Spirituelle Erziehungsmethoden (tarbīya) und Andachten (ḏikr) der Naqšibandīya Muǧaddidīya

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Universität Osnabrück Fachbereich 3: Erziehungs – und Kulturwissenschaften Seminar im Fach „Vertiefungsmodul: Falsafa, Aḫlāq und Taṣawwuf“ Dr. Merdan Günes WS 2014/2015 Spirituelle Erziehungsmethoden (tarbīya) und Andachten (ḏikr) der Naqšibandīya Muǧaddidīya Ausarbeitung Vorgelegt von Muhammed F. Bayraktar Matr.-Nr. 950788 Email: [email protected] Islamische Theologie, B.A. 5. Semester

Transcript of Spirituelle Erziehungsmethoden (tarbīya) und Andachten (ḏikr) der Naqšibandīya Muǧaddidīya

Universität Osnabrück

Fachbereich 3: Erziehungs – und Kulturwissenschaften

Seminar im Fach „Vertiefungsmodul: Falsafa, Aḫlāq und

Taṣawwuf“

Dr. Merdan Günes

WS 2014/2015

Spirituelle Erziehungsmethoden (tarbīya) und

Andachten (ḏikr) der

Naqšibandīya Muǧaddidīya

Ausarbeitung

Vorgelegt von Muhammed F. Bayraktar

Matr.-Nr. 950788

Email: [email protected]

Islamische Theologie, B.A.

5. Semester

2

23.04.2015

Inhalt

1. Einleitung ................................................................................ 4

2. Schlüsselfiguren der Naqšibandīya ..................................... 7

3. Die Laṭāʾif ............................................................................... 12

4. Der Pfad durch den Kosmos................................................ 17

5. Der Eintritt in den Pfad: Der Treueeid .............................. 23

6. Gesellschaft des Scheichs und Rābiṭa ................................ 26

7. Ḏikr - Gottgedenken ............................................................. 28

8. Die Murāqaba (Kontemplation) .......................................... 32

9. Unterschiede zu anderen Ṭuruq ......................................... 36

10. Fazit .................................................................................... 39

11. Literaturverzeichnis ........................................................ 42

3

ن اعوذ ما هللا يطانا با يا الش جا الر

انا ح الر باسماهللاا حيا الر

ربا الحمد ي هللا العالما

الة الم والص ن عل والس يا دا د س محم ي وآ لا آجعا

يعالعلاي ما كآنتالس نناا ناتقبلما رب

(١٢٧)البقرة:

4

1. Einleitung

In dieser Arbeit wird die Erziehungsmethodik eines der wohl

bekanntesten und am meisten verbreiteten Sufi Orden im

persischen und türkischsprachigen Raum beleuchtet, nämlich

die der Naqšibandīya-muǧaddidīya, deren Ideenvater Scheich

Aḥmad Fārūq al-Sirhindī ist.1 Der Orden ist einer der

lebendigsten und aktivsten Orden im indischen Subkontinent

und beeinflusste viele moderne Schulen und Strömungen,

darunter die Deobandis und Baralwis, aber auch in den

türkischsprachigen Gebieten und dem Levante ist ein großer

Einfluss zu verzeichnen. In der heutigen Türkei sind zwei der

1 Dina Le Gall, Forgotten Naqshbandīs and the Culture of Pre-Modern Sufi Brotherhoods, in Studia Islamica, Nr. 97, 2003, Hrsg. Maisonneuve & Larose, S. 87. In dieser vorliegenden Arbeit wird fortan der Begriff Naqšibandīya zur Vereinfachung als Synonym für Naqšibandīya-muǧaddidīya verwendet.

5

bekanntesten Sufiorden, die „Menzil“ in Adiyaman, deren

Oberhaupt Scheich Abdülbaki Erol ist, sowie die Gemeinschaft

um die Moschee Ismail Ağa, deren Oberhaupt Scheich

Mahmud Ustaosmanoğlu ist, Angehörige des Naqšibandī-

ḫālidīya Ordens. Trotz dessen dieser Orden sich nach Mawlānā

Ḫālid al-Baġdādī bezeichnet, weicht der Orden nicht groß von

seinem Ursprung, der Muǧaddidīya, in Theorie und Praxis ab.

Auch der in Deutschland Fuß gefasste Verein VIKZ bildet in

ihren inneren Kreisen einen Ṣufiorden, der auf Scheich Aḥmad

Sirhindi zurückgeht und durch Süleyman Hilmi Tunahan geht.

So ist ersichtlich, dass das in dieser Arbeit behandelte Thema

kein rein historisches Thema ohne gegenwärtigen Bezug ist,

sondern für viele Menschen immer noch eine gelebte Realität

darstellt, welche die in dieser Arbeit erörterten Praktiken

umsetzen.2

2 Siehe auch von Dr. Ken Lizzio, Ritual and Charisma in Naqshbandi Sufi Mysticism, veröffentlich auf www.anpere.net, 2007. Online unter: http://www.anpere.net/2007/3.pdf (letzter Zugriff: 9.5.2015). Lizzio verbrachte fast ein Jahr in Afghanistan in einem Sufikonvent der Naqšibandis und beschreibt dort die Erfahrungen

6

So soll zuerst ein kurzer historischer Abriss des Ordens

gegeben und die wichtigsten Schlüsselfiguren erwähnt

werden. Danach wird die für die spirituelle Entwicklung

zentrale Theorie der Laṭāʾif (Weichpunkte) innerhalb der

Naqšibandīya genauer beleuchtet und die Kosmologie, die

hauptsächlich auf Ibn ʿArabī basiert, dargestellt. Sodann wird

die Rolle des Scheichs, das Initiationsritual und der Treueeid

(bayʿa) behandelt. Daraufhin werden die vier wichtigsten

Praktiken der Naqšibandīya, nämlich die Begleitung des

Scheichs (ṣuḥba), die spirituelle, liebevolle Verbindung zum

Scheich (rābiṭa), die aufgetragene Litanei (wird) und die

Kontemplation (murāqaba) erörtert. Letztlich sollen

Differenzen zu den anderen Sufi Orden hinsichtlich deren

Praktiken, Methoden, Haltungen und Ansichten dargestellt

werden.

und Erlebnisse der Mitglieder, welche oftmals extreme physische Auswirkungen auf die Schüler zu haben scheinen.

7

2. Schlüsselfiguren der Naqšibandīya

Die Naqšibandīya beruft sich auf den Prophetengefährten

Sayyidunā Abū Bakr radīyallāhu ʿanh, und behauptet eine

spirituelle Verbindung zu ihm, welcher der erste Kalif und

nach sunnitischer Theologie der beste Mensch nach allen

Propheten ist.3 Diese Verbindung ist für die Naqšibandīya von

besonderer Bedeutung und auch ein Zeichen für ihre eigene

Sonderstellung, da alle anderen Wege sich auf den Cousin und

Schwiegersohn des Propheten, ʿAlī b. Abī Ṭālib zurückführen.4

Eine weitere wichtige Persönlichkeit stellt Ḫawāǧa ʿAbd al-

Ḫāliq al-Ġuǧduwānī (gest. 615/1218) dar, welcher die Kalimāt

al-qudsīya formulierte, die acht Maximen des Pfades und von

dem berichtet wird, er habe die Form der Litanei des Lā ilāha

ill Allāh mit den Atemübungen, die weiter unten in dieser

3 Vgl. Hamid Algar, Nakşibendîlik, Istanbul, 2013, S. 16ff; Arthur F. Buehler, Sufi Heirs of the Prophet, Columbia, 1998, S. 90. 4 Vgl. ebd..

8

Arbeit behandelt wird, von Ḫiḍr erhalten.5 Später tritt die

wichtigste Persönlichkeit auf, welche der Namensgeber des

Pfades ist. Bis zu ihm wurde der Pfad „Ḫawaǧaġan“ genannt,

der Weg der Meister.6 Die Rede ist von Mawlānā Muḥammad

Bahā al-dīn al-Buḫārī Šāh al-Naqšiband (718/1318 – 789/1389),

der in einem Dorf in der Nähe Bukharas im heutigen

Usbekistan, geboren wurde.7 Muḥammad Bahā al-Dīn war ein

Schüler des Amīr Kulāl, doch eigener Erzählung nach, wurde

er hauptsächlich von der spirituellen Realität des ʿAbd al-

Ḫāliq al-Ġuǧduwānī erzogen, der ihm im Traum und auch im

Wachzustand erschien.8 Al-Ġuǧduwānī lehrte ihm den

„leisen/verborgenen Ḏikr“ und verbot ihm den lauten Ḏikr,

den sein Lehrer Amīr Kulāl praktizierte. Hamid Algar weist

daraufhin, dass die Stellung Bahā al-Dīns unter den Schülern

5 Vgl. Necdet Tosun, Bahâeddîn Nakşbend – Hayati, Görüsleri, Tarikati, Istanbul, 2012, S. 51f. 6 Vgl. ebd., S. 31f. 7 Vgl. Itzchak Weismann, The Naqshbandiyya – Orthodoxy and activism in a worldwide Sufi tradition, New York, 2007, S. 15f. 8 Vgl. ebd., S. 16.

9

Amīr Kulāls fragwürdig sei, da der Sohn des Amīr Kulāl, der als

Nachfolger fungierte, in seinen festgehalten Anekdoten seines

Vaters Bahā al-Dīn nur nebenbei erwähnt und auch nicht auf

eine besondere Stellung weist.9 Nichtsdestotrotz ist nicht von

der Hand zu weisen, dass Bahā al-Dīn einen immensen Einfluss

auf den Orden und den Fortverlauf dessen durch seinen

Schwiegersohn und Meisterschüler ʾAʿlā al-Dīn Aṭṭār sowie

durch Muḥammad Pārsā und Yaʿqūb al-Ǧarhī gehabt haben

muss, so dass fortlaufend bis heute der Weg seinen Namen

trägt. Hamid Algars Aussage nach ist es jedoch unklar, was der

exakte Grund für Bahā al-Dīns Position ist und was ihn

ausmacht,10 während Necdet Tosun sagt, der Grund für seine

bedeutende Stellung sei, dass er den leisen Ḏikr als Fundament

legte und die fast vergessenen Maximen al-Ġuǧduwānīs

wiederbelebte.11 Nach Bahā al-Dīn ist die wichtigste

Persönlichkeit für alle Orden, die sich durch Scheich Aḥmad

9 Vgl. Algar, Nakşibendîlik, S. 23. 10 Vgl. ebd., S. 26. 11 Vgl. Necdet Tosun, Nakşbend, S. 95f.

10

al-Farūqī al-Sirhindī (971/1564 – 1034/1624) führen, Scheich

Aḥmad selbst, der mit dem Titel Imām al-Rabbānī Muǧaddid

Alf al-Ṯānī – Der Imām der reinen Gottergebenen, der

Erneuerer des zweiten Jahrtausends – betitelt wird. Scheich

Aḥmad war vor seiner Initiation in den spirituellen Orden der

Naqšibandīya durch ein zufälliges Treffen mit Muḥammad

Bāqībillāh auf einer Rast in Delhi während seiner Pilgerfahrt,

befugt die spirituellen Orden der Suhrawardīya, der Ǧištīya

und Qadirīya zu lehren und Adepten darin zu unterweisen.12

Das Treffen mit seinem Scheich in der Naqšibandīya war für

ihn ein einschneidendes Erlebnis im Leben,13 weswegen er sich

daraufhin fast ausschließlich durch diese Zugehörigkeit

identifiziert, die er als den höchsten Pfad erkennt.14 Doch

12 Vgl. Arthur F. Buehler, Revealed Grace – The Juristic Sufism of Ahmad Sirhindi (1564 – 1624), Louisville, 2011, S. 19ff. 13 Vgl. ebd.. 14 Vgl. Maktūbāt des Imām Rabbānī. Im Maktūbāt betont Scheich Aḥmad wiederholte Male seine Zugehörigkeit zu dem Pfad der Naqšibandis, deren hohen Rang, deren Position und dergleichen. Siehe z.B. Band 1, Brief 21; Band 1, Brief 131; Band 1, Brief 145; Band 2, Brief 43 und weitere.

11

Scheich Aḥmad sieht den Naqšibandi Pfad als die Grundlage

für seine eigenen Entwicklungen, Verfeinerungen und

Zusätze.15 Er systematisierte den Weg, erklärte die Laṭāʾif,

führte Gedenkformeln und Methoden ein16 und legte neue

Kontemplationen, welche die „kleine Gottesfreundschaft“

(wilāya al-suġra) überschreiten, welche das Ende der

vorherigen Naqšibandis war, und die Wege zu der großen

Gottesfreundschaft (wilāya al-kubra) und der hohen

Gottesfreundschaft (wilāya al-ʿulya) eröffnet.17 Diese werden im

weiteren Verlauf näher erläutert. Zunächst sollen die Laṭāʾif

erklärt werden.

15 Vgl. Imām Rabbānī, al-Maktūbāt, Istanbul, o.J., Band 1, Brief 229. 16 Vgl. Mir Valiuddin, Contemplative Disciplines in Sufism, London, 1980, S. 62ff.. 17 Vgl. Hadhrat Maulawi Jalaluddin Ahmad ar-Rowi, The Contemplations of Mujaddidiya, o.O., 2010, S. 20. Auch: Rašahāt ʿayn al-ḥayāt, S. 215, Randkommentare von Muḥammad Murād, Online auf: https://archive.org/details/RashahatAinAlHayatAr (letzter Zugriff: 30.4.2015).

12

3. Die Laṭāʾif

Das Wort Laṭāʾif (sg. Laṭīfa) entspringt der arabischen Sprache

und bedeutet „weich“, „sensibel“, oder „fein“. Die Sufis

verstehen unter diesem Begriff geistige Glieder,

Komponenten oder Organe, welche beeinflusst oder erweckt

werden können durch spirituelle Übungen.18 Es herrschen

unterschiedliche Ansichten darüber, ob es Punkte, Kreise,

Feinstoffe, Dimensionen oder dergleichen sind und wo genau

im Körper sie sich befinden.19 Auch, ob es wirklich nur Organe

sind, ob sie voneinander getrennt sind oder einen

gemeinsamen Körper bilden und zeitgleich auch Dimensionen

sind, durch die der Adept reist – wird je nach Stufe und

Entwicklungsgrad des Adepten unterschiedlich definiert.20 Die

18 Marcia K. Hermansen, Shāh Walī Allāh’s Theory of the subtle spiritual centers (laṭāʾif): A sufi model of personhood and self-transformation, erschienen in Journal of Near Eastern Studies 47, Nr. 1, Chicago, 1988. S. 1. 19 Vgl. Buehler, Sufi Heirs, S.109ff. 20 Vgl. Buehler, ebd., S. 112ff.

13

Laṭāʾif tragen zwar gleiche Namen wie die physischen

Realitäten (Herz, Erde, usw.), dürfen aber nicht mit diesen

verwechselt werden. Sie sind „örtliche Manifestationen von

gleichbezeichneten Teilen einer höheren Welt der

kosmologischen Struktur, welche sich über der Welt der

erschaffenen Dinge befindet.“21 Die Laṭāʾif sind bereits in

älteren Diskussionen und Erörterungen der Sufis zu finden,

jedoch erst Scheich Aḥmad verknüpfte mit ihnen höhere

Welten, Realitäten und Praktiken.22 Er geht davon aus, dass der

Mensch aus 10 Laṭāʾif besteht, von denen fünf in der „Welt der

Anordnung“ (ʿālam al-amr) liegen und fünf in der „Welt der

Erschaffung“ (ʿālam al-ḫalq). Die nähere Beschreibung dieser

Welten wird im Abschnitt über die Kosmologie behandelt. Die

fünf der Welt der Anordnung lauten: 1. Qalb (Herz), 2. Rūḥ

(Seele), 3. Sirr (Verborgenes), 4. Ḫāfī (Geheimes) und 5. Aḫfā

(Höchstgeheimes). Die fünf der Welt der Erschaffung heißen:

21 Hermansen, Shāh Walī Allah, S.1. 22 Vgl. Hermansen, Shāh Walī Allah, S. 7f.; Buehler, Sufi Heirs, S. 106.

14

1. Nafs (Triebseele), 2. Luft, 3. Wasser, 4. Feuer, 5. Erde.23 Diese

Laṭāʾif ermöglichen eine schnelle Entwicklung auf dem

spirituellen Pfad und nur jene Sufis, die diese Laṭāʾif

beherrschen und verstehen, können die Adepten des Weges

auf höhere Ebenen führen. Die Laṭāʾif führen dazu, dass Askese

und körperliche Entbehrung obsolet sind.24

Die Laṭāʾif im menschlichen Körper sind verbunden mit ihren

Ursprüngen in den genannten [metaphysischen] Welten. Die

Ursprünge der Laṭāʾif der „Welt der Anordnung“ liegen über

dem göttlichen Thron und die Ursprünge der „Welt der

Erschaffung“ unter dem göttlichen Thron. Die Laṭāʾif der „Welt

der Anordnung“ unterliegen den unterschiedlich „hohen

Propheten“, deren Seelen als Vermittler für den Adept dienen,

um göttliche Emanation (fayd)25 und bestimmte

23 Vgl. Muhammed Mâsûm el-Ömerî el-Müceddidi, Allah Dostlarinin Dereceleri – Yedi Sir, Istanbul, 2003, S. 50. 24 Vgl. Jens Bakker, Šāh Walīy Allāh ad-Dihlawīy und sein Aufenthalt in Mekka und Medina, Berlin, 2010, S. 25ff. 25 Darunter wird göttliche Energie verstanden, die sich in verschiedenen Formen von den Namen und Eigenschaften Gottes

15

Entschleierungen Gottes (taǧallīyāt) zu erhalten. Ohne die

Vermittlung der Seelen dieser Propheten können keine

Emanation und kein Taǧalli geschehen. So untersteht Qalb dem

Propheten Adam und mit ihm kommen die Entschleierungen

der göttlichen Taten (taǧalli al-afʿāl), Rūḥ dem Propheten Nūḥ

und Ibrāhīm und mit ihnen die Entschleierung der göttlichen

Eigenschaften (taǧalli al-ṣifāt), Sirr dem Propheten Mūsā und

mit ihm die Entschleierung der šuʾūn al-ḏātīya,26 Ḫāfi dem

Propheten ʿĪsā und mit ihm die Entschleierungen der

„negierenden Eigenschaften Gottes“ und Aḫfā allein dem

Propheten Muḥammad und mit ihm die Entschleierung des

einzig wahren Wesens, welches alles vorherige in sich vereint.

Gemäß der Laṭāʾif, die den stärksten Effekt auf den Adepten

manifestiert. Es gibt allgemeinen und spezifischen Fayd. Der Allgemeine kommt von den göttlichen Eigenschaften und bringt Leben hervor, während der spezifische Īmān, Gotteserkenntnis, Gottesfreundschaft und Prophetie hervorbringt. Vgl. Buehler, Sufi Heirs, S. 117f. 26 ʿAbd al-razzāq al-Kašānī erklärt diese als: „Die Handlungen oder Beziehungen des göttlichen Wesens mit seinen Eigenschaften.“ (Abdürrezzak Kâşânî, Tasavvuf Sözlüğü, Istanbul, 2004, S. 318 und Masum, Yedi Sir, S. 59.

16

hat, wird gesagt, dass der Adept diesem Propheten untersteht,

dieser Prophet seine „Trunkstelle“ (mašrab) und seine eigene

Beschaffenheit darstellt. Die Laṭāʾif sind somit Empfänger

göttlichen Lichtes und mit ihnen wird zum Wesen Gottes auf

dem Pfad durch den Kosmos, der dargestellt werden soll,

gereist.27 Sie stellen das Vehikel.

27 Vgl. Mâsûm, Yedi Sir, S. 52ff.

17

4. Der Pfad durch den Kosmos

Für den Pfad durch den von Scheich Aḥmad formulierten

Kosmos, muss der Reisende zuerst bestimmte

Vorbedingungen erfüllen, wie Islam, grundlegende

Kenntnisse in der praktischen Theologie (fiqh) und der

sunnitischen ʿAqīdah, damit der Adept diese Reise

unternehmen kann und Risiken auf dem Pfad minimalisiert

werden. Naqšibandis zufolge imitiert dieser Pfad den Pfad der

früheren Propheten und der höheren Freunde Gottes und

stellt eine Rückkehr zu den Quellen des Islams dar, welche auf

spirituellen Erlebnissen und Erfahrungen gründen.28

Naqšibandis haben die Strukturen des Universums gezeichnet,

die Prinzipien und eine dazugehörige Karte ausgelegt, damit

der Adept dieses Universum bereisen kann und dabei eine

kognitive Karte für seine eigene Reise hat. Diese Reise ist eine

in der äußeren Welt (sayr al-āfāqī) und eine in der eigenen

28 Vgl. Buehler, Sufi Heirs, S. 101.

18

inneren Welt (sayr al-anfusī), während die innere Reise die

äußere Reise beinhaltet und somit beides Hand in Hand geht.

Die innere Welt ist eine weitaus größere Welt mit 17 Stationen,

während die äußere Welt eine Welt mit 8 Stationen darstellt.29

Der Naqšibandi Kosmos verwendet hauptsächlich die

Begrifflichkeiten Ibn ʿArabīs.30 Zuerst war Gott in seiner

absolut undifferenzierten Existenz. Er erschuf - im

metaphorischen Sinne - eine Reflexion Seiner eigenen

Manifestationen durch Seinen göttlichen Atem (nafas al-

raḥmān). Nach Scheich Aḥmad gibt es einen klaren

Unterschied zwischen dem „Atmenden“ und dem „Atem“ und

somit ist alles, was der Mensch denken und wahrnehmen

kann, von Gott und existiert „außerhalb“ von Gott – und Gott,

der Handelnde, verbirgt sich dahinter.31 Die erste und

grundlegende Manifestation Gottes wird taʿayyun al-awwal

genannt und ist die Quelle der Emanation für die Laṭāʾif der

29 Vgl. ebd., S. 102f. 30 Vgl. ebd., S. 113. 31 Vgl. ebd., S. 114.

19

Welt der Anordnung, außer dem Qalb.32 Eine Brücke zwischen

dem absoluten undifferenzierten Wesen stellt die

„Eigenschaft der umfassenden Synthese“ (šaʾn al-ǧāmiʿ) dar

und jegliche Emanation vom göttlichen Wesen fließt durch

diese Brücke und erreicht die Schöpfung in ihrer

kosmologischen Ordnung. Taʿayyun al-awwal – die erste und

grundlegendste Manifestation - beinhaltet die

„Muhammadische Realität“ (ḥaqīqat al-muḥammadīya), die

Eigenschaften der Negation (ṣifāt al-salbīya), die šuʾūn al-ḏātīya

und die acht Eigenschaften des göttlichen Wesens (ṣifāt al-

ṯubūtīya ḏātīya). Naqšibandis sprechen von der Reise in eben

dieser Manifestation, wenn sie von der Reise im göttlichen

Wesen sprechen.33

Die zweite Manifestation (taʿayyun al-ṯānī) beinhaltet die

Namen und Eigenschaften Gottes (al-asmāʾ wa al-ṣifāt) und die

Handlungseigenschaften (ṣifāt al-afʿal). Darauf folgt die dritte

Manifestation, welche die Welt des Befehls (ʿālam al-ʾamr),

32 Vgl. ebd.. 33 Vgl. ebd., S. 115.

20

auch genannt die Welt der Engel (ʿālam al-malāʾika) oder Welt

der Herrschaft (ʿālam al-malakūt) ist. Die untere Grenze dieser

dritten Manifestation ist die Welt der „Beispiele“ (ʿālam al-

miṯāl), welche eine Zwischenstufe zwischen der dritten und

vierten Manifestation, der Welt der Körper (ʿālam al-aǧsām) ist.

Die höhere Grenze der Welt der Körper ist der göttliche Thron

selbst. Unter dem Thron befindet sich alles, was in der

materiellen Welt existiert.34

Diesem Makrokosmos folgt der Mikrokosmos innerhalb des

Menschen, welches als der Kreis der Kontingenz (dāʾira al-

imkān) bezeichnet wird und ʿĀlam al-amr, ʿālam al-miṯāl, den

göttlichen Thron und die höheren Grenzen der materiellen

Welt, die Himmel, beinhaltet. Dieser Mikrokosmos im

Menschen besitzt kein Ende und keinen Zenit, weswegen er als

Kreis dargestellt wird. Die meisten Praktiken und Aktivitäten

der gewöhnlichen Sufis spielen sich hier ab, weswegen nur

34 Vgl. ebd., S. 115.

21

wenige die höheren Welten erreichen und diesen Kreis

verlassen.35

Die Reise der Naqšibandis jedoch beginnt direkt bei der Welt

des göttlichen Befehls – und nicht in der Welt der Erschaffung

(ʿālam al-ḫalq) - indem die Laṭāʾif aktiviert werden [wie dies

geschieht, wird noch erwähnt] und die höheren Stufen der

Reise bzw. die Endstufen der Kontemplation, führen zu den

niedrigeren Welten der materiellen Existenz, also zu der Welt

der Erschaffung. Die Reise läuft verkehrt herum ab. Sie

behaupten, somit direkt den Propheten zu folgen und höhere

Stufen der Gottesfreundschaft zu erreichen (wilāya al-kubrā

und ʿulya). Andere Sufis jedoch beginnen in der Welt der

Materie und beenden ihre Reise in der Welt der Anordnungen,

weswegen sie keine höhere Stufe der Gottesfreundschaft

erreichen und auf der kleinen Gottesfreundschaft verweilen

(wilāya al-ṣuġra).36

35 Vgl. ebd. S. 115f. 36 Vgl. ebd., S. 116ff.

22

Die Praktiken, die für die Aktivierung der Laṭāʾif und der Reise

mit ihnen notwendig sind, werden nun genauer beschrieben.

23

5. Der Eintritt in den Pfad: Der Treueeid

Für die Aktivierung der Laṭāʾif, für das Empfangen von Fayd

und die spirituelle Entwicklung ist ein lebender spiritueller

Lehrmeister unabdingbar. Scheich Aḥmad betont in mehreren

Briefen die Wichtigkeit einen vollkommenen und

vervollkommnenden spirituellen Lehrmeister zu haben, der

die Person im Pfad unterweist. Nur diese von dem Scheich

übergebene Gedenkart sei fähig, den Adepten auf die Reise zu

bringen. Alle anderen Formen der Anbetungen würden nur

Lohn bringen, jedoch keine spirituelle Erziehung nach sich

ziehen.37 Der spirituelle Lehrmeister wird als Träger,

Empfänger und Verteiler der göttlichen Emanation (fayd)

angesehen und er spielt eine zentrale Rolle für die Aktivierung

der Laṭāʾif und das Reisen auf dem Pfad.38

37 Vgl. Imām Rabbānī, Maktūbāt, Band 3, Brief 4. 38 Vgl. Buehler, Sufi Heirs, S. 93, 128, 159f.

24

Kommt ein Adept zu einem spirituellen Lehrmeister, trägt der

Lehrmeister ihm zuerst ein Bittgebet um Leitung an (istiḫāra),

kann jedoch je nach eigenem Ermessen den Schüler auch

direkt aufnehmen.39 Der Treueeid besteht aus einem

Versprechen, sich an den Koran und die Sunna zu halten und

die Maximen und Regeln des Naqšibandi Pfades zu ehren und

zu leben.40 Dazu gehören auch unbedingter Gehorsam und

Respekt gegenüber dem spirituellen Lehrmeister.41 Die Rolle

des spirituellen Lehrmeisters ist bei den Naqšibandis von

großer Bedeutung und dies wird immer zu erwähnt. Nur das

Wohlgefallen des Lehrmeisters ermöglicht den Aufstieg.42

Nachahmung des Lehrmeisters in allen Belangen, sei es in der

praktischen Theologie, der Kleidung oder den Speisen, wird

von Scheich Aḥmad betont und als ein wichtiges Element des

39 Vgl. Muhammed b. Abdullah el-Hani, el-Behcet’üs-Seniyye - Sûfiyye Âdâbı, Istanbul, 2006, S. 153. 40 Vgl. Buehler, Sufi Heirs, S. 158ff. 41 Vgl. Shaikh Amīn ʿAlā ad-Dīn al-Naqshbandī, Sufism – A Wayfarer’s Guide to the Naqshbandi Way, Louisville, 2011, S. 236f. 42 Vgl. Mevlâna Halid-î el-Bağdadî, Risale-i Halidiye, Istanbul, 2004, S. 26ff.

25

Weges erachtet.43 Doch der Lehrmeister soll nicht mit einer

„gespielten“ Liebe befolgt werden, sondern all dies soll dem

Herzen des Adepten entspringen. Die Liebe soll ungezwungen

und wahrhaftig sein.44 Hierfür spielen die Gesellschaft des

Scheichs und die Rābiṭa – die Verbindung des Herzens mit dem

Lehrmeister – eine besondere Rolle.

43 Vgl. Imām Rabbānī, Maktūbāt, Band 1, Brief 292. 44 Vgl. Mevlâna Halid, Risale, S. 13.

26

6. Gesellschaft des Scheichs und Rābiṭa

Rābiṭa und die Gesellschaft des Scheichs werden als zwei der

vier Praktiken des Naqšibandi Pfades verstanden.45 Die

Gesellschaft des Scheichs ist eine Nachahmung der Prophet–

Gefährten-Beziehung und spielt eine wesentliche Rolle.46

Korrektes Benehmen ist von höchster Bedeutung und

Wichtigkeit und kann bei Missachtung vernichtende

Auswirkungen haben.47

Rābiṭa ist die Bezeichnung für die spirituelle Verbindung

zwischen dem Adepten und Lehrmeister. Der Adept wird dazu

angehalten, beständig und zu jeder Zeit, wenn es ihm möglich

ist, an den Lehrmeister zu denken und sich selbst in diesem

Gedanken aufzulösen. Die intensivste Form der Rābiṭa besteht

darin, dass der Adept sich selbst nicht mehr erkennt und sieht

45 El-Hani, Sûfiyye, S. 163. 46 Vgl. Buehler, Sufi Heirs, S. 132ff. 47 Vgl. Mevlâna Halid, Risale, S. 26ff.

27

und nur noch den Lehrmeister wahrnimmt.48 Auch in der

Gegenwart des Lehrmeisters soll diese Rābiṭa praktiziert

werden, da sie hilft, sich nicht von der äußeren Schale des

Lehrmeisters ablenken zu lassen und einen Fokus auf seine

innere Realität zu wahren.49 Die Rābiṭa war ab dem 19.

Jahrhundert ein Grund für viele Kontroversen. Necdet Tosun

führt an, dass es bis in das 19. Jahrhundert niemanden gab, der

diese Praxis kritisierte oder sie anstößig fand.50 Rābiṭa ist auch

Bestandteil bei anderen Sufi Pfaden und nicht etwas, was

einzig bei den Naqšibandis vorzufinden ist.51

48 Vgl. El-Hani, Sûfiyye, S. 168ff. 49 Vgl. Mevlana Halid, Risale, S. 28ff. 50 Necdet Tosun, Nakşbend, S. 136. 51 Vgl. Necdet Tosun, Nakşbend, S. 138; Imam-ı Şaʾrânî, Kudsî Nurlar, Istanbul, 2006, S. 42.

28

7. Ḏikr - Gottgedenken

Die Gedenkformeln, welche die Naqšibandis verwenden, sind

einzig der Name Gottes „Allāh“ und das Glaubensbekenntnis

„Lā ilāha ill Allāh“, auch als Nafy wa iṯbāt (Negation und

Bestätigung) bezeichnet. Die Anfänger auf dem Weg werden

erst in dem Ḏikr des Namens unterwiesen. Dieser Ḏikr dient

dazu, die Laṭāʾif zu erwecken und den spirituellen Körper zur

Reise zu befähigen. Das heißt, auf dieser anfänglichen Stufe

gibt es noch keinen Fortschritt im Mikro – oder

Makrokosmos.52 Der Adept wird jedoch fähig, die Emanation

wahrzunehmen und zu erlangen. Zuerst wird die Andacht

Gottes (ḏikr) mit der Laṭīfa Qalb geübt. Während dem Ḏikr wird

die Vorstellung aufrechterhalten, wie vom spirituellen

Lehrmeister Emanation in das eigene Herz fließt.53 Wenn die

Laṭāʾif anfängt, selbstständig die Andacht zu üben, oder andere

52 Vgl. Buehler, Sufi Heirs, S. 128ff. 53 Vgl. Masum, Yedi Sir, S. 57.

29

Zeichen, die dem Lehrmeister berichtet werden, darauf

hinweisen, dass die Laṭāʾif geöffnet ist, werden sequenziell alle

anderen zehn Laṭāʾif auf diese Art und Weise geöffnet und

aktiviert.54 Zu diesen anderen Anzeichen gehören, dass der

Adept sich im Scheich verliert oder die Laṭāʾif Reaktionen

zeigen.55 Wenn alle Laṭāʾif erweckt sind, wird vom Ḏikr sulṭānī

gesprochen, einem Ḏikr, welches den gesamten Körper

einnimmt, „bis in die letzte Haarzelle“.56

Hiernach wird der Ḏikr von Nafy wa iṯbāt mit Atemübungen

praktiziert.57 Dieser Ḏikr geht auf ʿAbd al-Ḫāliq Ġuǧduwānī

zurück und wird bereits in den ersten Quellen der Naqšibandis

erwähnt.58 Diese Andacht geschieht, indem der Adept den

Atem anhält, innerlich „lā“ sagt, dabei das „ā“ langzieht und

den Kopf, der am Anfang auf der Brust ruhte, beim Langziehen

54 Vgl. Buehler, Sufi Heirs, S. 129f. 55 Vgl. El-Hânî, Sufiyye, S. 188f.; Mevlana Halid, Risale, S. 58ff. 56 Vgl. Mevlana Halid, ebd., S. 60f. 57 Vgl. ebd., S. 60. 58 Vgl. Salâhüddin ibn-i Mübârek el-Buhârî, Enîsü’t-Tâlibîn ve Uddetü’s-Sâlikîn, Istanbul, 2004, S. 183.

30

in den Nacken legt. Das „lā“ wird also „hochgezogen“. „Ilāha“

wird auf die rechte Schulter gezogen, was bedeutet, dass der

Adept seinen Kopf in Richtung der rechten Schulter dreht.

Dann wird mit voller Kraft „ill Allāh“ auf das Herz geschlagen

und der Kopf wird nach links in Richtung Herz geschwungen.

Dies wird in ungerader Zahl wiederholt, das heißt, 3, 5, 7, 11,

13, 15, 17, 21 oder mehr, in einem Atemzug.59 Am Ende der

Wiederholung atmet der Adept ruhig aus und sagt dabei

„Muḥammad Rasūlallāh, wa lā maqṣuda ill Allāh! Ilāhī! Anta

maqṣūdī wa ridaka maṭlūbī“.60 Wenn der Adept Selbstverlust

erlebt, lässt er sich in diesen Zustand fallen. Wenn nicht,

wiederholt er dies.61 Je nach Fortschritt des Adepten werden

mit der Negation und Bestätigung verschiedene Absichten

formuliert und verschiedene Negationen gemeint. Der

Anfänger negiert alle Anbetungsobjekte außer Gott (maʿbūd),

der Mittlere negiert alle Absichten und Intentionen außer

59 Vgl. El-Hânî, Sufiyye, S. 193ff. 60 Vgl. ebd., S. 195. 61 Vgl. ebd., S. 194f.

31

Gott (maqṣūd), der Fortgeschrittene negiert jegliche Existenz

außer Gott (mawǧūd).62 Ist der Adept in einem Zustand, in dem

er eine Stunde oder mehr, nicht mehr von Vorstellungen und

Gedanken über anderes als Gott heimgesucht wird, oder je

nach Ermessen des spirituellen Lehrmeisters, wird er in die

Kontemplation (murāqaba) eingewiesen.63

Der Adept auf dieser Stufe hat seinen spirituellen Körper

aktiviert und aufgebaut. Die Laṭāʾif sind alle erweckt und

bereit, göttliche Emanation zu empfangen. Sie wurden durch

die gerade beschriebene Andachtsform von allen falschen

Absichten, Vorstellungen, Intentionen und dergleichen

gereinigt und somit „angespornt“ und „belebt“. Nun ist der

Adept in der Lage, zügig den spirituellen Kosmos zu bereisen.64

62 Vgl. Halid-i Bağdâdî, Risâle-i Halidiyye Tercümesi, Istanbul, 2000, S. 53. 63 Bağdâdî, Halidiyye, S. 56. 64 Vgl. Buehler, Sufi Heirs, S. 128ff.

32

8. Die Murāqaba (Kontemplation)

Der Adept wird nun in die Kontemplation eingewiesen. Die

Kontemplation ist die eigentliche Reise (sulūk) und die

wichtigste Komponente für die spirituelle Reise des Adepten.65

Die Murāqaba ist es, was den Naqšibandi-Weg unter anderem

auszeichnet.66 Wörtlich wird unter Murāqaba das Warten, die

Garantie oder das Schützen verstanden.67 Bei den Naqšibandis

wird unter Murāqaba verstanden, dass sich eine Person von

weltlichen Beschäftigungen und Ablenkungen absondert und

sich in die spirituelle Leitung seines Scheichs vertieft, indem

über die aktivierten Laṭāʾif meditiert.68 Doch diese

Kontemplation geschieht, indem der Fokus auf das göttliche

Wesen oder die angegebenen Elemente gelenkt wird. Es geht

hier nicht darum, die Gedanken zu fokussieren. Es wird ein

65 Vgl. ebd., S. 130. 66 Vgl. ebd., S. 241. 67 Vgl. Ar-Rowi, Contemplations, S.3. 68 Vgl. ebd., S. 4f.

33

Fokus gehalten, doch die Gedanken werden von selbst

schwinden.69 Durch die Murāqaba reist der Adept nun mit

seinem spirituellen Körper, durch die Laṭāʾif, durch den

beschriebenen Kosmos, der jedoch viel detaillierter dargelegt

ist, als das diese Arbeit es behandeln könnte.70 Die erste

Murāqaba wird als die Murāqaba al-aḥadīya bezeichnet. Diese

Kontemplation dient zur „Ausrichtung“ der Laṭāʾif in

„Richtung des göttlichen Thrones“.71 Sind die Laṭāʾif

ausgerichtet, kontempliert der Adept über die fünf Laṭāʾif der

Welt der Anordnung und der Propheten,72 unter deren Füßen

69 Vgl. ebd. 70 Siehe für eine detaillierte Darlegung des Pfades Buehler, Sufi Heirs, S. 124. 71 Vgl. Mir Valiuddin, Contemplative, S. 110. 72 Beispielsweise intendiert der Adept bei der Kontemplation über das Herz: „O Allah! Von Dir über die Herz Laṭīfah des geehrten Propheten Muḥammad kam Emanation und Entschleierung Deiner Handlungseigenschaften auf die Herz Laṭīfah des Propheten Adam. Lass mir dies ebenfalls zuteilwerden durch die Lehrmeister des Naqšibandi Pfades.“ Der Adept stellt sich hierbei dem Propheten Muḥammad gegenüber und stellt sich vor, wie Emanation vom Herz des Propheten zu seinem Herzen kommt, während sich einige nur einen Fluss von Emanation auf das Herz vorstellen. Vgl. Buehler, Sufi Heirs, S. 242ff.

34

die Laṭāʾif stehen und erreicht durch diese Kontemplation die

göttlichen Entschleierungen und Fayd, die eine direkte

Beziehung zu diesen Propheten haben.73 Die letzte Murāqaba

im „Kreis der Kontingenz“ ist die Murāqaba al-maʿīya. Diese

Murāqaba führt bei ihrer Vollendung den Adepten aus dem

„Kreis der Kontingenz“ und erhebt ihn auf die Stufe der

„kleinen Gottesfreundschaft“ (wilāyat al-ṣuġra).74 Einige der

Naqšibandi Lehrmeister erteilten einigen ihrer Schüler bei

Vollendung eine „beschränkte“ Lehrerlaubnis.75 Wie schon

erwähnt, endeten die Murāqaba der vor-Muǧaddidi

Naqšibandis hier und alle weiteren Stufen wurden durch

Scheich Aḥmad eröffnet.76 Die „große Gottesfreundschaft“

wird bei Vollendung der Kontemplation des Namens al-Ẓāhir

vollendet.77 Wenn die große Gottesfreundschaft vollendet ist,

wurde auch die Triebseele transformiert und der wahrhaftige

73 Vgl. ebd. 74 Vgl. ar-Rowi, Contemplations, S. 19f. 75 Vgl. ebd., S. 20. 76 Vgl. Ar-Rowi, Contemplations, S. 21. 77 Vgl. Mir Valiuddin, Contemplative, S. 121.

35

Islam manifestiert sich im Menschen. Er ist den Befehlen

Gottes absolut ergeben und seine Triebseele verliert alle

Spuren der Auflehnung.78 Ein weiterer wichtiger Schritt für

den Adepten liegt beim Beginn der Kontemplation über die

Vollkommenheit der Propheten. Ab dieser Stufe werden alle

Laṭāʾif eins und es gibt keine getrennten Laṭāʾif mehr. Dieser

„Seins-zustand“ wird Hayʾat al-waḥdanīya genannt.79 Die letzte

Meditation ist die Murāqaba la taʾayyun.80

Nachdem nun der Naqšibandi Weg dargelegt wurde, soll der

Unterschied zu anderen spirituellen Pfaden (ṭuruq) kurz

erörtert werden.

78 Vgl. ebd., S. 120f. 79 Vgl. Ar-Rowi, Contemplations, S. 25. 80 Vgl. ebd., S. 59.

36

9. Unterschiede zu anderen Ṭuruq

Scheich Aḥmad Sirhindi maß äußeren Merkmalen und

Kleidungsstücken, welche die Zugehörigkeit zu den Sufis

darstellen, keine Wichtigkeit bei. Ekstase und Zustände

werden nicht als Ziel selbst gesehen, sondern als Süßigkeiten

für die Adepten auf dem Weg. Im Allgemein sind die

Naqšibandis den Formen des lauten Gottgedenkens gegenüber

sehr verschlossen und verbieten auch jegliche Bewegungen

während dem Gottgedenken. Die Naqšibandis beginnen ihren

Ḏikr mit dem Namen Gottes und auf späteren Stufen wird der

Ḏikr „lā ilāha ill Allāh“ verwendet. Andere Sufiorden jedoch

verwenden den Namen Gottes auf späteren Stufen.81 Tanz und

Gesang ist absolut verboten und Scheich Aḥmad ist dem

gegenüber sehr kritisch.82 Ein großer Fokus bei den

81 Vgl. Johan G. J. ter Haar, Ahmed Sirhindî‘nin Nakşibendî Geleneğine Bakışı, erschienen in „Tasavvuf – Ilmî ve Akademik Araştirma Dergisi“, Ankara, 2002, S. 200. 82 Vgl. ebd., S. 201.

37

Naqšibandis liegt auf dem Scheich, der Gemeinsamkeit mit

dem Scheich und den Fokus auf den Scheich sowie das

Entwerden im Scheich.83 Das Ende der anderen Pfade wurde

bei den Naqšibandis an den Anfang gelegt. Hier ist wichtig zu

verstehen, dass Scheich Aḥmad sagt, damit sei nicht gemeint,

die Realität des Endes der anderen sei an den Anfang gelegt,

sondern nur der Geschmack und die Form. Somit wird auch

ein gescheiteter Adept auf dem spirituellen Pfad der

Naqšibandis nicht gänzlich von spirituellem Geschmack

beraubt sein.84 Der Naqšibandi Pfad führt den Adepten auch zu

einer kontinuierlichen, konstant anhaltenden Entschleierung

des göttlichen Wesens, was bei den anderen Pfaden eher

„einem Blitzschlag“ gleicht.85 Der gesamte Pfad wurde hierfür

ausgelegt.86 Der Grund für den schnellen und immensen

Fortschritt auf dem Pfad sieht Scheich Aḥmad in der Differenz

zwischen göttlicher Gnade und dem göttlichen Ziehen (ǧazba)

83 Vgl. ebd., S. 202f. 84 Vgl. ebd., S. 203f. 85 Vgl. ebd., S. 204. 86 Vgl. ebd.

38

und der Bemühung und Reise des Adepten (sulūk). Unter Ǧazba

wird die Reinigung des Herzens von allen anderen Bindungen

außer der Bindung zu Gott verstanden, während unter Sulūk

die Bemühung und die Anstrengung der Vervollkommnung

der zehn Stufen des Taṣawwuf, die als Maqamāt bezeichnet

werden, verstanden wird.87 Die Naqšibandis setzen – im

Gegensatz zu allen anderen Pfaden – die Ǧazba voran und

vollenden diese mit dem darauffolgenden Sulūk.88 Ein

erheblicher Unterschied ist auch, dass Scheich Aḥmad die

Lehre des „Einheit des Seins“ als teilweise inkorrekt auffasst

und diese auch nicht als die Endstufe des Taṣawwuf erachtet.

Für ihn ist die Endstufe eine klare Differenzierung zwischen

Schöpfer und Schöpfung, in der jedoch alles als eine Reflexion

des Schöpfers wahrgenommen wird (Tawḥīd šuhūdī).89

87 Vgl. ebd. 88 Vgl. ebd. 89 Vgl. ebd., S. 205ff.

39

10. Fazit

Der Naqšibandi Pfad ist ein detaillierter und klar gezeichneter

Weg, in der den Adepten durch verschiedene spirituelle

Übungen ein bestimmtes Verständnis und eine bestimmte

Gotteserfahrung mitgegeben werden soll. In dieser Arbeit

wurden die Methodik und die dahinterliegende Theorie für

die spirituelle Erziehung dargelegt. Vorerst wurde ein kurzer

historischer Abriss des Ordens gegeben und die wichtigsten

Schlüsselfiguren wurden beschrieben. Sodann wurde die für

die spirituelle Entwicklung zentrale Theorie der Laṭāʾif

(Weichpunkte) innerhalb der Naqšibandīya genauer

beleuchtet und die Kosmologie dargestellt. Die Rolle des

Scheichs, das Initiationsritual und der Treueeid (bayʿa)

wurden behandelt. Die vier wichtigsten Praktiken der

Naqšibandīya, nämlich die Begleitung des Scheichs (ṣuḥba),

das Erinnern oder Denken an den Scheich (rābiṭa), die

aufgetragene Litanei (wird) und die Kontemplation

40

(murāqaba) wurde detailliert erörtert. Auch Differenzen zu den

anderen Sufiorden wurden dargestellt.

Der Naqšibandi Pfad lebt auch heute noch und viele, die auf

diesem Pfad voranschreiten, bekennen und bezeugen die

Wirkung und die Kraft der Methoden, der Meditationen und

der Übungen. Er ist ein Weg, der in unserer heutigen Zeit für

viele das Erleben der spirituellen Realität des Islams

erleichtert, ohne körperliche Entbehrung und soziale

Isolation ertragen zu müssen. Der Adept auf dem Pfad

unterscheidet sich auch äußerlich und öffentlich nicht von

einem Muslim, der kein Adept ist und es gibt keine besonderen

Rituale oder Anzeichen, die ihn hervorstechen lassen. Die

spirituelle Erhöhung voller Nüchternheit zeichnet diesen Weg

aus und macht ihn zu einem begehrten Pfad, auf dem in

schneller Zeit erhebliche Resultate im eigenen Sein zu

beobachten sind, wenn denn ein wahrhaftiger, vollkommener

und vervollkommnender Lehrmeister des Naqšibandi Pfades

gefunden wird. Und diesen zu finden bzw. einen Zugang zu

41

einem zu bekommen, ist insbesondere für Menschen im

Westen, eine große Schwierigkeit.

42

11. Literaturverzeichnis

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