheit und Zusammenhalt auf. In einer Situation, in der die nationale Geschich-te von Außen in Frage gestellt wurde, zeigten sich die Akteure als ihrer nationalen Pflichten bewusst (Milli Gazete, 20.1.2001).257 So versuchten die mächtigsten Wirtschaftsverbände des Landes ihre französischen Partnerverbände zu mobilisieren, sich politisch gegen das Inkrafttreten des Gesetzes einzusetzen (Hürriyet 24.1.2001 und 26.1.2001).258

Am meisten stand aber der Außenminister in der Kritik. Was hatte er tatsächlich unternommen, um die Entscheidung zu verhindern? Dass er sich zum Zeitpunkt der entscheidenden Plenarsitzung der französischen Nationalversammlung auf einer Auslandsreise befand und der Krisensit-zung des Kabinetts vom 18. Januar 2001 nicht beiwohnte, machte ihn zusätzlich verwundbar. In einem Cumhuriyet Kommentar hieß es iro-nisch, die Regierung könne ihre Abwehrstrategie gegen internationale Völkermordvorwürfe ja damit beginnen, ein Treffen des Kabinetts mit dem Außenminister zu organisieren.259 Ähnlich ironisch fragte der ehe-malige Außenminister Mümtaz Soysal in der Hürriyet, ob Cem die Lö-sung für die Gefahr der Genozidanerkennung wohl in Khartum oder Is-lamabad suchen würde, wo sich Cem zur Zeit der französischen Ent-scheidung befand.260 Auch der Titel eines Kommentars »Wo ist er denn? Wo ist er denn?« zeigt die außergewöhnlich starke Kritik am Außenmi-nister während des Diskursmoments von 2001.261

255 Vgl. auch Nedim Odabaş, Dertleri ne? Milli Gazete 19.1.2001. 256 Sedat Ergin, Soğukkanlılığı kaybetmemek, Hürriyet, 21.1.2001. 257 Resul Tosun, Sorumlu sadece Fransa mı? Milli Gazete, 22.1.2001; Tufan

Türenç, Bir işadamının isyanı, Hürriyet, 20.1.2001. 258 Vgl. auch Oktay Ekşi, Tepkimiz ulusal olmalı, Hürriyet, 21.1.2001. 259 Mustafa Balbay, Fransa ’Tarih’ değil ’Tahrik’ dedi, Cumhuriyet,

19.1.2001 260 Mümtaz Soysal, Bazı Türklerin Aklı, Hürriyet, 19.1.2001. 261 Cüneyt Arcayürek, Nerede, Nerede? CU, 20.1.2001.

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Ähnlich wie in der Hürriyet und der Cumhuriyet überwiegt zwar auch in der Milli Gazete das Bild von der untätigen Regierung. Doch die Milli Gazete nimmt die Niederlage der Regierung im Hinblick auf die Völkermordanerkennung Frankreichs zum Anlass die streng laizisti-schen Prinzipien zu kritisieren, die von den traditionellen kemalistischen Eliten der Türkei praktiziert werden. Demnach konzentriert sich die Re-gierung nicht die auf »eigentlichen nationalen Gefahren«, sondern ver-steift sich auf die »Klamotten der eigenen Bürger«.262 Offensichtlich wird hier auf das Kopftuchverbot in öffentlichen Räumen abgehoben. Die Ideologiekritik am laizistischen Kemalismus spiegelt das folgende Beispiel besonders gut wider. Im Zusammenhang mit der Frage nach den Gründen für die Untätigkeit der Regierung angesichts der Völker-mordentscheidung Frankreichs mutmaßt ein Kommentator der Milli Ga-zete verächtlich, dass das Außenministerium wohl zu sehr damit be-schäftigt gewesen sei, den »nationalen Marsch« (milli marş) zu sin-gen.263 Bei dem »nationalen Marsch« handelt es sich um einen Militär-marsch, der anlässlich des 10. Jahrestags der Gründung der Republik komponiert wurde und damit eines der zentralen Symbole der modernen Türkei darstellt.

Über die Möglichkeiten gesellschaftlicher und individueller Reaktionen

Die Sanktionspolitik der Regierung gegenüber Frankreich löste auch eine breite Debatte über die Frage aus, welche individuellen und gesell-schaftlichen Möglichkeiten der Sanktionierung Frankreichs bestanden. Konsens bestand darin, dass individuelle und kollektive Reaktionen Frankreich »weh tun« und deutlich machen mussten, dass die Armenier-resolution auch die gesellschaftlichen türkisch-französischen Beziehun-gen beeinträchtigen würde. Im öffentlichen Diskurs wurden verschiede-ne Möglichkeiten des Protestes besprochen, wobei die herangezogenen Medien die Bedeutung von symbolischen Protestaktionen ganz unter-schiedlich bewerteten.

Die in der öffentlichen Debatte diskutierten gesellschaftlichen Pro-testmöglichkeiten umfassten den Boykott der französischen Kultur und französischer Produkte. Einige Universitäten kündigten an, die Zusam-menarbeit mit französischen Partneruniversitäten einzufrieren und Fran-zösisch aus den Lehrplänen zu streichen (Hürriyet, 21.1.2001). Diese demonstrativen Gesten der Entrüstung waren innerhalb der Akademia

262 Resul Tosun, Sorumlu Sadece Fransa mı? Milli Gazete, 23.1.2001. 263 Ibrahim Tenekeci, Dış Politikamız, Milli Gazete, 22.1.2001.

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umstritten. Die Leitung der renommierten Galatasaray Üniversitesi in Istanbul264 und der Orta Doğu Teknik Üniversitesi in Ankara unterstri-chen z.B. die historische Tradition des türkisch-französischen kulturel-len Austausches.

Der Regierungschef Ecevit war im Hinblick auf die privaten Mög-lichkeiten des Protestes mit einem Beispiel vorangegangen, als er demonstrativ seinen Dienstwagen der französischen Marke Renault nicht bestieg (SZ, 13.1.2001). Auf den Straßen wurden französische Produkte oder die französische Fahne verbrannt (Milli Gazete, 21.1.2001). Diese letzte Form des Protestes symbolisiert ein besonders drastisches Zeichen der kollektiven Entrüstung. Es drohen scharfe ge-sellschaftliche Sanktionen, wenn die türkische Fahne nicht mit gebüh-rendem Respekt behandelt wird und der respektvolle Umgang mit der Fahne ist in der Türkei verfassungsrechtlich vorgeschrieben.

In der Hürriyet wurden die Protestaktionen der Bevölkerung unter-schiedlich bewertet. Für einen alle gesellschaftlichen Bereiche umfas-senden Boykott sprach sich der nationalkonservative Chefkolumnist Ok-tay Ekşi aus.265 Er rief dabei den Protest eines türkischen Diplomaten Anfang der 1970er Jahre in Erinnerung, der Paris eigenmächtig verlas-sen hatte, um seiner Entrüstung über die Errichtung eines Völkermord-mahnmals Ausdruck zu verleihen. Jeder Einzelne hatte nach Ekşi die Möglichkeit, sich Frankreich entgegenzustellen. Der Kommentar liest sich wie ein Mobilisierungsaufruf, nationale Einigkeit gegenüber der Armenierresolution an den Tag zu legen.266 Allerdings distanzierte sich Ekşi von »gewalttätigen, einfältigen und unzivilisierten« Protestaktio-nen, zu denen er das Verbrennen der französischen Fahne zählte.267 Der rechts-konservative Kolumnist und Populärhistoriker Murat Bardakçı schloss sich dieser Haltung an und lehnte Fahnenverbrennungen als »ungerechtes Vorgehen« gegenüber Frankreich ab.268

Entschiedene Kritik an den kulturellen Boykottmaßnahmen von Universitäten äußerten Mümtaz Soysal und Ilter Türkmen, zwei namhaf-te Vertreter der kemalistischen Elite und beides ehemalige Außenminis-ter.269 Der Eindruck, dass (ehemalige) staatliche Akteure mehrheitlich

264 Die Galatasaray Üniversitesi wurde 1451 von Sultan Beyazıt II gegrün-

det und ist die älteste Universität des Landes. 265 Oktay Ekşi, Yapacak çok şey var, Hürriyet, 20.1.2001. 266 Die Forderung nach nationaler Einheit ist auch bei Tufan Türenç, Bir

işadamının isyani, Hürriyet, 20.1.2001 zu finden. 267 Oktay Ekşi, Yapacak çok şey var, Hürriyet, 20.1.2001. Ders., Tepkimiz

Ulusal Olmalı, 21.1.2001. 268 Murat Bardakçı, Fransa 1918’de beterini yapmıştı, Hürriyet, 28.1.2001. 269 Mümtaz Soysal, Bazı Türklerin Aklı, Hürriyet 19.1.2001; Ilter Türkmen,

Sadizm ve Mazoşizm, Hürriyet, 25.1.2001.

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gegen kulturelle Boykotte waren, wird durch die Aussagen des mehrfach zitierten Ömer Engin Lütem verstärkt.270

Im Gegensatz zu der Haltung (ehemaliger) staatlicher Akteure unter-stützten Vertreter der rechts-nationalistischen Fraktion in der Hürriyet, wie etwa Emin Çölaşan und Fatih Altaylı, Aktionen, die sich als Ventil für »die Wut und den Ärger« der Menschen eigneten.271

In der Cumhuriyet hingegen wurden symbolische Gesten des Protes-tes oder Wirtschaftssanktionen sowohl auf Regierung- als auch auf ge-sellschaftlicher Ebene durchweg abgelehnt. So wurde die Symbolpolitik des Außenministers, der mit dem französischen Botschafter entgegen seiner Gewohnheit nicht auf Französisch, sondern Türkisch gesprochen hatte, stark kritisiert. Diese ironisch als »kulturelle Maßnahme« be-zeichnete Reaktion des Ministers veranlasste den Cumhuriyet-Kommen-tator Cüneyt Arcayürek zu der abfälligen Frage, was dieser »vermeintli-che Schock« bei dem Botschafter wohl ausgelöst habe. Hatte der Schock den Botschafter zu dem Dringlichkeitsanruf veranlasst, dass das Arme-niergesetz sofort gestoppt werden müsse? Hatte der Botschafter aus lau-ter »Sorge, dass die Türken sonst […] nicht mehr Französisch sprechen [und einen] großen Schlag gegen die französische Kultur« vorbereiteten, Paris davon überzeugt, das Gesetz zu annulieren?272

Das Urteil über die öffentlichen Protestkundgebungen in Form von Fahnenverbrennungen fällt in der Cumhuriyet ebenfalls vernichtend aus. Da ist von »steinzeitlichen, lächerlichen und wirkungslosen« Drohge-bärden die Rede (Cumhuriyet, 18.1.2001).273 Gar regelrechte Verachtung gegenüber solchen Gesten tritt in den folgenden Zeilen zutage: »Wer wird hier eigentlich für eine Gurke [im Sinne von Idiot, Anmerkung S.B.] gehalten, wenn vor das französische Konsulat in Izmir aus Protest Gurken gelegt werden?«274 In einem anderen Kommentar heißt es: »wir laufen dieser Tage mit Bannern mit ›Nieder mit Frankreich‹ herum«, um dann die schwerwiegende Selbstkritik anzuschließen, dass es »das Ein-zige [ist], wozu wir überhaupt fähig sind.«275

270 Interview mit Ömer Engin Lütem am 1.3.2004 in Ankara. 271 Emin Çölaşan, Fransa’nın intikami, Hürriyet, 20.1.2001; Fatih Altaylı, O

otomobilden inin Bülent Bey, Hürriyet, 20.1.2001; ders., Şeytan diyor ki!, Hürriyet, 31.1.2001.

272 Cüneyt Arcayürek, Nerede, Nerede?, Cumhuriyet, 20.1.2001; Vgl. auch Mustafa Balbay, der von einer »einfältigen symbolischen Protestpolitik der Regierung« spricht. In Fransa ›Tarih‹ değil ›Tahrik‹ dedi! Cumhuri-yet, 19.1.2001.

273 Vgl. auch Çelik Güler, La Morte de la France en Turquie, 29.1.2001. 274 Mustafa Balbay, Kafkaslar’daki Kof Kaslar! Cumhuriyet, 29.1.2001. 275 Hikmet Çetinkaya, Çıkar Ilişkileri, Cumhuriyet 24.1.2001. auch Hikmet

Bila, Küstah ve Ahlaksız, Cumhuriyet, 24.1.2001.

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Im Gegensatz zu der Hürriyet und der Cumhuriyet fällt bei der Milli Gazete auf, dass hier Protestaktionen nicht nur aktiv unterstützt wurden, indem z.B. Boykottlisten mit französischen Waren veröffentlicht wurden oder zu Unterschriftenkampagnen aufgerufen wurde. Die Milli Gazete berichtete vergleichsweise mehr über Protestaktionen als die Cumhuri-yet und die Hürriyet.276 Zudem kamen hier auch mehr Akteure zu Wort, die sich für Boykottmaßnahmen aussprachen. Darunter befanden sich Vertreter des muslimischen Unternehmensverbandes MÜSIAD, diverse Politiker aus dem islamistischen und rechtsnationalistischen Lager sowie konservative zivilgesellschaftliche Akteure. Nur vereinzelt war Kritik über die politische und gesellschaftliche Protestpolitik zu lesen.277

Ausbreitung des »Anerkennungsvirus« Die unermüdliche armenische Propagandamaschinerie Das weltweite Interesse an der Geschichte der osmanischen Armenier wurde im Diskursmoment von 2001 als »Ausbreitung der armenischen Thesen« gerahmt, womit das Bild einer unermüdlichen armenischen Propagandamaschinerie gezeichnet wurde. Die Milli Gazete titelte: »Dieses Virus wird sich weltweit ausbreiten« oder »Die Engländer sind an der Reihe«.278 Die Aufhänger in der Cumhuriyet und Hürriyet laute-ten ähnlich: »Völkermord Thesen breiten sich in Europa aus«,279 »Jetzt ist England an der Reihe«280 oder »Sie werden Bush zwingen, ›Völker-mord‹ zu sagen.«281

Das Bild von der »unermüdlichen armenischen Propagandamaschi-nerie« erhielt durch neuerliche Anerkennungsdiskussionen in den USA Auftrieb. Die knappe Verhinderung der Völkermordanerkennung durch das Veto von Bill Clinton wurde als bloße Atempause bewertet. Die »eigentliche Gefahr« hatte mit dem Wechsel der US-Administration be-

276 Vgl. exemplarisch Boykot Iğdır’dan başladı, Milli Gazete, 19.1.2001;

Reno’ya binmeyin, Milli Gazete, 20.1.2001; Boykota bunlardan başlay-ın, Milli Gazete, 21.1.2001; Fransız elmasına protesto, Milli Gazete, 21.1.2001; Fransa’ya tepki herkes imzaya, Milli Gazete, 31.1.2001.

277 Vgl. Ibrahim Tenekeci, Boykota Fransız Kalmak, Milli Gazete, 22.1. 2001.

278 Vgl. Bu virüs dünyaya yayılır, Milli Gazete, 20.1.2001; Ingilizler Sırada, Milli Gazete 22.1.2001.

279 Soykırım savları Avrupa’yı sardı, Cumhuriyet, 23.01.2001. 280 Sırada Ingiltere var, Cumhuriyet, 25.1.2001. Vgl. auch Yılın başağrısı:

Ermeni savları, Cumhuriyet, 1.1.2001. 281 Bush’a ›Soykırım‹ dedirtecekler, Cumhuriyet, 27.1.2001; Ermeni lobisi-

nin hedefi Bush’a soykırım dedirtmek, Hürriyet, 24.1.2001.

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gonnen.282 Der neue amerikanische Präsident George Bush schien dabei in der Pflicht zu stehen, weil er viele Stimmen aus dem armenisch-amerikanischen Lager bekommen hatte.

Außenminister Colin Powell versicherte gegenüber der türkischen Presse, dass Präsident Bush den Armeniern zwar entgegenkommen, aber nicht von Völkermord sprechen werde (Hürriyet, 11.1.2001 und 19.1.. 2001). Der amerikanische Botschafter in Ankara äußerte sich ähnlich wie Powell. Danach wollten die USA in erster Linie die armenisch-türkischen Beziehungen fördern und in diesem Kontext würde sich eine Genozidanerkennung eher hinderlich als nützlich erweisen (Hürriyet, 25.1.2001).

Diesen politischen Zusicherungen stand in der öffentlichen Kommu-nikation die Vorstellung von der »armenischen Propagandamaschinerie« entgegen. In diversen Artikeln wurde das Bild präsentiert, dass die ar-menisch-amerikanische Lobby ununterbrochen aktiv war und bereits erste konkrete Schritte unternommen hatte, sowohl die neue Administra-tion Bush zur Völkermordanerkennung zu bewegen als auch die An-erkennung auf der Ebene der Bundesstaaten voranzutreiben.283 Die Er-nennung eines Sekretärs, der der armenisch-amerikanischen Lobby na-hestand, nährte weiter die Sorge darüber, dass die größte Gefahr in den USA noch nicht überstanden war (Hürriyet, 3.1.2001). Nicht nur hatte die armenische Lobby damit einen Sieg verbucht. Der neue Sekretär, Spencer Abraham war der Hürriyet zufolge bereits mehrfach durch seine »anti-türkische Haltung« aufgefallen.284

Um die amerikanische Öffentlichkeit zu ihren Gunsten zu beeinflus-sen, würden Armenier selbst vor der Beleidigung nationaler Symbole der Türkei nicht zurückschrecken. Die »Schändung« der türkischen Fahne, die in einem New Yorker Presseorgan mit einem Totenbild und der Überschrift »Die moderne Türkei gründet auf der Asche der armeni-schen Opfer des Völkermords« abgebildet worden war, ergänzte das Bild von der armenischen Propagandamaschinerie (Milli Gazete, 24.1. 2001).

Schließlich führte ein zeitgleiches Ereignis in den USA dazu, dass das Bild der unermüdlichen armenischen Lobby mit dem Topos des armeni-schen Terrorismus verquickt wurde. Für den armenisch-amerikanischen 282 Mehmet Ali Birand, Asıl tehlike, ABD kongresinde, 25.1.2001; Vgl.

auch Mustafa Balbay, Etraftaki Sorunlar, Cumhuriyet, 13.1.2001. 283 Ermeniler, Bush’u etkilemeye çalışıyor, Milli Gazete, 24.1.2001; Erme-

nilerin amacı Bush’a soykırım dedirtmek, Milli Gazete, 25.1.2001; Er-meni lobisi atağa geçiyor, Cumhuriyet, 8.1.2001; ABD’de 2001’in ilk ›Ermeni soykırımı‹ yasa tasarısı, Hürriyet, 16.1.2001. Ermeni tasarısı eyalet meclisinde, Milli Gazete, 17.1.2001.

284 Vgl. auch Hastert’tan yine çelme, Milli Gazete, 6.1.2001.

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Aktivisten Murad Topalyan, der in Zusammenhang mit einem Attentat auf einen türkisch-amerikanischen Verein und illegalem Waffenbesitz in den 1980er Jahren vor Gericht stand, beantragte die Staatsanwaltschaft laut türkischen Pressemeldungen im Januar 2001 eine Haftstrafe von 37 Monaten (Radikal, 25.1.2001). Es hieß, dass Topalyan die Unterstützung des ausscheidenden US-Präsidenten Clinton genoss, der ihn 1999 sogar im Weißen Haus empfangen hatte. Die Cumhuriyet meldete, dass es Hinweise darauf gäbe, dass Clinton das Justizministerium angewiesen habe, Topalyan eine milde Strafe zu geben (Cumhuriyet, 25.1.2001). Die Erklärung, die dafür herangezogen wurde, dass Topalyan tatsächlich mit einer milden Strafe davon gekommen war, bestand in den Kontakten des »armenischen Terroristen« zu mächtigen armenischen Finanzkreisen und seiner Fähigkeit »beträchtliche finanzielle Unterstützung« für politische Wahlkampagnen zu akquirieren (Cumhuriyet, 25.1.2001; Hürriyet 24.1.2001).

Ausbreitungsgefahr in Europa

Die öffentliche Wahrnehmung, dass sich die armenischen Thesen ge-wissermaßen wie eine Seuche in Europa verbreiteten, verstärkte sich, als kurze Zeit nach der Völkermordentscheidung Frankreichs und den Anerkennungsinitiativen in den USA bekannt wurde, dass zu einer staatlichen Gedenkveranstaltung an den Holocaust in Großbritannien auch armenische Repräsentanten eingeladen worden waren (Cumhuri-yet, 23.1.2001). Dabei hatten die britische Regierung und die Organisa-toren laut türkischen Medien bis zuletzt einen gegenteiligen Eindruck erweckt. Die britische Umweltministerin Beverly Hughes hatte wäh-rend eines Türkeiaufenthalts wenige Tage vor der Veranstaltung er-klärt, ihre Regierung würde die Vorfälle von 1915 nicht als Genozid im Sinne der UN-Genozidkonvention betrachten. Die Milli Gazete berich-tete, dass die Ministerin auch versichert hätte, dass armenische Reprä-sentanten zu der Holocaustveranstaltung nicht eingeladen worden sei-en. Die Erleichterung, die mit diesen Äußerungen einherging, wird an dem Titel, der »Völkermord ist keiner« (Milli Gazete, 25.1.2001) deut-lich. Hier hieß es, dass die britische Ministerin »Balsam auf unsere Seele« gestrichen hätte.

Dass sich die britische Regierung letztlich anders entschied, hing mit dem öffentlichen Druck in englischen Medien zusammen, dass die Re-gierung aufgrund außenpolitischer Erwägungen von der Einladung ar-menischer Repräsentanten abgesehen hätte (Hürriyet, 28.1.2001 und 21.1.2001). Kurz vor der Veranstaltung protestierte die türkische Regie-rung noch einmal scharf gegen die Einladung armenischer Repräsentan-

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ten zur Holocaustgedenkveranstaltung (Cumhuriyet 27.1.2001). Als Re-aktion auf die Teilnahme des armenischen Patriarchen Großbritanniens und eines Überlebenden an der Zwangsdeportation von 1915 blieb der türkische Botschafter der Veranstaltung fern.

In der türkischen Berichterstattung wurde später herausgehoben, dass Premierminister Tony Blair von historischen Lehren gesprochen hätte, nicht aber auf den armenischen Fall eingegangen sei. Die Hürriyet kritisierte aber die »große Unanständigkeit des BBC«. Der Nachrichten-sender hätte in seiner Live-Übertragung zwar nicht von Völkermord ge-sprochen, später hätte ein BBC-Journalist aber den armenischen Fall doch als Völkermord bezeichnet (Hürriyet, 28.01.2001).

Die Cumhuriyet bildete die Herangehensweise der britischen Regie-rung und der BBC insgesamt als »typisch englische Doppelgesichtig-keit« und »Hintertürpolitik« (Cumhuriyet, 25.1.2001) ab. Während die BBC trotz der Nichtverwendung des Genozidbegriffs die »armenischen Behauptungen« einseitig aufgegriffen und sich damit auf die Seite der »20 Tausend Armenier und gegen die 250 Tausend türkischen Migran-ten in Großbritannien«, ganz zu schweigen von der »70 Millionennation Türkei«, entschieden hatte, inszenierte die britische Regierung eine In-trigenpolitik, die »typisch« für sie war. Gegenüber der türkischen Seite wurde scheinheilig gefragt, »Was denn, wo habt Ihr das denn her? Ar-menier werden wir nicht einladen« und gleichzeitig den Armeniern ver-sichert »Eure Plätze sind reserviert, bitte nach euch.«285

Europäische und französische »Schuld« An der Einladung des armenischen Repräsentanten zum Holocaust Ge-denktag entzündete sich erstmals im türkischen Erinnerungsdiskurs über die Armenierfrage eine breite Debatte über den Holocaust. Die Einla-dung wurde als Versuch interpretiert, die Geschichte von 1915 mit dem Holocaust gleichsetzen zu wollen. Aber auch die Völkermordentschei-dung Frankreichs wurde als Teil einer umfassenderen Entwicklung in Europa wahrgenommen, in der die Türkei zu einer »zweiten Holocaust-nation« gemacht werden sollte.

Die Verurteilung des renommierten Historikers der Universität Princeton, Bernard Lewis, durch ein französisches Gericht diente im Erinnerungsdiskurs von 2001 als Beweis, dass Frankreich den armeni-schen Fall mit dem Holocaust gleichsetzte. In einem Interview mit der Le Monde hatte Lewis die Deutung der Geschichte von 1915 als Völ- 285 Mustafa Balbay, Kafkaslar’daki Kof Kaslar, Cumhuriyet, 29.1.2001;

vgl. auch Cüneyt Arcayürek, Dışarıdan Içeriye Gidişat! Cumhuriyet, 23.01. 2001.

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kermord als die »armenische Version der Geschichte« bezeichnet (Le Monde, 16.11.1993), worauf er von dem »Forum Armenischer Verbände in Frankreich« und der »Internationalen Liga gegen Rassismus und Anti-Semitismus« angezeigt worden war. Das Gericht verurteilte Lewis zu einer symbolischen Strafe von einem Franc wegen Verunglimpfung des Andenkens der Opfer. In der Urteilsverkündung wurde betont, dass es nicht in die Zuständigkeit des Gerichts fiele, über den Völkermord-charakter von 1915 zu urteilen. Dieser Aspekt sei die Domäne der Histo-riker. Ein Historiker hätte im Prinzip die Freiheit, versicherte das Ge-richt weiter, die historischen Fakten so zu präsentieren, wie er sie per-sönlich für richtig hält. Schuldig befand das Gericht Bernard Lewis je-doch insofern, als er der armenischen Gemeinschaft mit seinen Äuße-rungen ideellen Schmerz zugefügt hätte.286

Im Erinnerungsdiskurs der Türkei wurden die Entwicklungen als europäischen Bestrebungen aufgefasst, die Türkei zu einer »zweiten Ho-locaustnation« zu machen. Die »europäische Schuld« führte dazu, dass die »armenischen Behauptungen« in vielen Ländern Europas auf Gehör stießen, weil sie selbst aktiv an der Ermordung der europäischen Juden teilgenommen hatten und damit ihre eigenen Untaten relativieren woll-ten.

Die Europäer waren aber nicht nur Mitschuld am Holocaust, sondern auch an der Eskalation der historischen Armenischen Frage. So hatten die europäischen Großmächte, allen voran Frankreich, zu Beginn des 20. Jahrhunderts den osmanischen Armeniern unrealistische Versprechun-gen gemacht.287 Während der Besatzungszeit nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hatte Frankreich die Armenier der Region Kilikien als Le-gionäre angeworben. »Und diese armenischen Legionäre in französi-schen Uniformen begannen daraufhin, die Region zu terrorisieren.«288 Die Milli Gazete führte dies weiter: Die von den Franzosen uniformier-ten Armenier hatten 200 Türken in einer Region massakriert. Die fran- 286 In der Urteilsbegründung hieß es: »Whereas, even if it is in no way esta-

blished that he pursued an objective foreign to his role as historian, and even if it is not disputable that he may maintain an opinion on this ques-tion different from those of the petitioning associations, the fact remains that it was by concealing information contrary to his thesis that the de-fendant was able to assert that there was no »serious proof« of the Ar-menian genocide; consequently, he failed in his duties of objectivity and prudence by offering unqualified opinions on such a sensitive subject; and his remarks, which could unfairly rekindle the pain of the Armenian community, are tortious and justify compensation under the terms set forth hereafter.« Abgedruckt in www.ids.net/~gregan/dec_eng.html. Stand 12.3.2007.

287 Interview mit Ömer Engin Lütem am 1.3.2004 in Ankara. 288 Toktamış Ateş, Ermeniler ve Fransa, Cumhuriyet, 25.1.2001.

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zösischen Behörden hatten aber nie auf den darauf folgenden schriftli-chen Protest der türkischen Bevölkerung reagiert (Milli Gazete, 21.1.2001). Als Reaktion auf den armenischen Terror griffen die Türken ebenfalls zu den Waffen und wehrten sich. Die Armenier mussten aber massenhaft nach Syrien und Libanon fliehen, weil sich Frankreich zu-rückzog und die Armenier im Stich ließen, als die kemalistische Be-freiungsbewegung immer mehr an Boden gewann.289 Die Existenz ar-menischer Gemeinden in Syrien und Libanon geht nach dieser Darstel-lung zumindest teilweise auf das französische Vorgehen in der Region zurück. Angesichts dieser historischen Ausgangslage versuchten die Franzosen nun die Schuld am Schicksal der osmanischen Armenier los-zuwerden und ihr Gewissen gegenüber den Armeniern zu erleichtern.290 Die Franzosen plagten »phänomenale Schuldgefühle«, weil sie den Ar-meniern völlig unrealistische und leere Versprechungen gemacht hat-ten.291 Diese Gewissensbisse zeigten sich laut der Milli Gazete darin, dass die »Franzosen […] den Armeniern immer noch Veteranengelder« bezahlen würden.292

Die Völkermordanerkennung des französischen Parlaments wurde vor diesem Hintergrund also als eine Art Entschuldigung an die Arme-nier gewertet, um das eigene Gewissen zu erleichtern. Der Staatsminis-ter Ramazan Mirzaoğlu beklagte, dass Frankreich einst die Armenier angestachelt habe und sich nun als ihr Beschützer aufspiele. Die histori-sche Menschenrechtsbilanz der Türkei sei im Vergleich zu den Untaten Europas tadellos (Cumhuriyet, 19.1.2001).

Relativierung des Holocaust Die Bezugnahme auf den Holocaust ging im Diskurs der 2000er Jahre mit dem Vorwurf an die Europäer einher, dass sie ihre eigene aktive Be-teiligung am Holocaust verschleiern wollten, indem sie die Türkei in der Kreis der Völkermörder zogen.

Staatssekretär Sükrü Sina Gürel kritisierte, dass »diejenigen, die die Geschichte der Türkei mit einem Menschlichkeitsverbrechen beschmut-zen, ihre eigenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit relativieren wol-len« (in Cumhuriyet, 29.1.2001). Initiativen in Deutschland, den Geno-zid an den Armeniern im Bundestag zu debattieren, wurden als »wir sol-len Hitlers Muse gewesen sein« und als »lächerliche« Vorstellungen beschrieben (Hürriyet, 31.1.2001). Deutschland hatte sich somit in die

289 Ebenda. 290 Toktamış Ateş, Ermeniler ve Fransa, Cumhuriyet, 25.1.2001. 291 Interview mit Ömer Engin Lütem am 1.3.2004. 292 Fransızlar, Ermenilere diyet ödüyor, Milli Gazete, 21.1.2001.

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Reihe der politischen Ausbeuter der armenischen Geschichte begeben. Das erstaunte die türkischen Beobachter aber kaum. So konnten die Deutschen sagen, »schaut her, wir sind nicht die einzigen Völkermör-der.« 293 Daher brauchte man sich nicht zu wundern, »wenn sich Deutschland, das 7 Millionen Juden in Gaskammern umgebracht hat, morgen schamlos vor uns stellt und sagt, ›Ihr seid des Völkermordes schuldig‹.«294

In der öffentlichen Auseinandersetzung profitierte aber nicht nur Deutschland von den europäischen Bestrebungen, die Mittäterschaft am Holocaust zu relativieren und über die eigenen Menschheitsverbrechen hinwegzutäuschen. So wurde unterstrichen, dass auch andere europäi-sche Länder an der Vernichtung der europäischen Juden teilgenommen hatten. »Die Deportationspfeile, die in Auschwitz zusammentreffen«, hieß es, »kommen aus allen Richtungen Europas.«295

Des Weiteren wurde darauf abgehoben, dass der Holocaust als größ-tes Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Geschichte nicht mit anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleichgesetzt werden dür-fe. Die Charakterisierung des armenischen Falles als Völkermord würde damit nicht nur das Gewissen der Europäer erleichtern. »Viel bedeuten-der […] ist, dass Europa den Holocaust damit verwässert.«296

Einzigartigkeit des Holocaust Der Holocaust entwickelte sich seit Anfang der 2000er Jahre damit zu einem zentralen Thema im Erinnerungsdiskurs der Türkei an die Ver-treibungsgeschichte der Armenier. Dabei stellen die nationalsozialisti-schen Verbrechen in der öffentlichen Wahrnehmung der Türkei Völ-kermord im eigentlichen Sinne dar. In diesem Kontext behauptete Meh-met Ali Birand, dass es international bekannt sei, »dass es sich bei den Ereignissen von 1915 nicht um einen geplanten Völkermord wie im Fall der Juden handelt.«297

Die exklusive Zuordnung des Völkermordtatbestands auf den Holo-caust wird durch den Umstand verstärkt, dass der Begriff Holocaust in

293 Mustafa Balbay, Kafkaslardaki Kof Kaslar, Cumhuriyet, 29.1.2001. 294 Oktay Ekşi, Sızlanmak bir çare değil, Hürriyet, 28.1.2001. Auch der

Chefredakteur der Cumhuriyet gibt zu bedenken, dass Deutschland er-leichtert sein wird, wenn es die Schande des Völkermords mit der Türkei teilen würde. Ilhan Selçuk, 1915’i 2001’e taşımak, Cumhuriyet, 27.1. 2001.

295 Ferai Tınç, Tarihe bir hediye, Hürriyet, 21.1.2001. 296 erai Tınç, Tarihe bir hediye, Hürriyet, 21.1.2001. 297 Mehmet Ali Birand, Ermeniler kazanıyor, Hürriyet, 19.1.2001.

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der Türkei nicht gängig ist. Der Mord an den europäischen Juden wird mit dem Begriff Soykırım und vereinzelt als Jenosid (Genozid) be-schrieben.298 Wenn von dem Völkermord an den Armeniern die Rede ist, so wird auch hierzu der für den Holocaust gängige Ausdruck Soykı-rım verwendet. Die internationalen Debatten und Anerkennungsinitiati-ven lösen in der Türkei damit nicht bloß Assoziationen mit den national-sozialistischen Verbrechen aus. Vielmehr handelt es sich auf sprachli-cher Ebene um eine Gleichsetzung beider historischer Verbrechen.

Diesem auf den ersten Blick sensiblen Umgang mit dem Holocaust steht allerdings der eklatante Widerspruch entgegen, dass in der türki-schen Öffentlichkeit vergleichsweise schnell von Völkermord gespro-chen wird, wenn es um die Untaten von anderen Nationen geht. Insbe-sondere in der Milli Gazete wird der Begriff geradezu inflationär ge-braucht. Wenn es sich bei den Opfern um Muslime und bei den Tätern um Nicht-Muslime handelt, kann sogar davon ausgegangen werden, dass die Milli Gazete regelmäßig von Völkermord spricht.

Die exklusive Herangehensweise an den Holocaust als einziges do-kumentiertes Völkermordereignis zeigte sich bereits in der Reaktion auf die Völkermordentscheidung des Europäischen Parlaments von 1987. In einem einschlägigen Kommentar argumentierte Hasan Cemal, dass Völ-kermord ein systematisches, auf die Vernichtung einer Rasse abzielen-des Verbrechen wie im Fall des nationalsozialistischen Faschismus sei.299 Von solch einer systematischen und insbesondere rassistisch be-dingten Vernichtungspolitik konnte nach Cemal im armenischen Fall jedoch nicht die Rede sein.

Vor diesem Hintergrund sind Systematik und eine rassistische Ideolo-gie die maßgeblichen Eigenschaften, die im Erinnerungsdiskurs der Tür-kei einen Massenmord von einem Völkermord unterscheiden. So wurde die Systematik der NS-Vernichtungspolitik im Diskursmoment von 2001 anhand minutiöser Beschreibungen von Konzentrationslagern dargestellt und damit die exzeptionelle Dimension der Vernichtung der europäischen Juden unterstrichen. In der Hürriyet beschrieb Ferai Tınç, dass die Ver-

298 Für eine seltene Verwendung des Begriffs Shoah in der türkischen Öf-

fentlichkeit für die Beschreibung des Holocaust siehe Hadi Uluengin, Soah, Hürriyet, 27.1.2007.

299 Hasan Cemal, Lütfen! Cumhuriyet, 20.06.1987. Im vorliegenden Zu-sammenhang ist der Diskursträger Hasan Cemal in zweierlei Hinsicht bedeutend: Cemal ist ein Enkel von Cemal Pascha, dem dritten Mann an der Spitze der jungtürkischen Herrschaft während des Ersten Weltkriegs. Daneben zählt Cemal zu den Schlüsselfiguren der türkischen Presseland-schaft. Cemal war lange Jahre für die elitäre Cumhuriyet tätig und hatte hier zeitweise den Posten des Chefredakteurs inne. Heute schreibt er für die Tageszeitung Milliyet.

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nichtungsmaschinerie von Nazideutschland lückenlos funktioniert hatte: »Während Mengele seine Versuche an Zwillingen unternahm, wurden Stoffe aus den Haaren der Opfer gewebt (den Anblick eines braunen Stoffballens, an dessen Rändern noch Haare hervorschauten, kann ich nicht vergessen) und die mit größter Gründlichkeit für die Verbrennung der Menschen hergestellten Verbrennungsöfen produzierten Rohstoffe für Seife.«300 Die Autorin weist hier nicht nur auf die Effizienz des Nazisys-tems bei der Judenverfolgung hin, sondern entschuldigt gleichzeitig den armenischen Fall, wenn sie hinzufügt »Nichts wird hier verschwendet. Das hier ist kein Bürgerkrieg, kein Rachefeldzug. Es ist eine kalte Ver-nichtung. Ein Völkermord.«301

Das zweite charakteristische Kriterium für Völkermorde in der türki-schen öffentlichen Wahrnehmung, nämlich Rassismus im Allgemeinen und Antisemitismus im Speziellen, dient ebenso als ein selbstverständli-ches Gegenargument gegen den Völkermordcharakter von 1915. Eine rassistische Ideologie wird im armenischen Fall kategorisch ausge-schlossen. So kommentiert der Chefredakteur der Cumhuriyet, Ilhan Selçuk, dass es die »Pflicht eines jeden Türken« sei, nach der Wahrheit zu suchen und unvoreingenommen der Frage nachzugehen, was 1915 wirklich geschehen sei.302 Mit seiner anschließenden Feststellung, dass das Osmanische Reich keinerlei Rassismus kannte und in ethnischer Hinsicht egalitär ausgerichtet war, schließt er aber von Vornherein aus, dass es sich bei 1915 um einen Völkermord handeln kann. Dies zeigt wiederum das zugrundeliegende Völkermordverständnis des Autors: ein Massenmord stellt nur dann einen Völkermord dar, wenn eine rassisti-sche Ideologie der zentrale Auslöser der Vernichtung ist.

In der Einschätzung, dass die Tötung der osmanischen Armenier keine mit dem Holocaust vergleichbare systematische Ausrottungspoli-tik darstellte, herrscht also Konsens in der türkischen Gesellschaft.

Ein weiteres Beispiel für die spezifisch türkische Perzeption der Einmaligkeit des Holocaustes ist ein jüngerer Text des linksliberalen Hadi Uluengin in der Hürriyet, in dem der Autor die Familiengeschichte der bekannten türkischen Romanautorin Ayşe Kulin kommentiert. Letz-tere hatte sich in einem offenen Brief in der Hürriyet an die Heirat ihrer türkischen Tante mit einem Armenier – ihrem »geliebten Schwager« – wenige Jahre nach den Deportationen erinnert.303 Im Laufe des Briefes

300 Ferai Tınç, Tarihe bir hediye, Hürriyet, 21.1.2001. 301 Ferai Tınç, Tarihe bir hediye, Hürriyet, 21.1.2001. 302 Ilhan Selçuk, 1915’i 2001’e taşımak, Cumhuriyet, 27.1.2001. 303 Den Brief richtete die Autorin an den Chef-Redakteur der Hürriyet, Er-

tuğrul Özkök, der Teile davon am 3.11.2005 unter dem Titel »Mein lie-ber Schwager« veröffentlichte.

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trat zwar auch die schreckliche Leidensgeschichte der Familie ihres Schwagers zu Tage. Doch die großartige Liebesbeziehung ihrer Tante Sabahat und deren Mann Aram sowie die Tatsache, dass die beiden trotz aller Hindernisse geheiratet hatten, zeigten nach Kulin, dass »wir keinen Völkermord gegen die Armenier verübt haben.«

Im vorliegenden Kontext geht es nicht um die sich eklatant wider-sprechenden, insbesondere die relativierenden und beschönigenden As-pekte der Erzählung von Kulin.304 Im Vordergrund steht vielmehr die Reaktion von Hadi Uluengin auf diese Liebesgeschichte und seine Schlussfolgerung im Hinblick auf die zentralen Unterschiede zwischen der Vertreibung der Armenier und dem Holocaust im Sinne eines eigent-lichen Völkermordes.305 Hierzu zählt er etwa den Umstand, dass es über-haupt zu einer Heirat zwischen einer Türkin und einem Armenier komen konnte. »Also gut«, meint Uluengin daher, »gesellschaftlicher Druck hin oder her. Sabahat und Aram konnten letzten Endes heiraten. Vergessen wir aber nicht, dass im Naziregime bereits Jahre vor der Shoah mit den Nürnberger Gesetzen 1935 für die Juden allein das Händchenhalten mit Ariern einer Todesstraftat gleichkam.« Zudem konnten Teile der Familie des Schwagers von Ayşe Kulin aus der Stadt Merzifon fliehen und in einer Kirche Zuflucht finden. »Aber von keinem einzigen Juden ist be-kannt«, wendet Uluengin demgegenüber ein, »dass er seinen Kopf aus Dachau retten und auch nur einen einzigen Schritt in Richtung einer Berliner Synagoge setzen konnte.«

»Umzingelung der Türkei« durch Völkermordanerkennung

Armenischer Revisionismus Anfang der 2000er Jahre begann man sich in der Türkei allmählich da-mit abzufinden, dass die türkische Version der Geschichte von 1915 international immer weniger Anklang fand. Die Armenier hatten die Weltöffentlichkeit zugunsten ihrer Sicht der Geschichte beeinflusst oder – in den Worten eines Kommentators der Milli Gazete – eine »Lüge wie eine Wahrheit« verbreitet.306 Die Suche nach Möglichkeiten, wie inter-nationale Völkermordanerkennungen verhindert werden konnten, wurde von der Frage abgelöst, was die Armenier nach den Anerkennungen auf dem Plan hatten. Die erinnerungspolitischen Entwicklungen in den USA und in Europa wurden als ein Indiz dafür gesehen, dass die Armenische

304 Für eine scharfe Kritik an Ayşe Kulins Argumentation siehe Murat

Belge, Ayşe Kulin’in Eniştesi, Radikal, 5.11.2006. 305 Hadi Uluengin, Merzifon’dan Pire’ye, Hürriyet, 4.11.2006. 306 Zeki Ceyhan, Niye bizim hiç dostumuz yok? Milli Gazete, 20.1.2001.

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Frage wie ein Damoklesschwert über der Türkei schwebte. »Eins ist si-cher«, war in der Cumhuriyet zu lesen, »wir stehen vor einem Problem, das nicht auf Frankreich begrenzt, keine Zufallserscheinung und nicht abzuschätzen ist.«307 Was aber stand auf dem Plan der Armenier nach den Anerkennungen?

Reparationszahlungen und territoriale Forderungen wurden im Dis-kursmoment 2001 als eigentliche Ziele der armenischen Diaspora identi-fiziert. Diese mit der armenischen Erinnerungspolitik assoziierten lang-fristigen Ziele, stellen in der staatlichen und gesellschaftlichen Deutung Revisionismus dar. Für die türkische Seite des Deutungskonflikts sind die mit der Deportation der osmanischen Armenier zusammenhängen-den Probleme mit der Gründung der modernen Türkei und dem Lausan-ner Vertrag völkerrechtlich verbindlich geregelt. Die völkerrechtlichen Regelungen beziehen sich auf die territorialen Grenzen der Türkei und der Abkehr von der Gründung eines armenischen Staates, dies zwar von den Alliierten vorgesehen war, aber auf der Lausanner Konferenz fallen gelassen wurde. Die Armenische Frage gilt für den türkischen Staat von daher sowohl in historischer als auch in völkerrechtlicher Hinsicht als ein abgeschlossenes Kapitel.308

Vor diesem Hintergrund schlug sich die als revisionistisch aufge-fasste Stoßrichtung der armenischen Erinnerungspolitik in dem Topos des »armenischen 3 T-Plans« nieder, der auf institutioneller Ebene vom Militär und auf der gesellschaftlich-politischen Eben von nationalisti-schen Diskursteilnehmern vorgebracht wurde. Danach umfasste der Plan die drei Phasen Anerkennung (tanıma), Reparationszahlungen (tazminat) und Landforderungen (toprak) (Cumhuriyet, 8.1.2001). Den Ausgangs-punkt dieses umfassenden und langfristig angelegten Planes stellten die internationale Verbreitung der Völkermordvorwürfe und damit die An-erkennung des Genozids durch nationale Parlamente dar. In einem zwei-ten Schritt wollten die Armenier die Türkei zu einer Entschuldigung zwingen, um schließlich ihr finales Ziel der Revision der türkischen Grenzen und die territorialen Ansprüche zu verwirklichen.309

Das Militär differenzierte den mehrstufigen Plan der Armenier und sprach von einem »4 T-Plan« (Hürriyet, 14.1.2001). Hier wurde der To-pos des Terrorismus (terrorism) als eine eigenständige Phase und expli-zit als integraler Bestandteil des strategischen Vorgehens der armeni-schen Diaspora, die Türkei zu territorialen Zugeständnissen zu bringen, hervorgehoben. Die Phasen des »4-T-Plans« lauteten demnach: Terro-

307 Çelik Gülersoy, La Mort de la France en Turquie, Cumhuriyet, 29.1.

2001. 308 Interview mit Ömer Engin Lütem am 1.3.2001 in Ankara. 309 Mustafa Balbay, Fransa ’Tarih’ değil, ’Tahrik’ dedi, 19.1.2001.

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rismus, Anerkennung, Reparationszahlungen und Land. Obwohl beide Beschreibungen im Hinblick auf die angenommenen langfristigen Ziele der armenischen Diaspora im Kern auf die revisionistische Ausrichtung der armenischen Erinnerungs- und Anerkennungspolitik abzielen, macht die explizite Aufzählung des Terrorismus als eine eigenständige Phase erneut deutlich, dass »armenischer Terrorismus« eines der tragenden Deutungsmuster ist, wenn es um die historische Armenierfrage oder die damit verbundenen außen- und innenpolitischen Implikationen für die Türkei geht.

Die EU und die Gefährdung der nationalen Einheit

Die Europäische Union spielte im Erinnerungsdiskurs Anfang der 2000er Jahre eine herausragende Rolle. Die Thematisierung der Arme-nierfrage in EU-Ländern wurde als Deckmantel für die geringe Bereit-schaft der EU wahrgenommen, die Türkei in die EU aufzunehmen.310

Die »Lügen des Erweiterungskommissars Günther Verheugen«, wie es der linksnationalistische Wirtschaftsprofessor Erol Manisalı in der Cumhuriyet ausdrückte, konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die EU die Türkei früher oder später zur Anerkennung des Genozids zu zwingen versuchen würde.311 Denn wer konnte ausschließen, dass sich Verheugens Nachfolger »Mr. Hans in 10 Jahren vor die Türkei stellt und die Erfüllung der revisionistischen armenischen Ansprüche als das wich-tigste Problem eines EU-Beitritts der Türkei vorgibt«, fragte Manisalı.312

Der Präsident des türkischen Teils Zyperns, Rauf Denktaş, warf der EU moralische Doppelstandards vor. Die aktuellen europäischen Debat-ten über die Armenische Frage waren nach Denktaş kein Zufall, sondern ein willkommener Vorwand, die Türkei aus der Union herauszuhalten und eine türkische Anerkennung von 1915 als Völkermord früher oder später zu einem offiziellen EU-Beitrittskriterium zu erklären (Milli Ga-zete, 21.1.2001).

Diese Wahrnehmung der Einstellung der EU gegenüber der Türkei spitzte der rechtsnationalistische Hürriyet-Kommentator Emin Cölaşan zu. Den Europäern konnte die Türkei niemals gefällig genug sein. »Wenn die Behauptungen über einen Völkermord an den Armeniern

310 Vgl. Mümtaz Soysal, Yükleniş ve niyet, Hürriyet, 26.1.2001; Cüneyt

Arcayürek, Dışarıdan Içeriye Gidişat, Cumhuriyet, 23.1.2001; ›Soykı-rım‹ iddiaları tesadüf değil‹, Cumhuriyet 26.1.2001; Hikmet Bila, Fran-sa’nın Savaş Ilanı, Cumhuriyet 31.1.2001; Yaptığınız insanlığa sığmı-yor, Milli Gazete, 21.1.2001.

311 Erol Manisalı, Verheugen Yalan Söylüyor. Cumhuriyet, 31.1.2001. 312 Ebenda.

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nicht mehr aktuell sind, werden sie morgen kommen und behaupten, Sultan Fatih Mehmet hat im Jahre 1453 einen Völkermord in Byzanz verübt. Ihr müsst jetzt dafür gerade stehen.« 313 Angesichts des Um-stands, dass das Jahr 1453 den glorreichen Aufstieg und die Blüte des Osmanischen Reiches symbolisiert, stellt der Autor jedwede Logik der Thematisierung der Armenischen Frage in Abrede. Den internationalen Debatten über die Vertreibung der Armenier werden die moralische Ba-sis und die historische Faktizität abgesprochen. Mit dem herangezoge-nen Beispiel der Eroberung Konstantinopels von 1453 als potentiell nächstem Anlaß, für die Europäer, die Türkei an den Pranger zu stellen, wird jeder Versuch, historisches Unrecht in Frage zu stellen, von vorne-herein zur Farce deklariert. Noch bedeutender ist jedoch, dass der Kommentator die Völkermorddebatten in Europa mit seinem Beispiel zu willkürlichen und primär anti-türkisch motivierten Unterfangen macht.

Aber vor allem das Militär zählte im Diskursmoment von 2001 zu den schärfsten Kritikern der EU. Die Heranführungsstragie 2000 der EU oder die Nichteinladung der Türkei zu den ESVP-Planungen auf dem EU-Gipfel in Nizza (2000) wertete das Militär als Umgehung der Be-dürfnisse und (sicherheits-)politischen Interessen der Türkei. Im Rah-men eines von Militärvertretern veranstalten Symposiums warfen rang-hohe türkische Militärs der EU vor, sich »ungerecht und illoyal« zu ver-halten und damit ein »Gefühl des Betrogenseins« in der Türkei zu er-zeugen (Cumhuriyet, 12.1.2001).

Die »Unaufrichtigkeit der EU« wurde an der Forderung der EU nach der Erweiterung von kulturellen Rechten, wie etwa die Zulassung von muttersprachlichem Unterricht oder die Ausstrahlung von Fernseh- und Radioprogrammen in der jeweiligen Muttersprache, für Minderheiten festgemacht. Das Militär sah in dieser Forderung den Versuch der »Spaltung unseres Landes« (Hürriyet, 11.1.2001).314

Im Zusammenhang mit der unterstellten europäischen Agenda, die Türkei spalten zu wollen, wurden Erinnerungen an die Endphase des Osmanischen Reiches wach. Die Europäer in Gestalt der EU wollten danach die Türkei für die eigenen materiellen und imperialen Interessen ausbeuten, wie sie es bereits im 19. Jahrhundert getan hatten. Die Versu-che der Türkei, ein akzeptierter, gleichberechtigter Teil der westlichen Zivilisation zu werden, erinnerten insbesondere linksnationalistische

313 Emin Cölaşan, Haydi Fransa, bastır! Hürriyet 18.1.2001. 314 Allerdings stieß diese Gleichsetzung der Gewährung von kulturellen

Rechten für Kurden mit Separatismus in der öffentlichen Debatte zum Teil auch auf scharfe Kritik. Vgl. Murat Belge, Önce bölünen, sonra bö-lünen, Radikal, 16.1.2001; Ferai Tınç, Ulusal Program Haftası, Hürriyet, 15.1. 2001.

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Diskursträger an die Tanzimatphase des Osmanischen Reiches, die im kollektiven Gedächtnis als eine Phase der Erniedrigung gilt.315 Die Ge-schichte schien sich zu wiederholen, nachdem sich die Türkei in dem EU-Beitrittsprozess in eine »extrem defensive und abhängige Lage« manövriert hatte und zu einem ausgebeuteten Staat geworden war.316

Schließlich kristallisierte sich im Diskursmoment von 2001 – wie schon in den 1980er Jahren – eine Diskurskoalition zwischen islamisti-schen und radikallaizistischen Kreisen in Bezug auf die Einschätzung der EU heraus: So bezeichnete ein ranghoher Militärvertreter die EU als einen »Christenclub«, der kulturelle Unterschiede vor allem an der Reli-gionszugehörigkeit festmachen würde (Radikal, 14.1.2001). Türkische Militärvertreter griffen damit öffentlich ein Argument für den Topos der »Unaufrichtigkeit der EU« auf, der im Widerspruch zu der strikt laizisti-schen Identität der Institution steht.317

Die islamistischen EU-Gegner waren ebenso kritisch gegenüber der EU eingestellt. Es wurde grundsätzlich gefragt, ob der Platz, den sich die laizistische Türkei international ausgesucht hatte, angesichts des Um-stands, dass sich die meisten westlichen Freunde in der Armenierfrage gegen die Türkei gestellt hätten, wohl der richtige war (Milli Gazete, 20.1.2001).

315 Hikmet Bila, Küstah ve Ahlaksız, Cumhuriyet, 24.1.2001; Ilhan Selçuk,

1915’i 2001’e taşımak, CU, 27.1.2001; Vgl. auch Türkiye sıkıştırılıyor, Milli Gazete, 9. 1. 2001; Kuşatılıyoruz, Milli Gazete, 22.1.2001.

316 Erol Manisalı, Fransa’dan Türkiye’ye bakarken, Cumhuriyet 24.1.2001. 317 Diese öffentlichen EU-kritischen Stellungnahmen ranghoher Militärver-

treter lösten eine intensive Debatte aus, bei der es im Kern um die grundsätzliche Frage der Vereinbarkeit von Militär und Politik in einem demokratischen System ging. Vgl. exemplarisch Avrupa Birliği yoluna asker taşı, Radikal, 15.1.2001; Siyaset mi asker mi? Yeni Şafak, 13.1.2001; Fehmi Koru, Avrupa Birliği adaylılığını unutabilirsiniz, Yeni Şafak, 15.1.2001. Pro-militärische Stimmen traten der Kritik gegenüber dem Militär aber damit entgegen, dass das Militär nicht gegen die EU sei, sondern sich für Einheit und die territorialen Integrität des Landes einsetzen würde. Vgl. Erol Manisalı, Medyadaki Yanlış Tartışma: Asker AB’ye karşı mı? 14.1. 2001.

POLITIK UND ERINNERUNG

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»Sieg des Terrorismus« und die »eigentlichen« Opfer

Der Topos des »armenischen Terrorismus« untermauerte die Befürch-tung nationalistischer Kreise im Hinblick auf die territoriale Integrität des Landes. Der Terrorrahmen wurde zunächst damit legitimiert, dass die meisten türkischen Opfer armenischer Attentate in den USA und Frankreich zu verzeichnen waren. Die Cumhuriyet rief dies am Tag der Völkermordanerkennung des Französischen Parlaments in Erinnerung (Cumhuriyet, 19.1.2001). In der Hürriyet klagte Emin Cölaşan, dass Frankreich in der Vergangenheit zu wenig für den Schutz der türkischen Bürger unternommen hatte, die »wir der Obhut und Ehre des französi-schen Staates anvertraut« hatten.318 Die Forderung des türkischen Au-ßenministers, die Sicherheit türkischer Staatsbürger in Frankreich zu gewährleisten, ist ebenso als Aktivierung des Topos des armenischen Terrorismus zu lesen (Cumhuriyet, 19.1.2001).

Die Tatsache, dass der Völkermord vor allem in den USA und Frankreich, wo eine große armenische Gemeinschaft lebte, auf politi-sches und gesellschaftliches Interesse stieß, zeigte der türkischen Öffent-lichkeit, dass die Strategie der Armenier im Sinne des oben vorgestellten 3-Phasenplans Schritt für Schritt umgesetzt wurde. Da der politische Aktivismus der armenischen Diasporagruppen aber mit dem gewaltsa-men Erinnerungskampf eingeleitet worden war, handelte es sich bei den internationalen Debatten und den Völkermordentscheidungen letztlich um den »Sieg des armenischen Terrorismus«.

Der Diskursrahmen des Terrors reduzierte die Armenische Frage aber nicht nur zu einem aktuellen Terrorproblem. Vielmehr wurden die Opfer-Täter-Verhältnisse grundsätzlich verkehrt. Hier waren es Türken und Muslime, insbesondere türkische Diplomaten, die die eigentlichen Opfer in den armenisch-türkischen Beziehungen darstellen. Diese Ver-kehrung las sich bei Cölaşan in der Hürriyet so: Die ASALA war so nie-derträchtig nicht davor zurückzuschrecken, ihre »feigen Kugeln auf Frauen und Kinder zu richten.« Die Liste der »34 Diplomaten, ihrer Frauen und Kinder« war ein Zeugnis menschlicher Schande.319

Eine weitere Ausprägung des Terrorrahmens in 2001 war die Gleichsetzung von offiziellen Völkermordentscheidungen und Terro-rismus. Der Chef-Redakteur der Cumhuriyet warf Frankreich zum Bei-spiel vor, mit den terroristischen Organisationen der ASALA und PKK kollaboriert und es ihnen erst ermöglicht zu haben, Aktionen gegen den

318 Emin Cölaşan, Haydi Fransa bastır! Hürriyet, 17.1.2001. 319 Emin Cölaşan, Haydi Fransa, bastır! Hürriyet, 17.1.2001.

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türkischen Staat zu führen.320 Die Parlamente der europäischen Länder hatten dabei einerseits die Rolle von Fürsprechern für die terroristische Agenda übernommen. Andererseits nutzten die europäischen Staaten die Armenische Frage dazu, die Türkei »in die Knie« zu zwingen, nachdem die direkte und indirekte Unterstützung der PKK und der ASALA nicht gefruchtet hatte. 321 Dieses Erklärungsmuster für die Völkermordanerkennung ist insofern typisch für die Cumhuriyet, als es bereits als Erklärung für die Völkermordentscheidung des Europäi-schen Parlaments (1987) von Uğur Mumcu vorgetragen wurde. Die Deutung der Völkermordentscheidung als »Kriegserklärung Frank-reichs« – wie von Hikmet Bila vorgebracht – bestätigt ebenso die Kon-tinuität des Topos innerhalb der Cumhuriyet.322

Kultureller Überlegenheitsanspruch des Westens

Eine umfassende Kulturkritik an Europa trat bei der diskursiven Ausei-nandersetzung anlässlich der Völkermordentscheidung Frankreichs ebenso zu Tage und hob auf die normativen Widersprüche westlicher Demokratien ab. Ausgangspunkt war die Vorstellung, dass die Völker-mordentscheidung des französischen Parlaments mit dem demokrati-schen Gut der Meinungsfreiheit kollidieren würde. In diesem Kontext wurde Frankreichs offizielle Haltung zum Algerienkrieg, dass dieser nämlich die Sache von Historikern sei, zu einem vielfach zitierten Anlaß für die Aufforderung, zuerst »vor der eigenen Türe zu kehren.« Die Weigerung Frankreichs, die eigenen Schandtaten ebenso kritisch zu hin-terfragen, wurde als »westliche Arroganz« kritisiert.

Gefährdung der Meinungsfreiheit

Die Frage, welche konkreten rechtlichen Folgen aus der Völkermordan-erkennung folgten, bildete den Ausgangspunkt einer umfassenden Kul-turkritik an Frankreich (Hürriyet, 31.1.2001). Frankreich betonte die symbolische Bedeutung des Gesetzes im Sinne einer moralischen Ge-nugtuung für die armenischen Opfer und ihre Nachkommen.

Demgegenüber bestand in der türkischen Öffentlichkeit Konsens, dass die Genozidentscheidung Frankreichs die Weichen für eine straf-rechtliche Verfolgung einer missliebigen Meinung im Hinblick auf die

320 Ilhan Selçuk, Fransız Bilim Adamı Politikacısına Karşı, Cumhuriyet,

28.1.2001. 321 Vgl. auch Ilhan Selçuk, 1915’i 2001’e taşımak, Cumhuriyet, 27.1.2001. 322 Hikmet Bila, Fransa’nın Savaş Ilanı, Cumhuriyet, 31.1.2001.

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Ereignisse von 1915 stellte.323 Die Entscheidung bedeutete nicht nur, dass die freie Meinungsäußerung in Bezug auf 1915 eingeschränkt wur-de. Sie hatte auch eine autozensierende Wirkung. Der Titel eines Cum-huriyet Artikels lautete dementsprechend sinngemäß, dass es ab jetzt eine Straftat war, wenn man in Frankreich Zweifel über den Völker-mordcharakter von 1915 äußerte (Cumhuriyet, 19.1.2001).

Das Beispiel von Bernard Lewis, der bereits ohne ein dokumentier-tes Anerkennungsgesetz in Frankreich verurteilt worden war, zeigte den türkischen Kommentatoren, dass es sich nicht um eine bloße symboli-sche Geste ohne materielle Konsequenzen handelte.324 Juristen wiesen darauf hin, dass die Entscheidung einen Gesetzescharakter und daher jede gegenteilige Äußerung früher oder später rechtliche Konsequenzen zur Folge hätte. Der Rektor der Galatasaray Universität Erdoğan Teziç forderte Chirac in einem Brief auf, das Verfassungsgericht anzurufen, weil die Entscheidung des Parlaments mit der französischen Verfassung im Konflikt stehen würde. Hürriyet führte diesen Vorstoß unter dem Ti-tel auf »Eine Verfassungslektion für die Franzosen von Teziç« (Hürri-yet, 21.1.2001).

Das Vorgehen Frankreichs kollidierte in der öffentlichen Wahrneh-mung also mit der Meinungsfreiheit. Auch eine der ältesten Demokra-tien der Welt war damit nicht vor demokratischen Defiziten gefeit, so dass zu lesen war: »Wir beklagen das System in der Türkei, das Mei-nungen sanktioniert, warum also sollten wir das Vorgehen Frankreichs gutheißen?«325 Zudem bedeutete das Vorgehen Frankreichs, dass die historische Dimension der Geschichte von 1915 nicht mehr erforscht werden konnte:

»Die rechtliche Konsequenz dieser Entscheidung ist Folgende: Ab jetzt ist es müßig die Armenische Frage in Büchern, Zeitungen, Magazinen, französi-schen Radio oder Fernsehen diskutieren zu wollen und zu versuchen, die wah-re Geschichte der historischen Ereignisse ans Tageslicht zu bringen. Denn diese Entscheidung verbietet es zu sagen, dass es keinen Völkermord gegeben hat. […] Die Franzosen mögen noch denken, dass sie in einem liberalen Land leben. Aber von Freiheit kann bereits keine Rede sein, wenn auch nur ein ein-ziges Thema nicht frei diskutiert werden kann.«326

323 Mustafa Balbay, Fransa ’Tarih’ değil ’Tahrik’ dedi, Cumhuriyet,

19.1.2001; Mümtaz Soysal, Bazı Türklerin Aklı, Hürriyet, 19.1.2001. 324 Vgl. exemplarisch Ilhan Selçuk, Tut kelin perçeminden, Cumhuriyet,

20.1.2001; Mümtaz Soysal, Bu ne biçim Fransa? Hürriyet, 9.1.2001. 325 Ilhan Selçuk, Tut kelin perçeminden, Cumhuriyet, 20.1.2001. 326 Ali Sirmen, Fransa Keyif Veriyor, Cumhuriyet, 20.1.2001.

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Als Frankreich im Herbst 2006 mit einem Gesetz nachlegte, das die Leugnung des Völkermords mit konkreten materiellen Strafen sanktio-nierte, bestätigten sich die Befürchtungen der türkischen Öffentlichkeit und Politik zu Beginn des Jahres 2001. Das diskursive Vorgehen, den Umgang mit der Armenischen Frage als eine Angelegenheit von Mei-nungsfreiheit zu rahmen, wurde angesichts der strafrechtlichen Entwick-lung in Frankreich gewissermaßen bestätigt. »Vor-der-eigenen-Türe-kehren«

Im Kontext der Diskussion über die rechtlichen Folgen der französi-schen Entscheidung kristallisierte sich die Frage heraus, warum sich Frankreich so sehr für den armenisch-türkischen Deutungskonflikt inte-ressierte, während die eigene Vergangenheit in Bezug auf den Algerien-krieg als Sache der Historiker präsentiert wurde.327 Diese widersprüchli-che Haltung, dass Frankreich seine kolonialistische Vergangenheit poli-tisch nicht aufarbeitete, aber über die armenische Geschichte ein politi-sches Urteil fällte, wurde als kultureller Überlegenheitsanspruch wahr-genommen. Frankreich sollte sich aber zuerst die eigene dunkle Ge-schichte erinnern, bevor es mit dem erhobenen Zeigefinger auf die Ge-schichte anderer Nationen zeigte.

Insbesondere in der Milli Gazete wurde diese Kritik an der morali-schen Glaubwürdigkeit Frankreichs deutlich.328 Aber auch die Cumhuri-yet und die Hürriyet griffen diesen Rahmen auf. So gab es zum Beispiel in allen drei Tageszeitungen kritische Kommentare zu dem Abstim-mungsverhalten der Türkei im UNO-Sicherheitsrat während des Alge-rienkrieges, als sich die Türkei auf die Seite Frankreichs gestellt hatte.329 Allerdings wurde in der Hürriyet und der Cumhuriyet im Gegensatz zur Milli Gazete darauf hingewiesen, dass die widersprüchliche Erinne-rungspolitik innerhalb Frankreichs selbst auf öffentliche Kritik stieß.330

Die Milli Gazete konzentrierte sich vergleichsweise mehr und aus-führlicher als die Hürriyet und die Cumhuriyet auf die gewaltsame Unterdrückung der Unabhängigkeitsbestrebung Algeriens durch Frank-

327 Vgl. u.a. Mustafa Balbay, Fransa ’Tarih’ değil ’Tahrik’dedi, Cumhuri-

yet, 19.1.2001; Özdemir Ince, Fransa! Kendi gözündeki merteği çıkart! Hürriyet, 17.1.2001.

328 Misilleme şart, Milli Gazete, 21.1.2001; Sicili Bozuklar, Milli Gazete, 19.1.2001; Necati Tuncer, Bana katliamları anlat, Milli Gazete, 21.1.2001; Fransa’nın tavrı yaygınlaşabilir, Milli Gazete, 22.1.2001.

329 Çelik Güler, La Morte de la France en Turquie, Cumhuriyet, 29.1.2001; Ertuğrul Özkök, Türban Yasağı kalkarsa ne olur, 19.1.2001.

330 Hürriyet, 27.1.2001; Cumhuriyet, 28.1.2001. Fransız basınından Ermeni tyasası yorumları, Hürriyet, 19.1.2001.

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reich. Ein Autor schrieb: »Offensichtlich sieht Frankreich in sein eigenes dunkles und hässliches Gesicht«, wenn es sich mit der Geschichte der Armenier von 1915 beschäftigt.331 Mit Blick auf den Algerienkrieg for-derten Akteure aus dem islamistischen Lager die Regierung auf, Frank-reich zu verurteilen. Der Vorsitzende der islamistischen Fazilet Partisi sprach dabei von den »Völkermorden, die Frankreich in Nordafrika ver-übt hat« (Milli Gazete, 19.1.2001; Hürriyet 19.1.2001). In der Hürriyet forderte der rechtsnationalistische Emin Cölaşan, die »französischen Völkermorde in Algerien oder Vietnam« zu verurteilen.332 Auch gab es Rufe nach der Errichtung von Erinnerungsmahnmalen an den »Völker-mord in Algerien« (Milli Gazete, 21.1.2001). Schließlich wurde Frank-reich vorgeworfen, mit der Entscheidung »die armenische Besetzung von Berg-Karabach und den dortigen Völkermord durch Armenier« zu unterstützen (Milli Gazete, 24.1.2001).333

Angesichts der vehementen Abwehrreaktionen im Hinblick auf die Beschreibung der Ereignisse von 1915 als Völkermord fällt auf, dass der Begriff ohne große Bedenken herangezogen wird, wenn es sich um die historischen Untaten anderer Nationen handelt.334 Doch auch in diesem Kontext weicht die Milli Gazete qualitativ im Hinblick auf den willkür-lichen Einsatz des Völkermordsbegriffs von der Hürriyet und der Cum-huriyet ab. Neben den oben aufgeführten Beispielen war in der Milli Gazete wenige Tage nach der Völkermordentscheidung Frankreichs von einem »Freibrief Europas für Völkermorde« zu lesen (Milli Gazete, 26.1.2001). Darin wurde Europa vorgeworfen, dass es mit seiner Ent-scheidung im Europarat im Zusammenhang mit dem Tschetschenien-krieg einen »Freibrief« für Russland ausgestellt hätte, »Völkermord an den Tschechenen« zu begehen .

Kultureller Überlegenheitsanspruch des Westens

In der Haltung gegenüber Frankreich trat die Enttäuschung darüber her-vor, dass gerade Frankreich, ein Land mit einer so hervorragenden Kul-tur und weit in die gemeinsame Historie zurückreichenden, tiefen kultu-rellen Beziehungen mit der Türkei, aufgrund profaner tagespolitischer Interessen die Ehre der Türkei beschmutzen würde. Der Widerspruch

331 Ahmet F. Gün, Fransa’nın Cezayir’deki kanlı dosyası, Milli Gazete,

22.1.2001. 332 Emin Cölaşan, Fransa’nın intikami, Hürriyet, 20.1.2001. 333 Vgl. auch die Aussagen des Vorsitzenden des Verbandes der Beamten,

Fatih Uğurlu in Milli Gazete, 20.1.2001. 334 Vgl. exemplarisch »Asıl Soykırımcı Fransa«, Milli Gazete, 20.1.2001;

»Cezayir’i Afrika’yı unutmadık«, Milli Gazete, 19.01.2001

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zwischen der großartigen Kultur und Demokratiegeschichte Frankreichs auf der einen Seite und dieser ganz und gar nicht heroischen, ja als ehr-los empfundenen Entscheidung, trat im Diskurs deutlich hervor. Denn dieses Frankreich hatte nichts mit dem Frankreich der »Villons, Ro-nards, Voltaires, Zolas, Gides, Sartres oder Camus’ zu tun«.335 Man fragte sich, »was ist das bloß für ein Frankreich«, das gerade auf »ethni-scher Stimmenjagd« war.336

Ähnlich klagte Oktay Akbal in der Cumhuriyet über »zwei verschie-dene Frankreichs«, wodurch einerseits eine starke Identifikation mit der französischen Kultur deutlich wurde, andererseits aber auch Verachtung für die koloniale und imperialistische Geschichte Frankreichs zum Aus-druck kam.337 Der Autor schreibt, wie er die Kultur, die Literatur, die Sprache dieses Landes »in frühen Kindesjahren lieben« lernte, aber spä-ter entdecken musste, dass es noch ein »anderes, nämlich ein ausbeuteri-sches und imperialistisches, Frankreich« gab. Seine Verbundenheit mit Frankreich war soweit gegangen, dass er die Besatzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg wie die Besatzung des eigenen Landes empfunden hatte. Viele in der Türkei hatten diese Gefühle geteilt. Aber sie alle hat-ten in Frankreich sich geirrt, wie die Völkermordentscheidung zeigte. Es war also »an der Zeit zwischen diesen beiden Frankreichs und damit zwischen Freund und Feind« zu trennen.

Mit diesem anderen Frankreich beschäftigte sich auch der Populär-historiker Murat Bardakçı und erinnerte daran, dass sich »Frankreich 1918 noch schlimmer verhalten« habe.338 Die größte Schmach, die »wir durch Frankreich erlebt haben«, war der heroische Einzug General Fran-che D’Espereys in Istanbul nach der bitteren Niederlage der Türkei im Ersten Weltkrieg. Die Armenier von Istanbul hatten sich dabei »ins Zeug gelegt, um sich dem französischen General gefällig zu zeigen.« Sie hatten die Straßen gesäumt und mit Konfetti geworfen. »Die Istanbuler Minderheiten hatten ihren ›Erlöser‹ angemessen empfangen und alles versucht, um ihn zufrieden zu stellen.« Damit konstruierte der Autor nicht nur die »historische Arroganz« der Franzosen, sondern aktualisier-te gleichzeitig den Topos des »armenischen Verrats und der Kollabora-tion«.

335 Özdemir Ince, Fransa! Kendi gözündeki merteği çıkart!, Hürriyet, 17.1.

2001. 336 Mümtaz Soysal, Bu ne biçim Fransa? Hürriyet, 9.1.2001; Oktay Akbal,

Iki Ayrı Fransa, Cumhuriyet, 21.1.2001. 337 Oktay Akbal, Iki Ayrı Fransa, Cumhuriyet, 21.1.2001. 338 Murat Bardakçı, Fransa 1918’de beterini yapmıştı, Hürriyet, 28.1.2001.

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Zusammenfassung

Die Völkermordentscheidung Frankreichs Anfang 2001, die eine schwe-re Niederlage für die offizielle türkische Version der Geschichte von 1915 bedeutete, machte den Umgang der Türkei mit der Vertreibungsge-schichte der Armenier endgültig zu einem Kernproblem bei ihren au-ßenpolitischen Beziehungen.

In diesem Sinne hing das Zustandekommen der ersten türkisch-armenischen Versöhnungskommission 2001 direkt mit dem außenpoliti-schen Druck zusammen. Die TARC eignete sich dafür, der internationa-len Gemeinschaft zu demonstrieren, dass die Türkei gewillt war, den Dialog mit der armenischen Seite aufzunehmen. Die Vorbedingung, die Völkermordthematik nicht zum Gegenstand der Kommission zu ma-chen, und das öffentliche Auftreten der türkischen Mitglieder, die an klassischen Leugnungsmustern festhielten, machten jedoch deutlich, dass der Dialogversuch eine strategisch motivierte taktische Konzession der Türkei war. Dennoch handelte es sich insgesamt um eine Entwick-lung, die Bewegung in den armenisch-türkischen Deutungskonflikt brach-te.

Angesichts des Umstands, dass der Diskursmoment von 2001 mit einer kritischen Phase in den Beziehungen zwischen der EU und der Türkei zusammenfiel, in der die Türkei auf den von der EU aufgestellten Anforderungskatalog reagieren musste, deuten die taktischen Konzes-sionen mit Blick auf die TARC zudem darauf hin, dass hier die theoreti-sche Erwartung, die in der Studie aus der sozialkonstruktivistischen Normforschung gefolgert wurde, bestätigt wird, dass defensive Leug-nungsstrategien und taktische Zugeständnisse insbesondere im Vorfeld von wichtigen EU-politischen Entwicklungen stattfinden.

Allerdings handelte es sich um eine Anpassung der staatlichen Ver-gangenheitspolitik auf (außen-)politischer Ebene. Auf der diskursiven Ebene stellte sich ein gänzlich anderes Bild dar: Hier praktizierte die türkische Regierung eine aggressive, populistische und nach Innen ge-richtete Symbolpolitik. Die mit medialer Unterstützung lancierte Sankti-ons- und Protestpolitik der Regierung, bei der z.B. bereits vergebene lukrative Aufträge an französische Firmen zurückgenommen wurden, täuschte eine selbstbewusste und unnachgiebige Haltung vor.

Die Regierung Ecevit versuchte, die nationale Einheit in der Armeni-schen Frage sicherzustellen, die – wie in der sehr scharfen öffentlichen Kritik an der Vergangenheitspolitik des Außenministeriums deutlich wur-de – nicht mehr so geschlossen und einheitlich war wie in der Vergangen-heit. Mit ihrem populistischen Vorgehen trug sie zu der gesellschaftlichen Hysterie bei, die durch die Völkermordanerkennung ausgelöst wurde und

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in Form von emotionalen Reaktionen wie dem Einfrieren kultureller Aus-tauschbeziehungen, der Boykottierung der französischen Sprache oder dem Verbrennen der Fahne, einer im türkischen Kontext besonders drasti-schen Ablehnungsgeste, zu Tage trat. Diese im Vergleich zu den voraus-gegangenen Diskursmomenten der 1970er und 1980er Jahre auffällige Zunahme in der Vehemenz der öffentlichen und politischen Reaktionen steht ganz im Gegensatz zu der gedächtnistheoretischen Annahme, dass im Zeitverlauf zunehmend gelassenere Diskussionen über die nationale Vergangenheit zu beobachten sein müssten

In Bezug auf die Sicherung des nationalen Konsenses war die ag-gressive Symbol- und Protestpolitik der Regierung nur teilweise erfolg-reich. Zum ersten Mal formierte sich ein kritisches Publikum, das von der Angemessenheit der Reaktionen der Regierung nicht überzeugt war. Die Regierung konnte die gesellschaftlichen Eliten nicht überzeugen: Der überwiegende Teil der Diskursteilnehmer war sich von vornherein bewusst, dass von wirtschaftlicher Blockade oder dem Einfrieren kultu-reller Beziehungen zu Frankreich mittel-, geschweige denn langfristig, nicht ernsthaft die Rede sein konnte.

Art und Ausmaß der öffentlichen Kritik am Außenministerium ist eines der wichtigsten qualitativen Unterscheidungskriterien im Zeitver-lauf. Das Außenministerium repräsentiert in der politischen Kultur der Türkei den Staat an sich und hebt sich von den übrigen staatlichen Insti-tutionen insofern ab, als es sich für die übergeordneten nationalen Inte-ressen der Türkei einsetzt und sich nicht von tagespolitischen Themen beeinflussen lässt. Es handelt sich um eine der Institutionen des politi-schen Systems der Türkei, die den größten Respekt genießt (Kramer 2004). Hinzu kommt, dass vor allem Diplomaten, also Angehörige des Außenministeriums, der militanten Erinnerungspolitik der armenischen Diaspora zum Opfer fielen. Auch aus diesem Grund war das Außenmi-nisterium bis dahin vor Kritik weitgehend gefeit. Die vergleichsweise scharfe Kritik um die Jahreswende 2000/2001 signalisiert also einen Bruch in der bis dahin überwiegend Geschlossenheit demonstrierenden türkischen Politik und Gesellschaft. Davor überwog in den diskursiven Reaktionen stets das Bedürfnis, nationale Einheit und Zusammenhalt angesichts der Infragestellung von Außen walten zu lassen.

Neben dem Befund, dass der Erinnerungsdiskurs Anfang der 2000er Jahre sich von den vorausgegangenen Diskursmomenten darin unter-schied, dass sich ein Bröckeln der nationalen Einigkeit in der Armenier-frage abzeichnete, gab es auch Verschiebungen in den zentralen Deu-tungsrahmen. Diese Verschiebungen waren insofern gravierend als die zweite Partei im Deutungskonflikt, die Armenier – sei es in den Diaspo-ragesellschaften in Frankreich oder den USA oder in der Armenischen

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Republik – im öffentlichen Diskurs um die Jahreswende 2000/2001 ins-gesamt eine untergeordnete Rolle spielten. Zwar waren auch hier die klassischen Topoi der »armenischen Propaganda« oder des »armeni-schen Terrorismus« präsent. Doch die Rolle der armenischen Diaspora in der Ausbreitung der armenischen Thesen wurde hier im wesentlichen von der als anti-türkisch wahrgenommenen europäischen Öffentlichkeit und EU-Politik übernommen.

Der Befund, dass die Armenier als aktive Akteure im Erinnerungs-diskurs von 2001 im Vergleich zu den vorausgegangenen Diskursmo-menten eine untergeordnete Rolle spielten, bestätigt auch die inhaltliche Ausprägung des Umzingelungsrahmens. Zunächst handelt es sich bei dem Umzingelungsrahmen um einen robusten Deutungsrahmen im tür-kischen Erinnerungsdiskurs. Die Vorstellung, dass das Wiederaufkom-men der Armenierfrage – sei es ausgelöst durch Gewaltakte armenischer Aktivisten oder in Form von politischen oder gesellschaftlichen Erinne-rungsdebatten – sich im Kern gegen die moderne Türkei und ihre Errun-genschaften seit der Republiksgründung richtete, zieht sich wie ein roter Faden durch den türkischen Diskurs über die Armenierfrage. Während die Bedrohung sich in den 1970er Jahren in Gestalt des internationalen Terrorismus zeigte und in den 1980er Jahren fortgeführt wurde, ging die Bedrohung in den 2000er Jahren von der EU aus. Die Anpassungsforde-rungen der EU dienten hier als zentrale Begründung der vermeintlichen Umzingelung und Bedrohung der Türkei. In diesem Zusammenhang wurde die Thematisierung der Armenierfrage in europäischen Staaten im Allgemeinen und in Frankreich im Speziellen einzig als anti-türkisch motiviertes Vorgehen gerahmt. Den Europäern geht es nach dieser Rahmung also nicht um symbolische und normative Anliegen, die sich an die Opfer richten, sondern darum, die Türkei mit ungerechtfertigter Schuldzuweisung aus der EU zu halten.

Schliesslich zeigte sich im Diskursmoment von 2001 erstmals der der Deutungsrahmen der Schuld im Allgemeinen und der europäischen Schuld am Holocaust im Speziellen. Dabei kristallisierten sich Deu-tungsrahmen heraus, die an den selbstkritischen, Holocaust-orientierten internationalen Erinnerungsdiskurs anschlossen. Allerdings äußerte die-ser Anschluss sich nicht in Form eines selbstreflexiven Erinnerns, son-dern zielte gerade auf das Gegenteil ab. Es ging um die Abgrenzung zu der Schuld der Anderen und damit nicht zuletzt darum, die eigene Un-schuld noch deutlicher herauszustellen. Mit dem Aufgreifen des sich in europäischen Ländern ausbreitenden Schulddiskurses wurde die Leug-nung der eigenen Verantwortung am Armeniermord somit eher vertieft als abgemildert. Der Hinweis auf die Einzigartikeit des Holocaust diente in diesem Zusammenhang als normatives Argument gegen die Beschrei-

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bung des Armeniermords als Völkermord. Die diskursive Botschaft von 2001 lautete: Wenn die tragischen Ereignisse von 1915 mit dem Holo-caust auf eine Stufe gesetzt werden, kommt dies einer Relativierung des Holocaust gleich.

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VERGANGENHEITSPOLITIK ALS ZEICHEN VON EUROPAFÄHIGKEIT

Der außenpolitische und innergesellschaftliche Kontext des Erinne-rungsdiskurses unterschied sich im Jahr 2005 ganz wesentlich von den bislang analysierten Diskursmomenten. Erstens stand die Türkei unter internationaler Dauerbeobachtung, da die EU in diesem Jahr über die Ingangsetzung von formellen Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ent-scheiden wollte. Zweitens löste der symbolische 90. Jahrestag des Ar-meniermordes eine in diesem Ausmaß bisher nicht dagewesene Erinne-rungswelle an die Vertreibungsgeschichte der Armenier aus. Weltweit fanden Gedenkveranstaltungen mit Appellen an die Türkei statt, sich mit ihrer Vergangenheit offen auseinanderzusetzen.339 Die Armenische Re-publik nutzte den öffentlichkeitswirksamen 90. Jahrestag, um für die Anerkennung des Völkermords zu werben. Die neue Dimension der internationalen Erinnerung an die Ermordung der Armenier zeigte sich schließlich beispielhaft im Politikwechsel Deutschlands. Der einstige Kriegsverbündete kritisierte erstmals die Erinnerungspraxis der Türkei und legte damit seine traditionelle Politik der Nichteinmischung in die türkische Vergangenheitspolitik ab.

Aber auch innerhalb der Türkei war seit Anfang der 2000er Jahre ein Wandel im Rahmen des Aufarbeitungsprozesses zu beobachten. Auf der gesellschaftlichen Ebene setzte ein aktiver Erinnerungsdiskurs unabhän-gig von konkreten externen Anstößen ein. Es verging kaum eine Woche, 339 Beispielsweise forderte die Konferenz Europäischer Kirchen von der

Türkei »die Anerkennung von Schuld und das Aussprechen der Wahr-heit«. S. www.ekd.de/presse/pm125_2007_kek_tagung_armenien.html. Stand 18.7.2007. Polen reihte sich in die Riege der Länder ein, die die Vertreibungsgeschichte der Armenier als Völkermord anerkannt haben.

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in der die Armenierfrage nicht in der einen oder anderen Form von einem gesellschaftlichen oder politischen Akteur aufgegriffen und the-matisiert wurde. Die Initiative einer Gruppe renommierter Akademiker und Intellektueller, erstmals eine Konferenz zur historischen Armenier-frage in der Türkei zu organisieren, die die staatliche Version der Ge-schichte von 1915 offen kritisch hinterfragte, machte den Wandlungs-prozess und die zunehmende innergesellschaftliche Kritik an der tradi-tionellen Haltung zur Armenierfrage besonders deutlich.

Die gestiegene öffentliche Präsenz und Partizipation türkischer Ar-menier am Erinnerungsdiskurs deuteten ebenfalls darauf hin, dass der Umgang der türkischen Gesellschaft und Politik mit der Armenierfrage sich in einem Wandlungsprozess befand.340 Der Patriarch der armeni-schen Gemeinde vertrat bis dahin fast allein die Armenier der Türkei im öffentlichen Raum. Demgegenüber sind in den letzten Jahren zivilge-sellschaftliche Akteure aus der armenischen Gemeinde in Erscheinung getreten, die intra- und intergemeinschaftliche Belange politisch artiku-lieren. Die Herausgabe der armenisch-türkischen Wochenzeitung AGOS (1996) unter der Führung von Hrant Dink, der 2007 einem Mordan-schlag zum Opfer fiel, spielte bei dieser Diversifizierung armenischer Stimmen im öffentlichen Raum eine entscheidende Rolle.

Die Ausgangssituation des Erinnerungsdiskurses von 2005 unter-schied sich also erheblich von den bislang analysierten Diskursmomen-ten zwischen 1973 und 2001. Damit wurden die robusten staatlichen und gesellschaftlichen Leugnungsmuster, die im Laufe der Studie deutlich geworden sind, mit einer bis dahin nicht gekannten Infragestellung von Außen und von Innen konfrontiert. In dem folgenden letzten empiri-schen Kapitel geht es vor diesem Hintergrund um die Frage, wie diese neue kritische Haltung den Erinnerungsdiskurs über die Armenierfrage im Jahre 2005 beeinflusste. Im ersten Teil des Kapitels werden die oben skizzierten außen- und innenpolitischen Entwicklungen und die vergan-genheitspolitischen Maßnahmen der Regierung näher erläutert und an-schließend der Diskursverlauf zur Armenierfrage in der türkischen Öf-fentlichkeit analysiert.

340 Vgl. Baskın Oran, The Reconstruction of Armenian Identity in Turkey

and the Weekly AGOS, www.armenews.com/article.php3?id_article=2 76 96. Stand 21.8.2008.

EUROPAFÄHIGKEIT

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Außenpoli t ischer Druck für eine offene Vergangenheitspol i t ik

Die Frage der Europafähigkeit der Türkei

Auf ihrem Gipfeltreffen in Kopenhagen (2002) entschied die EU, Ende 2004 ein konkretes Datum für die Aufnahme von formellen Beitrittsver-handlungen mit der Türkei festzulegen, falls die Türkei den bereits initi-ierten Reformprozess zu Ende bringen würde. Doch die Aussicht einer türkischen EU-Mitgliedschaft löste eine kontroverse Debatte in ver-schiedenen europäischen Ländern, insbesondere Deutschland, Österreich und Frankreich, aus, in der erstmals die kulturelle Europafähigkeit eines Beitrittskandidaten zur Disposition gestellt wurde (Giannokoupo-los/Maras 2005).341 Eine Flut von publizistischen und wissenschaftli-chen Beiträgen machte deutlich, dass es sich bei der EU-Mitgliedschaft der Türkei um eines der kontroversesten europapolitischen Themen der letzten Jahrzehnte handelte.342 Im vorliegenden Kontext ist von besonde-rer Bedeutung, dass der Umgang der Türkei mit der Vertreibung der Armenier zu einem prominent herangezogenen Beispiel für die (ver-meintlich) geringe Europafähigkeit des Landes wurde. Ein exemplari-sches Beispiel hierfür war die Forderung: »Wenn die Türkei zum Wes-ten gehören will, darf sie den Genozid von 1915 nicht leugnen« (Die Welt, 15.12.2002; vgl. auch Luchterhand 2005).

Diese Koppelung von Geschichtspolitik und kultureller Europafä-higkeit griff das Europäische Parlament auf institutioneller Ebene auf und bekräftigte seine Völkermordresolution von 1987 jeweils in den Jahren 2002 und 2005.343 Zwar hat sich die EU den Vorschlag des Euro- 341 Die Aussicht einer EU-Mitgliedschaft der Türkei veranlasste manche

beispielsweise dazu, von einem »Selbstmord Europas« (Wirtschaftswo-che, Nr. 51, 2002) oder einem »verblendeten Harakiri« (Wehler 2004) zu sprechen.

342 Diese Entwicklung zeigt bereits folgender kursorischer Einblick in die Literatur: Kramer 2003; Oberndörfer 2003; Alber 2004; Gerhards 2005; Giannakopoulos/Maras 2005; König/Sicking 2005; Wimmel 2005. Für eine systematische bibliographische Zusammenstellung von historischen und sozialwissenschaftlichen Türkeistudien anlässlich der aktuellen Bei-trittskontoverse siehe (Kolle 2006)

343 Siehe Per GAHRTON, Report on the communication from the Commis-sion to the Council and the European Parliament on the European Union’s relations with the South Caucasus, under the partnership and cooperation agreements, Doc.: A5-0028/2002, 28 January 2002; Europe-an Parliament, Opening of negotiations with Turkey. Provisional edition, P6_TA-PROV(2005)0350, B6-0484, 0487, 0496, 0498, 0502 and 0505/2005. Auch im Jahr 2000 nahm das Europäische Parlament eine Bekräftigung in Angriff, die aber nicht in das endgültig vom Plenum an-

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päischen Parlaments nicht zu eigen gemacht und eine Völkermordan-erkennung durch die Türkei nicht zu einem formellen Beitrittskriterium gemacht. Doch angesichts der beharrlichen Politik des Europäischen Parlaments in Bezug auf den Umgang der Türkei mit der Armenierfrage und des Umstands, dass das Parlament über den Beitritt von neuen Mit-gliedern abstimmt, ist die Völkermordanerkennung – mindestens aber eine selbstkritische Geschichtspolitik der Türkei – zu einem informellen EU-Beitrittskriterium geworden. Insofern nahm der Reaktions- und An-passungsdruck auf die Türkei im Hinblick auf ihre Vergangenheitspoli-tik zu.

Wandel in der deutschen Politik zur Armenierfrage Der 90. Jahrestag der Vertreibung der osmanischen Armenier führte auch in Deutschland zu einem Politikwechsel. Die offizielle Haltung Deutschlands zur historischen Armenierfrage war lange Zeit von Rück-sichtnahme auf die Türkei und die türkischen Migranten in Deutschland geprägt (Schaefgen 2006). Noch in 2002 hatte das Auswärtige Amt auf eine Kleine Anfrage der PDS, die nach der Haltung der Bundesregierung im Hinblick auf die Notwendigkeit der Anerkennung des Völkermords durch die Türkei fragte (BT-Drs. 14/9857), geantwortet: »Die Bewälti-gung der Vergangenheit ist in erster Linie Sache der beiden betroffenen Länder Armenien und Türkei […] Die Bundesregierung ist der Ansicht, dass die beiden Länder selbst die Grundlage für eine Verbesserung ihrer Verhältnisses definieren sollten« (BT-Drs. 14/9921). Die Bundesregie-rung praktizierte damit nicht nur ihre traditionelle Politik der Nichtein-mischung in die türkische Vergangenheitspolitik, sondern übersah mit der Rede von den »beiden betroffenen Ländern« auch, dass Deutschland als Verbündeter des Osmanischen Reiches in die jungtürkische Deporta-tions- und Mordpolitik mindestens verstrickt und zum Teil aktiv betei-ligt war.

Diese Politik der Nichteinmischung änderte sich, als der Bundestag auf Antrag der CDU/CSU-Fraktion (BT-Drs. 15/4933) erstmals der Ver-treibung der Armenier gedachte. In der Erinnerungsdebatte wurde die Notwendigkeit der Versöhnung zwischen der Türkei und der Armeni-schen Republik angesprochen und die Erinnerungspolitik der Türkei kritisiert. Zugleich entschuldigte sich der Bundestag für die Mitverant-wortung des Deutschen Reichs am Armeniermord. Während der SPD-Abgeordnete Markus Mecke und Franz Kuhn, der Abgeordnete der

genommene Dokument einfloss. Für den Entwurf des Resolutionstextes vom 15.11.2000 siehe www.armenian-genocide.org/Affirmation.171/cur rent_category.7/affirmation_detail.html. Stand 10.10.2008.

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Bündnis 90/Die Grünen, in ihren Reden von Völkermord sprachen, ver-zichteten die Vertreter der Union aber auf die Verwendung des Begriffs.

Der Antrag wurde am 16. Juni 2005 ohne erneute Aussprache par-teiübergreifend verabschiedet. Im Hinblick auf die Charakterisierung von 1915 ging der Bundestag einen Mittelweg. Im Beschlusstext der Resolution »Erinnerung und Gedenken an die Vertreibungen und Mas-saker an den Armeniern 1915 – Deutschland muss zur Versöhnung zwi-schen Türken und Armeniern beitragen« wurde nicht von Genozid ge-sprochen, aber im Begründungstext unterstrichen, dass »[z]ahlreiche unabhängige Historiker, Parlamente und internationale Organisationen […] die Vertreibung und Vernichtung der Armenier als Völkermord« bezeichneten (BT-Drs. 15/5689).344

Angesichts der langjährigen Nichteinmischungspolitik Deutschlands bedeutete das Zustandekommen der parteiübergreifenden Resolution im Jahre 2005 eine bedeutende Wende in der Haltung der BRD zur Arme-nierfrage. Die Türkei stand vor dem Problem, die Neuformulierung der deutschen Politik im Hinblick auf die Armenierfrage nicht als einen anti-türkischen Vorstoß relativieren zu können. Denn bei Deutschland han-delte es nicht nur um einen befreundeten Staat in der Gegenwart, dessen Loyalität auf die NATO-Partnerschaft oder die türkische Rolle während des Ost-Westkonflikts bei der Gewährleistung der Sicherheit Europas zurückging, sondern um den »Waffenbruder« aus dem Ersten Weltkrieg.

Der Debatte im Bundestag war Anfang 2005 ein Ereignis vorausge-gangen, das wesentlich zur Sensibilisierung der deutschen Öffentlichkeit im Hinblick auf die Armenierfrage und die türkische Leugnungspolitik beigetragen hatte. Brandenburg, das als erstes Bundesland die Völker-mordthematik umfassend in den Lehrplan aufnehmen wollte, hatte auf Druck türkischer Diplomaten von dem geplanten Verweis »z.B. Genozid an der armenischen Bevölkerung Kleinasiens« abgesehen (FAZ, 25.1.2005). Der Vorfall löste eine kritische Diskussion aus, bei der man sah sich an die »ideologische Beeinflussung des Geschichtsunterrichts in der DDR« erinnert sah (FAZ, 25.1.2005). In der Tageszeitung war von

344 Die armenische Gemeinde zu Deutschland und Völkermordexperten wie

Wolfgang Benz oder Otto Luchterhand kritisierten den Verzicht auf den Völkermordbegriff (Schaefgen 2006: 149). Zustimmende Stimmen be-werteten die Haltung des Bundestags als »moderat im Ton«, aber »ein-deutig in der Sache« (Tageszeitung, 16.6.2005). Der armenisch-amerikanische Publizist Harut Sassounian, der in den USA zu den ein-flussreichsten politischen Aktivisten zählt, die die Genozidanerkennung auf nationaler und internationaler Ebene vorantreiben, sprach von einem »fatal blow to Turkish denial of the Armenian Genocide.« Siehe www.armeniapedia.org/index.php?title=German_Parliament_Deals_Fatal_Blow_To_Turkish_Denial_of_Genocide. Stand 19.9.2007.

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einem ebenso »feigen wie servilen Akt der Selbstzensur« zu lesen (Ta-geszeitung 26.1.2005; zitiert nach Schaefgen 2006: 138). Diese scharfen Reaktionen hatten bewirkt, dass die Streichung der kritischen Passage rückgängig gemacht und der Verweis auf das Beispiel der Armenier wieder in den Lehrplan aufgenommen wurde. Der Vorfall führte einem breiten Publikum deutlich vor Augen, wie sehr die Türkei mittels ihrer Außenvertretungen in die Innenpolitik Deutschlands zu intervenieren versuchte, wenn es um die Armenische Frage ging. Dabei handelte es sich um keinen Einzelfall, sondern um die Regel, wenn es in der Ver-gangenheit in Deutschland zu Gedenkaktivitäten an den Völkermord von 1915 gekommen war.345

Ausblick: Von internationaler Anerkennung zur rechtlichen Sanktionierung von Völkermordleugnung Während die Frage der Anerkennung des Völkermordcharakters von 1915 lange im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, entwickelt sich der Mord an den Armeniern immer mehr zu einem juristisch vor Leug-nung geschützten Geschichtsabschnitt. Dieser rechtliche Schutz vor Leugnung steht im Kontext von Anti-Rassismusgesetzen und Verboten der Volksverhetzung, die in zahlreichen europäischen Ländern (z.B. Belgien, Deutschland, Frankreich, Österreich, Polen oder Schweiz) ur-sprünglich mit Blick auf den Holocaust erlassen wurden. In Deutschland werden die Leugnung des Holocausts, die Verherrlichung des NS-Regimes oder neo-nazistische Propaganda als Volksverhetzung nach Paragraph 130 des Strafgesetzbuches mit einer Geldstrafe oder Haft bis zu fünf Jahren geahndet. Vor diesem Hintergrund setzte sich die deut-sche Justizministerin während der EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands für eine Vereinheitlichung der EU-Politik im Hinblick auf den Umgang

345 So zum Beispiel verzögerten türkische Interventionen die Einrichtung

einer Gedenkstätte in Potsdam für den Theologen Johannes Lepsius (Report, Sendung der ARD, 3.11.2001). Lepsius hatte als Zeitzeuge die Massaker von 1915 umfassend dokumentiert, Augenzeugenberichte ge-sammelt und sich für armenische Waisenkinder eingesetzt. Ein weiteres Beispiel für die Interventionspraxis der Türkei zeigte sich in den 1980er Jahren in Zusammenhang mit dem Dokumentarfilm »Die Armenierfrage existiert nicht mehr«. Im Vorfeld der Ausstrahlung kam es zu einem Pro-teststurm türkischer Diplomaten und von Seiten türkischer Migranten. Der WDR wurde von Demonstranten belagert, der Autor des Films Ralph Giordano wurde zeitweise unter Polizeischutz gestellt (Schaefgen 2006: 93). Der WDR entschied sich zwar trotz des türkischen Drucks für die Ausstrahlung des Films, doch die Erstausstrahlung des Films am 21. April 1986 blieb 19 Jahre lang die einzige. Während dieser Zeit leugnete der Sender zeitweise, dass es den Film überhaupt gab (Schaefgen 2006).

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mit der Leugnung des Holocaust und anderer Völkermordver-brechen ein. EU-Staaten, die keine Gesetze zur Verfolgung von Holocaust-Leugnung haben, sollen damit entsprechende Strafvorschriften erlassen. In diesem Sinne wurde am 19. April 2007 ein europäischer Rahmenbe-schluss zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit erlas-sen.346

Im Gegensatz zu dem generell gehaltenen EU-Rahmenbeschluss sind Frankreich und die Schweiz im Hinblick auf die strafrechtliche Ver-folgung der Leugnung des Mordes an den Armeniern weitergegangen. Die Französische Nationalversammlung nahm am 12. November 2006 ein Gesetz an, das die Leugnung des Armeniermords unter Strafe stellt (SZ, 12.10.2006). Dagegen schaffte ein Schweizer Gericht bereits einen internationalen Präzedenzfall, als es den türkischen Linksnationalisten Doğu Perinçek im März 2007 wegen der Leugnung des Völkermords an den Armeniern zu einer Bußgeldstrafe von 3000 Schweizer Franken verurteilte (FAZ, 10.3.2007). Dieses Urteil wurde auf der Grundlage der bestehenden Antirassismusnorm nach Artikel 261 des Schweizerischen Strafgesetzbuches getroffen.347

Solche materiellen Konsequenzen der Vergangenheitsproblematik waren in der Türkei bereits in Zusammenhang mit der Völkermordent-scheidung Frankreichs (2001) befürchtet worden. Damals hatte die fran-zösische Regierung noch beteuert, dass die Anerkennung eine rein sym-bolische Geste gegenüber den Opfern ohne Rechtsfolgen sei. Die gegen-läufige Entwicklung hin zur rechtlichen Sanktionierung der Leugnung des Armeniermords wurde jedoch nicht nur von türkischer Seite als Ein-schränkung der Meinungs- und Redefreiheit kritisiert (NYT, 17.10. 2006). Eine Gruppe um den Historiker Pierre Nora, die bereits im Zuge der Anerkennung von 2001 die »lois memorielles« kritisiert hatte, gab ein Kommunique unter dem Titel »Freiheit für die Geschichte« he-raus.348 Die EU kritisierte das französische Vorhaben ebenso. Erweite- 346 Vgl. Pressemitteilung des Bundesjustizministeriums auf der amtlichen

Internetseite www.bmj.de/enid/188?pmc_id=4287. Stand 20.8.2008. 347 Für den Wortlaut der Anti-Rassismusnorm siehe die amtlichen Internet-

seiten der Schweizerischen Eidgenossenschaft www.admin.ch/ch/d /sr/311_0/a261bis.html. Stand 20.8.2008. Für eine kontroverse Diskus-sion über die Anwendbarkeit der Antirassismusnorm auf den armeni-schen Fall vgl. Georg Kreis, Ist Leugnung des Armeniermords rassis-tisch? Ein Beitrag zur Debatte um die Türkei und den Genozid, NZZ, 11.8.2005; Marcel Alexander Niggli, Keine Schutznorm nur für Juden. Der Völkermord an den Armeniern, seine Leugnung und das Schweizer Antirassismusgesetz, TagesAnzeiger, 13.8.2005.

348 Für die Erklärung der Akademiker »Liberté Pour L’Histoire« siehe Libe-ration, 3.12.2005. Für den Text siehe www.histoire.presse.fr/petition/ap pel.asp; Stand: 28.12.2006; Für die Liste der ersten 19 Unterzeichner

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rungskommissar Olli Rehn warnte, dass das Gesetzesvorhaben die Bei-trittsgespräche mit der Türkei kontraproduktiv beeinflussen und den Re-formprozess bremsen könnte (FAZ, 12.1.2007). Diese Einwände gegen die strafrechtliche Verfolgung der Leugnung realhistorischer Ereignisse im Allgemeinen und des Armeniermords im Speziellen zeigen, dass Maßnahmen, die im Kern auf die Bekämpfung von rassistischen und volksverhetzerischen Aktivitäten abzielen, mit dem Rechtsgut der Mei-nungs- und Redefreiheit kollidieren.349

Proakt ive Vergangenheitspol it ik und ihre Adressaten Angesichts dieser neuen Dimension des internationalen Interesses an der Armenierfrage ging die türkische Regierung dazu über, neue Politiken zu entwickeln, die auf eine proaktive Abwehr der Genozidvorwürfe ab-zielten und sich von den eher reaktiven Maßnahmen auf Genozidvor-würfe oder -anerkennungen im Ausland unterschieden. Vorschlag zur Gründung einer Historikerkommission Zwei Wochen vor Beginn der offiziellen Gedenkveranstaltungen in Ar-menien unterbreitete die türkische Regierung Armenien den parteiüber-greifend getragenen Vorschlag, eine türkisch-armenische Historiker-kommission zu gründen, um den Deutungskonflikt über die Geschichte zu lösen. Der Vorsitzende der Oppositionspartei CHP Deniz Baykal rechtfertigte die Initiative damit, dass »die systematische Kampagne der Armenier seit 1975 auf keinerlei wissenschaftlichen, juristischen oder geschichtlichen Befunden« beruhen würde (Cumhuriyet, 9.3.2005). Dies zeigte, dass die Türkei zu einer strategischen Vergangenheitspolitik überging, die der internationalen Öffentlichkeit Offenheit signalisierte,

siehe www.histoire.presse.fr/petition/liste.asp; Stand: 28.12.2006. Bei der zweiten Veröffentlichung des Aufrufs am 7. Mai 2006 hatten bereits 697 Personen die Forderung unterzeichnet. Siehe www.histoire.presse. fr/peti tion/liste.asp; Stand: 28.12.2006.

349 In Deutschland kommt es aufgrund des konkurrierenden Verhältnisses zwischen Paragraph 130 des StGB und der Rede- und Meinungsfreiheit immer wieder zu kontroversen Debatten, etwa im Hinblick auf die Fra-ge, was unter Rede- und Meinungsfreiheit auf der einen Seite und unter Antisemitismus, Verschleierung der NS-Verbrechen u.ä. auf der anderen Seite fällt. Vgl. die Stellungnahme des ehemaligen Verfassungsrichters Hoffmann-Riem zu dem problematischen Verhältnis zwischen straf-rechtlichen Regelungen und der Rede- und Meinungsfreiheit »Ich würde die Holocaustleugnung nicht unter Strafe stellen«, SZ, 14.7.2008.

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ohne aber substantiell von der bis dahin praktizierten Leugnungspolitik abzuweichen.

In einem vom 10. April 2005 datierten Brief schrieb Regierungschef Erdoğan dem armenischen Präsidenten, dass es unterschiedliche Auffas-sungen über die türkisch-armenischen Beziehungen während des Ersten Weltkriegs gäbe. Diese Differenzen über die Vergangenheit dürften aber nicht die heutigen Generationen belasten und die Verbesserung der Be-ziehungen zwischen beiden Staaten behindern. Deshalb sei es notwen-dig, sich über die gemeinsame Geschichte mit Hilfe einer Historiker-kommission zu einigen. Die türkischen Archive stünden für For-schungsvorhaben offen. Die armenische Seite sollte auch ihre Archive öffnen, und zwar nicht nur die – wie Erdoğan betonte – in Armenien, sondern auch die Archive der Daschnak Partei in den USA. Besonders der Teil des Briefes, in dem zu lesen war, dass dritte, neutrale Parteien, wie etwa die UNESCO, als Beobachter hinzugezogen werden könnten, machte die Idee der Historikerkommission zu einem konstruktiven Vor-schlag der Türkei.

Armenien lehnte den Vorschlag nicht ab, sondern forderte zuerst die Normalisierung der Beziehungen, d.h. die Öffnung der Grenzen und die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen. Auf dem Europaratsgipfel im Mai 2005 kam es in diesem Kontext zu einem Schlagabtausch zwi-schen Präsident Kotscharjan und Ministerpräsident Erdoğan, als Kot-scharjan sich bei jenen Ländern bedankte, die die Ereignisse von 1915 als Völkermord anerkannt haben. Erdoğan warf Kotscharjan Populismus vor und nahm den internationalen Schauplatz seinerseits dafür in An-spruch, für das Angebot seiner Regierung für eine Annäherung zwischen den beiden Staaten zu werben (Cumhuriyet, 17.5.2005). Er warnte vor weiteren Völkermordanerkennungen. Länder, die die Aussöhnung zwi-schen Armenien und der Türkei wünschten, sollten besser den konstruk-tiven Vorschlag seiner Regierung unterstützen und Armenien zur Ko-operation im Hinblick auf die Gründung einer Historikerkommission bewegen (vgl. Netzeitung, 13.04.2005).

Mit ihrem Vorschlag richtete sich die Türkei an das außenpolitische Publikum und signalisierte, dass sie bereit war, sich ihrer Geschichte zu stellen. Gleichzeitig optimierte dieser Vorstoß den Rechtfertigungstopos »Sache der Historiker« und zielte darauf ab, den Deutungskonflikt zu entpolitisieren und ihn auf die Ebene eines historisch-akademischen Diskurses zu verlagern.

Der Vorschlag der türkischen Regierung stieß auf positive Resonanz, während die Haltung Armeniens als wenig kooperativ kritisiert wurde. So bedauerte, die »Independent Comission on Turkey« – eine Gruppe hochrangiger europäischer Politiker, die sich 2004 mit dem Ziel formiert

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hatte, zu einer »more objective and rational debate on Turkey’s acces-sion to the European Union« beizutragen – in ihrem zweiten Bericht, dass Armenien auf den konstruktiven Vorschlag der Türkei nicht einge-gangen war (Independent Commission on Turkey September 2009). Ein weiteres Beispiel für die positive Resonanz ist, dass die türkische Idee im Vorfeld der Gedenkdebatte des Deutschen Bundestags aufgegriffen und eine solche Expertenkommission anvisiert wurde. Auch hier zeigte die Benennung von Pulat Tacar, einem erfahrenen Diplomaten des Aus-wärtigen Amtes, und Ali Söylemezoğlu, einem Vertreter der jüngeren Generation von professionellen Verteidigern der türkischen Geschichts-these, dass die Türkei mit Hilfe solcher Expertenkommissionen ihre tra-ditionelle Haltung in der Armenierfrage im Ausland durchsetzen wollte.

Die Blaubuch-Aktion Kurz nach dem Vorschlag der Gründung einer Historikerkommission startete die Regierung einen weiteren vergangenheitspolitischen Vor-stoß, der als Blaubuch-Aktion angekündigt wurde und auf ein starkes Medienecho in der Türkei stieß. Bei dem sogenannten Blaubuch handelt es sich um ein Werk der Historiker Arnold Toynbee und James Bryce mit dem Titel »The Treatment of the Armenians in the Ottoman Empi-re«, das erstmals 1916 erschienen war. In der historischen Forschung zählen die Beobachtungen und Erfahrungen, die in dem Buch dokumen-tiert werden, als wichtige Zeitzeugendokumente, die die Ermordung der Armenier belegen. Jahre später distanzierte sich Arnold Toynbee aber von dem Buch mit dem Hinweis, dass das Buch zu Propagandazwecken entstanden sei, um die öffentliche Meinung in Großbritannien im Hin-blick auf den Krieg bei der Stange zu halten. Nachdem das Buch im Jah-re 2000 von dem Historiker Ara Sarafian editiert und neu aufgelegt wur-de, forderte das türkische Parlament nun 2005 das britische Abgeordne-tenhaus dazu auf, öffentlich zu machen, dass das Buch während des Ers-ten Weltkrieges zu Propagandazwecken verfasst worden sei.

Die treibende Kraft hinter der Initiative war der in der türkischen Abwehrpolitik erfahrene ehemalige Diplomat Şükrü Elekdağ.350 Er kriti-

350 Şükrü Elekdağ war langjähriger Botschafter der Türkei zu Washington.

Während seiner Amtszeit in den 1980er Jahren konzentrierte er sich auf die Abwehr von Anerkennungsinitiativen in den USA. Insofern verfügte er über große Erfahrungen im armenisch-türkischen Deutungskonflikt und hatte die türkische Abwehrpolitik an vorderster Front mitgeprägt. Elekdağ agierte als erfolgreicher Stratege bei der Aktivierung von poli-tisch wirksamer Lobbyarbeit gegen Anerkennungsinitiativen in den USA. Eine nachhaltige Wirkung zeigte zum Beispiel eine Kampagne von Elekdağ, bei der er Unterschriften zahlreicher amerikanischer Histo-

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sierte die Neuedition des Buches, die trotz besseren Wissens, dass es sich dabei um »eine von vorne bis hinten fabrizierte Manipulation« han-deln würde, erfolgt sei.351

Die Reaktion des britischen Parlaments auf die Aufforderung der Türkei, sich öffentlich vom Blaubuch zu distanzieren, fiel verhalten aus. In einem Brief vom 16. Mai 2005 wurde dem türkischen Parlamentsprä-sidenten Bülent Arınç mitgeteilt, dass der Brief des türkischen Parla-ments in den Bücherschrank des Unterhauses für alle Parlamentarier zugänglich aufbewahrt wurde. In einem weiteren Brief an Arınç datiert vom 8. Juli 2005 hielt der britische Botschafter Peter Westmacott fest, dass die moralische und wissenschaftliche Integrität der Autoren Bryce und Toynbee von wenigen angezweifelt wurde. Diese Antwort wurde als diplomatische Geste an die Türkei gelesen, die Sache auf sich beruhen zu lassen und nicht auf darauf zu bestehen, dass sich das britische Par-lament von den Aussagen des Blaubuchs distanzierte (Tagblatt, 17.11.2006).

Eine weitere Stellungnahme von britischer Seite erfolgte schließlich am 26. Januar 2006, als britische Parlamentarier dem türkischen Parla-mentspräsidenten ein Angebot der Gründung einer Expertenkommission unterbreiteten. Darin schrieben die Unterzeichner:

»We do not believe that the letter reflects opinions of Turkish scholars who know the subject; on the contrary, it shows that the Turkish Parliament is not properly informed about the Blue Book. We invite them to a round table dis-cussion with our academic advisers, in the hope that we can formulate a com-mon statement on the historical facts, and in the meanwhile we invite them to withdraw their letter to the British House of Parliament, in the light of this Response.«

Als es zu keinerlei Reaktion von türkischer Seite kam, kontaktierte Lord Avebury, der maßgebliche Ideengeber der Gründung einer britisch-türkischen Expertenkommission, alle Abgeordneten des türkischen Par-laments einzeln, um sie zur Annahme des Angebot zu bewegen. Keiner

riker und Experten organisieren konnte, die die Notwendigkeit umfas-sender wissenschaftlicher Aufarbeitung der Thematik betonten und Zweifel im Hinblick auf die eindeutige wissenschaftliche Belegung der Genozidbeschuldigung äußerten. Diese Anzeigen schaltete Elekdağ in den 1980er Jahren in zentralen überregionalen Zeitungen wie der New York Times oder der Washington Post. Wie bereits während seiner Amtszeit in den USA wurde Elekdağ auch im Fall der Blaubuch-Initiative von dem amerikanischen Historiker Justin McCarthy beraten (Zaman, 13.3.2005).

351 Interview mit Elekdağ am 5.3.2004 in Ankara.

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der 550 türkischen Abgeordneten nahm in irgendeiner Form Stellung zu dieser zweiten Anfrage.352

All diese Reaktionen von britischer Seite auf die Blaubuch-Initiative drangen erst nach Monaten in die türkische Öffentlichkeit (Radikal, 22.11.2005). Nachdem die Blaubuch-Initiative im Mai 2005 mit großem Medienecho lanciert worden war, hatten die türkischen Medien die Story nicht weiterverfolgt und die politischen Entscheidungsträger die Medien nicht von selbst informiert. Als Murat Belge in der Radikal die Medien zur Verantwortung zog und die Blaubuch-Initiative als billige politische Propaganda durch Şükrü Elekdağ kritisierte, nahm der beschuldigte in einem offenen Brief Stellung zu dieser massiven Kritik.353

Im Gegensatz zu seinem Kritiker Belge hatte sich für Elekdağ die britische Seite nicht gegen die von dem türkischen Parlament vorge-brachten Ansichten und Thesen geäußert. »[M]it keinem einzigen Wort [hat die britische Seite versucht], die Berichte und Behauptungen des Blauen Buchs zu verteidigen oder zu widerlegen, dass es sich bei dem Buch um eine Erfindung und Komplott [handelt]« schrieb Elekdağ (Ra-dikal, 2.1.2007). Das britische Parlament hatte »in anderen Worten still-schweigend anerkannt, dass es sich bei dem Blaubuch um ein von dem englischen Kriegs- und Propagandabüro in Auftrag gegebenes Propa-gandamaterial handelt und dass das Buch die historischen Fakten nicht widerspiegelt.« Damit hatte »die Glaubwürdigkeit des Blaubuchs für Historiker einen schweren Schlag erlitten.« Als Belge diese Rechtferti-gung als sprachliche Manöver eines erfahrenen Diplomaten bloßstellte und erneut mit Nachdruck fragte, warum kein türkischer Parlamentarier auf das Angebot von Lord Avebury eingegangen sei, 354 rechtfertigte Elekdağ auch diese Nichtreaktion der türkischen Parlamentarier. Diese britischen Abgeordneten, die das Angebot der Gründung einer Exper-tenkommission unterbreitet hatten, waren nicht die Adressaten des türki-schen Parlaments gewesen und so waren sie gar nicht berechtigt, irgend-ein Angebot zu unterbreiten. Der Brief der türkischen Seite war von dem Präsidenten des türkischen Parlaments an den Präsidenten des britischen Parlaments gerichtet. Ein Angebot konnte nach Elekdağ damit nur auf dieser Ebene erfolgen (Zaman 31.1.2006). Um die Bedeutungslosigkeit der Stellungnahme der britischen Abgeordneten zu untermauern, betonte er schließlich, dass es sich bei den Unterzeichnern des Round-table-

352 Emailkorrespondenz mit Lord Avebury vom 29.6.2007. 353 Vgl. Murat Belge, Mavi Kitap girişimi, Radikal, 14.11.2006; ders., Er-

meni konusunda değişim, Radikal, 17.11.2006; ders., Mavi Kitap, mek-tup, münazara…, Radikal, 2.12.2006; ›Tarihci‹, Radikal, 9.12.2006; Masmavi Kitap, 10.12.2006.

354 Murat Belge, Elekdağ’ın yorumları, Radikal, 30.12.2006.

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Angebots um eine Minderheit des britischen Parlaments handeln würde: von 750 Mitgliedern des House of Lords hatten nur 20 die Anfrage unterstützt, bei dem Unterhaus handelte es sich um 13 Mitglieder aus insgesamt 646 (Radikal, 2.1.2007).

Angesichts des Umstands, dass es sich bei Großbritannien um ein Land handelte, das sich kaum mit der Armenierfrage beschäftigte und auch die Ereignisse von 1915 nicht als Völkermord anerkennen wollte, stellte sich die Frage, warum die Türkei die Blaubuch-Aktion überhaupt in Gang gesetzt hatte. Warum richteten die türkischen Politiker ihre Aufmerksamkeit auf ein Problemfeld, dass im Hinblick auf die politi-sche Verbreitung der Genozidvorwürfe im Grunde keines war?

Dieses Paradox lässt sich nur so erklären, dass die türkischen Ent-scheidungsträger nicht tatsächlich auf die öffentliche Distanzierung des britischen Parlaments von dem Blaubuch oder gar eine Entschuldigung abzielten. Vielmehr sollte dieses Vorgehen auf der symbolpolitischen Ebene das innenpolitische Publikum in der Wahrnehmung bestärken, dass sich die Türkei ihrer Sache sicher war. Es galt in der türkischen Öffent-lichkeit ein Gegengewicht zu den raumgreifenden internationalen Erinne-rungsveranstaltungen zu setzen und die eigene Handlungs- und Deu-tungshoheit zu betonen. Für diese Erklärung spricht auch der Umstand, dass die Initiative mit großem Medienaufwand lanciert, der negative Be-scheid Großbritanniens aber öffentlich nicht kommuniziert wurde.

Ausblick: Türkisch-armenische Protokolle 2009

Mit der Strategie, mit proaktiven Schritten Offenheit und Dialogbereit-schaft zu signalisieren, ohne dabei substantielle Eingeständnisse in der staatlichen Leugnungspolitik im Hinblick auf den Völkermordcharakter der jungtürkischen Verbrechen an den Armeniern zu machen, hat die Türkei erste Erfolge erzielt. Ähnlich wie 2005 hat sie im Vorfeld des 95. Jahrestags des Völkermords rechtzeitig Schritte unternommen, um den internationalen Erwartungsdruck und der Gefahr weiterer Völkermordan-erkennungen zu begegnen.

Mit der so genannten Fußballdiplomatie, als der türkische Staatsprä-sident anlässlich des Fußballweltmeisterschaftsqualifikationsspiels bei-der Länder Armenien besuchte, setzte im September 2008 ein Annähe-rungsprozess ein (FAZ.NET, 6.9.2008), der Ende Oktober 2009 mit der Unterzeichnung von Protokollen zur Normalisierung der türkisch-armenischen Beziehungen einen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Darin erklären sich beide Staaten bereit, innerhalb von zwei Monaten nach der Ratifikation in den jeweiligen Parlamenten die Grenzen zu öffnen. Zudem stimmen beide zu, »to implement a dialogue on the historical

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dimension with the aim to restore mutual confidence between the two nations, including an impartial scientific examination on the historical records and archives to define existing problems and formulate recom-mendations.« Der Vorschlag der Türkei von 2005 zur Gründung einer Historikerkommission hat damit also Eingang in eine formelle Erklä-rung gefunden.

Angesichts der verbreiteten Meinung in der internationalen Öffent-lichkeit und Politik, dass es sich bei 1915 um einen Genozid handelte, kommt dieser Teil des Abkommens einem Erfolg für die Türkei gleich, bedeutet er doch, dass die Geschichte und der Völkermordcharakter von 1915 zur Disposition gestellt werden. Daher stieß das Vorhaben auf scharfe Kritik bei armenischen Diasporaverbänden. Die Bereitschaft, die Geschichte von 1915 einer von der Politik initiierten Kommission zu übergeben, wurde als ein Zug gesehen, bei der die Vertreibungsgeschichte der Armenier der politischen Verhandlung ausgesetzt wurde. In diesem Sinne sahen armenische Intellektuelle, wie etwa der Bestsellterautor Peter Balakian, die Integrität der Wissenschaft in Gefahr und werteten die tür-kisch-armenischen Protokolle als Sieg der kemalistischen Türkei (Armen-ian Weekly, 19.10.2009).

In der internationalen Politik hingegen wurde die Annäherung zwi-schen der Türkei und Armenier stark begrüsst, da man sich davon einen Beitrag zur Stabilisierung der Kaukasusregion erhoffte. Die Schweiz hatte bei dem Zustandekommen der Protokolle eine Vermittlerfunktion über-nommen. Die geopolitische Bedeutung der türkisch-armenischen Annähe-rung zeigte nicht zuletzt der Umstand, dass die Außenminister der USA, Frankreichs und Russlands und der Generalsekretär der EU eigens zur Unterzeichnung der Protokolle durch die Außenminister der Türkei und Armeniens nach Zürich anreisten.

Doch bereits am nächsten Tag nach der Unterzeichnung der Proto-kolle bekräftigte der türkische Regierungschef, dass die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen von der Lösung des Berg-Karabach Kon-flikts und damit dem Abzug Armeniens aus der Enklave abhängig sei. Diesem folgte ein Tag später eine Presseerklärung des Auswärtigen Am-tes, in der der Eindruck in der Presse korrigiert wurde, wonach die Pro-tokolle automatisch zur Öffnung der türkisch-armenischen Grenzen füh-ren würden. In der Erklärung wurde betont, dass der Normalisierungs-prozess zwischen der Türkei und Armenien nicht vor den türkisch-aserbaidschanischen Beziehungen kommen würde und dass die Öffnung der Grenzen gänzlich von der Aufgabe der Belagerung von Berg-Karabach durch Armenien abhängen würde.

Dieses Vorgehen spiegelte das Muster der Vergangenheitspolitik von 2005 wider, die Botschaft der Dialogbereitschaft zu senden, ohne im

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Umgang mit dem Armeniermord substantiell von der bisherigen Haltung abzurücken. Ähnlich der Kombination in 2005, einerseits die Gründung einer türkisch-armenischen Historikerkommission vorzuschlagen und diesem die Blaubuch-Aktion folgen zu lassen, handelte es sich also um ein strategisches Vorgehen der türkischen Regierung, bei dem die Türkei im Vorfeld des symbolträchtigen 95. Jahrestags weiteren außenpoliti-schen Druck, den Völkermord anzuerkennen, abgefangen hat. Angesicht der Annäherung beider Staaten wird die Notwendigkeit der Anerken-nung des Völkermords von 1915 in der internationalen Politik mutmaß-lich zurückgehen, die Türkei jedoch mit dem Verweis auf die Belage-rung von Berg-Karabach weiterhin die Grenzen zu Armenien nicht öff-nen.

Innenpoli t ischer Kontext Die in diesem Kapitel geschilderten Entwicklungen im Umgang der Türkei mit der Armenierfrage im kritischen Diskursmoment von 2005 spielten sich auf dem Hintergrund einer nationalistischen Stimmung im Land ab, die nach einer vorübergehenden Euphorie über die Entschei-dung der EU, im Oktober 2005 formelle Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufzunehmen, deutlich zunahm (Grigoriadis 2006). Ein Auslöser war die Zurückhaltung und teilweise offene Ablehnung, auf die ein tür-kischer EU-Beitritt in einigen europäischen Ländern stieß. Auch die Forderung der EU an die Türkei, die Zollunion auf Zypern auszuweiten, wurde als einseitige und parteiische Haltung der EU aufgefasst und führ-te zu massivem Widerstand in der Bevölkerung.355

355 Die Erweiterung der Zollunion auf die neuen EU-Mitglieder war eine

Bedingung für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen, die die Türkei vor ein schwieriges Problem stellte, da sich eine solche Erweiterung auch auf Zypern erstrecken und damit der Anerkennung des Alleinver-tretungsanspruchs der griechischen Führung gleichkommen würde. Demgegenüber verfolgte die Türkei die Politik, die Erweiterung der Zollunion auf Zypern an die Bedingung zu knüpfen, dass die EU die Iso-lation des türkischen Teils der Insel aufheben müsse. Denn nach der Ab-lehnung des Annan-Plans im Frühjahr 2004 durch die Inselgriechen wurde jede weitere Isolation des türkischen Teils als ungerechte Behand-lung gesehen. Zwar schien die EU willens, ihr Versprechen der Auf-nahme von Direkthandel umzusetzen, doch hier nutzte das EU-Mitglied Zypern seine institutionellen Vetomöglichkeiten dazu aus, eine Locke-rung und die Aufnahme von Direktbeziehungen mit dem türkischen Teil der Insel zu blockieren (Kramer 2006b). Die türkische Regierung löste das Problem der Erweiterung der Zollunion im Vorfeld des kritischen EU-Gipfeltreffens 2005, indem sie die Erweiterung der Zollunion unter-

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Das Aufflammen von Unruhen in mehrheitlich von Kurden bewohn-ten Gebieten, neue Anschläge durch die verbotene kurdische Arbeiter-partei PKK und die Irakpolitik der USA heizten die nationalistische Stimmung in der Türkei weiter an.356 Als bei Feierlichkeiten in der Ha-fenstadt Mersin zum kurdischen Neujahrsfest Nevruz Kinder dazu ange-stiftet wurden, die türkische Fahne zu verbrennen, lösten Medienbilder dieser Aktion eine Welle der Entrüstung und einen regelrechten Volks-zorn aus. In einigen Städten kam es zu Übergriffen auf Personen, die willkürlich der PKK-Nähe bezichtigt wurden. In der Stadt Trabzon ent-kamen Demonstranten, die gegen die Haftbedingungen in türkischen Gefängnissen demonstrierten, nur knapp den Lynchversuchen eines auf-gebrachten Mobs.357

Der nationalistische Rückschlag zeigte sich aber am deutlichsten in der Flut von Anzeigen gegen liberale Intellektuelle, Akademiker und Publizisten auf der Grundlage des Artikels 301 des türkischen Strafge-setzes, der die Beleidigung des Türkentums unter Strafe stellt.358 Inter-

zeichnete, aber eine Zusatzerklärung beifügte, dass dies keiner Anerken-nung der Republik Zypern gleichkam (Türkes 2007: 17). Vor diesem Hintergrund geriet der EU-Gipfel vom 1./2. Oktober 2005, auf dem die Ende 2004 in Aussicht gestellte Aufnahme von Beitrittsverhandlungen beschließen wollte, zu einer Zitterpartie. Bis zuletzt war unklar, ob die EU sich für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen entscheiden wür-de. Am Ende war es dem Einsatz des britischen Außenministers zu ver-danken, dass die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei offiziell aufge-nommen wurden. Doch die anhaltende Weigerung der Türkei, die Zoll-union auf Zypern auszuweiten, führte bereits im ersten Verhandlungs-jahr dazu, dass die Beitrittsverhandlungen teilweise eingefroren wurden. Die EU schloss 8 der insgesamt 38 Verhandlungskapitel aus den Bei-trittsverhandlungen aus. Zudem kann keines der übrigen Kapitel abge-schlossen werden, bevor die Türkei die Zollunion nicht auf Zypern er-weitert hat.

356 Vgl. Memet Ali Birand, Toplum ABD ve Israil düşmanı oluyor, Hürri-yet, 25.7.2006.

357 Murat Yetkin, Sokaklara teslim olunmaz, Radikal, 12.4.2005. 358 Artikel 301 wurde im Zuge der EU-Anpassung des türkischen Straf-

rechts erlassen. Das Gesetz lautet: »Personen, die das Türkentum, die Republik oder die Große Nationalversammlung offen erniedrigen, wer-den mit 6 Monaten bis zu 3 Jahren Haft bestraft« (eigene Übersetzung). (»Türklüğü, Cumhuriyeti veya Türkiye Büyük Millet Meclisini alenen aşağılayan kişi, altı aydan üç yıla kadar hapis cezası ile cezalandırılır.«) Siehe zum Wortlaut die amtliche Internetseite der türkischen Regierung www.tbmm. gov.tr/kanunlar/k5237.html. Stand 27.12.2007. Im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte besonders interessant ist dabei, dass der »Völkermord an den Armeniern« oder der Zypernkonflikt als Beispiele für solche Beleidigungen ursprünlich im Gesetzestext aufgeführt wur-den. Die Regierung nahm diese Beispiele jedoch aus dem Gesetzestext heraus, nachdem er vom Parlament angenommen worden war. Die Op-

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nationales Aufsehen erregte vor allem der Prozess gegen den späteren Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk, der sich in einem Interview über den türkischen Nationalismus beklagt hatte.359 Pamuk hatte dabei davon gesprochen, dass »man […] hier 30000 Kurden umgebracht [hat]. Und eine Million Armenier. Und fast niemand traut sich, das zu erwäh-nen« (Tages-Anzeiger, 5.2.2005).

Der Prozess gegen Pamuk, der am ersten Verhandlungstag mit Ver-weis auf Verfahrensfragen ausgesetzt wurde, wurde von der EU kritisch verfolgt. Dies wurde von den Nationalisten als Interventionsversuch in die Unabhängigkeit der türkischen Justiz scharf kritisiert. Doch Pamuks Kritiker kamen nicht nur aus dem extremen nationalistischen Lager. Für die kemalistischen Eliten war er identitätslos, verräterisch und ruhm-süchtig.360 Die Aversion gegen Pamuk aufgrund seiner Türkei-kritischen Äußerungen ging soweit, dass Staatspräsident Sezer ihm ein Jahr später die Gratulation für den Erhalt des Literaturnobelpreises verweigerte.361 Die türkische Gesellschaft war zutiefst gespalten und konnte sich über eine solch prestigeträchtige Auszeichnung wie den Literaturnobelpreis nicht vorbehaltlos, geschweige denn einhellig, freuen (Spiegel online, 13.10.2006). Zu tief saß die Skepsis über den vermeintlich wahren Grund für den Preis.362

Der Verlauf der öffentlichen Debatte um die Verleihung des Litera-turnobelpreises und die Frage, ob Pamuk den Nobelpreis aufgrund seiner kritischen Aussagen vom Februar 2005 erhalten hatte, zeigte, welche Dynamik Diskurse annehmen und welches Eigenleben sie dabei unab-hängig von relativ objektiven Tatbeständen entwickeln können. Denn bei der Auseinandersetzung wurde völlig außer Acht gelassen, dass Pa-muk bereits seit Jahren als einer der aussichtsreichsten Kandidaten für den Literaturnobelpreis gehandelt worden war (FAZ, 12.10.2006).

position setzte dem Umstand, dass die AKP-Regierung damit Fakten schaffte, nichts entgegen.

359 In der Folge kam es zu einer Hetzkampagne gegen Pamuk, die zum Teil bizarre Züge annahm. So ordnete der Landrat der Stadt Isparta an, die Bücher des »sogenannten Schriftstellers« Orhan Pamuk aus den öffentli-chen Bibliotheken einzusammeln und zu vernichten (Radikal 30.3.2005). Allein, es fand sich keine Bibliothek in der Region, die auch nur ein ein-ziges Werk des Autors führte.

360 Vgl. exemplarisch Oktay Ekşi, Hangi Pamuk, Hürriyet, 25.9.2005. 361 Vgl. zur Kritik an dieser Haltung des Staatspräsidenten Mehmet Ali Bi-

rand, Bu tutum Köşk’e hic yakışmadı, Hürriyet, 18.10.2006. 362 Vgl. für die Explizierung dieser Skepsis exemplarisch Ertuğrul Özkök,

Türk yanım ağır basti, Hürriyet, 13.10.2006; Melih Aşık, Ödüle giden yol, Milliyet, 13.10.2006; Oktay Ekşi, Gerçekle yüzleşmek, Hürriyet, 13.10.2006.

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Hrant Dink als Zielscheibe von Nationalisten Anders als Orhan Pamuk und zahlreiche andere prominente Persönlich-keiten aus den Reihen der türkischen Liberalen konnte Hrant Dink, der Herausgeber der armenisch-türkischen Wochenzeitung AGOS, einer Verurteilung auf der Grundlage des Artikel 301 nicht entgehen. Ein Is-tanbuler Bezirksgericht verurteilte ihn wegen Beleidigung des Türken-tums zu 6 Monaten Bewährungsstrafe. Grundlage des Urteils war eine Anfang 2004 unter dem Titel »Die Armenische Identität« verfasste 8-teilige Schriftenreihe von Dink (Radikal, 8.10.2005).363 Dabei hatte das Gericht zwei unabhängige Expertengutachten nicht berücksichtigt, die befanden, dass Dinks Texte nicht als nationale Beleidigung ausgelegt werden könnten.

In den vergangenen Jahren hatte sich Hrant Dink intensiv für eine Annäherung und die Verbesserung des gegenseitigen Verständnisses der türkischen und armenischen Gesellschaft eingesetzt. Diesem Einsatz ist es im Wesentlichen zu verdanken, dass die türkischen Armenier erstmals in der Geschichte der Republik öffentlich sichtbar wurden.364 Innerhalb der armenischen Gemeinde war Hrant Dink aber umstritten. Insbesonde-re seine öffentlichen Stellungnahmen, bei denen er im Namen der arme-nischen Gemeinde sprach, stießen auf die Kritik der Armenier in der Türkei. Nicht zuletzt trat er mit seinem Anspruch, die armenische Ge-meinschaft zu politisieren und sichtbar zu machen, mit dem geistigen Oberhaupt der armenischen Gemeinde in einen offenen Konflikt.

Der Eindruck, dass sich die türkische Gesellschaft gegenüber den Armeniern öffnen würde, wenn diese aktiv am gesellschaftlichen und politischen Diskurs teilnehmen wollten, veranlasste Dink zu der optimis-tischen Annahme, dass die Aufarbeitung der dunklen Geschichte von 1915 durch die türkische Gesellschaft eine Frage des Dialogs, mangeln-der Kenntnis der gegenseitigen Bedürfnisse und des Demokratisierungs-grades der Türkei war. Aufgrund seines Verständnisses der Problemaitk verurteilte er die türkische Gesellschaft nicht für die verbreitete Ignoranz bezüglich des Armeniermords und brachte das an seinen Vorfahren be-gangene Unrecht auch nicht provokativ oder vorwurfsvoll zur Sprache.

363 Bei den vom Gericht beanstandeten Aufsätzen handelte es sich um Er-

meni’nin Türk’ü, AGOS, 23.1.2004; Türk’ten kurtulmak, AGOS, 30.1.2004; Ermenistan’la tanışmak, AGOS, 13.2.2004.

364 Ein Beispiel dafür, dass Hrant Dink in der türkischen Öffentlichkeit zu der Referenz in Fragen der armenischen Gemeinde oder des Erinne-rungsdiskurs über die Armenierfrage wurde, ist ein Kommentar von De-rya Sazak, in dem der Autor sich mit der Entscheidung des französischen Parlaments von 2006 beschäftigt, die Leugnung strafrechtlich zu verfol-gen. Sazak titelte »Die Reaktion von Hrant« (Milliyet, 10.10.2006).

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Doch die Erfahrung trotz der Existenz zweier ihn entlastender unab-hängiger Gutachten wegen Beleidigung des Türkentums verurteilt wor-den zu sein, enttäuschte Dink zutiefst.365 Auch der Umstand, dass im Gegensatz zu ihm keine der zahlreichen anderen wegen Beleidigung des Türkentums angeklagten Personen verurteilt worden war, gab ihm sehr zu denken. Denn sie alle hatten eines gemeinsam: ethnische Türken zu sein. In seinem letzten Aufsatz vor seiner Ermordung brachte Dink diese Enttäuschung unverblümt zum Ausdruck. Das Gericht hatte demnach ein Exempel statuiert und ihn aufgrund seiner ethnischen Herkunft in seine Schranken gewiesen.366

Ein Jahr nach seiner Verurteilung stand Dink erneut wegen Beleidi-gung des Türkentums vor Gericht. Der Grund war dieses Mal ein Inter-view mit der Nachrichtenagentur Reuters, in dem er in Zusammenhang mit dem Armeniermord erstmals explizit von Völkermord gesprochen hatte (Reuters, 14.7.2006). Die Anzeige gegen ihn fiel zeitlich mit dem Beschluss Frankreichs zusammen, die Leugnung des Völkermords an den Armeniern strafrechtlich zu ahnden. In einer Phase also, in der die nationalistische Stimmung ohnehin auf dem Höhepunkt und die politi-sche Atmosphäre im Land sehr angespannt war, heizte die Anzeige na-tionalistische Ressentiments gegen Dink zusätzlich an. Die Morddro-hungen gegen ihn nahmen solche Dimensionen an, dass er in dem besag-ten letzten Aufsatz vor seiner Ermordung öffentlich über seine Angst sprach. Die Drohungen hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Dink ver-glich seine Unsicherheit mit der »Angst gleich der einer irritierten Tau-be«.367

Als Hrant Dink am 19. Januar 2007 vor dem Redaktionsgebäude von AGOS auf offener Straße erschossen wurde, löste dies tiefes Entsetzen in der Türkei aus. In Istanbul kam es nach dem Bekanntwerden der Er-mordung zu spontanen Massenkundgebungen, Zehntausende nahmen an der Beilegung von Dink teil und skandierten den Solidaritätsslogan »Wir sind alle Armenier«.368 Die große Bedeutung dieser Solidaritätsdemons-

365 Diese Enttäuschung erinnert an die bittere Erfahrung des Vorsitzenden

des Zentralrats der Juden in Deutschland Ignatz Bubis. Im Rahmen der streitbaren Rede des Schriftstellers Martin Walser anlässlich des Erhalts des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels sah sich Bubis am Ende seines Lebens seines Lebensziels der deutsch-jüdischen Aussöhnung be-raubt. Vgl. Assmann/Frevert 1999.

366 Hrant Dink, Niçin Hedef Seçildim? AGOS, 10.1.2007. 367 Hrant Dink, Niçin Hedef Seçildim? AGOS, 10.1.2007. 368 Der Slogan sollte signalisieren, dass humanistische Werte über der eth-

nischen Herkunft von Menschen stehen. Damit wollten die Massen ihre Solidarität mit Hrant Dink zeigen und identifizierten sich also mit der Rolle des Opfers.

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tration wird durch den Umstand hervorgehoben, dass es bis dahin kaum vergleichbare Massenaufläufe in der Türkei für eine Person des öffentli-chen oder politischen Lebens gegeben hatte. Die türkischen Medien be-schäftigten sich über Wochen hinweg mit kaum etwas Anderem als dem Mord an Dink. Die tiefe Betroffenheit, die in der Öffentlichkeit deutlich wurde, hing auch damit zusammen, dass Hrant Dink über ein weit ver-zweigtes Netz an Bekannten und persönlichen Freunden in den türki-schen Medien verfügte.

Doch parallel zu dieser bis dahin nicht gekannten öffentlichen De-monstration von Solidarität mit einem Armenier kam es auch zu schar-fen nationalistischen Gegenreaktionen. So setzten die nationalistischen Kräfte dem Solidaritätsslogan »Wir sind alle Armenier« ihren Slogan »Wir sind alle Türken« entgegen (FAZ 21.1.2007).369

Im Laufe der Ermittlungen traten eklatante Versäumnisse und Be-weise für eine aktive Beteiligung türkischer Behörden am Mordkom-plott zu Tage (The Independent, 4.7.2007). Der Polizei hatten bereits Monate vor dem Anschlag umfangreiche, detaillierte Informationen über das Vorhaben der Täter vorgelegen – nicht zuletzt, weil einer der mut-maßlichen Drahtzieher gleichzeitig als Informant der Polizei arbeitete. Die Radikal brachte die Fahrlässigkeit der Behörden pointiert auf den Punkt: »Nur Hrant selbst haben sie über seine bevorstehende Ermordung nicht informiert« (Radikal, 7.2.2007).

Der schockierende Mord an Dink machte deutlich, dass die liberalen Eliten der Türkei den gesellschaftlichen und politischen Demokratisie-rungsprozess überschätzt hatten. Sie hatten die zunehmende Auseinan-dersetzung der türkischen Gesellschaft und Politik mit der Geschichte von 1915 und die damit einhergehende Infragestellung des Deutungs-monopols staatsnaher Akteure über die Armenische Frage als einen Bruch im dominanten Leugnungsdiskurs interpretiert. Doch damit hatten sie die reale Dimension des Demokratisierungsprozesses über- und das Ausmaß nationalistischer Ressentiments trotz untrüglicher Vorzeichen unterschätzt.

Im Fall von Hrant Dink hatten namhafte gesellschaftliche Akteure sich nach seiner Verurteilung 2005 öffentlich hinter ihn gestellt und ihn davon abgehalten, das Land zu verlassen. Mehmet Ali Birand hatte in der Hürriyet geschrieben: »Nein, Hrant, so einfach geht das nicht. Wo-hin willst Du gehen? Es gibt noch viele Dinge, die wir gemeinsam be-

369 Vgl. Bayraktar (2008) für eine detaillierte Analyse der öffentlichen

Reaktionen auf die Ermordung Dinks.

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wältigen müssen.«370 Doch indem die türkischen liberalen Eliten Dink zum personalisierten Beleg des vermeintlich voranschreitenden arme-nisch-türkischen Versöhnungsprozesses hochstilisierten, hatten sie dazu beigetragen, dass Dink zur Zielscheibe von ultrarechten Kreisen wurde. In diesem Kontext ist die Haltung der Mitinitiatorin von WATS Fatma Müge Göçek aufschlussreich, die in der WATS-Diskussion die Istanbu-ler Armeniergemeinde im Allgemeinen und Hrant Dink im Speziellen als die einzigen Stimmen in dem Deutungskonflikt beschrieb, die zwi-schen den polarisierten Seiten – also den türkischen Nationalisten und der armenischen Diaspora – vermitteln könnten. Diese Vorstellung machte jedoch deutlich, dass sich Göçek nicht bewusst war, dass sie einer kleinen Gemeinde, deren Alltag von latenter bis offener Diskrimi-nierung geprägt ist, eine zusätzliche Last aufbürdete.371 Angesichts der gesellschaftlichen und politischen Realitäten entpuppte es sich also als fatales Unterfangen, Dink in dem Erinnerungsdiskurs in prominenter Weise in den Vordergrund geschoben zu haben. Der Korrespondent der Radikal Murat Yetkin schrieb Monate nach dem Ermordung Dinks, dass er es bereue, Dink nach dem negativen Gerichtsentscheid Ende 2005 zum Bleiben aufgefordert zu haben.372

Insgesamt hat die Ermordung Dinks den anhaltenden latenten Ras-sismus der türkischen Gesellschaft und Politik gegenüber nicht-türkischen Minderheiten und insbesondere Armeniern offen gelegt. Der nach Meinung der Autorin tragischste Aspekt des Mordes ist nicht nur der einfache Umstand, dass ein Mensch ums Leben kam; vielmehr ist es die Erkenntnis, dass der erste Armenier in der über 80-jährigen Ge-schichte der modernen Türkei, der aus der ihm gesellschaftlich und poli-tisch auferzwungenen Unsichtbarkeit heraustrat und einen Anspruch auf eine eigene Stimme im öffentlichen Leben erhob, dieses selbstverständ-liche und gleichzeitig simple Unterfangen im buchstäblichen Sinne nicht überlebte.

370 Mehmet Ali Birand, Hrant bizi bırakıp hiçbir yere gidemez. Hürriyet,

15.10.2005; Vgl. auch den offenen Brief der Romanautorin Elif Şafak, Hrant’a Açık Mektup, Zaman, 16.10.2005.

371 Diesen Aspekt verdanke ich Ayda Erbal (New York University), die sich im engsten Kreis von Hrant Dink bewegte und zu den Gründungsmit-glieder von AGOS zählt (vgl. auch Erbal 2007).

372 Murat Yetkin, Fazıl Say’daki korkular, Avrupa’daki korkulara benziyor mu? Radikal, 16.12.2007.

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Konferenzskandal im Mai 2005 Hrant Dink war neben zahlreichen anderen Persönlichkeiten des öffent-lichen Lebens auch maßgeblich an der Organisation der Konferenz »Osmanische Armenier in der Phase des Niedergangs des Osmanischen Reiches: Die Verantwortung der Wissenschaft und Demokratieproble-me« beteiligt, die aus Anlass des 90. Jahrestags des Armeniermordes im In- und Ausland auf große Aufmerksamkeit stieß. Die Veranstaltung stellte das erste Vorhaben in der Geschichte der Republik dar, das nicht von staatlicher Seite oder von Kreisen ausging, die die staatliche These vertreten. Im Gegenteil, in der Ankündigung sprachen die Veranstalter explizit davon, dass es an der Zeit sei, die Stimme jener öffentlich zu machen, die nicht die offizielle staatliche These vertraten.

Die Teilnehmer setzten sich aus ausschließlich türkischen und tür-kisch-stämmigen Akademikern, Intellektuellen, Publizisten, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten aus dem In- und Ausland zusammen. Es handelte sich um eine Gruppe von aktiven und passiven Teilnehmern mit unterschiedlichen politischen Orientierungen. Was die eingeladenen Gäste einte, war ihre grundsätzliche Offenheit, die offizielle türkische Geschichtsthese kritisch zu hinterfragen. Die Organisatoren entschieden sich gegen die Einladung von türkischen Experten, die ein nationalisti-sche Wissenschaftsverständnis vertraten und sich damit aus ideologi-schen Gründen für die staatliche Version der Geschichte von 1915 ein-setzen.

Nachdem die Öffentlichkeit wenige Tage vor Beginn über die »al-ternative armenische Konferenz« erfuhr, formierte sich erheblicher Wi-derstand in Politik und Gesellschaft (Milliyet, 20.5.2005). Die Staatsan-waltschaft schaltete sich ein und forderte von den Organisatoren die Vortragstexte vorab einzusehen. Diese Forderung wurde von Seiten der Organisatoren als indirekte Warnung verstanden. Der Druck auf die Or-ganisatoren verstärkte sich, als der Gouverneur von Istanbul sich mit der Leitung der gastgebenden Boğaziçi Universität in Verbindung setzte und Sicherheitsbedenken zum Ausdruck brachte. Das Schlüsselereignis, das schließlich zur Absage der Konferenz führte, spielte sich im Parlament ab. Auf die Initiative von Şükrü Elekdağ, der im Frühjahr des Jahres maßgeblich an der oben dargestellten Blaubuch-Aktion beteiligt war, wurde die geplante Konferenz als außerordentlicher Tagesordnungs-punkt ins Plenum eingebracht. Elekdağ kritisierte, dass die »eigentlichen Experten« nicht berücksichtigt worden seien. Besonders schmerzlich sei es, dass sich die Boğaziçi Universität »für dieses verräterische Projekt instrumentalisieren« ließ (Hürriyet 25.5.2005). Damit stellte Elekdağ auf den Umstand ab, dass es sich bei der gastgebenden Boğaziçi Universität

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um eine staatliche Universität handelte. Der Abgeordnete der regieren-den AKP Ramazan Toprak stimmte Elekdağ zu. Für ihn würden nicht nur die Leitung der Boğaziçi Universität, sondern auch der Hochschulrat die Verantwortung für die Konsequenzen tragen müssen, wenn die Kon-ferenz Ergebnisse hervorbringen würde, die »die türkische These wider-legen und die armenische stärken« würden (Hürriyet, 25.5.2005). Schließlich ergriff für die Regierung Justizminister Cemil Çiçek das Wort. In seiner emotional geladenen Rede warf er den Organisatoren »Verantwortungslosigkeit«, »fehlende Seriosität« und die »Schmähung der Nation« vor. Die Phase des Verrats durch die eigenen Leute müsse endgültig beendet werden. Insbesondere beschuldigte er die Organisato-ren und Teilnehmer der Konferenz die jüngsten Bemühungen der Regie-rung zu konterkarieren, die türkische nationale Sicht der Geschichte von 1915 international publik zu machen. »Wie wollen Sie die Parlamente dieses oder jenes Landes angesichts dieser Situation überzeugen?« fragte er. »Überzeugen Sie zuerst die Boğaziçi Universität, werden sie uns ent-gegenschleudern. Mit diesem Vorgehen haben sie uns einen Dolch in den Rücken gestoßen« (Yeni Şafak 25.5.2005).

Die Leitung der gastgebenden Boğaziçi Universität knickte am nächsten Tag ein und beschloss, die Veranstaltung zu vertagen. In der offiziellen Begründung hieß es, dass die schwerwiegenden Anschuldi-gungen und die politische Vorverurteilung die Durchführung einer wis-senschaftlichen Veranstaltung gefährdeten (Hürriyet, 24.5.2005). Das Organisationskomitee hingegen sprach von »Druck, Bedrohung und Dif-famierung« und kündigte an, die Veranstaltung in naher Zukunft zu rea-lisieren.

Regierungschef Erdoğan und Außenminister Gül distanzierten sich von der Rede des Justizministers und bedauerten die Absage der Konfe-renz. Der Parlamentspräsident Bülent Arınç äußerte sich ebenfalls kri-tisch zu dem Vorfall. Die Konferenz hätte durchgeführt werden müssen, auch wenn er die dort repräsentierten Meinungen nicht teilen würde. »Meinungs- und Redefreiheit besteht nicht darin, Dinge zu sagen, die auf Beifall stoßen« und betonte, missliebige Meinungen seien nicht mit Verrat gleichzusetzen (Zaman, 27.05.2005). Auch Vertreter der opposi-tionellen CHP bedauerten die Absage. Die Konferenz sei zwar einseitig ausgerichtet gewesen, doch die Art und Weise der Kritik an der Konfe-renz wurde abgelehnt. Der Einwand der CHP-Abgeordneten Inal Batu und Yakup Kepenke richtete sich also auch an die eigenen Reihen und speziell an Şükrü Elekdağ, der die Kontroverse in Gang gesetzt hatte (Cumhuriyet, 24.5.2005).

Die Absage der Konferenz führte zu einem schweren Prestigeverlust der Türkei und der Regierung Erdoğan, die bis dahin als Reformmotor

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gegolten hatte (Cumhuriyet, 26.5.2005). Der Vorsitzende des Türkei-Ausschusses des Europäischen Parlaments, Joost Lagendijk, bemängel-te, dass es in der Türkei offensichtlich noch Tabuthemen gäbe. Auch der wenige Wochen zuvor angekündigte Vorschlag der Regierung, eine His-torikerkommission zu gründen, erlitt einen schweren Glaubwürdigkeits-verlust. So bemerkte Hans-Joachim Falenski, der außenpolitische Bera-ter des CDU-Abgeordneten Friedbert Pflüger, auf den die Bundestags-debatte zur Armenierfrage im Sommer 2005 zurückging, dass die Istan-buler Konferenz unter »sehr inakzeptablen Umständen« abgesagt wor-den sei und meinte mit Blick auf das deutsch-türkische Vorhaben der Gründung einer Expertenkommission: »Wir können hier nicht business as usual machen.«373

Zweiter Anlauf im September 2005 Die Organisatoren nahmen im September 2005 einen zweiten Anlauf, die Konferenz abzuhalten. Ministerpräsident Erdoğan und Außenminis-ter Gül hatten sich im Hintergrund dafür eingesetzt, dass die Konferenz noch vor dem entscheidenden EU-Gipfel am 1./2. Oktober 2005 durch-geführt wurde, auf dem die EU über die Aufnahme von formalen Bei-trittsverhandlungen entscheiden wollte.

Doch auch im zweiten Anlauf bahnte sich ein Eklat an. Ein rechtsna-tionalistischer Anwaltsverband, der bei der Anzeigenwelle gegen türki-sche Liberale Anfang des Jahres bereits in Erscheinung getreten war, reichte eine Anzeige bei einem Istanbuler Bezirksgericht ein, die dazu führte, dass die Veranstaltung einen Tag vor dem Veranstaltungstermin vom Gericht gestoppt wurde. Ministerpräsident Erdoğan erklärte, dass er den Entscheid des Gerichts nicht nachvollziehen und auch nicht guthei-ßen könne. Auch Kritik von Seiten des Außenministers blieb nicht aus. Er kenne kaum eine andere Nation, die sich selbst so gerne schade, wur-de Gül zitiert (Cumhuriyet, 26.9.2005).

In dieser Situation war es der Justizminister, dessen Parlamentsrede maßgeblich zu dem Scheitern des ersten Anlaufs geführt hatte, der den Organisatoren einen Anhaltspunkt gab, wie der Gerichtsentscheid um-gangen werden konnte. Das Gericht hatte die Boğaziçi Universität als Veranstaltungsort erwähnt, so dass die Verlegung des Veranstaltungsor-tes einen möglichen Ausweg darstellte. Die Bilgi-Universität erklärte sich bereit, die Durchführung der Veranstaltung kurzfristig zu überneh-men, so dass die Konferenz letztlich doch noch realisiert werden konnte (Cumhuriyet, 28.9.2005).

373 Emailkorrespondenz mit Hans-Joachim Falenski vom 3. Juni 2005.

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Diskursive Auseinandersetzung – St immenvielfa lt und Diversität

Verrätertum

Die Absage der alternativen Konferenz löste eine äußerst hitzige und aggressiv geführte Debatte in der Türkei aus. Insbesondere die Parla-mentsrede des Justizministers und jene Passage, in der der Minister von einem »Dolchstoß« und der »Ära des zu stoppenden Verrats durch die eigenen Leute« gesprochen hatte, waren umstritten. Denn im Gegensatz zu der historischen Variante des Verratstopos, der sich gegen die Arme-nier richtete, betraf der Vorwurf des Vaterlandsverrats im politischen Kontext von 2005 die Organisatoren und die Teilnehmer der Konferenz.

Insgesamt standen sich zwei Lager bei der Bewertung des Verratsto-pos gegenüber. Eine Gruppe rechtskonservativer und nationalistischer Autoren stellte sich bedingungslos auf die Seite des Justizministers, während eine Gruppe meist linksliberaler und muslimisch-konservativer Autoren sich in schärfster Form von den Äußerungen Çiçeks distanzier-te.

Auf die Medien verteilt sah das generelle Bild so aus, dass die Unterstützer des Verratstopos vor allem in der Hürriyet vertreten waren, während in der Radikal und den beiden muslimisch-konservativen Zei-tungen Zaman und Yeni Şafak überwiegend Kritiker des Verratsvor-wurfs zu Wort kamen. Die Äußerungen des Justizministers trafen zwar auch in der kemalistischen Cumhuriyet nicht auf Zustimmung. Doch eine kritische Auseinandersetzung, die sich speziell auf den schweren Vorwurf des Verrats konzentrierte, stand hier im Schatten der Beschäfti-gung mit dem Themenkomplex von Meinungs- und Redefreiheit.

Der Justizminister als Agitator Die Parlamentsrede des Justizministers löste die größte Kontroverse in der öffentlichen Debatte aus. Man wunderte sich zunächst, dass der Vorwurf des Verrats von Cemil Çiçek stammt. Denn Çiçek wurde als einer der Motoren des türkischen Demokratisierungsprozesses gese-hen.374 Die »reaktionäre« Einstellung, die in der Rede zu Tage gekom-men war, ging also auf ein Kabinettsmitglied zurück, von dem man es am wenigsten erwartet hatte, zählte Çiçek doch zu den »glänzendsten Figuren im Kabinett«.375 Çiçek galt als »gelassen« und »nüchtern«.376 374 Haluk Şahin, Içimizdeki Faşist, Radikal, 28.5.2005. 375 Mehmet Ali Birand, Işimiz zor, Hürriyet, 28.5.2005. 376 Yasin Doğan, Çiçek ve Kazakistan, Yeni Şafak, 30.5.2005.

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Seine Rede hatte jedoch »Angst eingeflößt« und »Angst und Schrecken« verbreitet.377 Manche hatte es »geschaudert«, als sie die Parlamentsde-batte und das Hämmern am Rednerpult »im Stile Hitlers« gehört hat-ten.378 Angesichts seines skandalösen Auftritts wurde der Justizminister zum Rücktritt aufgefordert.379

Das Auftreten von Cemil Çiçek widersprach nicht nur seinem bis dahin verbreiteten Image als besonnener und ausgewogener Demokrat. Hikmet Çetinkaya betonte in der Cumhuriyet, dass es der Justizminister war, der sich im Parlament in Rage geredet hatte.380 »Ich schaue mir die Nachrichten im Fernsehen an«, schrieb er, und »ich bekomme Angst. Denn der, der da spricht, ist der Justizminister [unseres Landes].« Doch in einem Land, wo »blutjunge Menschen an den Galgen gebracht, Mil-lionen von Büchern verbrannt, 15-jährige Kinder gefoltert und ins Ge-fängnis gesteckt [wurden] und Massaker, wie solche in Sivas, stattge-funden« hatten, erstaunte es wiederum kaum, dass der oberste politische Repräsentant des Gesetzes sich solch einer Sprache bediente.381 Für sei-nen Kollegen Oral Çalışlar war das Vorgehen von Çiçek »unverständ-lich und inakzeptabel«. Der Minister hatte mit seinem Aufruf an den Hochschulrat und die Universitäten, »sich ihrer Pflicht zu besinnen«, die Organisatoren der Veranstaltung zur »Zielscheibe in der Öffentlichkeit« gemacht.382 Der Chefredakteur der muslimisch-konservativen Yeni Şa-fak mutmaßte in dieselbe Richtung: Der Justizminister wollte wohl ge-radezu, dass sich die Wut der Bevölkerung auf die Teilnehmer der Kon-ferenz richtete.383

Der aggressive Auftritt des Ministers und die Sprache, der er sich bediente, erinnerten die Kommentatoren an die Zeit der Militärdiktatur in den 1980er Jahren. Die Art der Mobilmachung der »anti-demokrati-schen politischen Elite« gegen die Konferenz spiegelte nach Adnan Ekinci in der Radikal das politische Erbe jener autoritären Phase wider, Gewalt als legitime Methode für politische Problemlösungen heranzu-

377 H. Bülent Kahraman, Demokrasi katliamı ve konferans, Radikal,

27.5.2005; vgl. auch Türker Alkan, Konuş bakalım, Radikal, 29.5.2005. 378 Tarhan Erdem, Siyaset ve üniversite aynı yerde, Radikal, 26.5.2005;

Hakkı Devrim, Çiçek’in basireti mi bağlandı? Radikal, 28.5.2005. 379 Murat Çelikkan, Vatan Haini, Radikal 26.05.2005; ders. Devlet Partisi

olarak CHP, Radikal, 28.5.2005. 380 Hikmet Çetinkaya, Yasakçı Kafa, Cumhuriyet, 26.5.2005. 381 Ebenda. In der Stadt Sivas verbranten bei einem fundamentalistisch mo-

tivierten Anschlag auf ein Hotel in 1996 36 führende Persönlichkeiten der alevitischen Gemeinde vor den Augen eines wütenden Mobs.

382 Oral Çalışlar, Cemil Çiçek Aslına mı Döndü?, Cumhuriyet, 27.5.2005; vgl. auch Ismet Berkan, Yazık değil mi üniversiteye, Radikal, 26.5.2005.

383 Fehmi Koru, ›Eli hançerliler‹ savulun, Yeni Şafak, 26.5.2005.

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ziehen. Es zeigte sich, dass »jede noch so kleine Hoffnung auf eine de-mokratische und rechtsstaatliche Gesellschaft im Geiste des 12. Septem-ber mit der Sense brutal niedergemäht« wurde.384 In derselben Zeitung versicherte Murat Çelikkan lakonisch, dass es sich bei der zitierten Rede nicht um die Worte von Kenan Evren, dem Mann an der Spitze der Mili-tärjunta von 1980, handelte.385

Die Nestbeschmutzer Der von Justizminister Çiçek aufgegriffene Topos des Verrätertums be-zog sich im politischen Kontext von 2005 im Gegensatz zu den früheren Diskursmomenten nicht auf die »armenische Lobby«, die »armenischen Banden« oder »Terroristen« oder die »imperialistischen Mächte«, son-dern auf die Gegner in den eigenen Reihen. Das Vorgehen des Hürriyet-Kommentators Emin Çölaşan, die Organisatoren und Teilnehmer der Konferenz unter Zitierzeichen als Türken zu beschreiben, bringt die Wahrnehmung dieses Personenkreises als nationale Störenfriede und Nestbeschmutzer symbolisch besonders gut zum Ausdruck.386

»Jedes Wort in der Rede des Ministers trifft zu«, fand der rechtsna-tionalistische Murat Bardakcı in der Hürriyet. Allein in den Titeln der Vorträge entblößte sich für ihn die verräterische Absicht der Konferenz-organisatoren und -teilnehmer.387 Der einflussreiche Leugnungsstratege Gündüz Aktan argumentierte in der Radikal kontrafaktisch, »Warum soll eine Gesellschaft diejenigen Mitglieder aus ihren Reihen nicht als Verräter bezeichnen, die ihrerseits nicht davor zurückschrecken, diese Gesellschaft ohne jegliche juristische Grundlage mit einem Verbrechen zu beschuldigen, das weltweit eines der schlimmsten Verbrechen dar-stellt?«388 Emin Çölaşan unterstellte den »Pseudointellektuellen«, dass sie die Völkermordthese verbreiten wollten. Für ihn war klar, dass sie unisono sagen wollten: »Es war Völkermord, wir haben die Armenier abgeschlachtet.«389 Damit aber lieferten sie den »Feinden der Türkei, Armenien und der armenischen Lobby« einen »grandiosen Trumpf«.390

Diese Stimmen aus dem nationalistischen Lager bekamen mit Ahmet Taşgetiren Unterstützung aus den muslimisch-konservativen Reihen: 384 Adnan Ekinci, Başsağlığı ve teşekkür, 27.5.2005. 385 Murat Çelikkan, Vatan Haini, Radikal 26.05.2005, 386 Emin Çölaşan, Ermeni Konferansı, Hürriyet, 27.5.2005. 387 Murat Bardakcı, Meğer ne kadar da çok Tevfik Fikret’imiz varmış, Hür-

riyet, 29.5.2005. 388 Vgl. Gündüz Aktan, Henüz Amaçlarına Ulaşamadılar (I), Radikal, 28.5.

2005. 389 Emin Çölasan, Ermeni konferansı! Hürriyet, 27.5.2005. 390 Emin Çölasan, Ermeni konferansı! Hürriyet, 27.5.2005.

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»Es war von vornherein klar«, schreibt der Autor, »dass interne Stim-men, die von einem Völkermord sprechen, ein gefundenes Fressen für die Völkermordvorwürfe der armenischen Diaspora sind.«391 Im Kontext der direkten und indirekten Unterstützung der armenischen Version der Geschichte von 1915 galt es als besonders schlimm, dass den Türkei-Gegnern der »Prügelstab« aus der Mitte der Gesellschaft gereicht wurde, also von den »Enkeln und Urenkeln der Osmanen« selbst.392 In Oktay Ekşis Worten gehörten diese zu jener Kategorie von Menschen, die es »verfluchten, als Türke geboren worden zu sein. Wenn es darum geht, die Türkei oder Türken schlecht zu machen, können unsere schlimmsten Feinde ihnen nicht das Wasser reichen.«393 In der Cumhuriyet wurde diese Kritik von Hikmet Bila fortgeführt. Für ihn bestand die Gesell-schaft aus zwei Gruppen: einer, die sich für das Wohl und das Ansehen der Nation einsetzte, und einer, die das türkische Ansehen im Ausland schädigen wollte.394 Mit der Organisation der Armenierkonferenz wurde nun diese zweite Gruppe der türkischen Gesellschaft aktiv, die unter dem »Deckmantel der Wissenschaftlichkeit« alles nur Erdenkliche unternahm, um die Türkei vor den Augen der Welt bloßzustellen.395

Diese systematische Kritik an der Türkei gefährdete nicht zuletzt die Sicherheit der Türkei: Für Emin Çölaşan etwa verbargen sich hinter sol-chen »hinterlistigen Schlägen in den Rücken der Nation neue, ausgeklü-gelte Methoden, die konventionelle Waffen« ersetzten, »um ein Land in die Knie zu zwingen.« Çölaşan betonte, dass diese Leute, die »uns in den Rücken fallen, von der armenischen Diaspora in den USA bezahlt [werden], andere leben in Deutschland und einige kommen gerade aus Armenien zurück.«396 Damit machte er die Organisatoren und Teilneh-mer nicht nur zu Außenseitern der türkischen Gesellschaft, sondern stell-te auf konkrete Personen ab: Die beiden aus den USA anreisenden Wis-senschaftler Taner Akçam und Fatma Müge Göçek standen für »die von der armenischen Diaspora gekauften« Teilnehmer, während mit »dem aus Deutschland stammenden« Teilnehmer der Bochumer Historiker Fikret Adanır gemeint war. Der Doyen des linken Establishments Murat Belge und die beiden armenisch-türkischen Journalisten Etyen Mahcu-pyan und Hrant Dink, die den Gedenkveranstaltungen zum 90. Jahrestag

391 Ahmet Taşgetiren, Türkiye’yi kıstırmak, Yeni Şafak, 26.5.2005. 392 Ahmet Taşgetiren, Sorularım var, Yeni Şafak, 27.5.2005. 393 Oktay Ekşi Yanlışlar Denklemi, Hürriyet, 26.05.2005. 394 Vgl. Hikmet Bila, Maç ve Konferans, Cumhuriyet, 27.05.2005. 395 Hikmet Bila, Maç ve Konferans, 27.05.2005. 396 Emin Çölasan, Atatürk bunu yapardı, Hürriyet, 27.5.2005. vgl. auch Mu-

rat Bardakcı, Meğer ne kadar Tevfik Fikret’imiz varmış, Hürriyet, 29.5. 2005.

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in Yerewan beigewohnt hatten, standen für diejenigen, die »gerade aus Armenien« zurückgekommen waren.

Gegendiskurs – »die eigentlichen Verräter« Der Vorwurf des Verrats wurde aber nicht ohne massive Gegenwehr hingenommen. Diese richtete sich insbesondere gegen die Logik des Verratstopos, die jeden aus der Gesellschaft ausschloss, der die offizielle türkische These zur Armenierfrage auch nur in Ansätzen kritisierte. Hier kam ein Gegendiskurs in Gang, der vor allem in der Yeni Şafak, Zaman und Radikal zu lesen war, bei dem liberale Intellektuelle entschieden Anspruch auf die Mitsprache bei der Definition des nationalen Wohls erhoben. Ein Grund, dass sich die scharfen Reaktionen vor allem in die-sen Zeitungen niederschlugen, war der, dass zahlreiche Journalisten und Intellektuelle, die dort regelmäßig Kommentare schrieben, in der einen oder anderen Form an der Veranstaltung beteiligt waren und damit zu den Adressaten des Verratsvorwurfs zählten.

Der Widerstand gegen die Konferenz hatte gezeigt, dass allein die Bereitschaft, an der Konferenz teilzunehmen, die Befürworter zu Verrä-tern gemacht hatte. »Bevor wir überhaupt gesprochen haben, […] hat Justizminister Cemil Çiçek entschieden, dass unsere Worte gefährlich und sogar Vaterlandsverrat sind,« klagte die Autorin Elif Şafak.397 Der Journalist Bekir Coşkun, der im Gegensatz zu den meisten anderen Ver-anstaltungsteilnehmern kemalistische Positionen vertritt, unterzeichnete seine Kolumne mit »Der potentielle Vaterlandsverräter«.398 Den Aspekt des potentiellen Verrats griff Fehmi Koru in der Yeni Şafak auf. In »An diejenigen mit dem Dolch in der Hand: Auseinander mit Euch« kritisier-te Koru den Monopolanspruch der politisch herrschenden Schicht auf die Definition des nationalen Interesses. Doch die im Kontext der Ver-anstaltung als Vaterlandsverräter diffamierten Individuen waren Teile dieser Gesellschaft. Was hatten diese Menschen verbrochen? Die Ant-wort lautete: »Sie haben buchstäblich nichts verbrochen […]. Es könnte durchaus sein, dass die Verräter ihren Dolch noch nicht einmal ausge-packt, ja noch nicht einmal gekauft haben. Aber ein Blick in ihre Augen reicht aus, um ihre wahren Intentionen zu erkennen, dass sie vorhaben, die nationalen Anliegen ›von hinten zu erdolchen‹.«399

397 Elif Şafak, Şimdi ben vatanı arkadan mı hançerledim? Zaman, 29.5.

2005; 398 Bekir Coskun, Nasıl ›vatan haini‹ oldum? Hürriyet, 27.5.2005. 399 Fehmi Koru, ›Eli hançerliler‹ savulun, Yeni Şafak, 26.5.2005; Vgl. auch

Murat Çelikkan, Vatan haini, Radikal, 20.3.2005;

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Auch Ali Bayramoğlu kritisierte die Anmaßung der herrschenden kemalistischen Eliten und der Regierung, allein über das nationale Inte-resse bestimmen zu wollen. Die Logik des Ministers lautete, dass es kein Wissen geben könne und dürfe, das gegen die nationalen Interessen ge-richtet ist. An dem Vergleich, dass die politische Logik eines einzigen nationalen Wohls ihre »Vorläufer in dem Sowjetsystem, Mussolinis Ita-lien und Hitlers Deutschland« gehabt habe, wurde deutlich, wie sehr die politische Kultur der Bevormundung der Bürger öffentlich in Frage ge-stellt und nach politischen Partizipationsmöglichkeiten verlangt wurde. Den Vergleich mit totalitären Systemen trieb Bayramoğlu auf die Spitze. Angesichts des enormen internationalen Prestigeverlusts fragt er mit Blick auf die Kritiker der Konferenz im Allgemeinen und den Justizmi-nister im Speziellen, wer hier wohl der eigentliche Verräter sei.400

Auch Taha Kıvanc klagte über den außenpolitischen Schaden für die Türkei. Diesen Schaden haben diejenigen verursacht, die »den Begriff des Verrats ins Spiel gebracht [und] die gastgebenden Universität aufge-fordert haben, die Durchführung der Veranstaltung zu überdenken«. Ebenfalls in Anspielung auf den Justizminister fragte Kıvanç: »Was oder wen sehen diejenigen, die das Land in solch eine missliche außen-politische Lage gebracht haben wohl, wenn sie sich im Spiegel anschau-en?«401

Diese vergleichsweise massive Kritik an den herrschenden politi-schen Kadern war aber aus der Perspektive des Umgangs mit der Arme-nierfrage problematisch. Der Gegendiskurs rückte zwar den nationalisti-schen und exkludierenden Aspekt des Verratstopos in den Mittelpunkt der Kritik, doch er gründete selbst auf einer nationalistischen Argumen-tation. Mit dem Versuch, den Spieß umzudrehen und die Befürworter der Konferenz als die eigentlichen am nationalen Interesse der Türkei orientierten Gesellschaftsmitglieder zu konstruieren, stellten die libera-len Stimmen der türkischen Gesellschaft die nationalistische Ausprä-gung des Verratstopos gerade nicht in Frage. Dies führte zu dem para-doxen Ergebnis, dass die liberalen Eliten, die die staatliche Leugnungs-politik kritisieren wollten, stattdessen die zentralen Logiken des Leug-nungsdiskurses reproduzierten.

Die staatliche These und nationale Einheit Die Debatte im Parlament hatte deutlich gemacht, dass die Armenische Frage über Parteigrenzen, politische Orientierungen und institutionelle

400 Ali Bayramoğlu, Kim Hain? Yeni Şafak, 26.5.2005. 401 Taha Kıvanç, Nasıl Hain Olunur? Yeni Şafak, 28.5.2005.

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Zugehörigkeiten hinweg eine einigende Wirkung hatte. Die geplante »verräterische« Veranstaltung ließ den politischen Machtkampf zwi-schen dem Hochschulrat und der Regierung sowie die gespannte politi-sche Atmosphäre zwischen der regierenden AKP und der oppositionel-len CHP in den Hintergrund treten. Das Problem der nationalen Vergan-genheit und die damit verbundene Infragestellung der nationalen Identi-tät vereinten damit also die polarisierten Lager.

In der Radikal schrieb Murat Belge über das »besondere Vergnü-gen« zu beobachten, wie die Armenierfrage solche politischen Kontra-henten einen konnte. »Ein CHP-Abgeordneter und Diplomat im Ruhe-stand, ein AKP-Mitglied und Justizminister und der Vorsitzende des Hochschulrats kommen tatsächlich zu einem gemeinsamen Ergebnis.«402 Murat Çelikkan knüpfte an die einigende Wirkung der Armenierfrage über Parteigrenzen hinweg an: »Schauen Sie sich bitte einmal diese Front an: Ramazan Bakkal, Şükrü Elekdağ, Cemil Çiçek.«403 Andere Stimmen machten darauf aufmerksam, dass die Regierung sich mit ihren eigenen Gegnern zusammengetan hatte. »Diejenigen, die tagelang gegen die Konferenz protestiert haben, sind dieselben, die sich gegen die Re-gierungspolitik und den EU-Beitritt stellen.«404

Auch in der Zaman wurde die herrschende Auffassung von nationa-ler Einheit kritisch hinterfragt. Die Angst vor dem Verlust der nationalen Einheit in der Armenierfrage repräsentierte für Etyen Mahcupyan eine reaktionäre Einheitsvorstellung des Staates. Gleichzeitig blendete diese Haltung die gesellschaftliche Realität der Türkei aus, denn hier gab es Diversität und unterschiedliche Stimmen. Mehr noch als die Auseinan-dersetzung mit der historischen Last der Armenierfrage spiegelten die aktuellen Konflikte nach Mahcupyan die Misere des Staates wider. Der Staat war zu einem Staat geworden, der sich vor den Meinungen seiner eigenen Bürger fürchtete.405

Demgegenüber kritisierten Stimmen aus dem nationalistischen La-ger, dass die Konferenzorganisatoren sich in der Annahme irrten, die offizielle staatliche These würde nicht von der Mehrheit der Gesellschaft getragen. Die überragende Mehrheit der türkischen Bevölkerung stand nach Gündüz Aktan hinter dem, was die Organisatoren als offizielle These zu entwerten versuchen würden.406 Der Chefredakteur der Hürri- 402 Murat Belge, ›Ertesi‹ gün, Radikal, 27.5.2005. 403 Murat Çelikkan, Devlet partisi olarak CHP, Radikal, 28.5.2005. 404 Mustafa Karaalioğlu, Milliyetçiliği milliyetçikle bastırmak, Yeni Şafak,

27.5.2005. 405 Etyen Mahcupyan, Ya ittihat ya terakki, 27.5.2005. Nach der Ermordung

von Hrant Dink im Januar 2007 übernahm Mahcupyan die Herausgabe von AGOS.

406 Gündüz Aktan, Henüz Amaçlarına Ulaşamadılar (2), Radikal, 28.5.2005:

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yet bedauerte die Absage der Konferenz aus demselben Grund: Durch die Vertagung hatte ein marginaler Teil der türkischen Gesellschaft eine unverhältnismäßige große Aufmerksamkeit auf sich gezogen.407 Schließ-lich wurde das Auftreten der Organisatoren als provokant und aggressiv kritisiert. Niemand in der Türkei würde verschweigen, dass es sich bei 1915 um eine humane Tragödie handeln würde, stellte Tufan Türenç heraus. Die Bevölkerung würde lediglich die Charakterisierung dieser Tragödie als Völkermord ablehnen. »Ist das denn ein Fehler?«, fragte er.408 Die entscheidende Frage war für ihn demnach, wem der Aus-schluss von Meinungen, die die türkische Mehrheit repräsentierten, letzt-lich nützen würde. Damit deutete er an, dass die Debatten im Hinblick auf die Konferenz nur anti-türkischen Kräften Vorschub geleistet hatten.

Demokratierahmen Die Diffamierung der Konferenzorganisatoren als Verräter stieß nicht nur auf Kritik von Seiten der Betroffenen und ihnen nahe stehenden Eli-ten, sondern löste eine grundsätzliche Debatte über die Demokratiefä-higkeit der Türkei aus. Bereits an Titeln wie etwa »Blutbad an der De-mokratie und die Konferenz«, »Demokratie schön und gut, aber doch nicht soviel«, »Die Erdolchung der Demokratie«, »Zutaten für eine bil-lige Demokratie« oder »Die Demokratie für sich selbst in Anspruch nehmen«, wurde deutlich, dass die Absage der Konferenz als Demokra-tieproblem gerahmt wurde.409

Drei Fragen waren dabei umstritten: Was bedeutete die Vertagung bzw. die Realisierung der Konferenz in Bezug auf die grundlegenden demokratischen Prinzipien der Meinungs-, Rede- und Gedankenfreiheit? Wie war es um die Freiheit der Wissenschaft und Forschung in der Tür-kei bestellt? Was bedeutete Wissenschaftlichkeit überhaupt?

Rede- und Meinungsfreiheit In der Debatte wurde beklagt, dass man schwer von Rede- und Mei-nungsfreiheit sprechen konnte, nachdem allein die Infragestellung der

407 Ertuğrul Özkök, Korktuğum başımıza geldi, 25.5.2005. 408 Tufan Türenç, Boğaziçindeki konferans olayı, 27.5.2005. 409 Hasan Bülent Kahraman, Demokrasi Katliami ve Konferans, Radikal,

27.5.2005; Türker Alkan, Demokrasi arkadan hançerlendi, Radikal, 26.5.2005; derselbe Demokrasi dediysek, o kadar da değil yani! Radikal, 27.5.2005; Özdemir Ince, Ucuz demokrasinin yahnisi, Hürriyet, 27.9.2005; Oktay Ekşi, Sözde demokrat olmak, Hürriyet, 27.5.2005. Vgl. auch Ismet Berkan, ›Memlekette demokrasi var‹ diyecek kimse kalmadı mı? Radikal, 25.5.2005.

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offiziellen staatlichen These als Beihilfe zur armenischen Propaganda galt.410 Demokratischer Pluralismus durfte nach Hasan Bülent Kahra-man, Professor an der Bilgi Universität, nicht mit Mehrheit allein ver-wechselt oder gleichgesetzt werden. 411 Selbst Kritiker der Konferenz unterstrichen, dass abweichende Meinungen ein wichtiger und integraler Bestandteil von Demokratien waren. Für Oktay Ekşi konnte die Türkei nur dann für sich in Anspruch nehmen, eine »pluralistische, freiheitliche, tolerante und demokratische Gesellschaft« zu sein, wenn nicht nur ge-sellschaftlich akzeptierte und verbreitete Meinungen geäußert werden konnten, sondern auch solche Meinungen gehört wurden, die nicht den Regeln entsprachen, »ja sogar Anlass zu Sorge« gaben.412

Allerdings funktionierte der Demokratierahmen nicht nur im Sinne eines Arguments für die Veranstaltung, sondern diente auch als zentrale Kritik an der Konferenz. Demnach hatten die Organisatoren der Konfe-renz selbst demokratische Grundprinzipien verletzt.413 Mit ihrem selek-tiven und einseitigen Zugang zum Thema und der Nicht-Einladung von namhaften Wissenschaftlern, die die offizielle These vertraten, hatten die Organisatoren der Konferenz selbst die ihnen missliebigen Meinun-gen zum Schweigen gebracht. Aus dieser Perspektive predigten die Or-ganisatoren zwar Pluralismus und Meinungsvielfalt, zensierten aber die herrschende Meinung in der Türkei zu der Armenierfrage.414

Die Organisatoren wurden zudem doppelter moralischer Standards bezichtigt, weil sich kein Vertreter kritisch zu der Anzeige gegen den Präsidenten der Türkischen Geschichtsgesellschaft Yusuf Halaçoğlu durch die Schweiz geäußert hatte. Gegen diesen lief in der Schweiz nämlich zeitgleich eine Anzeige wegen der Leugnung des Völkermords. Die »Pseudointellektuellen« erhoben den Anspruch auf Redefreiheit nur für sich. Warum aber hatte sich keiner von ihnen für dasselbe Recht von Halaçoğlu öffentlich eingesetzt?415

410 Tarhan Erdem, Siyaset ve Politika aynı yerde, Radikal 26.5.2005. 411 Hasan Bülent Kahraman, Demokrasi Katliamı ve Konferans, Radikal,

27.5.2005. 412 Oktay Ekşi, Sözde demokrat olmak, 27.5.2005; Orhan Bursalı, Ermeni

Konferansı ve Üniversite«, Cumhuriyet, 26.5.2005. 413 Vgl. Orhan Birgit, Bir Arpa Boyu Yol Gitmedik, Cumhuriyet,

27.5.2005. 414 Vgl. z.B. Emin Çölasan, Atatürk bunu yapardı, Hürriyet, 28.5.2005 415 Ertuğrul Özkök, Korktuğum başımiza geldi, Hürriyet, 27.5.2005; Emin

Çölasan, Atatürk bunu yapardı, Hürriyet, 28.5.2005;Oktay Ekşi, Sözde Demokrat olmak, 27.5.2005; Oktay Ekşi, Yanlışlar Denklemi, 26.05.2005; Hikmet Çetinkaya, Yasakçı kafa, 26.5.2005.

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»Einstimmiger Chor« versus »Scheinheiligkeit« Der Chefredakteur der Hürriyet, Ertuğrul Özkök, bildete die Veranstalter und Teilnehmer der Konferenz als eine Gruppe »Gleichgesinnter« und »true-believers« ab. 416 Er polemisierte, dass die Gelegenheit »den Monolog des einstimmigen Chors« zuzuhören, verpasst worden sei.

Während diese und ähnliche Kritik vor allem in der Hürriyet und Cumhuriyet vorgetragen wurde, gab es in diesen Zeitungen aber auch Diskursteilnehmer, die auf die Widersprüche der Einseitigkeitskritik aufmerksam machten. Mehmet Ali Birand, der seit den 1980er Jahren die außenpolitischen Entwicklung in Bezug auf die Armenierfrage ver-folgt, wunderte sich: Man würde ja geradezu den Eindruck bekommen, dass sich die Auseinandersetzung mit der Armenierfrage in der Türkei bislang durch Ausgewogenheit und Meinungsdiversität ausgezeichnet habe. »Nein. Genau das Gegenteil ist der Fall«, korrigierte er dieses Bild. Die Meinungsfreiheit in der Armenierfrage war nur innerhalb der Grenzen der offiziellen These gegeben. »Wenn Sie die offizielle These unterstützen, gibt es kein Problem. Sie können sprechen, so lange Sie wollen. Wenn Sie sich jedoch von der herrschenden Meinung lossagen, können Sie sich die Kugel geben.«417

In der Cumhuriyet brachte Oral Çalışlar die Diskrepanz zwischen dem Vorwurf der Einseitigkeit und der politischen und gesellschaftli-chen Realität der Türkei zum Ausdruck. Seine Recherchen der Konfe-renzen der letzten 10 Jahre, die über die Armenierfrage in der Türkei organisiert worden waren, hatten zu dem »wenig überraschenden« Er-gebnis geführt, dass auf keiner dieser Konferenzen Ideen artikuliert worden waren, die im Widerspruch zur offiziellen These standen. Er nahm das Ergebnis zum Anlass, um dazu aufzurufen, von den alten Ge-wohnheiten Abstand zu nehmen und sich mit der nationalen Vergangen-heit kritisch und offen auseinanderzusetzen.418

Wissen und Gesellschaft In den Augen der Befürworter der Konferenz stellten der politische Druck und die Vertagung der Veranstaltung eine »Katastrophe« für die Freiheit der Wissenschaft dar.419 Es bedeutete eine »Beleidigung« und

416 Ertuğrul Özkök, Korktuğum başıma geldi, Hürriyet 25.5.2005. 417 Mehmet Ali Birand, Funny Game (Garip oyun), Hürriyet, 27.5.2005. 418 Oral Çalışlar, Tarafsızlık ve Ermeni Sorunu, Cumhuriyet, 30.5.2005. 419 Hasan Bülent Kahraman, Demokrasi katliamı ve konferans, Radikal,

27.5.2005.

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»Kränkung« der Bevölkerung und ihrem Recht auf Wissen.420 Dabei wurde auch die Leitung der Boğaziçi Universität kritisiert. Die Universi-tät hatte mit ihrer Entscheidung, die Konferenz zu vertagen, selbst einen Beitrag zur Aushöhlung der Freiheit von Wissenschaft und Forschung geleistet. Sie hätte dem Druck standhalten und die Konferenz erst recht durchführen müssen.421

Die öffentliche Debatte hatte deutlich gemacht, dass Wissenschaft-lichkeit und Einseitigkeit als sich gegenseitig ausschließende Begriffe verstanden wurden. Im Gegensatz dazu standen die Begriffe Objektivi-tät, Unparteilichkeit und Vielstimmigkeit für einen wissenschaftlichen Zugang. Dieses Verständnis von Wissenschaftlichkeit, das von den na-tionalistischen Kritikern der Konferenz in der politischen Kommunika-tion vorgeschoben wurde, stieß bei den akademisch etablierten Intel-lektuellen aber auf scharfe Kritik.

Diese dominante Vorstellung von Wissenschaftlichkeit in der öffent-lichen Kommunikation zeigte zunächst, dass Aufklärung notwendig war, weil sowohl die politische Führung des Landes als auch der Hochschul-rat »keinen blassen Schimmer« hatten – wie es Cüneyt Ülsever in der Hürriyet ausdrückte – was Wissenschaftlichkeit bedeutete.422 Im Gegen-teil, »Respekt- und Ahnungslosigkeit bezüglich des Begriffs Wissen-schaft« schienen nach Ülsever die entscheidenden Kriterien zu sein, um sich für die politische Führung des Landes zu qualifizieren.

Vor diesem Hintergrund nahm die Auseinandersetzung mit der ge-sellschaftlichen Bedeutung der Universitäten und der Frage, was Wis-senschaftlichkeit ausmachte, sehr viel Raum im Diskursmoment von 2005 ein. Dabei fiel auf, dass die Debatte über den Zusammenhang von Wissenschaft und Gesellschaft auf einem hohen Diskussionsniveau ge-führt wurde. Die Kommentatoren griffen z.B. methodologische Fragen auf und setzten sich mit dem Verhältnis von wissenschaftlichem Wissen und Wahrheit auseinander.423 420 Erdal Güven, Ermeni Konferansı, Radikal, 29.5.2005. 421 Vgl. u.a. Orhan Bursalı, Ermeni Konferansı ve Üniversite, Cumhuriyet,

26.5.2005, Ismet Berkan, Yazık değil mi üniversiteye, Radikal, 26.5. 2005; Tarhan Erdem, Siyaset ve üniversite aynı yerde, Radikal, 26.5 .2005; Türker Alkan, Konuş bakalım, Radikal, 29.5.2005; Ali Atıf Bir, Yaşam boyu öğrenim hakkı, Hürriyet, 30.5.2005; Murat Belge, ›Tek-yanlı konferans‹, Radikal, 29.5.2005.

422 Cüneyt Ülsever, Yönetenlerin ayaklar altına aldığı kelime: Bilimsellik! Hürriyet, 30.05.2005.

423 Vgl. u.a. Erdal Güven, Ermeni Konferansı, Radikal, 29.5.2005; Cüneyt Ülsever, Yönetenlerin ayaklar altına aldığı kelime: Bilimsellik! Hürriyet, 30.05.2005; Alev Alatlı, Apologetics ya da hüccetle müdafaa, 27.5.2005; Hasan Bülent Kahraman, Ermeni konferansı ve bilimsellik, Radikal, 25.5.2005.

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Die akademisch etablierten Diskursträger machten insgesamt deut-lich, dass Wahrheit kein absolutes Endprodukt wissenschaftlicher Arbeit war.424 Wissenschaftlichkeit wurde als Prozess der fortwährenden Suche nach Wahrheit verstanden. 425 Nicht zuletzt wurde vertreten, dass es »wahres Wissen« im Sinne von nicht-ideologischem Wissen nicht gä-be.426 Dieses postmoderne Verständnis von Wissenschaftlichkeit zeigte, dass die türkischen akademischen Eliten selbstbewusst genug waren, um die nationalistische Kritik der Nicht-Objektivität der Konferenz als Scheinkritik zu entlarven.

Die Armenierfrage als ein Problem auf dem Weg in die EU Prestigeverlust und Glaubwürdigkeit Die außenpolitische Dimension der Absage der Konferenz nahm ebenso einen breiten Raum in der öffentlichen Debatte ein. Mit Blick auf die EU stellten die Meinungsmacher eine Diskrepanz in der Regierungshal-tung fest. Auf der einen Seite setzte sich die Regierung für einen EU-Beitritt der Türkei ein, auf der anderen Seite konterkarierte sie dieses Ziel selbst mit ihrem Verhalten.427 Die politische Evaluation der Äuße-rungen des Justizministers durch die Kommentatoren lief somit darauf hinaus, dass er als Mitglied der Regierung die EU-Aussichten gefährde-te. In der Radikal stellte Hakkı Devrim fest, dass Çiçek den »Verstand verloren« haben musste, anders konnte er sich das Timing und den Wut-ausbruch des Justizministers nicht erklären. Angesichts der Tatsache, dass die Augen der internationalen Gemeinschaft und insbesondere der EU auf die Türkei gerichtet waren, war es unverständlich, wie eine Kon-ferenz behindert werden konnte, deren Durchführung nur Pluspunkte eingebracht hätte.428 Die Vertagung der Konferenz wurde als eine Ent-wicklung gewertet, die nicht zuletzt die Glaubwürdigkeit der Regierung 424 Şahin Alpay, Kaybeden Türkiye oldu, Zaman, 26.5.2005 425 Diesen Aspekt unterstrich auch der Rektor der Bilgi-Universität in seiner

Eröffnungsrede, als die Konferenz im September 2005 realisiert wurde. Wissenschaftliche Konferenzen lieferten keine definitiven, allein gülti-gen und abschließenden Antworten. Die Aufgabe der Wissenschaft be-stand in der Eruierung neuer Fragen, die wiederum nach neuen Antwor-ten verlangten. Das Streben nach Wahrheit war ein Prozess und die Wis-senschaft daher ein nicht endendes Unterfangen. Siehe Oral Çalışlar, Konferanstan Notlar, Cumhuriyet, 25.9.2005.

426 Hasan Bülent Kahraman, Ermeni konferansı ve bilimsellik, Radikal, 25.5.2005.

427 Orhan Birgit, Bir Arpa Boyu Yol Gitmek, Cumhuriyet, 27.5.2005. Haluk Şahin, Içimizdeki faşist, Radikal, 28.5.2005.

428 Hakkı Devrim, Çiçek’in basireti mi bağlandı? Radikal, 28.5.2005.

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im Hinblick auf den Vorschlag der Gründung einer Historikerkommis-sion schwächte.429

Solche politisch-strategischen Argumente wurden auch aus den Rei-hen des Organisationskomitees der Veranstaltung und ihrer Unterstützer vorgebracht, die die außenpolitischen Vorteile der Veranstaltung bzw. die politischen Kosten der Nichtveranstaltung betonten.430 Diese instru-mentelle Herangehensweise an die Absage der Konferenz hatte aber einen ähnlich paradoxen Effekt wie der Versuch der türkischen Libera-len, den Verratstopos umzudrehen und die Kritiker der Konferenz als »eigentliche Verräter« darzustellen. Mit dem Argument, dass die Veran-staltung für die Türkei politische Vorteile brachte, koppelten die Libera-len die Auseinandersetzung mit der Geschichte an den politischen Nut-zen für die Türkei statt sich für eine bedingungslose opferorientierte Auseinandersetzung mit der Geschichte einzusetzen.

Die EU will immer mehr Als die Konferenz trotz erneuter heftiger Widerstände Ende September 2005 doch noch durchgeführt werden konnte, nahm die EU-Politik einen noch größeren Raum in der öffentlichen Debatte ein. Dies hing vor al-lem damit zusammen, dass nur wenige Tage zwischen dem entscheiden-den EU-Gipfel am 1./2. Oktober und der Durchführung der Konferenz am 26./27. September 2005 lagen.

Die nationalistischen Kreise, die bereits in Zusammenhang mit dem Konferenzvorhaben vom Mai 2005 den Verratstopos unterstützt hatten, quittierten nun, dass die Türkei vor der EU »in die Knie« gegangen sei. Vereinzelt gab es hier auch Stimmen, die der Realisierung der Konfe-renz etwas Positives abgewinnen konnten. Während die Absage der Konferenz gezeigt hatte, dass die Türkei in Demokratiefragen »keinen Millimeter weitergekommen« war, wurde ihre Realisierung als Fort-schritt im Demokratisierungsprozess aufgefasst.431

Als das Europäische Parlament seine Völkermordentscheidung von 1987 einen Tag nach der Durchführung der umstrittenen Konferenz, d.h. also am 28. September 2005, bestätigte, schien dies die Kritik der türki-schen EU-Gegner zu bestätigen. Mehmet Ali Birand versuchte die Dis-kussion zu versachlichen, indem er darauf hinwies, dass die Erklärung

429 Yalçın Doğan, 210 bin kişi tek tek AIHM’ye, Hürriyet, 27.05.2005; Şa-

hin Alpay, Kaybeden Türkiye oldu, 26.5.2005. 430 So etwa der Rektor der mitveranstaltenden Sabancı Universität oder

Vertreter des Organisationskomitees wie zum Beispiel Selim Deringil und Ethem Eldem (Zaman, 25.5.2005).

431 Orhan Birgit, Bir Arpa Boyu Yol Gitmek, Cumhuriyet, 27.5.2005.

POLITIK UND ERINNERUNG

264

des Europäischen Parlaments keine Kehrtwende, sondern eine Kontinui-tät in der Armenierpolitik des Parlaments darstellte.432 Kontinuität legte auch die türkische Regierung mit ihrer Reaktion an den Tag, als sie die Bedeutung der Entscheidung des Europäischen Parlaments relativierte. Regierungschef Erdoğan erklärte, dass die Erklärung des Europäischen Parlaments keinen Einfluss auf den Beitrittsprozess der Türkei haben würde (Cumhuriyet, 29.9.2005).

In der öffentlichen Debatte setzte sich indessen die Meinung durch, dass die EU die Türkei mit immer neuen Forderungen konfrontieren würde, ohne am Ende der Beitrittsverhandlungen eine Mitgliedschaft zu garantieren. Der Oppositionsführer Baykal sprach in diesem Kontext von »Bedingungen über Bedingungen, aber keine Beitrittsgarantie« (Cumhuriyet 29.9.2005). Die »bittere Wahrheit« war, dass sich die EU nicht einmal mit der Veranstaltung der Armenierkonferenz zufrieden gegeben hatte, wo die Teilnehmer den Europäern nach dem Mund gere-det hatten. Die EU hatte keine Sekunde gezögert mit neuen Forderungen nachzuziehen.433 »Der Prozess gegen uns funktioniert wie geschmiert und produziert nahtlos eine Forderung nach der anderen«, stellte der Cumhuriyet-Kommentator Arcayürek düster fest.434 Mit der Beschrei-bung, dass sich die Türkei »prostituieren« würde, entschied sich Emin Çölasan in der Hürriyet für eine besonders drastische Formulierung.435

Rahmung der Vertreibungsgeschichte der Armenier

1915 hat einen Kontext

Was den öffentlichen Umgang mit dem Mord an den Armeniern betrifft, so fand dieser zunächst über den Rechtfertigungstopos »1915 hat einen Kontext« statt. Dieser historische Kontext war in den Worten von Şükrü Elekdağ die Frage von »Sein oder Nicht-Sein« (Radikal, 14.4.2005).436 Der Populärhistoriker Murat Bardakçı stellte ebenfalls den existentiellen Aspekt der Geschichte von 1915 für den osmanischen Staat heraus.437 Bei der Deportation der armenischen Bevölkerung handelte es sich nicht um eine Entscheidung, betonte er, die von heute auf morgen getroffen

432 Mehmet Ali Birand, Türkiye kapıyı vurmamalı, 29.9.2005. 433 Hikmet Bila, Acı Gerçek, Cumhuriyet, 28.9.2005. 434 Cüneyt Arcayürek, AB’nin eli işte bizimkinin gözü oynaşta, Cumhuri-

yet, 27.9.2005. 435 Emin Çölasan, Hezimetin başlangıcı, Hürriyet, 29.9.2005. 436 Vgl. auch Ilhan Selçuk, Pazarola, 25.9.2005; Gündüz Aktan, Iyi ki, Ra-

dikal, 22.12.2005. 437 Murat Bardakçı in Neşe Düzel, Soykırımı Almanya kışkırtıyor, Radikal,

6.6.2005.

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worden sei. Vielmehr hatte der osmanische Staat zu dem legitimen Recht der Selbstverteidigung (devlet meşru müdafaa hakkını kullanıyor) gegriffen. Das bedeutete aber nicht, dass diese Verteidigung nicht zu Verlusten geführt hatte. »Ich versuche mich an die Stelle von Armeniern zu versetzen, es ist wirklich eine entsetzliche Geschichte, aber es gab keine andere Wahl«, verteidigte Bardakçı die jungtürkische Deporta-tionspolitik.

Angesichts der Kriegssituation und der vordringenden russischen Truppen hatte Talat Pascha nach Gündüz Aktan zwei Optionen. Entwe-der konnte er die Armenier nach Russland schicken oder sie innerhalb des eigenen Territoriums umsiedeln.438 Mit der Entscheidung für eine »relativ geordnete Deportation« hatte sich Talat Pasha nach Aktan für eine Option entschieden, die für damalige Verhältnisse »human« gewe-sen war. »Das bedeutet nicht«, gibt Aktan zu bedenken, »dass die tragi-sche Seite der Ereignisse geleugnet werden soll. Diese tragischen Ereig-nisse haben sich zugetragen, aber nicht, wie es die armenische Diaspora immer wieder vorbringt, in Form eines Völkermords.«

Die Berücksichtigung des innen- und außenpolitischen und kulturel-len Kontextes von 1915 war für den Historiker Toktamış Ateş unerläss-lich, wenn man eine adäquate wissenschaftliche Analyse von 1915 vor-nehmen wollte.439 Solch ein Vorgehen würde den eigentlichen Ursprung des Konflikts zu Tage bringen, der in der Entstehung des armenischen Nationalismus gründete. Denn armenische Bestrebungen nach Unab-hängigkeit hatten die osmanische Führung in einer Zeit der Bedrohung und Krise von Innen heraus gefährdet. Solch ein wissenschaftlich ad-äquater Zugang, schrieb Ateş, würde »das erlittene Leid nicht aufheben, aber eine Basis für ein angemessenes und gerechtes Urteil liefern.«440

»Unsere Opfer«

Wie in den vorausgegangenen Diskursmomenten schlug sich auch im kritischen Diskursmoment von 2005 der Topos »unsere Opfer« nieder. Ein einschlägiger Text stammte dabei von dem Chefredakteur der Hür-riyet, Ertuğrul Özkök.441 Vor dem Hintergrund der Armenierkonferenz las sich der Titel seines Kommentar »Jetzt fange ich an zu trauern« auf dem ersten Blick so, als würde Özkök um die armenischen Opfer der Geschichte trauern. Doch das Gegenteil war der Fall. Die Konferenz

438 Gündüz Aktan, Tehcirin Başlangıcı, Radikal, 19.3.2005. 439 Toktamış Ateş, Tarih yöntemi, 29.9.2005. 440 Ebenda. 441 Ertuğrul Özkök, Yas tutmaya başladım, 26.5.005; vgl. auch Şahin Al-

pay, Türk Ermeni dostuluğunun yeniden tesisi, Zaman, 29.9.2001.

POLITIK UND ERINNERUNG

266

hatte nur dazu geführt, dass Özkök sich seiner eigenen Vergangenheit und den Opfern seiner Familie bewusst geworden war. Der von der De-batte um die Konferenz ausgelöste Trauerprozess hatte damit zur Spal-tung der Gesellschaft in »unsere« und »eure Opfer« geführt und münde-te in dem Aufflammen von Hass und Wut.

Mit diesem Kommentar knüpfte Özkök zum einen an das stereotype Armenierbild in der öffentlichen Kommunikation an, das die Armenier mit ihrem Festhalten an die Vergangenheit als unversöhnlich, nachtra-gend und rachsüchtig darstellt und ihnen unterstellt, historische Feind-schaften dadurch zu perpetuieren. Zum anderen machte Özkök die Ar-menier dafür verantwortlich, dass sich die Türken an die »vergessenen Morde an den eigenen Vorfahren« erinnerten. »Was bedeut das?« fragte er. »Ist das nun Geschichtsbewusstsein? Oder ist es das Wiederaufleben-lassen von Feindschaften […] in diesem Land, die längst vergessen wa-ren?«

Damit plädierte ein wichtiger gesellschaftlicher Akteur für das Ver-gessen als bessere Alternative zum Erinnern. »Wir waren der Meinung, dass wir das Böse vergessen und das Gute für die Zukunft aufbauen müssten. Aber nein, lasst uns zuerst das Böse erinnern und später eine gute Zukunft aufbauen, war die Antwort. Dann lassen Sie uns in die Archäologie des Bösen eintreten.« Der Kommentar endet mit dem Vor-wurf: »Diejenigen, die es für eine große Tat halten, in der Geschichte herumzuwühlen, haben leider einen Wettstreit um Rache angezettelt.«

Die gesellschaftlichen Gefahren der kollektiven Erinnerung an ver-gangenes Unrecht stellte auch Gündüz Aktan heraus, der bei der Formu-lierung der türkischen staatlichen Vergangenheitspolitik in den letzten Jahren eine wichtige Rolle gespielt hatte. In seinen Beiträgen für die liberale Radikal betonte er immer wieder die gesellschaftlichen und poli-tischen Risiken, die mit kollektiver Erinnerung an vergangene Leiden verbunden sind.442 Eine Besinnung der Türken auf ihre leidvolle Ge-schichte von Flucht und Vertreibung und die Ingangsetzung eines kol-lektiven Trauerprozesses barg für Aktan enorme Gefahren. So konnten nationalistische Sehnsüchte nach verloren gegangenen Territorien auf-flammen und die durch Erinnerung ausgelösten Traumata könnten zu Hass und Rachsucht führen. Dieser unkontrollierbare und gefährliche Erinnerungsprozess würde nicht zuletzt dazu führen, dass die türkische Gesellschaft nicht mehr die Kraft aufbringen könnte, sich mit den eige-nen unrechten Taten auseinanderzusetzen.

Insgesamt plädierten die nationalistischen Diskursträger also für

442 Interview mit Gündüz Aktan am 27.2.2004; Gündüz Aktan, Sorun De-

gişmemek mi? Radikal, 18.1.2005. Derselbe Iyi ki, Radikal, 22.12.2005.

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Vergessen, weil die Erinnerung an Leid- und Opfererfahrung einen un-kontrollierbaren Prozess in Gang setzen würde. Aus diesen für die herr-schende kemalistische Mehrheitsgesellschaft repräsentativen Stimmen folgte, dass Erinnerung nicht per se als eine Norm gesehen wurde, zumal wenn es sich um vergangenes Leid handelte. Vergessen wurde als die gesellschaftlich verträglichere Form des Umgangs mit den dunklen Sei-ten der Geschichte präsentiert, die zu sozialem Frieden beitrug.

Ein weiteres Beispiel verdeutlicht, welche Bandbreite der Topos »unsere Opfer« im Hinblick auf die Leugnung der Armenierfrage an-nehmen konnte. In der Zaman schrieb Mehmet Kamış, dass »die Arme-nier nicht die einzigen waren, die auf diesem Boden Leid erfahren ha-ben.« Die Türken hatten »mindestens genau so viel Leid ertragen wie die Armenier.« Dieses Leid bestand in der kollektiven Erfahrung, die jahrhundertelange Freundschaft zwischen Armeniern und Türken bre-chen zu sehen. Denn es gab nichts »schlimmeres als seinen ältesten Ge-fährten zu verlieren.«443 Der Autor knüpfte hier an den Topos der har-monischen Koexistenz von Türken und Armeniern an und stellte das Leid auf armenischer und türkischer Seite gleich. Der physische Tod von Armeniern wurde also mit dem psychischen Leid von denjenigen sozialen Gruppen gleichgesetzt, aus deren Reihen die tatsächlichen Täter entstammten.

Doch der Erinnerungsdiskurs von 2005 unterschied sich von den vo-rausgegangenen Diskursmomenten in einem entscheidenden Punkt: Sol-che normativen Diskrepanzen und die leugnerischen Aspekte von kol-lektiven Vergessen wurden zunehmend öffentlich artikuliert. Ein exem-plarisches und einschlägiges Beispiel im diesem Kontext war der Kom-mentar des Chefredakteurs der Radikal, Ismet Berkan. »Ist es wirklich am besten zu vergessen?« betitelte er seine Antwort auf die beiden rechtskonservativen Özkök und Aktan. Zwar schloss Berkan Vergessen nicht von vornherein als Option des Geschichtsumgangs aus. Vergessen durfte aber nicht die Form einer offenen Lüge annehmen: »Es ist eine Sache zu vergessen und sich für Vergessen zu entscheiden. Eine völlig andere aber, sich für eine Lüge zu entscheiden. Erst recht, wenn es sich [wie im Fall der Armenischen Frage] ganz offensichtlich um eine Lüge handelt« (Hervorhebung S.B.).444 Diese Zeilen machten deutlich, dass ein kritischer Moment im türkischen Erinnerungsdiskurs eingesetzt hat-te, der den dominanten leugnerischen Umgang mit der Geschichte von 1915 offen und vergleichsweise kompromisslos in Frage stellte.

443 Mehmet Kamış, Millet-i sadıka, Zaman 12.3.2005. 444 Ismet Berkan, En iyisi unutmak mı sahiden, Radikal, 28.5.2005.

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Öffentliche Outings armenischer Vorfahren Der durch die umstrittene alternative Armenierkonferenz ausgelöste Er-innerungsdiskurs ging 2005 im Vergleich zu den vorausgegangenen Diskursmomenten erstmals auch mit nachhaltigen kritischen Forderun-gen von Diskursträgern aus den Reihen der Kemalisten einher, sich der Geschichte offen und ehrlich zu stellen.

Von der »Last der Unwissenheit, der Unsicherheit über das, was ge-schehen ist«, wollte der langjährige Kommentator der Hürriyet, Bekir Coşkun, endlich befreit werden.445 Aber allein mit »brachialer Gewalt und Verboten« konnte dieser schweren Anschuldigung, die seit Jahr-zehnten über der Türkei schwebte, nicht entgegen getreten werden. In Anatolien hatten Hunderttausende von Armeniern gelebt. »Sie sind nicht mehr da. Ich weiß nicht, wie sie gegangen sind und warum. Ich möchte aber wissen, was den Armeniern widerfahren ist.«

Ein weiterer Kommentar, den Coşkun anlässlich der zweiten Konfe-renzkontroverse im September 2005 schrieb, stellte eine geradezu bahn-brechende Entwicklung im öffentlichen Diskurs dar. Unter dem Titel »Meine [persönliche] armenische Frage« eröffnete Coşkun, dass seine Großmutter, die er bis in sein Erwachsenenalter für seine leibliche ge-halten hatte, eine Überlebende der armenischen Vertreibung von 1915 gewesen war.446 Coşkun klagte über die »ewige Traurigkeit in ihren Au-gen« und wiederholte seine Forderung von Mai 2005 nach einer kriti-schen und offenen Aufarbeitung der Geschichte. »Ich weiß nicht, was den Armeniern widerfahren ist, was diese Diskussionen alle bedeuten. Ich weiß nicht, was die Wahrheit ist. Aber ich möchte wissen, wer mei-ne Großmutter als Kind aus ihrer Heimat, aus dem Schoß ihrer Liebsten entriss. Ich möchte diejenigen zur Verantwortung ziehen, die dafür ver-antwortlich sind, dass meine Großmutter ihre Trauer verheimlichen musste, ihre tägliche Sehnsucht verbergen musste, wer sie zu diesem endlosen Exilleben führte.«447

Diesem spektakulären – insbesondere weil von einem bekennenden Kemalisten stammend – Outing waren zwei Beispiele vorausgegangen, die das Phänomen armenischer Überlebender von 1915 und ihrem Leben als konvertierte Muslime thematisierten. In diesem Kontext berief sich Hrant Dink auf Daten, die von etwa 300 Tausend überlebenden armeni-schen Kinder sprechen, die von der lokalen muslimischen Bevölkerung

445 Bekir Coşkun, Nasıl Vatan Haini Oldum, Hürriyet, 27.05.2005; vgl.

auch Adnan Ekinci, Başsağlığı ve Teşekkür, Radikal, 27.5.2005. 446 Bekir Coşkun, Ermeni meselem, Hürriyet, 27.5.2005. 447 Ebenda.

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269

aufgenommen wurden und als Muslime weiterlebten.448 Ein solches Bei-spiel war die Großmutter der Menschenrechtsaktivistin Fethiye Çetin, die in ihrem Buch »Meine Großmutter« die Lebensgeschichte ihrer als 12-jährige von ihren Eltern getrennten und bei muslimischen Pflege-eltern aufgewachsenen Großmutter erzählte. Die Großmutter hatte sich Anfang der 1970er Jahre ihrer Enkelin mit der Hoffnung offenbart, dass diese ihre armenischen Verwandten in den USA auffindig machen könn-te.

Das zweite Aufsehen erregende Beispiel bezog sich auf Sabiha Gök-çen, der Adoptivtochter des Republikgründers Atatürk. Gökçen stellt als erste weibliche Pilotin das Symbol der modernen Türkei schlechthin dar. Hrant Dink berichtete mit Verweis auf in Armenien lebende Verwandte, dass Gökçen ein die Vertreibung überlebendes armenisches Kind gewe-sen war (AGOS 6.2.2004). Als die Hürriyet dies am 21. Februar 2004 auf ihrer Titelseite verbreitete, gab der türkische Generalstab am folgen-den Tag eine Presseerklärung ab. Darin wurden die Nachrichten in Zu-sammenhang mit der ethnischen Herkunft Sabiha Gökçens scharf kriti-siert. Es hieß: »Solch ein nationales Symbol aus welchen Gründen auch immer zur Diskussion zu stellen, ist eine Herangehensweise, die der na-tionalen Einheit und dem gesellschaftlichem Frieden schadet.« Die Pres-seerklärung machte deutlich, dass allein die Erwägung der Möglichkeit, dass es sich bei Sabiha Gökçen um eine Armenierin gehandelt haben könnte, der »Verletzung nationaler Gefühle und Werte« gleichkam. Im Umkehrschluss war die Haltung des Militärs so zu lesen, dass eine na-tionale Symbolfigur wie Sabiha Gökçen keine Armenierin sein konnte oder durfte. In diesem Sinne legte das türkische Militär offen eine die eigenen armenischen Staatsbürger demütigende Haltung an den Tag. Eine ähnlich degradierende Äußerung hatte die ehemalige Innenministe-rin Meral Akmeşe in den 1990er Jahren gemacht, als sie den PKK-Führer Abdullah Öcalan als »armenischen Bastard« bezeichnet hatte. Doch während diese zutiefst rassistische Äußerung Akmeşes seinerzeit keinerlei öffentliche Kritik nach sich gezogen hatte, wurde zumindest die Unverhältnismäßigkeit der Reaktion auf die Gökçen Story hinter-fragt.449

Dass sich der Generalstab genötigt sah, eigens eine Presseerklärung herauszugeben – und das mit dem oben skizzierten Inhalt – ist nicht nur

448 Interview mit Hrant Dink am 28.02.2003, Istanbul. Geht man von dieser

Zahl armenischer überlebender Kinder aus, so wird deutlich, dass es kaum ›ethnisch reine‹ türkische Familien in Anatolien gibt.

449 Vgl. etwa Ali Sirmen, Gökçen Ermeni Kökenli Olsaydı Ne Olurdu ki? Cumhuriyet, 23.2.2004; Kürşat Bumin, Sabiha Gökçen Tartışması (2), Yeni Şafak, 24.2.2004.

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ein bezeichnendes Beispiel dafür, dass die staatlichen Institutionen der Türkei die systematische Mordpolitik an den osmanischen Armenier nicht nur ganz und gar leugnen, sondern auch dafür, welch geringer Respekt gegenüber den in der Türkei lebenden armenischen Staatsbür-gern immer noch salonfähig ist.

Für Hrant Dink hatte die Offenlegung der ethnischen Herkunft, die mit der Infragestellung der Symbolfigur der türkischen Republik Gökçen gleichgesetzt wurde, fatale Folgen. Die Gökçen-Story machte ihn lan-desweit zur Zielscheibe von Ultrarechten. In dem letzten Aufsatz vor seiner Ermordung lokalisierte er den Beginn der Hetzkampagne gegen ihn auf die Veröffentlichung der Gökçen Geschichte.450

Zusammenfassung Der Erinnerungsdiskurs über die Armenierfrage verlief während des kri-tischen Diskursmoments von 2005 ungleich aggressiver und aufgeheiz-ter als in allen vorausgegangen Diskursmomenten. Die Armenierfrage polarisierte die türkische Gesellschaft 90 Jahre nach den historischen Ereignissen mehr als je zuvor. Die doppelte Infragestellung der nationa-len Geschichtserzählung von Außen und Innen hatte sowohl auf der politischen als auch auf der diskursiven Ebene der Auseinandersetzung weitreichende Folgen.

Auf der politischen Ebene ging die Türkei offensiver an das Vergan-genheitsproblem heran und lancierte eine Reihe von politischen Ab-wehrmaßnahmen. Mit dem Vorschlag, eine unabhängige Historiker-kommission zu gründen, signalisierte sie Offenheit und stieß damit international auf positive Resonanz. Vor allem aber lieferte dieser proak-tive Vorstoß ein politisches Argument, Anerkennungsinitiativen mit Verweis auf die eigene Dialogbereitschaft zu blockieren. Im Gegensatz dazu richtete sich die Blaubuch-Aktion an das innenpolitische Publikum. Sie war als Gegenaktion zu den internationalen Erinnerungskampagnen an den Armeniermord intendiert und sollte der türkischen Gesellschaft vor Augen führen, dass die Vorwürfe des Völkermords auf keinerlei se-riöser Basis gründeten.

Auf der gesellschaftlichen Ebene zeigte die Realisierung der alterna-tiven Armenierkonferenz, dass das Deutungsmonopol in der Armenier-frage durch staatsnahe Eliten offen in Frage gestellt und gesellschaftli-che Akteure einen Anspruch auf Mitsprache erhoben. Die erbitterte Auseinandersetzung um die Konferenz zeigte in erster Linie die Diversi-

450 Hrant Dink, Niçin Hedef Seçildim, Agos, 10.1.2007.

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fikation der Stimmen im Erinnerungsdiskurs über die Armenierfrage. Der Konflikt in Zusammenhang mit der Durchführung der Konferenz spiegelte also die Auseinandersetzung um die Legitimität der Diskurs-träger und den Kampf um politische Mitsprache wider.

Ausblick: Paradoxien der St immendiversif ikat ion – d ie Entschuldigungskampagne 2008 Doch diese Stimmendiversifikation und der Zugang von neuen, kriti-schen Diskursteilnehmern bedeuteten nicht automatisch, dass ein selbst-kritischer Gegendiskurs in der Armenierfrage einsetzte, der die Perspek-tive und Bedürfnisse der Opfer einnahm. Denn die kritischen Intellek-tuellen bedienten sich selbst einer ausgeprägt nationalistischen Rhetorik, um ihre Positionen im Hinblick auf die Armenierfrage zu rechtfertigten. Die Realisierung der alternativen Armenierkonferenz wurde als Ereignis präsentiert, das dem nationalen Interesse der Türkei und ihrem Ziel der EU-Mitgliedschaft diente. Die liberalen Eliten bedienten sich also instrumentell-strategischer Argumentationsmuster, die die politischen Nachteile der Absage bzw. Durchführung der Konferenz für die Türkei in den Vordergrund stellten, statt die Leugnung der Ermordung von Hundert Tausenden von Menschen an sich politisch und moralisch zu hinterfragen. In diesem Sinne zeichnete sich die paradoxe Entwicklung ab, dass kritische Intellektuelle einerseits die leugnerische Vergangen-heitspolitik des Staates kritisierten, andererseits die zentralen Logiken des nationalistischen Leugnungsdiskurses reproduzierten.

Diese Widersprüche und normativen Schwächen traten deutlich zu Tage, als dieselben liberalen Akteure, die die alternative Armenierkonfe-renz 2005 organisierten, Ende 2008 eine Entschuldigungskampagne ins Leben riefen, der man sich im Internet anschließen konnte. Unter der Überschrift »Ich entschuldige mich« (Özür diliyorum) lautete der Text:

»Ich kann es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, dass die Große Katas-trophe, welche die Armenier des Osmanischen Reiches 1915 ereilte, verleug-net und ihr teilnahmslos begegnet wird. Ich lehne dieses Unrecht ab und teile die Gefühle und den Schmerz meiner armenischen Brüder und Schwestern und entschuldige mich bei ihnen.«451

Nationalistische Gegenkampagnen wie »Ich-entschuldige-mich-nicht« oder »Ich-erwarte-eine-Entschuldigung« ließen nicht lange auf sich war- 451 Siehe www.ozurdiliyoruz.com

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ten.452 Ungeachtet der methodischen Probleme eines Vergleichs – sei es aus Gründen der Nichtzurechenbarkeit von Unterschriften und realen Personen, der Möglichkeit mehrere Unterschriften abzugeben etc. – be-stätigten die jeweiligen Unterstützerzahlen das gewohnte Bild türkischer Abwehrreaktionen. Während sich der Entschuldigungskampagne insge-samt etwa 30 Tausend Menschen angeschlossen haben, waren es bei der nationalistischen Gegenkampagne »Ich erwarte eine Entschuldigung« bereits in den ersten Tagen mehr als 111 Tausend.

Zudem überdeckten diese reflexartigen Reaktionen den Umstand, dass der Inhalt des Aufrufs sich in qualitativer Hinsicht kaum von der Vergangenheitspolitik des Staates und den dominanten Leugnungsmus-tern, wie sie in der Studie herausgearbeitet wurden, unterschied. Dies betraf in erster Linie die gewählte Sprache und die Entscheidung der Initiatoren von der Beschreibung des Mordes an den osmanischen Ar-meniern als Völkermord abzusehen. Stattdessen bedienten sich die Au-toren der Sprache der unmittelbar die Mordpolitik überlebenden Arme-nier, die bis zu der Prägung des Genozidbegriffs in den 1940er Jahren ihre Erfahrungen als Meds Yeghern, d.h. also Große Katastrophe (Büyük Felaket) beschrieben.

Doch es war nicht allein die Vermeidung des Begriffs Völkermord, sondern auch das Fehlen von jeglicher Zuschreibung von Schuld und Verantwortung, aufgrund derer sich die Sprache der Entschuldigungsini-tiatoren nicht von der des gängigen Leugnungsdiskurses unterschied. Mit der Beschreibung des Armeniermordes von 1915 als die »Große Katastrophe, die die Armenier ereilte« (Hervorhebung S.B.) erschienen die osmanischen Armenier als Opfer von widrigen Umständen, nicht aber entsprechend den realhistorischen Ereignissen als Opfer einer sys-tematischen, anti-armenischen Kampagne der Jungtürken. Wie im Laufe der Studie deutlich geworden ist, beruht auch der Leugnungsdiskurs des türkischen Staates im Kern auf dem Argument, dass es sich bei dem Tod von Hunderttausenden von armenischen Menschen um Kollateralschä-den im Zuge des Ersten Weltkrieges und nicht um eine systematische staatliche Vernichtungspolitik handelte. Ein weiterer kritischer Aspekt der Entschuldigungskampagne war, dass die Entschuldigung sich nicht auf den Umstand der nahezu gänzlichen Auslöschung der Armenier, sondern auf die Teilnahmslosigkeit und die Ignoranz, mit der die türki-sche Mehrheitsgesellschaft dem Mord an den Armeniern – oder um in der Sprache der Initiatoren zu bleiben – dem »Schicksal« der Armenier begegnete, richtete.

Die Sprachwahl der türkischen liberalen Eliten bei der Formulierung

452 Siehe www.ozurdilemiyorum.net/; www.ozurbekliyorum.com

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273

ihrer Entschuldigung bei den Armeniern unterschied sich in entschei-denden Punkten also nicht von der Sprachpolitik des Staates, mit der der systematische Mord an den Armeniern geleugnet, relativiert und ver-schleiert wird. Aufgrund dieser wenig offensiven Ausrichtung eignete sich die Entschuldigungsinitiative sogar als Argument im Rahmen der neuen Vergangenheitspolitik der türkischen Regierung, weitere interna-tionale Völkermordanerkennungen mit dem Argument zu verhindern, dass die Armenierfrage kein Tabuthema ist und in der Türkei eine offene Diskussion darüber stattfindet.

Besonders bezeichnend im Hinblick auf die Intention und die Glaubwürdigkeit der Entschuldigung durch die Initiatoren war schließ-lich, dass sie die Möglichkeit der Instrumentalisierung ihrer Entschuldi-gung durch die Politik nicht nur nicht ablehnten, sondern offen davon sprachen, dass die Kampagne den nationalen Interessen der Türkei dien-te. Einer der maßgeblich an der Realisierung der Kampagne beteiligten Personen, der Politikwissenschaftler Baskin Oran, verteidigte die Initia-tive damit, dass Ministerpräsident Erdoğan ihnen dankbar sein könne. »Bislang haben Parlamente weltweit immer wieder Völkermordent-scheidungen getroffen. Das wird jetzt aufhören. Die Diaspora ist besänf-tigt. Die internationale Presse hat aufgehört, den Begriff Genozid zu verwenden« (Milliyet, 19.12.2008).

Auch wenn diese Beobachtungen nicht stimmten und weder die ar-menische Diaspora besänftigt noch die internationale Presse von dem Völkermordbegriff abgesehen hatte, so hatten die türkischen Liberalen zumindest Präsident Obama einen Weg gezeigt, wie er dem traditionel-len Dilemma amerikanischer Politik zwischen realpolitischen Überle-gungen und normativen Anerkennungsdruck abwägen zu müssen, ent-rinnen konnte. Als erster amerikanischer Präsident griff Obama, der während seiner Präsidentschaftskandidatur die Anerkennung des Geno-zids von 1915 versprochen hatte, in seiner Gedenkrede zum 24. April 2009 den Term Meds Yeghern, d.h. also Große Katastrophe, auf.

Insgesamt hatten die Initiatoren der Entschuldigungsinitiative offen-sichtlich akribisch nach einer Formel gesucht, von der sie dachten, dass sie die türkischen Nationalisten nicht verprellen und die armenische Sei-te zufrieden stellen würde. Doch diese Strategie ging nicht auf. Die Ent-schuldigung wurde von den Adressaten nicht also solche anerkannt (Ayata 2009; Mamigonian 2009). Das Taktieren mit Begrifflichkeiten und die offene Frage, wofür sich die Unterzeichner genau entschuldig-ten, die politischen Stellungnahmen der Initiatoren – all dies fassten die Nachkommen der einstigen Opfer so auf, dass selbst die progressivsten Teile der türkischen Gesellschaft die Dimension der kollektiven Leid-erfahrung der Armenier nicht (an-)erkannt hatten.

TEIL III: FAZIT

277

ZWISCHEN AUFBRUCH UND FESTHALTEN

Am Ende der Studie bleibt zusammenzufassen, wie sich der gesellschaft-liche und politische Umgang in der Türkei mit dem Mord an den Arme-niern im Zeitverlauf entwickelt hat und inwieweit der Verlauf des Diskur-ses auf ein Festhalten, eine Vertiefung oder einen Wandel hindeutet.

Die Studie hat gezeigt, dass die historische Armenierfrage zu Beginn des Untersuchungszeitraums, d.h. also in den 1970er Jahren, fast aus-schließlich als ein Terrorismusproblem behandelt wurde. Der militante Erinnerungskampf der Armenier in der Diaspora bestätigte in der dis-kursiven Wahrnehmung das Argument der »chronischen armenischen Rebellion«, wie es auch in der türkischen Historiographie zur Armenier-frage dominiert. In dieser ersten Phase des Erinnerungsdiskurses setzte sich also die Konstruktion eines Bildes durch, das die Armenier zu »no-torischen Terroristen« machte, und dieses Bild rückte auch bei der Deu-tung der historischen Dimension des türkisch-armenischen Konflikts in den Vordergrund. Dies äußerte sich in erster Linie darin, dass die Ge-schichte der osmanischen Armenier als eine Geschichte des »armeni-schen Nationalismus«, der »Undankbarkeit gegenüber der osmanischen Toleranz« und der »Kollaboration mit den Feinden« niederschlug. Die-ser Zugang bot keinen Platz für eine selbstkritische Auseinandersetzung mit den eigentlichen problematischen Aspekten der osmanisch-armenischen Geschichte, namentlich mit 1915 und seinen verheerenden Folgen für das physische und psychische Überleben der armenischen Gemeinschaft. Für den Umgang mit der Armenierfrage in den 1970er Jahren ist schließlich charakteristisch, dass der Staat in dieser Phase kei-ne aktive Vergangenheitspolitik betrieb.

Dies änderte sich in den 1980er Jahren, als der türkisch-armenische Deutungskonflikt in Form von internationalen Debatten über den Völ-

POLITIK UND ERINNERUNG

278

kermordcharakter der Vertreibungspolitik von 1915 zunehmend auf internationale Aufmerksamkeit stieß. Die Türkei ging hier zu einer akti-ven Leugnungspolitik auf zwischenstaatlicher, diplomatischer Ebene über. Die Abwehrstrategien gegen die Ausbreitung der »armenischen Thesen«, die im türkischen Außenministerium entwickelt wurden, be-standen aus zwei Strängen. Zum einen wurde eine Kerngruppe von pro-fessionellen Abwehrakteuren ausgebildet, die auf diplomatischer Ebene die Gefahr des »armenischen Terrorismus« exklusiv herausstellte und die bis in die Gegenwart im Einsatz ist. In diesen Kontext der Professio-nalisierung der staatlichen Abwehrpolitik fiel auch die massive Förde-rung der Produktion von geeigneter akademischer Literatur, die die tür-kische staatliche These wissenschaftlich fundieren sollte, dass es sich bei der Deportation der osmanischen Armenier um eine kriegsnotwendige Sicherheitsstrategie handelte. Zum anderen konzentrierte sich die Türkei auf machtpolitische Argumente, indem sie ihre geostrategische Lage ins Spiel brachte, sobald ein westlicher Verbündeter sich kritisch an die Armenierfrage wagte. So unterstrich die Türkei in ihrer Reaktion auf die Völkermordresolution des Europäischen Parlaments 1987 ihre vitale Bedeutung für die Sicherheit Europas im NATO-Bündnis. Mit dieser Strategie hat die Türkei eine Völkermordanerkennung durch die USA bis heute verhindern können.

Während sich die politische Führung auf machtpolitische Argumente und die Rhetorik der geopolitischen Stärke konzentrierte, nahmen die gesellschaftlichen Eliten die Internationalisierung der Armenierfrage zum Anlass, um massive Kritik an der Militärjunta vom 12. September 1980 und ihren autoritären Hinterlassenschaften zu üben. Die histori-schen Verbrechen von 1915 wurden damit nicht aus der Perspektive der eigenen gesellschaftlichen Verantwortung thematisiert. Vielmehr wur-den die herrschenden politischen Missstände wie das Demokratiedefizit, die Verletzung der Menschenrechte und der damit zusammenhängende Verlust des außenpolitischen Ansehens für die zunehmende Erinnerung an die Armenierfrage im Ausland verantwortlich gemacht. Ähnlich wie in den 1970er Jahren verschleierte dieser diskursive Zugang die Dimen-sion des Mordes an den Armeniern – dieses Mal derart, dass die interna-tionale Erinnerung an den Völkermord lediglich als Beleg für die außen-politische Isolation der Türkei gedeutet wurde.

Ab Ende der 1990er Jahren sah sich die Türkei einer kontinuierli-chen internationalen Thematisierung der Armenierfrage gegenüber. Die Vorstöße gegen das Vergessen von 1915, die lange Zeit von den einzel-nen Diasporagesellschaften innerhalb ihrer jeweiligen Länder und unab-hängig von einander ausgingen, wurden mit der Unabhängigkeit der Armenischen Republik auf der zwischenstaatlichen Ebene der interna-

ZWISCHEN AUFBRUCH UND FESTHALTEN

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tionalen Politik flankiert. Zudem entwickelte sich das problematische Geschichtsverhältnis der Türkei zu einem zentralen Thema im EU-Beitrittsprozess. In den öffentlichen Debatten zahlreicher europäischer Länder wurde die leugnerische Haltung der Türkei im Hinblick auf den Armeniermord als Beleg für ihre vermeintlich geringe Europafähigkeit gedeutet. Schließlich kam zum außenpolitischen Druck eine steigende innergesellschaftliche Infragestellung hinzu, bei der kritische Stimmen den dominanten Leugnungsdiskurs zunehmend in Frage stellten.

Vor diesem Hintergrund nahmen die Präsenz und die Thematisie-rung der Armenierfrage im öffentlichen Raum deutlich zu. Zudem waren Verschiebungen innerhalb der zentralen Deutungsrahmen zu beobach-ten. Die Vorstellung, dass sich die Thematisierung der Armenierfrage durch armenische Diasporagesellschaften oder in Form von Erinne-rungsdebatten in westlichen Ländern im Kern gegen die politische Ord-nung der modernen Türkei richtete, ist ein immer wiederkehrendes Mus-ter im Erinnerungsdiskurs. Während die vermeintliche Bedrohung sich in den 1970er und 1980er Jahren in der Gestalt des armenischen und internationalen »Terrorismus« zeigte, wurde die Bedrohung in den 2000er Jahren als von der EU ausgehend gefasst. Die Forderungenen der EU in der Accession Strategy 2000 und die Nichtberücksichtigung der Türkei im Rahmen der ESVP-Pläne stellten hier die zentralen Begrün-dungen für die »Umzingelung« und Bedrohung der Türkei dar. In die-sem Sinne wurden die Forderungen nach der Anerkennung des Völker-mordcharakters von 1915 durch einzelne EU-Länder einzig als ein anti-türkisch motiviertes, nicht aber ein normatives Anliegen gerahmt. Euro-pa stellte in der öffentlichen Wahrnehmung der Türkei mit solch unge-rechtfertigten Forderungen – worunter auch die nach der Gewährleistung kultureller Rechte für die kurdische Bevölkerung gezählt wurde – die nationalen Interessen, ja die territoriale Integrität der Türkei in Frage.

Während sich der Bedrohungs- und Umzingelungsdiskurs insgesamt als ein robuster Rahmen herausstellte, bei dem im Zeitverlauf lediglich die Akteure, von denen die perzipierte Bedrohung ausging, wechselten, kristallisierte sich in den 2000er Jahren auch ein gänzlich neuer Diskurs-rahmen zur Rechtfertigung der türkischen nationalistischen Position he-raus. Es handelte sich dabei um den Diskursrahmen der »Schuld« im Allgemeinen und der »europäischen Schuld am Holocaust« im Speziel-len. Damit trat ein Deutungsrahmen zum Vorschein, der an den interna-tional verbreiteten Holocaust-orientierten Erinnerungsdiskurs anschloss. Allerdings fand dieses Aufgreifen nicht in der Form statt, dass ein selbstreflexives gesellschaftliches Erinnern einsetzte, bei dem das Leid der Opfer in den Vordergrund der Aufmerksamkeit rückte. Im Gegen-teil, der Schuldrahmen wurde als zentrales Abgrenzungsargument von

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der europäischen Schulderfahrung im Hinblick auf den Holocaust he-rangezogen. Es ging darum, die eigene nationale Unschuld durch den direkten Vergleich mit den Holocausttätern noch deutlicher herauszu-stellen. Der Holocaust diente damit als normatives Argument gegen die Beschreibung des Armeniermords als Völkermord, indem auf die Ein-zigartigkeit des Holocaust hingewiesen wurde.

Am Ende des Untersuchungszeitraums – d.h. also im Jahre 2005 – nahm die gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung mit der Armenierfrage im Hinblick auf Form, Ausmaß und Schärfe eine bis da-hin ungekannte Dimension an. Angesichts des fortbestehenden außen-politischen Drucks im EU-Beitrittsprozess und den Aufsehen erregenden nationalistischen Kampagnen gegen Intellektuelle, Akademiker und Pu-blizisten und der damit zusammenhängenden Dauerbeobachtung von Seiten der internationalen Gemeinschaft ging die Türkei offensiver an das Vergangenheitsproblem heran und lancierte eine Reihe von politi-schen Abwehrmaßnahmen. Sie ging damit von ihrer Symbolpolitik, die sie noch als Reaktion auf die Völkermordanerkennung Frankreichs 2001 an den Tag gelegt hatte, zu einer proaktiven Vergangenheitspolitik über.

In Antizipation dessen, dass der 90. Jahrestag des Völkermords weltweit zu Gedenk- und Erinnerungsveranstaltungen führen würde, schlug die Türkei der Armenischen Republik die Gründung einer unab-hängigen Historikerkommission vor. Zudem verbreitete sie außenpoli-tisch die Nachricht, dass die türkischen Archive für die Wissenschaft offen seien. Der Vorstoß signalisierte Offenheit und Dialogbereitschaft und stieß international auf positive Resonanz. Gleichzeitig gelang der Türkei damit, ihr langjähriges Abwehrargument, dass es sich bei der Vergangenheitsproblematik um die »Sache von Historikern« handeln würde, auf internationaler politischer Ebene akzeptabel zu machen. Vor allem aber lieferte der Vorstoß ein überzeugendes Argument, weitere Anerkennungsinitiativen mit dem Verweis auf die eigene konstruktive Haltung und Dialogbereitschaft aufzuhalten.

Die zweite vergangenheitspolitische Maßnahme anlässlich des 90. Jahrestags des Völkermords war die Blaubuch-Aktion. Das türkische Parlament forderte dabei das britische Abgeordnetenhaus dazu auf, öf-fentlich zu machen, dass das zeitgenössische Werk der britischen Histo-riker Arnold Toynbee und James Bryce »The Treatment of the Armen-ians in the Ottoman Empire« einzig zu Propagandazwecken verfasst worden sei. Dieses Vorgehen richtete sich an das innenpolitische Publi-kum. Die politische Botschaft lautete, dass die Türkei keinen Grund hat-te, passiv zu bleiben und diente dazu, der türkischen Gesellschaft die Richtigkeit der eigenen Version der Geschichte von 1915 zu versichern.

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In der Zwischenzeit hat die proaktive Vergangenheitspolitik zu einem Annäherungsprozess zwischen der Türkei und Armenien geführt, der 2009 mit der Unterzeichnung der türkisch-armenischen Protokolle einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Dabei hat die Türkei ihre For-derung von 2005 nach der Einsetzung einer gemeinsamen Historiker-kommission durchgesetzt. Damit hat sie im Grunde erreicht, dass über die Geschichte von 1915 verhandelt wird, wenn solch eine Kommission tatsächlich gegründet wird. Das Zustandekommen der armenisch-türkischen Protokolle wird mutmaßlich den internationalen Druck auf die Türkei verringern, den Völkermord an den Armeniern offiziell anzu-erkennen.

Auf der gesellschaftlichen Ebene ist ebenfalls reichlich Bewegung in die Auseinandersetzung mit der dunklen Geschichte von 1915 gekom-men. Eine qualitativ herausragende Entwicklung in diesem Kontext stellte die Konferenz »Osmanische Armenier in der Phase des Nieder-gangs des Osmanischen Reiches: Die Verantwortung der Wissenschaft und Demokratieprobleme« dar, die drei renommierte türkische Universi-täten anlässlich des 90. Jahrestags des Völkermords in Istanbul organi-sierten. Die Veranstaltung stellte ein Novum in der Geschichte der mo-dernen Türkei dar. Bis dahin hatte es noch keine vergleichbare öffentli-che Veranstaltung gegeben, im Rahmen derer sich die Teilnehmer von vorneherein explizit von der nationalen Geschichtsschreibung distanziert hatten. Mit der Ankündigung der Armenierkonferenz hingegen grenzte sich das akademische Establishment des Landes mit weit verzweigten Affiliationen zu namhaften internationalen Institutionen öffentlich von der staatlichen offiziellen These ab.

Dass die Initiative für eine alternative Darstellung der Geschichte aus der türkischen Gesellschaft kam, stieß auf den erbitterten Wider-stand der traditionellen türkischen Wortführer in der Armenierfrage. Denn bis dahin wurde der Deutungskonflikt in Bezug auf die Armenier-frage als ein Konflikt zwischen Innen und Außen konstruiert. Diese kla-re Grenzziehung war mit der Ankündigung der alternativen Konferenz jedoch gefährdet. Die Angst vor den »inneren Feinden«, den Abweich-lern vom nationalen Konsens, den »Verrätern« und »Nestbeschmutzern« kennzeichnet den wichtigsten Unterschied zwischen dem jüngsten Dis-kurs und den vorausgegangenen Diskursmomenten. Diese Auseinander-setzung lief ungleich aggressiver und aufgeheizter ab als je zuvor. Die erbitterte Auseinandersetzung um die Legitimität, die Botschaften und die Kompetenz der Diskursteilnehmer machte deutlich, dass die nationa-le Einigkeit in der Armenierfrage mindestens bröckelte.

Die Realisierung der alternativen Armenierkonferenz bedeutete eine Stimmendiversifikation, die das Deutungsmonopol der Armenierfrage

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durch staatsnahe Eliten – in erster Linie professionelle Leugner aus der Kaderschmiede des türkischen Auswärtigen Amtes – in Frage stellte. Die Organisatoren und Befürworter der Konferenz forderten ein Mit-spracherecht bei der Formulierung der Geschichte von 1915.

Die Infragestellung der Legitimität der traditionellen Diskursträger bedeutete aber nicht automatisch auch die Infragestellung der diskursi-ven Botschaften. Konfrontiert mit der extremen Kritik, Verräter zu sein, entschieden sich die liberalen Diskursträger, ihre nationalistischen Kriti-ker mit deren eigenen nationalistischen »Waffen« zu schlagen. So war-fen sie diesen vor, dass sie die eigentlichen Verräter waren, weil sie dem Land im EU-Beitrittsprozess schadeten. Doch dieser Versuch der Gegenkritik war in normativer Hinsicht und mit Blick auf eine offene und opferorientierte Auseinandersetzung mit der Geschichte der Arme-nier problematisch. Die diskursive Strategie der liberalen Eliten, sich innerhalb nationalistischer Diskursrahmen gegen die Nationalisten durchzusetzen, reproduzierte letztlich den verschleiernden Effekt des dominanten Diskurses als ihn nachhaltig herauszufordern. Die Stim-mendiversifikation und die Realisierung der alternativen Konferenz gin-gen also nicht mit der Etablierung eines effektiven Gegendiskurses ein-her, in dem die Opfer und ihre Interessen und Bedürfnisse in den Mittel-punkt rückten und Fragen nach Gerechtigkeit, ideeller oder gar materiel-ler Wiedergutmachung behandelt wurden.

Was bedeuten diese Ergebnisse nun im Hinblick auf die eingangs formulierten theoretischen Erwartungen?

Die empirischen Ergebnisse der Arbeit haben die aus der Gedächt-nistheorie abgeleitete Erwartung klar widerlegt, dass die gesellschaftli-che und politische Brisanz der Armenierfrage mit einem wachsenden zeitlichen Abstand abnehmen würde. Im Gegenteil, die Vertreibungsge-schichte der Armenier ist im Laufe der Zeit in vielfacher Hinsicht inten-siver, gereizter, aggressiver diskutiert worden. Heute polarisiert die Ar-menierfrage die türkische Gesellschaft mehr denn je zuvor. Die Annah-me, dass mit dem Schwinden von direkten Betroffenen, d.h. den Zeit-zeugen, Tätern wie Opfern, emotionale Distanz einhergeht und mit zu-nehmendem zeitlichem Abstand ein gelassener kollektiver Umgang mit der nationalen Vergangenheit möglich würde, hat sich nicht nur nicht bestätigt. Vielmehr ist im türkischen Fall genau das Gegenteil zu beob-achten.

Während sich die gedächtnistheoretische Erwartung der abnehmen-den Brisanz im Zeitverlauf empirisch nicht niederschlug, bestätigen die Ergebnisse die Erwartung eines »reagierenden Erinnerungsdiskurses« und die von »robusten Diskursmustern«. Tatsächlich kennzeichnete Re-aktion lange Zeit den türkischen Erinnerungsdiskurs über die Armenier-

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frage. Sowohl auf politischer als auch auf gesellschaftlicher Ebene wur-de die Armenierfrage bis Ende der 1990er Jahre ausschließlich in Ab-hängigkeit von äußeren Anstößen erinnert. Dabei bestimmte die Art der Auslöser der Erinnerung auch die diskursiven Auseinandersetzungsmus-ter und die Rechtfertigungsargumente. So dominierte zum Beispiel die Reduktion der Vergangenheitsproblematik auf den Terrorismusrahmen sowie politische Maßnahmen, die nur diesen Aspekt des Vergangen-heitsproblems in den Vordergrund stellten, zu solchen Zeiten, als arme-nische Gruppen den Erinnerungskampf an 1915 gewaltsam führten. Demgegenüber dominierte die Sage von der »allmächtigen armenischen Diaspora« mit weit reichenden finanziellen Ressourcen, die die gemein-same Geschichte zum eigenen Gunsten propagandistisch ausschlachten würde, in der Phase der Internationalisierung des armenisch-türkischen Deutungskonflikts. In diesem Sinne war eine kontextuelle Anpassung der Inhalte innerhalb der dominanten Deutungsrahmen festzustellen.

Die Untersuchung hat aber auch gezeigt, dass die Auseinanderset-zung mit der Vertreibungsgeschichte der Armenier zu einem integralen Bestandteil des gesellschaftlichen und politischen Lebens in der Türkei geworden ist, die nicht mehr nur von externen Ereignissen in Gang ge-setzt wird. Heute vergeht kaum ein Tag, an dem die unaufgearbeitete Geschichte von 1915 nicht in der einen oder anderen Form öffentlich aufgegriffen, thematisiert und hinterfragt wird. Dabei ist ein intensiver inner-gesellschaftlicher Auseinandersetzungsprozess zu beobachten, bei dem liberale zivilgesellschaftliche Akteure die Leugnungspolitik des Staates kritisieren, sich davon absetzen und bisweilen sogar den hoch umkämpften Genozidterminus übernehmen. Hinzu kommt, dass die ar-menische Gemeinde im öffentlichen Raum sichtbar geworden ist, wäh-rend sie sich bis weit in die 1990er Jahre nicht aktiv an der Auseinander-setzung über ihre eigene traumatische Geschichte beteiligte oder – und vielleicht treffender – nicht beteiligen konnte.

In diesem Sinne hat sich – wie von kultursoziologischer Forschung zu kollektiver Identität und Gedächtnis sowie sozialkonstruktivistischer Europäisierungs- und Normforschung postuliert – bestätigt, dass sich der weltweit zunehmende selbstkritische Umgang mit den Schattenseiten nationaler Geschichte und das damit verbundene Phänomen öffentlicher politischer Entschuldigungen auch auf das Geschichtsverhältnis der Türkei ausgewirken würden. Die Türkei ist von dem internationalen Normwandel tatsächlich nicht unberührt geblieben. Als Teil der interna-tionalen Gemeinschaft und insbesondere als formelle EU-Beitritts-kanndidatin ist eine offen rigorose Leugnungspolitik nicht möglich. Statt dessen praktiziert die Türkei heute eine proaktive Vergangenheitspolitik, die 2009 mit dem Zustandekommen der armenisch-türkischen Protokolle

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und der Aussicht auf die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen der beiden Länder, zu einem international vielbeachteten vorläufigen Höhepunkt in den armenisch-türkischen Beziehungen geführt hat.

Diese neue Vergangenheitspolitik, die als taktische Reaktionen auf internationalen Druck zu verstehen ist, ist bislang durch ihre höhere Strategiefähigkeit in den außenpolitischen Beziehungen der Türkei auf-gefallen. Einer der wichtigsten Indikatoren für diesen Befund ist der Umstand, dass die Türkei für die Besetzung der Historikerkommission nicht Wissenschaftler in Erwägung zieht, die sich im Feld bewährt ha-ben, aber eine türkeikritische Sicht vertreten, sondern auf ihren profes-sionellen Leugnerstab aus semiprofessionellen Historikern und Diplo-maten zurückgreift. Eine tatsächliche Öffnung des türkischen Staates, sich dem Verbrechen von 1915 zu stellen und damit einen Versöh-nungsprozess einzuleiten, in dem nicht das außenpolitische Image im Vordergrund steht, sondern es um die Opfer, ihre Interessen, Bedürf-nisse, kulturellen, materiellen und sozialen Verluste geht, steht aber noch aus. Nach dem Zugang der Armenierfrage in den öffentlichen Raum, der deutlichen Zunahme von kritischen Stimmen sowie der Di-versifizierung der Auseinandersetzung steht die paradigmatische Wende im Umgang mit der mörderischen Vertreibungspolitik von 1915 also noch an.

Für die weitere Entwicklung wird es von fundamentaler Bedeutung sein, welche Botschaften die internationale Gemeinschaft und insbeson-dere die EU im Hinblick auf ihre Erwartungen bezüglich der angemes-senen Form der Aufarbeitung historischer Untaten an die Türkei richtet. Eine Botschaft etwa, wie sie Ende 2007 zum wiederholten Male von den USA gesendet wurde, dass die Völkermordanerkennung hinter geostra-tegische und politische Interessen fällt, bestätigt nur die verbreitete Vor-stellung in der Türkei, dass es der internationalen Gemeinschaft nicht um normative Anliegen und die Armenierfrage an sich geht, sondern um die Schwächung der Türkei und die eigenen politischen Interessen.

Problematisch ist auch die Zeigefingerpolitik der EU: Statt sich konstruktiv mit dem eigenen Identitätsproblem auseinanderzusetzen und sich dabei offen zu ihrem Unbehagen über die Aussicht einer türkischen EU-Mitgliedschaft zu bekennen, bringen die Türkeikritiker in der EU die türkische Geschichtspolitik als prominenten Einwand im Beitritts-prozess des Landes vor. Umgekehrt hat die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft, die trotz erheblicher Widerstände und Probleme wie et-wa dem Zypernkonflikt realistischer als je zuvor ist, nicht nur zu einer Öffnung der türkischen Politik und Gesellschaft gegenüber der verleug-neten Vertreibungsgeschichte der Armenier geführt, sondern zu einer Reihe von weitreichenden Reformen, die deutlich machen, dass die tür-

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kische Politik und Gesellschaft fähig und gewillt sind, die »windows of opportunities« demokratischer Räume für demokratischen Wandel zu nutzen.

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Yumul, Arus/Özkirimli, Umut (2000): »Reproducing the nation: ›banal nationalism‹ in the Turkish press«. In: Media, Culture & Society 22 (6): S. 787-804.

Zürcher, Erik J. (1984): The Unionist Factor. The Role of the Committee of Union and Progress in the Turkish National Movement 1905-1926, Leiden: Brill.

Zürcher, Erik J. (1993): Turkey. A Modern History, Leiden. Zürcher, Jan Erik (2007). »Griechish-orthodoxe und muslimische

Flüchtlinge und Deportierte in Griechenland und der Türkei seit 1912«. In: Kalus J. Bade (Hg). Enzyklopädie Migration in Europa vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Paderborn: Ferdinand Schöning, S. 623-627.

305

ABKÜRZUNGEN

AAA: Armenian Assembly of America AGA: Arbeitsgemeinschaft Völkermordanerkennung, e.V. ANCA: Armenian National Committee of America BT-Drs.: Bundestagsdrucksache EP: Europäisches Parlament ICTJ: International Court for Transitional Justice TARC: Turkish-Armenian Reconciliation Commission WATS: Workshop for Armenian Turkish Scholarship ZAD: Zentralrat der Armenier in Deutschland e.V. Poli t ische Parte ien und Inst i tut ionen der Türkei ANAP: Anavatan Partisi (Mutterlandspartei) AKP: Adalet ve Kalkınma Partisi (Gerechtigkeits- und Wohlfahrtspartei) CHP: Cumhuriyet Halk Partisi (Republikanische Volkspartei) DSP: Demokratik Sol Parti (Demokratische Linkspartei) DYP: Doğru Yol Partisi (Partei des Rechten Wegs) MHP: Milliyetçi Hareket Partisi (Partei der Nationalen Bewegung) TDK: Türk Dil Kurumu (Türkische Sprachgesellschaft) TSK: Türk Silahlı Kuvvetleri (Türkische Streitkräfte) TTK: Türk Tarih Kurumu (Türkische Geschichtsgesellschaft) YÖK: Yüksek Öğretim Kurulu (Hochschulrat)

POLITIK UND ERINNERUNG

306

Türkische und internat ionale Tageszeitungen Hürriyet (Freiheit) Cumhuriyet (Die Republik) Milli Gazete (Nationale Zeitung) Zaman (Zeit) Yeni Şafak (Neue Morgendämmerung oder Neuer Tagesanbruch) Radikal (Radikal) Milliyet (Nationalität) FAZ: Frankfurter Allgemeine Zeitung NYT: New York Times SZ: Süddeutsche Zeitung TDN: Turkish Daily News RFE/RL: Radio Free Europe/Radio Liberty

307

LISTE DER INTERVIEWS

Tag/Ort des Interviews

Funktion in der Armenierfrage

Gegenwärtig

Ecvet Tezcan

9.3.2004, Ankara

Leiter des Referats Istihbarat ve Araştırma Genel Müdürlüğü, Auswärtiges Amt 2004

Türkischer Botschafter zu Warschau

Gündüz Aktan

27.2.2004, Ankara

Diplomat a.D., Ko-lumnist in der Tages-zeitung Radikal

2007-2008 MHP-Abgeordneter im Türkischen Parlament

Heath Lowry

8.5.2003, Princeton

Direktor des Turkish Studies Institute, Washington D.C. 1989

Princeton University

Hrant Dink

28.2.2003, Istanbul

Gründer der armenisch-türkischen Wochenzeitung AGOS

Fiel am 19. Januar 2007 einem Attentat zum Opfer

Pulat Ta-car

3.3.2004, Ankara

Repräsentant der Tür-kei in der EG zur Zeit der Völkermordan-erkennung des Euro-päischen Parlaments 18. Juni 1987

Diplomat a.D.

Şükrü Elekdağ

5.3.2004, Ankara

Türkischer Botschafter zu Washington in den 1980er Jahren

CHP-Abgeordneter im Türkischen Parlament

POLITIK UND ERINNERUNG

308

Rouben Adalian

15.5.2003, Washington D.C.

Director Armenian National Institute, Washington D.C.

Ömer Engin Lütem

1.3.2004, Ankara

Erster Leiter des Referats Istihbarat ve Araştırma Genel Mü-dürlüğü, Auswärtiges Amt 1983; Gründer des Ermeni Araştır-maları Enstitüsü, Ankara

Vorsitzender des Ermeni Araştırmaları Enstitüsü

Oral Ca-lışlar

19.4.2006, Istanbul

Mitorganisator der al-ternativen Armenier-konferenz 2005; bis 2008 Kolumne in der Cumhuriyet

Seit 2008 Ko-lumne in der Radikal

Yusuf Halaçoğlu

2.5.2004, Winthertur

Vorsitzender der Tür-kischen Geschichtsver-einigung (Türk Tarih Kurumu)

309

DANKSAGUNG

Es gibt viele Menschen, die mich in der einen oder anderen Form bei diesem Projekt unterstützt und begleitet haben. Ich möchte mich bei al-len sehr für ihre Unterstützung danken.

Mit meinem Doktorvater, Wolfgang Seibel (Universität Konstanz), anzufangen, ist dabei keine bloße Pflichterfüllung. Er hat diese Arbeit wesentlich in Gang gesetzt, mir sehr großzügige Freiräume gewährt und dazu beigetragen, dass ich dieses Projekt beenden konnte. Joachim Blat-ter (Universität Luzern) und Stephanie Reulen haben mir bei all meinen Problemen und Fragen stets konstruktiv zur Seite gestanden. Ihre kriti-schen Einwände und Anregungen waren von zentraler Bedeutung bei der Entwicklung des Arguments. Bilgin Ayata (John Hopkins Universi-tät) hat eine Schlüsselrolle in einer kritischen Phase der Arbeit gespielt. Ich habe sehr von ihrer Expertise profitiert. Meine Freundin Anjareen Rana hat das Lektorat für die Buchversion der Dissertation übernom-men. Ihre Präzision hat mich beeindruckt, wenn auch nicht überrascht.

Meine Schwester Reyhan Karabulut, meine Schwägerin Çiğdem Bay-raktar, mein Schwager Atilla Bayraktar und Ceren Ünlü haben Korrektu-ren im Hinblick auf die türkische Orthographie übernommen und bei Übersetzungsfragen ausgeholfen. Onur Pehlivanlı, Yonca Bozkurt und Melike Birbudak haben sehr engagiert in dem Projekt mitgearbeitet. Ya-semin Soytemel, Katja Schwanke, Martin Welz und Johannes Hainzinger haben Teile des Manuskripts Korrektur gelesen. Meine Freundinnen Si-mone Lang-Blaschke und Mirjam Köhnlein-Mosbrucker haben jeweils das Korrekturlesen von Manuskriptteilen und das Babysitten bei Konfe-renzen übernommen.

Während meines Forschungsaufenthaltes am »Ermeni Araştırmaları Enstitüsü« in Ankara (Februar/März 2004) habe ich die freundliche

POLITIK UND ERINNERUNG

310

Unterstützung und Verpflegung durch die türkische Gewerkschaft »Türk Metal Sendikası« in Anspruch genommen. Das Personal der Atatürk Kitaplığı in Taksim, Istanbul, hat mich bei der Zusammenstellung der Zeitungsartikel tatkräftig unterstützt. Ebenso gewährte mir die Boğaziçi Üniversitesi einen Einblick in ihr Zeitungsarchiv. Saliha Bayraktar, mei-ner Schwiegermutter, danke ich sehr, dass sie bei all meinen Türkeiauf-enthalten für mein leibliches Wohl gesorgt und die erforderliche Infra-struktur zur Verfügung gestellt hat.

Für zahlreiche Materialien und Informationen der Arbeitsgruppe Völkermordanerkennung (AGA) und der kooperativen Einstellung ihrer Vorsitzenden Tessa Savvidis möchte ich mich ebenfalls bedanken. Der Direktor des Armenian National Institutes (Washington D.C.), Rouben Adalian, hat mir immer wieder Informationen zur Verfügung gestellt. Dasselbe gilt für das Zoryan Institute in Toronto (Kanada) und den Vor-sitzenden Greg Sarkissian und George Shirinian sowie Marc Mamigoni-an von der National Association for Armenian Studies and Research (NAASR).

Auf der akademischen Ebene hatte ich das Glück Taner Akçam (Clark University), einen der pronunziertesten Kenner des armenisch-türkischen Konflikts immer als Ansprechpartner zur Seite zu wissen. Hans-Lukas Kieser (Universität Zürich), Fikret Adanır (Sabancı Univer-sität, Istanbul), Mihran Dabağ (Institut für Diaspora- und Genozidfor-schung, Bochum) und Insa Meinen (Universität Oldenburg) möchte ich ebenfalls danken. Bernhard Giesen (Universität Konstanz) hat mich be-sonders in der schwierigen Anfangsphase des Projektes unterstützt. Vol-ker Schneider (Universität Konstanz) danke ich für seine Bereitschaft, die Begutachtung der Arbeit vorzunehmen.

Im Hinblick auf die gesellschaftlichen Realitäten, unter denen die armenische Community der Türkei lebt, habe ich sehr von Gesprächen mit Ayda Erbal (University of New York) und Ani Değirmencioğlu (Universität Wien) profitiert. Für seine Bereitschaft, mir bei all meinen Anfragen zur Verfügung zu stehen, danke ich auch Rıfat Bali.

Schließlich und ganz besonders möchte ich mich bei meinem Mann, Osman Bayraktar, bedanken. Er hat die persönliche und fachliche Ent-wicklung, die ich während dieses emotional sehr aufreibenden Projektes gemacht habe, nicht nur aus nächster Nähe begleitet, sondern selbst ein Entwicklungsprozess durchgemacht. Die Summer School am Zoryan Institute (2003) in Toronto etwa, bei der wir mit Diaspora-Armeniern in Kontakt kamen, einen Einblick in das kollektive Trauma bekamen – et-wa was es bedeutet, von seiner Heimstätte vertrieben zu werden und kaum Aussicht zu haben, jemals zurückzukehren, jemals einen Ort Hei-mat nennen zu dürfen – war eine besonders bewegende Erfahrung, die

DANKSAGUNG

311

wir teilen. Osman ist aber zweifellos auch der Hauptleidtragende meiner Dissertationszeit gewesen. Ich danke ihm für seine große Geduld, seine Unterstützung und die Hintanstellung seiner Bedürfnisse. Unserem Sohn, Kaan Ismail, gebührt ebenso ein großer Dank – dafür, dass er ein großartiger Teamplayer ist.

Meinen Eltern, Emine und Hamdi Özen, möchte ich dieses Buch als Zeichen meiner Dankbarkeit und tiefen Bewunderung für ihre Haltung zu ihren Kindern und zum Leben widmen.

Seyhan Bayraktar, Romanshorn im Februar 2010

Global Studies

Moritz Csáky,Johannes Feichtinger (Hg.)Europa – geeint durch Werte?Die europäische Wertedebatteauf dem Prüfstand der Geschichte

2007, 218 Seiten, kart., 24,80 €,ISBN 978-3-89942-785-1

Schirin Fathi (Hg.)Komplotte, Ketzer und KonspirationenZur Logik des Verschwörungsdenkens –Beispiele aus dem Nahen Osten

März 2010, 326 Seiten, kart., 29,80 €,ISBN 978-3-8376-1341-4

Georg GlaszePolitische RäumeDie diskursive Konstitution eines»geokulturellen Raums« –die Frankophonie

November 2010, ca. 256 Seiten, kart., ca. 27,80 €,ISBN 978-3-8376-1232-5

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Global Studies

Katharina InhetveenDie politische Ordnungdes FlüchtlingslagersAkteure – Macht – Organisation.Eine Ethnographie im Südlichen Afrika

September 2010, ca. 500 Seiten,kart., zahlr. Abb., ca. 39,80 €,ISBN 978-3-8376-1378-0

Bülent KüçükDie Türkei und das andere EuropaPhantasmen der Identitätim Beitrittsdiskurs

2008, 236 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €,ISBN 978-3-8376-1012-3

Stefan Luft, Peter Schimany (Hg.)Integration von ZuwanderernErfahrungen, Konzepte, Perspektiven

Juli 2010, 360 Seiten, kart., 29,80 €,ISBN 978-3-8376-1438-1

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Luise AlthannsMcLeninDie Konsumrevolutionin Russland2009, 296 Seiten, kart.,zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €,ISBN 978-3-8376-1254-7

Friedrich Arndt,Carmen Dege,Christian Ellermann,Maximilian Mayer,David Teller,Lisbeth Zimmermann (Hg.)Ordnungen im WandelGlobale und lokaleWirklichkeiten im Spiegeltransdisziplinärer Analysen2008, 386 Seiten, kart., 30,80 €,ISBN 978-3-89942-783-7

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Claas ChristophersenKritik der transnationalen GewaltSouveränität, Menschenrechteund Demokratie im Übergangzur Weltgesellschaft2009, 282 Seiten, kart., 29,80 €,ISBN 978-3-8376-1288-2

Anne KarrassDie EU und der Rückzugdes StaatesEine Genealogie derNeoliberalisierung dereuropäischen Integration2009, 280 Seiten, kart., 28,80 €,ISBN 978-3-8376-1067-3

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Wiebke KeimVermessene DisziplinZum konterhegemonialenPotential afrikanischer undlateinamerikanischer Soziologien2008, 564 Seiten, kart., 35,80 €,ISBN 978-3-89942-838-4

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Boris MichelGlobal City als ProjektNeoliberale Urbanisierungund Politiken der Exklusionin Metro ManilaMärz 2010, 338 Seiten,kart., zahlr. Abb., 31,80 €,ISBN 978-3-8376-1334-6

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Jan PospisilDie Entwicklung von SicherheitEntwicklungspolitischeProgramme der USA undDeutschlands im Grenzbereichzur Sicherheitspolitik2009, 442 Seiten, kart.,zahlr. Abb., 39,80 €,ISBN 978-3-8376-1077-2