Post on 11-Jan-2023
Erscheint in: Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse,
hg. v. S. Deines, J. Liptow und M. Seel, Berlin: Suhrkamp 2013, 7-37 1
Kunst und Erfahrung. Eine theoretische Landkarte
Stefan Deines, Jasper Liptow, Martin Seel
Der Begriff der ästhetischen Erfahrung spielt eine zentrale Rolle in der philosophischen
Ästhetik. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die Ästhetik primär als die Theorie einer
besonderen Funktion, Leistung oder Form der Sinnlichkeit begriffen wird. Ȁsthetische
Erfahrung« kann dann einfach als Name für unsere Sinnlichkeit verstanden werden, insofern
sie diese Funktion oder Leistung erfüllt oder eine entsprechende Form annimmt. Ästhetik in
diesem Sinn ist nur dann überhaupt möglich – denn sie besitzt nur dann einen Gegenstand –,
wenn es ästhetische Erfahrung gibt. Aber auch, wenn man unter Ästhetik primär die Philosophie
der Kunst versteht, ist deutlich, dass der Begriff der ästhetischen Erfahrung einen großen
theoretischen Wert besitzt. So wird diesem Begriff etwa immer wieder eine definitorische
Funktion im Bereich der Kunsttheorie zugemutet: Kunstwerke werden als diejenigen Objekte
bestimmt, die auf besondere Weise Anlass zu einer ästhetischen Erfahrung geben. Etwas
weniger anspruchsvoll kann man versuchen, den Wert oder die Funktion von Kunst über den
Begriff der ästhetischen Erfahrung zu bestimmen: Wir suchen demnach die
Auseinandersetzung mit Werken der Kunst, weil dies zu einer Erfahrung führt, die für uns
wertvoll ist, etwa da sie, je nach Theorie, besonders lustvoll, erhellend oder reichhaltig (oder
aber auch tief, subversiv, überraschend, verstörend usw.) ist.
Für eine philosophische Ästhetik, die sich auf diesen Spuren bewegt, besteht die
Herausforderung darin, den Begriff der ästhetischen Erfahrung in einer Weise zu bestimmen,
die erstens phänomenologisch nachvollziehbar ist, zweitens der Vielfalt ästhetischer
Phänomene Rechnung tragen kann und drittens die anvisierten kunstphilosophischen
Erklärungen ermöglicht. Welche Bestimmung ästhetischer Erfahrung dieser Herausforderung
am erfolgreichsten begegnet, ist umstritten. KandidatInnen für die Bestimmung der differentia
specifica ästhetischer Erfahrung sind etwa ein besonderes Gefühl, eine besondere Intensität der
Erfahrung, eine besondere Weise des sinnlichen Erscheinens ihrer Gegenstände, eine besondere
Dimension der aus ihr hervorgehenden Erkenntnis, ein besonderes Verhältnis von Sinnlichkeit
und Verstand, eine besondere Form ihres zeitlichen Verlaufs oder eine besondere Form der
Selbstbezüglichkeit.
Dieses kunsttheoretische Theater der Differenzen fand lange Zeit auf der Bühne eines geteilten
Konsenses darüber statt, dass sich ein spezifisches und einheitliches Phänomen ästhetischer
Erscheint in: Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse,
hg. v. S. Deines, J. Liptow und M. Seel, Berlin: Suhrkamp 2013, 7-37 2
Erfahrung theoretisch begreifen und kunstphilosophisch fruchtbar machen lässt. Diese basale
Annahme ist seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, insbesondere von Vertretern
der sogenannten ›analytischen Ästhetik‹, vor allem aus zwei Gründen in Zweifel gezogen
worden. Einerseits ist in Frage gestellt worden, ob es überhaupt so etwas wie ein einheitliches
und spezifisches Phänomen der ästhetischen Erfahrung gibt (a). Andererseits ist argumentiert
worden, dass dieses Phänomen, selbst wenn es aufgewiesen werden kann, nicht für eine
tragfähige Bestimmung von Kunst fruchtbar gemacht werden kann, da es ›anästhetische‹
Kunstwerke geben kann und tatsächlich gibt (b).
a) Zweifel an der Existenz ästhetischer Erfahrung als einer einheitlichen und spezifischen Form
von Erfahrung können aufkommen, wenn man die Vielzahl unterschiedlicher und einander
widerstreitender Bestimmungen betrachtet, die dieser Begriff erfahren hat. Es ist aber
insbesondere ein Blick auf die Vielfältigkeit der Gegenstände der ästhetischen Erfahrung, der
solche Zweifel bestärkt. Das wird bereits deutlich, wenn man sich auf den Bereich der Kunst
beschränkt und die Bereiche der Natur und der Gebrauchsgegenstände beiseite lässt. Bei so
unterschiedlichen Phänomenen wie Symphonien, Romanen, Gemälden oder Readymades
scheinen jeweils andere menschliche Vermögen angesprochen und gefordert zu sein: Während
das Musikstück möglicherweise eher Emotionen hervorruft, kann das abstrakte Bild eher unsere
Sinnlichkeit ansprechen und das Readymade vor allem unsere kognitiven Fähigkeiten anregen.
Angesichts der unüberschaubaren Pluralität an Materialien, Gattungen, Ausdrucksmitteln,
Themen und Traditionen in der Kunst (einmal ganz abgesehen von der Schönheit und
Erhabenheit der Natur) kann es hoffnungslos erscheinen, unsere Auseinandersetzung mit
Kunstwerken durch das Erleben ein und derselben besonderen Art von Erfahrung erklären zu
wollen. So hat George Dickie1 behauptet, bei den Phänomenen der ästhetischen Erfahrung oder
Einstellung handele es sich lediglich um »Mythen« bzw. »Phantome«, von denen die Theorie
der Kunst befreit werden sollte. Was Theorien ästhetischer Erfahrung als deren Merkmale zu
begreifen versuchten, seien tatsächlich Merkmale der Gegenstände, auf die wir bei der
Rezeption aufmerksam werden. Sollten diese Einwände sich als überzeugend erweisen, ist
damit gleichzeitig die systematische Rolle in Frage gestellt, die der Begriff der ästhetischen
Erfahrung im Rahmen einer philosophischen Ästhetik übernehmen kann. Lässt sich ästhetische
Erfahrung nicht als ein relevantes, spezifisches und einheitliches Phänomen bestimmen, kann
es auch zur Bestimmung der Sphäre des Ästhetischen, zur Definition von Kunst oder zur
1 George Dickie, »The Myth of the Aesthetic Attitude«, in: American Philosophical Quarterly 1 (1964), S. 55-
65, sowie ders., »Beardley’s Phantom Aesthetic Experience«, in: Journal of Philosophy 62 (1965), S. 129-136.
Erscheint in: Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse,
hg. v. S. Deines, J. Liptow und M. Seel, Berlin: Suhrkamp 2013, 7-37 3
Bestimmung des Wertes der Kunst als Ganzer sowie zu der Qualität einzelner Werke nichts
beitragen.
b) Aber selbst, wenn man zugesteht, dass sich möglicherweise eine bestimmte Form sinnlicher
Erfahrung als ästhetische Erfahrung auszeichnen lässt, die darüber hinaus oftmals eine wichtige
Rolle für unseren Umgang mit einzelnen Kunstwerken spielt, lässt sich immer noch bezweifeln,
dass wir es hier mit einem Aspekt zu tun haben, der für ein philosophisches Verständnis der
Kunst eine unverzichtbare Rolle spielt. So hat Arthur Danto mit Verweis auf Kunstwerke wie
Duchamps Readymades, Warhols Brillo Boxes oder Werke der Conceptual Art die These
vertreten, dass Kunstwerke nicht notwendigerweise ästhetische Objekte sind und der Begriff
der ästhetischen Erfahrung daher keinen grundlegenden Beitrag zu einem philosophischen
Verständnis von Kunst leisten kann.2
In jüngster Zeit aber haben Theorien der ästhetischen Erfahrung und Theorien der Kunst, die
den Begriff der ästhetischen Erfahrung ins Zentrum stellen, wieder Konjunktur. Eine Reihe
neuerer Vorschläge versucht, das Spezifische ästhetischer Erfahrung etwa über deren
besonderen phänomenalen Charakter, ihre besondere reflexive Struktur oder ihre besondere
Werthaftigkeit zu bestimmen und knüpft dabei an traditionelle Theorien der ästhetischen
Erfahrung an. Die philosophische Auseinandersetzung mit der ästhetischen Erfahrung ist heute
wieder in vollem Gang.
Ziel dieses Sammelbandes ist es, die aktuelle philosophische Debatte um ästhetische Erfahrung
in ihrer ganzen Komplexität zugänglich zu machen. Auf den folgenden Seiten werden wir
zunächst versuchen, einen Überblick über die wichtigsten theoretischen Optionen bei der
Bestimmung des Phänomens der ästhetischen Erfahrung und seiner Beziehung zum Phänomen
der Kunst zu geben. Wir werden dabei so verfahren, dass wir zunächst verschiedene Begriffe
der Erfahrung unterscheiden (1), uns der Frage zuwenden, wie sich ästhetische von anderen
Erfahrungen abgrenzen lassen (2) und dann auf die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und
(ästhetischer) Erfahrung eingehen (3). Wir schließen die Einleitung mit einem kurzen Überblick
über den Band.
1. Drei Begriffe der Erfahrung
Wenn von ästhetischer Erfahrung die Rede ist, wird oft davon ausgegangen, dass schon klar
sei, was eigentlich unter »Erfahrung« zu verstehen ist, und das Problem nur darin liege,
2 Arthur C. Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen, Frankfurt/M. 1991.
Erscheint in: Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse,
hg. v. S. Deines, J. Liptow und M. Seel, Berlin: Suhrkamp 2013, 7-37 4
ästhetische von anderer Erfahrung abzugrenzen. Doch dies ist nicht ohne Weiteres der Fall.
Unter »Erfahrung« kann man sehr Unterschiedliches verstehen und die Differenzen zwischen
verschiedenen Theorien ästhetischer Erfahrung liegen oftmals nicht erst in ihren Bestimmungen
des Ästhetischen, sondern bereits in ihren Bestimmungen von Erfahrung.3
Insbesondere dürfte hier – in der jeweiligen Konzeption von Erfahrung – ein charakteristischer
Unterschied zwischen der neueren ›kontinentalen‹ und der analytisch geprägten Ästhetik zu
liegen. Grob gesprochen, legt die analytisch geprägte Ästhetik einen Erfahrungsbegriff
zugrunde, der aus der Tradition des Empirismus stammt (und sich auch noch bei Kant findet).
Unter Erfahrung (»experience«) wird hier primär ein Aspekt der sinnlichen Wahrnehmung oder
eine auf der Wahrnehmung beruhende Erkenntnis gefasst. Genauer werden Erfahrungen in
dieser Tradition erstens als Episoden phänomenalen Bewusstseins begriffen, wie sie für die
sinnliche Wahrnehmung charakteristisch sind, aber auch außerhalb der sinnlichen
Wahrnehmung im engeren Sinn, etwa in Illusionen und Halluzinationen, oder auch außerhalb
der sinnlichen Wahrnehmung im weiteren Sinn in Akten der Einbildungskraft oder des
Vorstellungsvermögens vorkommen können. Zweitens werden sie verstanden als epistemische
Akte der unmittelbaren Erkenntnis, dass etwas der Fall ist, wie sie paradigmatisch in
Wahrnehmungsurteilen vorliegen. Wir werden im ersten Fall von einem
»phänomenologischen« und im zweiten von einem »epistemischen« Begriff der Erfahrung
sprechen.
Die neuere ›kontinentale‹ Ästhetik knüpft stattdessen eher an den von Hegel geprägten, sehr
viel reichhaltigeren Begriff der Erfahrung an, dem zufolge Erfahrungen zunächst einmal auf
eine bestimmte Weise bedeutsame Ereignisse oder Widerfahrnisse des menschlichen Daseins
sind. Einflussreich war hier für die deutschsprachige Philosophie vor allem Gadamers
Bestimmung der »hermeneutischen Erfahrung« in Wahrheit und Methode, die eine auf Hegel
zurückgehende Analyse des Erfahrungsbegriffs lieferte, mit dem erklärten Ziel, die
Verkürzungen einer auf das Verständnis von (naturwissenschaftlicher) Erkenntnis
zugeschnittenen Konzeption von Erfahrung zu vermeiden.4 Im Rahmen der anglophonen
Philosophie wurde ein reichhaltiges Verständnis von Erfahrung dieser Art vor allem von John
3 Dass man unserem philosophischen Vorverständnis von »Erfahrung« nicht vorschnell vertrauen sollte, hat
bereits Gadamer betont: »Der Begriff der Erfahrung scheint mir – so paradox es klingt – zu den
unaufgeklärtesten Begriffen zu gehören, die wir besitzen.« Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode.
Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 6. Aufl., Tübingen 1990, S. 352. 4 Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 352ff.
Erscheint in: Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse,
hg. v. S. Deines, J. Liptow und M. Seel, Berlin: Suhrkamp 2013, 7-37 5
Dewey in seinem Buch Kunst als Erfahrung entwickelt.5 Wir werden hier von einem
»existenziellen« Erfahrungsbegriff sprechen.
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Wir haben es hier nicht nur mit drei
unterschiedlichen Konzeptionen ein und desselben Phänomens zu tun, sondern mit durchaus
unterschiedlichen Phänomenen. Phänomenale, epistemische und existenzielle Erfahrungen sind
drei Arten von Erfahrungen, von denen es jeweils unterschiedliche philosophische
Konzeptionen gibt. (Das schließt nicht aus, dass sich diese Arten überschneiden und ein
einzelner Akt sowohl eine phänomenale als auch eine epistemische Erfahrung sein kann). Eine
explizite Unterscheidung dieser drei Begriffe oder Arten der Erfahrung kann daher nicht nur
helfen, begriffliche Verwirrungen zu vermeiden, sondern auch dazu beitragen, die theoretischen
Optionen auseinanderzuhalten, die für eine Bestimmung ästhetischer Erfahrung zur Verfügung
stehen. Wir möchten daher unsere Darstellung der theoretischen Optionen des Zusammenhangs
von Kunst und Erfahrung damit beginnen, diese drei Begriffe etwas genauer unter die Lupe zu
nehmen.
a) Der phänomenologische Begriff der Erfahrung – Eine erste vor allem in der Philosophie der
Wahrnehmung prominente Verwendung des Ausdrucks »Erfahrung« (»experience«) versteht
hierunter einfach Episoden phänomenalen Bewusstseins, wie sie paradigmatisch in der
sinnlichen Wahrnehmung vorkommen. Es handelt sich um Zustände6 eines Subjekts, die von
dem Subjekt in einer bestimmten Weise empfunden werden und für die sich daher Thomas
Nagels berühmte Frage, »wie es ist«, sich in ihnen zu befinden, zumindest sinnvoll stellen
lässt.7 Die alltägliche Verwendung des Wortes »Erfahrung« sträubt sich (anders als die
alltägliche Verwendung des Wortes »experience«) ein wenig dagegen, das Erlebnis, das wir
normalerweise beim Sehen einer roten Farbfläche haben, als »Roterfahrung« zu bezeichnen
(»Erlebnis« oder »Empfindung« klingen hier angemessener), aber im philosophischen Jargon
hat diese Wendung inzwischen einen festen Platz. Das phänomenale Bewusstsein ist nicht nur
ein wesentlicher Aspekt der sinnlichen Wahrnehmung (oder der Wahrnehmungstäuschung). Es
ist umstritten, ob das Erleben von Schmerz oder Lust als eine Form der sinnlichen
5 Vgl. John Dewey, Kunst als Erfahrung, 6. Aufl., Frankfurt/M. 2010, v.a. Kap. 3. Zum Zusammenhang der
Erfahrungsbegriffe von Dewey und Gadamer vgl. John C. Gilmour, »Dewey and Gadamer on the Ontology of
Art«, in: Man and World 20 (1987), S. 205-219, und Thomas M. Jeannot, »A Propaedeutic to the Philosophical
Hermeneutics of John Dewey: ›Art As Experience‹ and ›Truth and Method‹«, in: Journal of Speculative
Philosophy 15 (2001), S. 1-13. 6 »Zustand« hier in dem in der gegenwärtigen Philosophie des Geistes üblichen weitesten Sinn, der nicht
impliziert, dass es sich bei Zuständen um etwas Statisches handelt, sondern auch Prozesse und Ereignisse mit
einschließt. 7 Vgl. Thomas Nagel, »Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?«, in: Peter Bieri (Hg.), Analytische Philosophie des
Geistes, Königstein/Ts. 1981, S. 261-275.
Erscheint in: Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse,
hg. v. S. Deines, J. Liptow und M. Seel, Berlin: Suhrkamp 2013, 7-37 6
Wahrnehmung verstanden werden sollte, aber es ist nicht umstritten, dass wir es hier mit einer
– sogar mit einer paradigmatischen – Form phänomenalen Bewusstseins und damit von
Erfahrung in diesem Sinn zu tun haben. Und nicht nur Körperempfindungen, auch Emotionen
und Stimmungen sind phänomenal bewusst, ebenso wie Träume, das visuelle Imaginieren von
Szenen, wie es unsere Lektüre von Romanen begleitet, oder die auditive Vorstellung von
sprachlichen Lauten, wie sie einen Großteil unseres bewussten Denkens ausmacht. Erfahrungen
als Episoden des phänomenalen und damit paradigmatisch auch des sinnlichen Bewusstseins
zu bestimmen, kommt der Ästhetik insofern entgegen, als sie traditionellerweise von einer
engen Bindung der Kunst an die Sinnlichkeit (im weiten Sinn, der auch die Imagination mit
einschließt) ausgeht.8 Gegenüber dem Begriff der sinnlichen Wahrnehmung ist der des
phänomenalen Bewusstseins aber in einer entscheidenden Hinsicht ärmer: Das phänomenale
Bewusstsein entbehrt als solches jeder kognitiven oder epistemischen Komponente. Im
sinnlichen Erleben als solchem wird nicht nur nichts geglaubt oder erkannt, es scheint als
solches überhaupt keinen Bezug zu unserer Erkenntnisfähigkeit zu unterhalten. Immerhin
haben wir keine Schwierigkeit, auch solche Lebewesen als mit phänomenalem Bewusstsein –
Empfindungsfähigkeit – ausgestattet zu begreifen, denen wir Erkenntnisfähigkeit nicht
zutrauen. Eine Theorie der ästhetischen Erfahrung, die diese als eine besondere Form des
sinnlichen Erlebens bestimmte, würde sich daher der Kritik ausgesetzt sehen, die Nelson
Goodman im fulminanten Schlusskapitel von Languages of Art gegen »gefühlsästhetische«
Positionen vorgebracht hat.9 Goodmans Gedanke, dass es in der Kunst wie in der Wissenschaft
um Erkenntnis geht, kann eine Theorie der ästhetischen Erfahrung dazu motivieren,
Erfahrungen von vornherein nicht als phänomenal bewusste Zustände, sondern als epistemische
Akte einer besonderen Art zu begreifen.
b) Der epistemische Begriff der Erfahrung – Man kann als »Erfahrungen« schlicht bestimmte
Akte des Wissenserwerbs bezeichnen. Im einfachsten Fall sind Erfahrungen in diesem Sinn
Akte der Wahrnehmung, dass etwas der Fall ist. Man macht in diesem Sinn von »Erfahrung«
die Erfahrung, dass es regnet, wenn man sieht oder hört oder spürt, dass es regnet. Man macht
die Erfahrung, dass das Bild kraftvoll oder der Roman hintergründig ist, wenn man sieht oder
hört oder auf einem anderen Weg wahrnimmt, dass dies der Fall ist. Wie im Fall des
phänomenologischen Begriffs der Erfahrung stellt die sinnliche Wahrnehmung zwar den
8 Welche Ansätze der Tradition diese Bindung tatsächlich unterschreiben, lässt sich diskutieren. James Shelley
macht in seinem Beitrag zu diesem Band darauf aufmerksam, dass zumindest Francis Hutchesons Verständnis
des Ästhetischen dieses nicht als einen Teilbereich des Sinnlichen fasst. 9 Vgl. Nelson Goodman, Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt/M. 1995, insb. S. 226-
232.
Erscheint in: Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse,
hg. v. S. Deines, J. Liptow und M. Seel, Berlin: Suhrkamp 2013, 7-37 7
paradigmatischen Fall von epistemischer Erfahrung dar, fällt aber nicht zwingend damit
zusammen. Was eine Erkenntnis zu einer epistemischen Erfahrung macht, ist primär eine
besondere ›Direktheit‹ oder ›Unmittelbarkeit‹, wie sie auch der Wahrnehmungserkenntnis
eigen ist. In der neueren Erkenntnistheorie wird diese ›Direktheit‹ oder ›Unmittelbarkeit‹
oftmals nicht mit Bezug auf unsere Sinnlichkeit bestimmt, sondern durch den Kontrast mit
Formen des Wissenserwerbs, die sich einer Schlussfolgerung verdanken. Kennzeichnend für
eine Erfahrung im epistemischen Sinn wäre dann das Merkmal, dass in einer Erfahrung Wissen
auf eine nicht-inferenzielle Weise und das heißt zumeist: ohne die Vermittlung eines bewussten
psychologischen Vorgangs des Schlussfolgerns erworben wird. Zu beachten ist dabei, dass
man, wenn man Erfahrungen epistemisch als nicht-inferenzielle Erkenntnisse begreift, den
Begriff der Erfahrung von dem der Sinnlichkeit und damit von dem des phänomenalen
Bewusstseins ablöst und Spielraum für den Gedanken schafft, dass es epistemische
Erfahrungen geben kann, die nicht zugleich phänomenale Erfahrungen sind.10 Die
Unterscheidung zwischen einem phänomenologischen und einem epistemischen Begriff der
Erfahrung sollte aber nicht vergessen machen, dass der paradigmatische Fall der sinnlichen
Wahrnehmung unter beide Begriffe fällt. Eine Episode sinnlicher Wahrnehmung beinhaltet
sowohl eine Episode phänomenalen Bewusstseins als auch den Erwerb von
Wahrnehmungswissen.
c) Der existenzielle Begriff der Erfahrung – Als paradigmatisch für die reicheren Konzeptionen
der Erfahrung, die die kontinentale Ästhetik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
bestimmen, kann Gadamers Konzeption der Erfahrung in Wahrheit und Methode gelten.
Gadamer grenzt seine Konzeption von Erfahrung ausdrücklich gegen jene ab, die wir
»epistemisch« genannt haben, da ihr zufolge Erfahrungen primär Akte des Erwerbs von
(wahren) Überzeugungen darstellen. Gadamer zufolge vernachlässigt eine auf das, was er den
»teleologischen Aspekt« der Erfahrung nennt, also auf Erkenntnis oder den Erwerb von wahren
Überzeugungen zugeschnittene Konzeption der Erfahrung wesentliche Elemente der
alltäglichen Erfahrung. Die »Erfahrung, die man ›macht‹« ist für Gadamer, im Gegensatz zu
»den Erfahrungen, die sich unser Erwartung einordnen und sie bestätigen«, die »eigentliche
Erfahrung« und »ist immer eine negative«: »Wenn wir an einem Gegenstand eine Erfahrung
machen, so heißt das, daß wir die Dinge bisher nicht richtig gesehen haben und nun besser
10 So ist es zum Beispiel naheliegend anzunehmen, dass der Erwerb von Wissen durch Hörensagen eine nicht-
inferenzielle Form des Wissenserwerbs darstellt. Nun sind Episoden des Wissenserwerbs durch Hörensagen
zwar phänomenal bewusst, aber der phänomenale Gehalt der Episoden des Wahrnehmens von sprachlichen
Ausdrücken mit einer bestimmten Bedeutung hat nichts mit dem Gehalt der Erkenntnis zu tun, die wir auf
diese Weise erwerben.
Erscheint in: Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse,
hg. v. S. Deines, J. Liptow und M. Seel, Berlin: Suhrkamp 2013, 7-37 8
wissen, wie es damit steht.«11 Die Negation, die in der Erfahrung liegt, bezeichnet Gadamer mit
Hegel als eine bestimmte Negation, insofern in ihr ein bestimmter Gehalt, etwas, das man zu
wissen glaubt, negiert wird. In einer Erfahrung liegt daher implizit immer auch schon ein Bezug
auf weitere Erfahrungen, denen sie standhalten oder durch die sie widerlegt werden kann. Diese
Skizze des für unsere Zwecke zentralen Aspekts von Gadamers Analyse des Erfahrungsbegriffs
verdeutlicht, worum es bei dem Begriff der existenziellen Erfahrung geht.12 Erfahrung mündet
hier nicht allein in den Erwerb von Wissen, sie ist nicht nur ein kognitiver Akt. Ein solcher Akt
kann lediglich ein Bestandteil der existenziellen Erfahrung sein, denn eine existentielle
Erfahrung machen wir nur dann, wenn ihr Prozess für uns eine bestimmte lebensweltliche
Bedeutsamkeit gewinnt. Durch sie verändern sich die Relevanzen des Denkens und Handelns.
Deweys Erfahrungstheorie enthält zudem den Hinweis, dass die Bedeutsamkeit existenzieller
Erfahrungen sich in ihrem affektiven oder allgemeiner phänomenalen Aspekt sowie in ihrer
Einheit oder Abgeschlossenheit spiegelt, durch die sie aus dem Strom unseres bewussten
Lebens herausragen.13
Eine Unterscheidung verschiedener Arten von Erfahrungen wirft die Frage nach deren
Zusammenhang auf. Eine nahe liegende Antwort lautet, dass Erfahrungen Arten des kognitiven
Zugangs zur Welt und zu uns selbst darstellen. An diesem Gedanken partizipiert auch der
Begriff der phänomenalen Erfahrung, insofern als phänomenale Erfahrungen zwar selbst keine
kognitiven Akte sind, aber eine bestimmte Form kognitiven Weltzugangs ermöglichen. Auch
der Begriff der existenziellen Erfahrung stellt häufig einen kognitiven Akt ins Zentrum. Auch
diese Erfahrungen lassen sich häufig dadurch zum Ausdruck bringen, dass wir die Erfahrung
gemacht haben, dass es sich mit der Welt oder uns selbst auf eine bestimmte Weise verhält.
Existenzielle Erfahrungen allerdings erschöpfen sich nicht im Wissenserwerb. Konzeptionen
existenzieller Erfahrung begreifen den kognitiven Akt meist lediglich als einen Aspekt einer
Erfahrung, die weitere Aspekte – etwa die Veränderung weitreichender theoretischer wie
11 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 359. 12 Gadamer entwickelt den Begriff der Erfahrung noch weiter: »Die Dialektik der Erfahrung hat ihre eigene
Vollendung nicht in einem abschließenden Wissen, sondern in jener Offenheit für Erfahrung, die durch die
Erfahrung selbst freigespielt wird« (Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 361). Diese meinen wir, wenn wir
jemanden als »erfahren« bezeichnen. 13 Den Kunstwerk-Abhandlungen Heideggers und Benjamins wird der Kunst und ihrer Erfahrung darüber hinaus
eine zentrale Funktion der historischen und kulturellen »Welterschließung« zugesprochen. Walter Benjamin,
»Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. I.2,
Frankfurt/M. 1991, S. 471-508, Martin Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, in: ders., Holzwege,
Frankfurt/M. 1994, S. 1-74.
Erscheint in: Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse,
hg. v. S. Deines, J. Liptow und M. Seel, Berlin: Suhrkamp 2013, 7-37 9
praktischer Einstellungen und der mit ihnen verbundenen affektiven Dispositionen – beinhaltet
und insgesamt in einem Zusammenspiel dieser Aspekte besteht.14
Im Rahmen dieser Einleitung können wir die Frage nach dem Zusammenhang dieser
verschiedenen Arten von Erfahrungen nicht weiter verfolgen. Es seien aber immerhin einige
ihrer Gemeinsamkeiten benannt. So gilt erstens, dass alle Erfahrungen ihrem Wesen nach
zeitlich sind. Es handelt sich um (mentale oder lebensweltliche) Ereignisse, Episoden oder Akte.
Zweitens können Erfahrungen im Allgemeinen so beschrieben werden, dass sie einen
Gegenstand und einen Inhalt haben: Wenn wir eine Erfahrung machen, begegnet uns etwas auf
eine bestimmte Art und Weise. Das, was uns in der Erfahrung begegnet, kann man den
Gegenstand der Erfahrung nennen – sei dies nun ein Farbfleck, ein Kunstwerk oder eine
lebensweltliche Situation oder die Art und Weise, auf die uns dergleichen in der Erfahrung
begegnet. Der Inhalt einer Erfahrung kann einfach die besondere Art sein, wie uns ein
Gegenstand oder Sachverhalt in der Wahrnehmung phänomenal erscheint, er kann aber auch,
im Fall der epistemischen Erfahrung, eine begriffliche Charakterisierung des Gegenstands oder,
im Fall existenzieller Erfahrungen, eine komplexe Sichtweise des Gegenstands und der
Einstellung ihm gegenüber beinhalten.
2. Wann ist eine Erfahrung ästhetisch?
Im letzten Abschnitt haben wir drei verschiedene Begriffe von Erfahrung unterschieden, deren
Differenz, so hatten wir gesagt, oft untergründig für einige der Differenzen im Feld der
Theorien ästhetischer Erfahrung verantwortlich ist. Jetzt wollen wir uns der Frage widmen, wie
sich die ästhetische Art der Erfahrung von anderen Arten der Erfahrung unterscheidet. Wir
wollen einige der zentralen Weisen vorstellen, in denen diese Frage beantwortet werden kann.
a) Ästhetische Qualität der Erfahrung – Es ist immer wieder behauptet worden, dass sich
ästhetische Erfahrungen von anderen Arten von Erfahrungen dadurch unterscheiden, dass sie
mit einem spezifischen Gefühl, einer spezifischen Emotion oder auch in einer spezifischen
Modifikation unseres Fühlens oder Empfindens, oder wie wir allgemein sagen werden: einer
spezifischen Qualität verbunden sind. Kandidaten für die ästhetische Qualität aus der Tradition
der Ästhetik sind eine bestimmte Form der Liebe (Edmund Burke), ein interesseloses
Wohlgefallen (Immanuel Kant), eine besondere ästhetische Emotion (Clive Bell), oder eine
14 Philosophen wie Dewey und Gadamer, die einen existenziellen Erfahrungsbegriff ins Zentrum ihrer
Überlegungen stellen, haben behauptet, dass epistemische Erfahrungen eine defizitäre Form von existenziellen
Erfahrungen darstellen.
Erscheint in: Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse,
hg. v. S. Deines, J. Liptow und M. Seel, Berlin: Suhrkamp 2013, 7-37 10
bestimmte Intensität des Erlebens (Monroe C. Beardsley, Hans Ulrich Gumbrecht).15 Jedoch
kann eine philosophische Bestimmung ästhetischer Erfahrung nicht einfach in der These
bestehen, dass ästhetisch genau die Erfahrungen seien, die eine bestimmte Qualität haben. Im
Rahmen einer ästhetischen Theorie muss vielmehr ausgeführt werden, wie die ästhetische
Qualität mit den einzelnen Momenten der ästhetischen Erfahrung zusammenhängt, wie
insbesondere Gegenstand und Inhalt einer Erfahrung beschaffen sein müssen, damit diese eine
ästhetische Qualität gewinnt, und welche Rolle die ästhetische Qualität von Erfahrungen für
unseren mentalen Haushalt und damit eventuell für unsere Lebensführung insgesamt spielt.
b) Ästhetischer Inhalt der Erfahrung – Eine zweite Möglichkeit, das Spezifische ästhetischer
Erfahrung zu bestimmen, besteht darin, diesen eine besondere Art von Inhalt (in dem weiten
Sinn, den wir oben besprochen haben) zuzuschreiben. Wenn es sich um eine Erfahrung im
phänomenologischen Sinn handelt, dann könnte das Ästhetische einer Erfahrung in einer
besonderen Weise des phänomenalen Gegebenseins bestehen. In der ästhetischen Tradition ist
immer wieder der Begriff der Harmonie bemüht worden, um das besondere sinnliche
Erscheinen von Gegenständen, das ästhetische Erfahrungen kennzeichnet, zu bestimmen. Wenn
es sich um eine epistemische Erfahrung handelt, dann könnten wir es mit einer ästhetischen
Erfahrung genau dann zu tun haben, wenn diese einen bestimmten kognitiven Inhalt besitzt. In
diesem Sinn hat in den letzten Jahren Noël Carroll den Vorschlag ausgearbeitet, ästhetische
Erfahrungen seien dadurch gekennzeichnet, dass sie ästhetische Eigenschaften zum Inhalt
haben.16
c) Ästhetische Form der Erfahrung – Eine dritte Möglichkeit, ästhetische Erfahrungen von
anderen zu unterscheiden, liegt dann vor, wenn diese von vornherein als in bestimmten
Hinsichten komplex begriffen werden. Die fragliche Komplexität kann etwa eine Komplexität
des Gehalts sein, die auch im Fall phänomenaler Erfahrungen gegeben sein kann. Ästhetische
Erfahrungen könnten dann dadurch ausgezeichnet werden, dass uns in ihnen die Gegenstände
in einer räumlichen und zeitlichen Gestalt erscheinen, die durch bestimmte Merkmale
gekennzeichnet ist, etwa in einer »signifikanten« und »komplexen Form«, wie es bei Clive Bell
heißt.17 Vor allem der Begriff der existenziellen Erfahrung eignet sich aber als Ausgangspunkt
für eine Bestimmung des Ästhetischen durch die Form der Erfahrung. Eine existenzielle
15 Edmund Burke, Philosophische Untersuchung über unsere Ideen vom Erhabenen und Schönen, Hamburg
1989, S. 127; Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, § 2; Monroe C. Beardsley, Aesthetics. Problems in the
Philosophy of Criticism, New York 1958, S. 527f.; Hans Ulrich Gumbrecht, »Epiphanien«, in: Joachim
Küpper, Christoph Menke (Hg.), Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt/M. 2003, S. 203-222. 16 Noël Carroll, »Aesthetic Experience. A Question of Content«, in: Matthew Kieran (Hg.), Contemporary
Debates in Aesthetics and the Philosophy of Art, Malden 2006, S. 69-97. 17 Clive Bell, Art, Oxford 1987.
Erscheint in: Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse,
hg. v. S. Deines, J. Liptow und M. Seel, Berlin: Suhrkamp 2013, 7-37 11
Erfahrung kann eine Konstellation von Erlebnissen, kognitiven Einstellungen und Akten,
Hintergrundwissen, Wahrnehmungen, Gefühlen oder Handlungen sein. Diese sind nicht bloß
am Zustandekommen der Erfahrung beteiligt, sie machen in ihrer Gesamtheit die Erfahrung aus.
Wir können das so ausdrücken, dass existenzielle Erfahrungen komplex konstituiert sind. Hier
liegt es besonders nahe, das Ästhetische von Erfahrungen durch eine bestimmte Gestalt oder
Ordnung oder ein bestimmtes Zusammenspiel ihrer Teile, eben durch eine spezifische Form der
Erfahrung zu erläutern.
Auch wenn man dieses Schema so versteht, dass die einzelnen Hinsichten einander nicht
ausschließen,18 lassen sich nicht alle Theorien der ästhetischen Erfahrung umstandslos mit
seiner Hilfe klassifizieren. Das liegt unter anderem daran, dass Theorien ästhetischer Erfahrung
diese nicht immer durch ein Merkmal auszeichnen, dass den einzelnen Erfahrungen als solchen
zukommt, sondern durch deren Zusammenhang mit anderem. Nicht selten wird die ästhetische
Erfahrung durch besondere Konstellationen bestimmt, die sich aus einem Verhältnis ihres
Vollzugs zu bestimmten Vorbedingungen oder Konsequenzen und seiner Differenz zu anderen
Phänomenen ergeben. Wir können das abstrakter auch so formulieren, dass das Ästhetische
einer ästhetischen Erfahrung von einigen Theorien als ein intrinsisches Merkmal dieser
Erfahrung, von anderen hingegen als ein relationales Merkmal begriffen wird.
Im Hinblick auf die existierenden Positionen ist es jedoch nicht immer ganz leicht zu
entscheiden, wo genau hier die Trennlinie verläuft. So kann man sich, um ein Beispiel zu
nennen, im Hinblick auf Kants Ästhetik trefflich darüber streiten, welche der berühmten
Charakterisierungen aus der Analytik des Schönen als intrinsische Bestimmungen der
ästhetischen Erfahrung fungieren und welche als relationale.19 Dass die Erfahrung des Schönen
nach Kant in einer besonderen Form der Lust besteht, ist unumstritten. Aber wie sieht es mit
den weiteren Bestimmungen aus: mit der Belebung der Erkenntniskräfte, ihrem freien Spiel,
ihrem harmonischen Zusammenstimmen, dem Bewusstsein der Allgemeinheit und
Mitteilbarkeit dieses Gemütszustands etc. – sind dies allesamt interne Elemente des Gefallens
an schönen Gegenständen? Oder sind einige dieser Aspekte als Vorbedingungen und andere als
Konsequenzen einer Erfahrung zu beschreiben, deren entscheidendes Charakteristikum von
einem dieser Aspekte erfasst wird?
18 Bei Hegel beispielsweise sind die Begriffe des künstlerischen Gehalts und der künstlerischen Gestalt aufs
Engste gekoppelt, da die »klassische Kunstform« durch eine Integration beider Dimensionen gekennzeichnet
ist, während die »symbolische« und die »romantische« Kunstform dieses Optimum einerseits unter-,
andererseits überschreiten. 19 Für eine erfahrungstheoretische Aktualisierung der Ästhetik Kants vgl. Rüdiger Bubner, Ästhetische
Erfahrung, Frankfurt/M. 1989.
Erscheint in: Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse,
hg. v. S. Deines, J. Liptow und M. Seel, Berlin: Suhrkamp 2013, 7-37 12
Die Frage, ob es sich um eine intrinsische oder eine relationale Bestimmung handelt, betrifft
auch die Bestimmung der Interesselosigkeit als eines oft genannten Merkmals der ästhetischen
Erfahrung. Während man einerseits argumentieren kann, dass die Interesselosigkeit als ein
intrinsisches Merkmal der ästhetischen Erfahrung begriffen werden sollte – es handelt sich bei
ihr schlicht um ein Wohlgefallen ohne Begehren – sind solche Theorien, die eine spezifisch
ästhetische Einstellung postulieren, dadurch gekennzeichnet, dass sie die Interesselosigkeit
eher als eine externe Bedingung begreifen. Wenn wir eine gewisse Haltung gegenüber Objekten
einnehmen, die ein begrifflich bestimmendes oder praktisch realisierendes Verhalten gegenüber
diesen Gegenständen ausschließt, dann sind wir in der Lage, ästhetische Erfahrungen mit diesen
Objekten zu machen. Interesselosigkeit wird hier also nicht als ein Merkmal der Erfahrung
beschrieben, sondern lediglich als eine Bedingung ihrer Möglichkeit.20
An dieser Stelle ist zudem daran zu erinnern, dass der Begriff der ästhetischen Erfahrung in der
Ästhetik von einer Vielzahl verwandter Begriffe gleichsam umstellt ist: Neben der ästhetischen
Einstellung und der ästhetischen Emotion, die wir schon erwähnt haben, finden sich etwa die
ästhetische Wahrnehmung, die ästhetischen Eigenschaften und das ästhetische Urteil. Die
Verhältnisse zwischen diesen Begriffen sind komplex und fallen in unterschiedlichen Theorien
sehr unterschiedlich aus. Die Unterscheidung zwischen intrinsischen und relationalen
Bestimmungen ästhetischer Erfahrung kann bei der Sondierung dieses theoretischen Feldes
hilfreich sein. Mit Blick auf die Frage, was eine ästhetische Erfahrung zu einer spezifisch
ästhetischen macht, ist insbesondere von Interesse, ob und inwieweit die mit den benannten
Begriffen bezeichneten Phänomene als Elemente und Aspekte der Erfahrung selbst fungieren
oder fungieren können. In dieser Hinsicht macht es einen Unterschied, ob etwa die ästhetische
Wahrnehmung lediglich eine Vorbedingung oder eine Vorstufe der ästhetischen Erfahrung
darstellt, oder ob sie selbst ein Teil dieser Erfahrung ist; oder ob das ästhetische Urteil etwas
ist, was sich auf eine bereits unabhängig vollzogene Erfahrung bezieht, oder ob das Urteilen
zur internen Struktur der Erfahrung selbst gehört.
Nicht alle Theorien ästhetischer Erfahrung fassen diese aber als ein einheitliches Phänomen.
Dies liegt an der Unterschiedlichkeit der Typen von Erfahrung, für die ziemlich unumstritten
ist, dass es sich bei ihnen allen um paradigmatische Fälle von ästhetischer Erfahrung handelt.
Hierzu zählen sowohl einige Formen der Naturerfahrung wie die Erfahrung von Kunstwerken
20 Vgl. Edward Bullough, »Psychical Distance as a Factor in Art and an Aesthetic Principle«, in: British Journal
of Psychology 5 (1912), S. 87-118, Jerome Stolnitz, »On the Origins of Aesthetic Disinterestedness«, in:
Journal of Aesthetics and Art Criticism 20 (1961), S. 131-143, Jerrold Levinson, in diesem Band, ###, sowie
zur Kritik am Konzept der ästhetischen Einstellung Georges Dickie, »The Myth of Aesthetic Attitude«, S. 55-
65.
Erscheint in: Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse,
hg. v. S. Deines, J. Liptow und M. Seel, Berlin: Suhrkamp 2013, 7-37 13
verschiedener Gattungen und Epochen. Diese Formen der Erfahrung weisen erhebliche
Unterschiede auf. Die Herausforderung für eine Theorie ästhetischer Erfahrung besteht daher
immer auch darin, eine Bestimmung anzubieten, die einerseits für alle paradigmatischen Fälle
gilt und die andererseits das Charakteristische der jeweils einzelnen Fälle zu erfassen in der
Lage ist.
Manche Autoren ziehen hieraus die Konsequenz, dass diesen Anforderungen nicht gleichzeitig
entsprochen werden kann. Dies würde bedeuten, dass es keine einheitliche Theorie ästhetischer
Erfahrung geben kann, die eine Bestimmung liefert, die für die verschiedenen paradigmatischen
Fälle gleichermaßen zutreffend ist, ohne allzu abstrakt oder gänzlich leer zu werden. Solche
Theorien setzen auf eine pluralistische Erläuterung ästhetischer Erfahrung. Sie sind der
Meinung, dass wir, um die verschiedenen Arten ästhetischer Erfahrung angemessen zu
beschreiben und zu erfassen, verschiedene theoretische Bestimmungen brauchen.
Man kann die vielfältigen Überlegungen zum Verhältnis von Schönem und Erhabenem ab dem
18. Jahrhundert als Ausdruck einer solchen Pluralisierung der ästhetischen Theorie begreifen.21
Mit den Phänomenen erhabener Naturerfahrung fand man sich mit einer Klasse von
Erfahrungen konfrontiert, die klarerweise zu den ästhetischen Erfahrungen zu rechnen waren,
die sich aber mit den damals üblichen am Schönen gewonnen Bestimmungen nicht angemessen
fassen ließen. Die Reaktion war ein Pluralismus: Viele Theorien des Ästhetischen umfassten
sowohl eine Theorie des Schönen als auch eine Theorie des Erhabenen. Auch wenn das Schöne
und das Erhabene jeweils so beschrieben wurden, dass sie einige Eigenschaften teilen, aufgrund
deren sie auch beide zur Gattung des Ästhetischen zu zählen sind, so wäre eine ästhetische
Theorie, die sich nur auf die geteilten Eigenschaften beziehen würde, möglicherweise zu
allgemein, um die fraglichen Phänomene angemessen zu begreifen.
Einige der neueren pluralistisch ausgerichteten Theorien ästhetischer Erfahrung sind aber von
der Anlage noch weit offener als die erwähnten Theorien des Schönen und Erhabenen. Sie
gehen nicht nur von zwei verschiedenen Formen ästhetischer Erfahrung aus, sondern davon,
dass wir in der Natur und angesichts der verschiedenen Künste deutlich unterschiedliche
Erfahrungen machen können. Angesichts dieser Vielfalt kann das Verfahren nun nicht darin
bestehen, additiv immer weitere spezifische und konkrete Bestimmungen unterschiedlicher
Erfahrungen aneinanderzureihen, sondern es besteht gleichsam in einer Flexibilisierung des
21 Vgl. hierzu etwa Burke, Philosophische Untersuchung über unsere Ideen vom Erhabenen und Schönen; Kant,
Kritik der Urteilskraft, §§ 23-29; sowie Friedrich Schiller, »Vom Erhabenen« und »Über das Erhabene«, in:
ders., Sämtliche Werke. Bd. 5, München 1993, S. 489-512 und 792-808, für die jüngere Diskussion vgl. z. B.
Albrecht Wellmer, »Adorno, die Moderne und das Erhabene«, in: ders., Endspiele. Die unversöhnliche
Moderne, Frankfurt/M. 1993, S. 178-203.
Erscheint in: Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse,
hg. v. S. Deines, J. Liptow und M. Seel, Berlin: Suhrkamp 2013, 7-37 14
theoretischen Instrumentariums. Dies geschieht etwa wenn Monroe Beardsley, an Goodman
geschult, eine Reihe von ›Symptomen‹ ästhetischer Erfahrung formuliert.22
3. Das Verhältnis von Kunst und Erfahrung
Die bisherige Durchsicht hat immer wieder das Verhältnis von Kunst und ästhetischer
Erfahrung berührt. Sie hat aber noch nicht die systematische Frage behandelt, die im Zentrum
der in diesem Band versammelten kontroversen Positionen steht – die Frage nämlich, welche
Bedeutung dem Begriff der ästhetischen Erfahrung bei der Klärung des Status von
Kunstwerken zukommen kann. Kommt ihm hierbei überhaupt eine tragende Rolle zu? Und falls
ja, worin ist dieser Beitrag zu sehen? Die theoretischen Möglichkeiten, die sich hier eröffnen,
wollen wir nun in einer erneut vereinfachten Form vorstellen. Zunächst skizzieren wir
unterschiedliche Versuche, die den Begriff der Kunst unter Rückgriff auf den Begriff der
ästhetischen Erfahrung zu definieren.23 Anschließend wenden wir uns der Frage zu, inwiefern
der Bezug auf ästhetische Erfahrung für eine Analyse der Praxis der Beurteilung von
Kunstwerken grundlegend ist.
3.1. Ästhetische Erfahrung und der Begriff der Kunst
Die engste Verknüpfung der Begriffe der Kunst und der Erfahrung stellen Theorien her, denen
zufolge es möglich ist, den Begriff der Kunst unter Rückgriff auf den der ästhetischen
Erfahrung zu bestimmen (und die daher im englischen Sprachraum auch als »aesthetic theories
of art« bezeichnet werden). Kunstobjekte werden in diesen Ansätzen über ihr Potential
bestimmt, beim Rezipienten eine ästhetische Erfahrung hervorzurufen.24 Im strengstmöglichen
Fall würde das Vorliegen einer ästhetische Erfahrung dabei als notwendige und hinreichende
Bedingung für den Kunststatus eines Objekts fungieren: Alle und ausschließlich Objekte der
Kunst, hieße das, geben Anlass zu einer ästhetischen Erfahrung. Diese Theorien der Kunst
22 Monroe C. Beardsley, »In Defense of Aesthetic Value«, in: Proceedings and Addresses of the American
Philosophical Association 52 (1979), S. 723-749; vgl. auch Richard Shusterman, »Auf der Suche nach der
ästhetischen Erfahrung. Von der Analyse zum Eros«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 54 (2006), S. 2-
20. 23 Diese Form der Darstellung soll allerdings kein Präjudiz darüber enthalten, ob der Versuch, den Status von
Kunstwerken durch die Angabe notwendiger und zusammen hinreichender Bedingungen aufzuklären, ein
aussichtsreiches Unterfangen darstellt. Diese Frage ist in der Debatte, die wir im Folgenden kommentieren,
(wie auch in anderen Bereichen der Philosophie) ihrerseits umstritten. 24 Bei diesem Ansatz handelt es sich um die Variante einer sogenannten funktionalistischen Definition der Kunst.
Vgl. hierzu Stephen Davies, Definitions of Art, Ithaca 1991, insb. S. 23-77, sowie Daniel M. Feige et al. (Hg.),
Funktionen der Kunst, Frankfurt 2009.
Erscheint in: Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse,
hg. v. S. Deines, J. Liptow und M. Seel, Berlin: Suhrkamp 2013, 7-37 15
müssen sich mit Einwänden auseinandersetzen, die besagen, dass es sich bei der ästhetischen
Erfahrung um keine notwendige oder um keine hinreichende Bedingung für Kunst handelt.
Dass die Bestimmung, ein Objekt zu sein, das Anlass zu einer ästhetischen Erfahrung gibt, nicht
hinreichend für seinen Kunststatus sein kann, ist bereits häufig angemerkt worden. So stellt
etwa Hegel zu Beginn seiner Vorlesungen über die Ästhetik fest, dass der Begriff der Ästhetik
bzw. der ästhetischen Wahrnehmung deutlich mehr umfasst als den Gegenstandsbereich der
Kunst, der im Zentrum seiner Betrachtungen stehen soll.25 Denn der Bereich der sinnlichen
Wahrnehmung und der ästhetischen Erfahrung beinhaltet seit den Theorien von Baumgarten
und Kant auch Objekte der Natur, des Designs und des Kunsthandwerks – zumindest all die
Gegenstände, die wir im sinnlichen Vernehmen als schön erfahren können. In jüngerer Zeit ist
darüber hinaus diskutiert worden, ob nicht auch Sportereignisse, pornographische
Darstellungen und erotische Interaktionen zur Klasse der Gegenstände gezählt werden sollten,
die Anlass zu ästhetischen Erfahrungen geben.26
Natürlich führen verschiedene Konzepte der ästhetischen Erfahrung im Rahmen einer
philosophischen Bestimmung der Kunst in unterschiedlichem Maß und an unterschiedlichen
Stellen zu solchen Abgrenzungsproblemen. So haben Theorien der ästhetischen Erfahrung, die
diese nicht bloß an sinnliche Wahrnehmung knüpfen, sondern als eine besondere Weise der
verstehenden Auseinandersetzung mit sinnhaften Gegenständen begreifen, wie es etwa bei
Adorno, Gadamer und Goodman der Fall ist, kein grundsätzliches Problem mit der Abgrenzung
gegenüber Objekten der Natur.27 Hier wird eher fraglich, auf welche Weise sich die Objekte
der Kunst und der Umgang mit ihnen von anderen Objekten und Situationen des Verstehens in
Alltag, Wissenschaft und Philosophie abgrenzen lassen.
Theoretiker, die den Begriff der Kunst unter Rückgriff auf den der ästhetischen Erfahrung
bestimmen wollen, können in mehrfacher Hinsicht auf Einwände reagieren, die besagen, dass
es sich hierbei um eine zu weite Bestimmung handelt:
a) Im Idealfall können sie die Einwände kontern, indem sie nachweisen, dass die ästhetische
Erfahrung, auf die sie sich in ihrer Bestimmung der Kunst beziehen, tatsächlich eine ist, die
25 G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, Frankfurt/M. 1986, S. 13. 26 Vgl. zu dieser Diskussion etwa Shusterman, »Auf der Suche nach der ästhetischen Erfahrung«; Martin Seel,
»Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung«, in: ders., Die Macht des Erscheinens, Frankfurt/M. 2007, S.
56-66; Jerrold Levinson, »Auf dem Weg zu einer substantiellen Konzeption ästhetischer Erfahrung«, in diesem
Band S. ###, Hans Maes, »Art or Porn: Clear Division or False Dilemma?«, in: Philosophy and Literature 35
(2011), S. 51-64, sowie auch Joachim Küpper und Christoph Menke, »Einleitung«, in: dies. (Hg.),
Dimensionen ästhetischer Erfahrung, S. 7-15, insb. S. 9f. 27 Vgl. hierzu in jüngerer Zeit auch Georg Bertram, Kunst, Stuttgart 2005, sowie Andrea Kern, Schöne Lust. Eine
Theorie der ästhetischen Erfahrung nach Kant, Frankfurt 2000, und Christoph Menke, Die Souveränität der
Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida. Frankfurt 1991, für die allerdings auch ein gewisses
Scheitern hermeneutischer Verstehensprozesse für die Kunsterfahrung charakteristisch ist.
Erscheint in: Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse,
hg. v. S. Deines, J. Liptow und M. Seel, Berlin: Suhrkamp 2013, 7-37 16
sich nur in der Auseinandersetzung mit paradigmatischen Werken der Kunst einstellt – also mit
den Objekten, die wir normalerweise als Kunstwerke bezeichnen. Sie können zu zeigen
versuchen, dass sich in der Begegnung mit den zur Diskussion gestellten anderen, natürlichen,
kunsthandwerklichen, sportlichen und erotischen Objekten oder Ereignissen möglicherweise in
gewissen Hinsichten ähnliche oder verwandte Erfahrungen einstellen, nicht aber ästhetische
Erfahrungen in einem spezifischen Sinn. Sie können, mit anderen Worten, dafür argumentieren,
dass es sich bei ästhetischer Erfahrung – oder zumindest bei der ästhetischen Erfahrung, auf die
sie sich im Rahmen ihrer Definition beziehen – immer um Kunsterfahrung handelt: um eine
Erfahrung, die sich nur in Auseinandersetzung mit den Objekten einstellt, die unserem
alltäglichen Verständnis nach zum Bereich der Kunst gehören.
b) Lässt sich die Erfahrung der umstrittenen Gegenstände nicht auf diese Weise
phänomenologisch abgrenzen, bleibt dem einem Theoretiker, der Kunst über ästhetische
Erfahrung bestimmt, dennoch eine weitere Möglichkeit, seine Definition aufrecht zu erhalten.
Er kann die fraglichen Objekte gemäß seiner Definition, der zufolge alles, was Anlass zu einer
ästhetischen Erfahrung gibt, Kunst ist, in den Bereich der Kunst eingemeinden. Während es
sich bei der ersten Variante um eine deskriptive Definition handelt, die sich an unserem
alltäglichen Sprachgebrauch orientiert, haben wir es in diesem Fall mit einer festsetzenden
Definition zu tun, die unsere Verwendung des fraglichen Begriffs (zumindest zum Teil) neu
regelt. Dieser Zug wirkt natürlich einigermaßen willkürlich, ist aber, etwa von Beardsley,
tatsächlich versucht worden: Aufgrund seiner Orientierung an dem Potential eines Objekts,
ästhetisches Wohlgefallen zu erzeugen, ist er bereit, auch Kunstfälschungen und
Kinderzeichnungen zum Bereich der Kunst zu zählen.28
c) Eine defensivere Weise, mit den genannten Einwänden umzugehen, läge darin zuzugestehen,
dass es sich bei dem Potential, ästhetische Erfahrungen hervorzurufen, tatsächlich nicht um eine
hinreichende Bedingung handelt. Dennoch kann an dem Projekt einer ästhetischen Definition
der Kunst festgehalten werden, wenn ästhetische Erfahrung als notwendige Bedingung
beibehalten, Kunst also weiterhin als ein dem Wesen nach ästhetisches Phänomen begriffen
wird, und lediglich weitere Zusatzbedingungen formuliert werden, die den Bereich der Kunst
von den anderen Bereichen im Feld des Ästhetischen abgrenzen. Die Abgrenzung zu den
Objekten des Naturschönen ist etwa leicht zu vollziehen, indem man die Bedingung einführt,
dass es sich bei den Objekten der Kunst um Artefakte handelt, oder, etwas spezieller, um solche
Artefakte, die mit der Absicht hergestellt werden, beim Rezipienten ästhetische Erfahrungen
28 Monroe C. Beardsley: »An Aesthetic Definition of Art«, in: Hugh Curtler (Hg.), What is art?, New York 1983,
S. 15-29.
Erscheint in: Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse,
hg. v. S. Deines, J. Liptow und M. Seel, Berlin: Suhrkamp 2013, 7-37 17
hervorrufen zu können.29 Der Einwand, dass eine Beziehung zu ästhetischer Erfahrung keine
hinreichende Bedingung für Kunst ist, stellt so gesehen das Projekt einer ästhetischen Theorie
der Kunst noch nicht prinzipiell in Frage, da nicht angezweifelt wird, dass es eines der zentralen
Bestimmungen des Wesens der Kunst ausmachen könnte, dass sie das Potential besitzt,
ästhetische Erfahrungen hervorzurufen.
Der Einwand, dass ästhetische Erfahrung auch nicht zu den notwendigen Bedingungen gehört,
ist in dieser Hinsicht weitreichender, da er (zumindest potentiell) dazu geeignet ist, die These
einer Interdependenz der Begriffe der Kunst und ihrer Erfahrung insgesamt in Zweifel zu
ziehen. Dieser Einwand kann beispielsweise mit Bezug auf das Problem schlechter Kunst
entwickelt werden: Normalerweise sind wir geneigt, misslungene und stümperhafte Gemälde,
Theateraufführungen oder Kinofilme als genau das zu bezeichnen: als schlechte Kunst. Nun ist
es aber naheliegend, davon auszugehen, dass die Mangelhaftigkeit dieser Objekte dazu führt,
dass sich in der Auseinandersetzung mit ihnen keine Erfahrung einstellt, die man als ästhetisch
bezeichnen möchte. Denn die meisten Theorien ästhetischer Erfahrung verstehen diese als
etwas Positives und Wertvolles, als eine Erfahrung, die auf die eine oder andere Weise
lohnenswert ist. Die Reaktionen auf misslungene Objekte, die Langeweile, Verärgerung oder
Mitleid umfassen können, lassen sich nun aber nur schwer als lohnende Erfahrungen begreifen.
Damit müssten wir diesen Objekten einer streng ästhetischen Definition zufolge aber den
Kunststatus absprechen. Auch an diesem Punkt aber eröffnet sich wiederum ein möglicher –
und möglicherweise eleganter – Ausweg: Es kann erwidert werden, dass Kunstwerke Objekte
sind, die um die Anerkennung kandidieren, die sie freilich nur dann erhalten, wenn sie ihrem
Publikum eine intensive ästhetische Erfahrung gewähren.
Wie immer man diese Erwiderung einschätzt, so viel ist klar: Mit ihr gewinnt der Begriff der
Kunst eine normative Komponente. »Kunst« wird zu einem Ehrentitel für eine bestimmte
Klasse von Objekten, deren Exemplare diesen Titel freilich beileibe nicht alle (in vollem Maß)
verdienen. Was jetzt ein Kunstwerk ausmacht, ist sein (mehr oder minder großes) Potential, als
Schauplatz ästhetischer Erfahrung zu fungieren. Damit wird der Bezug auf eine mögliche
ästhetische Erfahrung der Rezipienten eine wesentliche Eigenschaft des Objekts auch dann,
wenn es faktisch daran scheitert, eine solche Erfahrung tatsächlich zu ermöglichen.
Gravierender wird der Einwand gegen eine enge Kopplung von Kunst und ästhetischer
Erfahrung jedoch, wenn er mit Bezug auf die sogenannte nicht-ästhetische Kunst formuliert
29 Vgl. zu diesem Verfahren etwa Dickie in seinen frühen Formulierungen der Institutionen-Theorie der Kunst:
z.B. George Dickie, »Defining Art«, in: American Philosophical Quarterly 6 (1969), S. 253-256; oder
wiederum Beardsley, »In Defense of Aesthetic Value«, S. 729: »An artwork can be usefully defined as an
intentional arrangement of conditions for affording experiences with marked aesthetic character.«
Erscheint in: Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse,
hg. v. S. Deines, J. Liptow und M. Seel, Berlin: Suhrkamp 2013, 7-37 18
wird: mit Bezug auf solche Kunstwerke also, die nicht nur faktisch keine ästhetische Erfahrung
hervorzurufen scheinen, sondern auch nicht mit der Absicht hergestellt wurden, dies zu tun.
Dieser Einwand ist typischerweise, etwa von Danto, mit Verweis auf Readymades oder Objekte
der Conceptual Art gegen Theorien vorgebracht worden, die das Verstehen von Kunstwerken
generell mit einer besonderen Weise der sinnlichen Erfahrung bzw. dem Verfolgen ästhetischer
Eigenschaften verbinden.30 Da es sich – den Kritikern zufolge – bei diesen Objekten um
Objekte der Kunst handelt, für deren angemessene Rezeption die sinnliche Wahrnehmung eine
bestenfalls zweitrangige oder aber gar keine Rolle spielt, kann das Potential, ästhetische
Erfahrung hervorzurufen, kein wesenhaftes Merkmal von Kunst sein.
Auch auf diesen Einwand aber, der besagt, dass sein Kunstbegriff zu exklusiv ist, um dem
Phänomen der Kunst im Ganzen gerecht zu werden, kann der ästhetische Theoretiker der Kunst
auf verschiedene Weisen reagieren:
a) Er kann versuchen nachzuweisen, dass es sich bei den ins Feld geführten Beispielen gar nicht
um Gegenbeispiele handelt, da auch bei ihnen die ästhetische Erfahrung eine essentielle (wenn
vielleicht auch nicht eine ganz so offensichtliche) Rolle spielt; er kann zu bestreiten versuchen,
dass es so etwas wie nicht-ästhetische Kunst überhaupt gibt. Dies kann auf verschiedene
Weisen geschehen: Man kann aufzeigen, dass auch die Readymades, die Objekte der
Conceptual Art und die Werke der Literatur über Eigenschaften verfügen, deren sinnliche
Wahrnehmung für ihre Rezeption wesentlich ist. Man kann des Weiteren verdeutlichen, dass
auch das Fehlen oder Verweigern eines besonderen ästhetischen Erscheinens im Kontext der
Kunstrezeption einen Grenzfall eben dieses Erscheinens darstellt.31 Oder man kann dafür
argumentieren, dass der in Anschlag gebrachte Begriff des Ästhetischen zu eng gefasst ist, weil
es auch ästhetische Eigenschaften gibt, die keine sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften sind,
und dass die ins Spiel gebrachten Objekte durchaus über ästhetische Eigenschaften in diesem
Sinn verfügen.32
b) Eine radikale Reaktion auf den Einwand, die die ästhetische Definition der Kunst wiederum
nicht deskriptiv, sondern (normativ, festsetzend) auslegt, lässt sich erneut an Beardsley
illustrieren. Auch hier wird die Existenz nicht-ästhetischer Kunst bestritten: Denn wenn es sich
bei den angeführten Beispielen tatsächlich um Objekte handelt, die kein Potential besitzen eine
30 Vgl. dazu Arthur C. Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen, sowie: Das Fortleben der Kunst, München
2000. Man kann diesen Einwand noch verschärfen, wenn man davon ausgeht, dass nicht-ästhetische
Kunstwerke nicht nur vereinzelt und nicht erst im 20. Jahrhundert auftauchen, sondern dass für Werke der
Literatur, insbesondere der Prosa, die sinnliche Erfahrung seit jeher eine untergeordnete Rolle einnimmt. 31 Vgl. hierzu Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens, München 2000, S. 192-212. 32 Diese Strategie wählt z.B. James Shelley in dem Aufsatz »Das Problem nicht-perzeptueller Kunst«, in diesem
Band S. ###.
Erscheint in: Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse,
hg. v. S. Deines, J. Liptow und M. Seel, Berlin: Suhrkamp 2013, 7-37 19
ästhetische Erfahrung hervorzurufen, dann handelt es sich bei ihnen nach den Bestimmungen
der ästhetischen Definition auch nicht um Kunstwerke.33 Wird das Problem der nicht-
ästhetischen Kunst im ersten Fall durch einen Einschluss der fraglichen Objekte in den Bereich
des Ästhetischen behoben, so geschieht dies im zweiten Fall durch einen – allerdings
waghalsigen – Ausschluss der Objekte aus dem Bereich der Kunst.
c) Eine defensive Reaktion besteht wiederum darin, zuzugestehen, dass es nicht-ästhetische
Kunstwerke tatsächlich gibt, und den Bezug auf ästhetische Erfahrung aufgrund der
Gegenbeispiele als notwendige Bedingung fallenzulassen. Auch mit einem solchen
Zugeständnis aber ist das Projekt einer ästhetischen Bestimmung der Kunst nicht unbedingt
vollständig gescheitert. So finden sich theoretische Bestimmungen der Kunst, in denen der
Bezug auf ästhetische Erfahrung zwar weiterhin ein Merkmal darstellt, allerdings nur eines
unter mehreren Merkmalen, die einzeln oder in bestimmten Konstellationen für den Kunststatus
von Werken hinreichend sind.34 Solchen pluralistischen Bestimmungen zufolge gibt es zwar
durchaus nicht-ästhetische Kunstwerke, aber eben auch viele Werke, die (unter anderem)
aufgrund ihres Potentials, ästhetische Erfahrungen hervorzurufen, als Kunst begriffen werden.
Auch hier bleibt also eine begriffliche Kopplung zwischen Kunst und ästhetischer Erfahrung
erhalten, allerdings eine weitaus schwächere, als es den Ansätzen einer strengen ästhetischen
Theorie der Kunst vorschwebt.
Danto selbst freilich hat sich auf Readymades sowie Werke der Pop Art und der Conceptual
Art berufen, um eine noch stärkere These zu vertreten. Ihm zufolge zeigen diese Werke – und
insbesondere die Werke, die wir mit den Sinnen nicht von Objekten unterscheiden können, bei
denen es sich nicht um Kunst handelt –, dass eine Definition von Kunst ohne Rückgriff auf die
ästhetische Wahrnehmung bzw. die ästhetische Erfahrung auskommen kann und muss: Ein
Bezug zu ästhetischer Erfahrung gehört demnach nicht zum Wesen der Kunst. Damit will
jedoch Danto nicht die absurde These vertreten, dass Kunstwerke nicht häufig auch zu
ästhetischen Erfahrungen Anlass geben, sondern er will darauf aufmerksam machen, dass wir
im Zuge einer Definition der Kunst nicht auf diese Erfahrungen zurückgreifen können.
Ästhetische Erfahrung ist vielmehr abkünftig gegenüber einer Bestimmung der Kunst, die ohne
33 Beardsley, »An Aesthetic Definition of Art«. 34 Vgl. Berys Gaut, »Kunst als Clusterbegriff«, in: Roland Bluhm und Reinold Schmücker (Hg.), Kunst und
Kunstbegriff. Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik, Paderborn 2002, S. 140-165; sowie Jerrold Levinson,
»Defining Art Historically«, in: ders., Music, Art, and Metaphysics. Essays in Philosophical Aesthetics, Oxford
2011, S. 3-25. Solche pluralistischen Bestimmungen sind als Reaktionen auf Theorien zu verstehen, die das
Projekt einer einheitlichen Definition von Kunst insgesamt in Zweifel gezogen haben, da Kunst in ihren
Erscheinungsformen zu vielfältig sei und zu viele Funktionen haben könne, als dass man dies in einer
Definition erfassen könne. Die Debatte um die Definierbarkeit von Kunst ist in dem oben genannten Band von
Bluhm und Schmücker gut dokumentiert.
Erscheint in: Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse,
hg. v. S. Deines, J. Liptow und M. Seel, Berlin: Suhrkamp 2013, 7-37 20
den Verweis auf das Ästhetische auskommt. Denn erst wenn wir ein Objekt als ein Werk der
Kunst klassifizieren und interpretieren, können wir überhaupt die ästhetischen Eigenschaften
erkennen, auf die wir dann angemessen reagieren können.35
Es sollte aber festgehalten werden, dass nicht-ästhetische Theorien der Kunst, die eine
Bestimmung der Kunst ohne Rückgriff auf ästhetische Erfahrung geben, nicht notwendig das
Phänomen oder die Relevanz ästhetischer Erfahrung leugnen oder marginalisieren müssen.
Theorien mit produktionsästhetischem oder werkästhetischem Fokus bestimmen das Wesen der
Kunst möglicherweise ohne Rückgriff auf rezeptionsästhetische Kategorien, ohne damit
gleichzeitig bestreiten zu müssen, dass Kunstwerke (zumindest häufig) ästhetisch erfahren
werden und dass es diese Erfahrung sein kann, die (zumindest häufig) unser Interesse an der
Auseinandersetzung mit Kunst verständlich macht. Dies trifft beispielsweise für die
kunstphilosophischen Theorien von Heidegger oder Goodman zu. Hier wird die Bestimmung
der Kunst ausschließlich mit Bezug auf Eigenschaften und Strukturen der Kunstwerke
vorgenommen, denen die (Explikation der) Dimension der Rezeption nachgeordnet bleibt.
3.2. Ästhetische Erfahrung und der Wert der Kunst
Unabhängig davon, ob ästhetische Erfahrung als ein wesentliches Merkmal in einer
Bestimmung des Wesens der Kunst fungiert, kann versucht werden, zentrale Aspekte unserer
Kunstpraktiken mit Rücksicht auf das Verhältnis von Kunst und Erfahrung zu erhellen.
Insbesondere erscheint es aussichtsreich, die evaluativen Aspekte der Kunst mit Bezug auf
ästhetische Erfahrung verständlich zu machen – und dies in zweierlei Hinsicht: zum einen zur
Klärung der Frage, wie der Wert der Kunst einzuschätzen ist, der Frage also, aus welchen
Gründen Menschen überhaupt Kunstwerke produzieren und die Auseinandersetzung mit ihnen
suchen; und zum anderen zur Explikation unserer Praxis der Beurteilung einzelner Kunstwerke,
also zur Klärung der Frage, worin die Basis ihrer Bewertung als gelungen oder als weniger
gelungen liegt.
Die prominenteste Rolle spielt die ästhetische Erfahrung in denjenigen Theorien, die diese
besondere Erfahrung selbst als die Quelle des Werts von Kunst und Kunstwerken betrachten.
Ästhetische Erfahrung wird hier als eine Erfahrung charakterisiert, die zu haben um ihrer selbst
willen lohnend und wertvoll ist. Ästhetische Erfahrungen werden, je nach Theorie, als etwas
beschrieben, das belebend, lustvoll und/oder befreiend ist.36 Menschen haben ein Interesse
35 Vgl. hierzu insbesondere das vierte Kapitel (»Ästhetik und Kunstwerk«) aus Danto, Die Verklärung des
Gewöhnlichen. 36 Vgl. etwa Kant, Kritik der Urteilskraft, § 9; Michael Theunissen, »Freiheit von der Zeit. Ästhetisches
Anschauen als Verweilen«, in: ders., Negative Theologie der Zeit, Frankfurt 1991, S. 285-298; Jerrold
Erscheint in: Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse,
hg. v. S. Deines, J. Liptow und M. Seel, Berlin: Suhrkamp 2013, 7-37 21
daran, Erfahrungen dieses Typs zu machen. Die Institution der Kunst wird nun aufgrund der
Tatsache geschätzt, dass sie dieses Interesse auf eine besondere, durch andere selbstzweckhafte
Tätigkeiten nicht zu ersetzende Weise zu befriedigen vermag. Einzelne Kunstwerke werden
demnach im Hinblick darauf beurteilt, in welchem Maß sie es vermögen, Erfahrungen dieses
Typs zu ermöglichen.37 Das Kunstwerk, das in der Lage ist, eine intensivere ästhetische
Erfahrung zu ermöglichen als ein anderes, wird daher als ein in besonderen Maß gelungenes
Kunstwerk beurteilt werden.
Einige Theoretiker haben nun bestritten, dass wir ästhetische Erfahrung tatsächlich als etwas
begreifen können, dass wir um seiner selbst willen wertschätzen. Insbesondere naturalistisch-
evolutionistisch orientierte Ansätze haben in den letzten Jahren versucht, mit der traditionellen
Vorstellung der Interesselosigkeit und Selbstzweckhaftigkeit der ästhetischen Erfahrung
aufzuräumen, indem sie dafür argumentiert haben, dass auch diese Art der Erfahrung in
vielfältiger Hinsicht von instrumentellem bzw. von adaptivem Nutzen ist. In diesem Sinn ist
etwa darauf hingewiesen worden, dass in der ästhetischen Erfahrung die
Diskriminationsfähigkeit trainiert wird oder dass sie dabei hilft, das Gemeinschaftsgefühl einer
Gruppe zu stärken und eine kulturelle Identität auszubilden.38 An dem oben genannten engen
Verhältnis von Erfahrung und Beurteilung muss sich aber aufgrund einer solch
instrumentalistischen Lesart der ästhetischen Erfahrung nicht unbedingt etwas ändern, und
zwar dann nicht, wenn die ästhetische Erfahrung den einzigen Weg darstellt, auf dem die
externen Zwecke und Werte erreicht werden können. Zwar wird nun die ästhetische Erfahrung
selbst nicht mehr als die Quelle des Werts von Kunst verstanden. Immer noch aber zählt nach
dieser Deutung die ästhetische Erfahrung und ihre Intensität als Maßstab für die Gelungenheit
von Kunst.
Ganz ähnlich verhält es sich, wenn man die ästhetische Erfahrung als eine Erfahrung von etwas
Wertvollem begreift.39 Auch in diesem Fall wäre der Wert, den wir der ästhetischen Erfahrung
beimessen, lediglich abgeleitet von etwas anderem, das die eigentliche Quelle des Werts
darstellt – in diesem Fall artistische und ästhetische Eigenschaften des Werks selbst, die wir als
intrinsisch wertvoll begreifen. Aber auch in diesem Fall kann die ästhetische Erfahrung als
Levinson, »Pleasure and the Value of Works of Art«, in: ders., The Pleasures of Aesthetics, Ithaca 1996, S. 11-
24, und Seel, Ästhetik des Erscheinens, S. 215-221. 37 Vgl. zu einer solchen ästhetischen Theorie des Werts von Kunst etwa Beardsely, »In Defense of Aesthetic
Value« und Georges Dickie, Evaluating Art, Philadelphia 1988, insb. S. 53-80. 38 Eine evolutionstheoretisch inspirierte Kritik am Gedanken einer rein selbstzweckhaften Kunsterfahrung führt
Noël Carroll aus in Carroll, »Aesthetic Experience. A Question of Content«, insb. S. 81-88. 39 Vgl. zum Folgenden Nick Zangwill, »Kunst und Publikum«, in diesem Band ###.
Erscheint in: Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse,
hg. v. S. Deines, J. Liptow und M. Seel, Berlin: Suhrkamp 2013, 7-37 22
Maßstab für die Gelungenheit der Werke dienen, da es wiederum die Erfahrung ist, die uns die
wertvollen Eigenschaften der Kunst zugänglich macht.
Ästhetische Erfahrung und künstlerische Beurteilung treten erst in dem Moment auseinander,
in dem es (andere) Quellen des Werts von Kunst gibt, die nicht (oder nicht notwendig) über die
Erfahrung zugänglich werden. In diesem Zusammenhang wird normalerweise auf die
epistemischen und die moralischen Funktionen der Kunst hingewiesen. Diese Funktionen
lassen sich freilich gegen die ästhetische Funktion der Kunst nur dann ausspielen, wenn man
einen engen Begriff von ästhetischer Erfahrung ansetzt: z.B. einen am Schönen orientierten
Begriff des sinnlichen Wohlgefallens. Aber auch in diesem Gegensatz der Funktion, ästhetische
Erfahrung zu ermöglichen, zu den epistemischen und moralischen Funktionen der Kunst, kann
man die Verknüpfung von ästhetischer Erfahrung und Beurteilung immer noch aufrecht
erhalten – und zwar im Rahmen einer pluralistischen Theorie, die davon ausgeht, dass es im
Bereich der Kunst verschiedene Quellen des Werts gibt und dass wir uns bei der Beurteilung
von Kunstwerken auf unterschiedliche Maßstäbe berufen.40 Mit einer komplexeren Konzeption
ästhetischer Erfahrung etwa im Sinne Gadamers oder Deweys kann man dagegen allerdings
geltend machen, dass die Erkenntnisse, Einsichten und Haltungen, zu denen uns die Kunst (und
möglicherweise nur die Kunst) führen kann, nicht anders als auf dem Weg der ästhetischen
Erfahrung erreicht werden können.
Neben pluralistisch ausgerichteten Theorien, die außer der ästhetischen Erfahrung noch auf
weitere Quellen des Werts und weitere Maßstäbe der Beurteilung von Kunst verweisen, sind
aber, wie bereits erwähnt, auch solche Ansätze denkbar, die eine pluralistische Sicht in Bezug
auf den Bereich der Kunsterfahrung selbst vertreten. Dieser Sicht zufolge sind die Erfahrungen,
die sich mit den verschiedenen Werken aus verschiedenen Zeiten und verschiedenen Gattungen
machen lassen, zu unterschiedlich, als dass sie sich alle als Vorkommnisse ein und desselben
Typs von ästhetischer Erfahrung begreifen lassen. Schließlich sprechen unterschiedliche
Kunstformen unterschiedliche Sinne und unterschiedliche Vermögen an. Naheliegender als die
Annahme eines solchen einheitlichen Typs der Kunsterfahrung könnte es daher beispielsweise
erscheinen, verschiedene Formen von (ästhetischer) Erfahrung zu postulieren, die für die
Rezeptionsweise einzelner Künste und Gattungen paradigmatisch sind.41
40 Vgl. hierzu z. B. Kennick, der die These vertritt, dass Kunst verschiedene Funktionen hat und dass wir
Kunstwerke mit den unterschiedlichsten Gründen und im Hinblick auf verschiedene Merkmale als gut und
schlecht beurteilen. William Kennick, »Beruht die traditionelle Ästhetik auf einem Fehler?«, in:
Bluhm/Schmücker, Kunst und Kunstbegriff, S. 53-73. 41 Vgl. hierzu Menke/Küpper, »Einleitung«, S. 13, sowie den Beitrag von Stefan Deines in diesem Band, ###.
Erscheint in: Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse,
hg. v. S. Deines, J. Liptow und M. Seel, Berlin: Suhrkamp 2013, 7-37 23
Darüber hinaus gibt es schließlich Kunsttheorien, die die Verbindung zwischen Erfahrung und
Beurteilung gänzlich kappen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn Funktion und Wert der Kunst
nicht in der ästhetischen Erfahrung selbst liegen und auch nicht (notwendig) auf dem Weg der
Erfahrung realisiert werden. Diese Entkopplung von Erfahrung und Beurteilung findet sich
etwa in der Kunstphilosophie Goodmans, der Zweck und Wert der Kunst allein mit Bezug auf
ihre kognitive Funktion erläutert. Kunst ist deshalb und Kunstwerke sind dann von Wert,
insofern sie uns Erkenntnisse über die Welt und uns selbst ermöglichen. Nur in Bezug auf das
Maß, die Originalität und die Nützlichkeit dieser Erkenntnisse beurteilen wir die Kunst. Zwar
nennt auch Goodman einige typische Aspekte der Kunstrezeption – aber es gibt nach seiner
Auffassung keine feste Korrelation zwischen Kunsterfahrung und Erkenntnis. Das Vorliegen
einiger typischer Merkmale der Rezeption von Kunstobjekten ist kein Garant für den Gewinn
wertvoller Erkenntnisse, genauso wenig wie der Gewinn dieser Erkenntnisse bestimmte
Charakteristika der Erfahrung voraussetzt. Der Maßstab der Beurteilung der Kunst ist daher die
Erkenntnis allein, nicht aber die Kunsterfahrung.42
Eine vollständige Entkopplung von Erfahrung und Evaluation findet auch dann statt, wenn man
einen neutralen Begriff der ästhetischen Erfahrung ansetzt, wie ihn etwa Noël Carroll
vorschlägt.43 Er versteht unter ästhetischer Erfahrung das schlichte Registrieren ästhetischer
und artistischer Eigenschaften. Das bloße Erkennen, dass ein Gedicht ein bestimmtes
Reimschema aufweist, zählt bereits als vollgültige ästhetische Erfahrung. Diese Erfahrung ist
damit von jeder Qualität befreit, die sie selbst zu etwas Positivem oder Wertvollem machen
würde oder die sie zu einem zuverlässigen Indikator von etwas Positivem oder Wertvollem
machen könnte. Immer, wenn es sich um eine Rezeption eines Objekts als Kunstwerk handelt,
ist diese Art von Erfahrung gegeben – auch wenn es sich dabei um ein noch so misslungenes
oder langweiliges Werk handelt. Der Maßstab für die Beurteilung von Kunst ist unter diesen
Umständen nicht in der Erfahrung, sondern an anderer Stelle zu suchen. Mit dieser Leugnung
jeder intimen Beziehung von Kunst und wertender Erfahrung freilich beginnt die ganze Debatte
wieder von vorn. Denn es fragt sich nun, warum ausgerechnet Kunstwerke in vielen
Gesellschaften und Kulturen als ausgezeichnete Objekte einer von engeren theoretischen wie
praktischen Festlegungen und Verpflichtungen freigestellten Kommunikation über werthafte
Orientierungen nahezu aller Art gelten.
42 Vgl. Goodman, Sprachen der Kunst, insb. Kap. VI.3-VI.7. 43 Vgl. Carroll, »Aesthetic Experience. A Question of Content«.
Erscheint in: Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse,
hg. v. S. Deines, J. Liptow und M. Seel, Berlin: Suhrkamp 2013, 7-37 24
Bei den in diesem Band versammelten Aufsätzen handelt es sich um systematische Beiträge
zur Klärung der in dieser Einleitung skizzierten theoretischen Fragstellungen und Probleme.
Dabei sind die beiden leitenden Fragen zum einen, ob und wie sich das Phänomen ästhetischer
Erfahrung theoretisch angemessen fassen lässt, und zum anderen, in welchem Rahmen und für
welche Zwecke eine Theorie der Kunst auf das Phänomen der ästhetischen Erfahrung
zurückgreifen kann und sollte. Hinsichtlich der ersten Frage gibt Noël Carroll eine für die
jüngere Debatte einflussreiche und im Verhältnis zu traditionellen Ansätzen der
philosophischen Ästhetik eher skeptischte Antwort, wenn er eine minimalistische und
deflationistische Konzeption ästhetischer Erfahrung formuliert, derzufolge wir lediglich
verschiedene Gehalte, wie formale und ästhetische Eigenschaften, aufzählen können, deren
bloßes Registrieren bereits als eine ästhetische Erfahrung zählt. In seinem hier abgedruckten
Aufsatz erweitert und präzisiert er seinen Ansatz und diskutiert inwiefern beispielsweise auch
moralische Aspekte von Kunstwerken zu den Gehalten ästhetischer Erfahrung zählen können.
Die besondere Struktur von ästhetischen Eigenschaften als einem der paradigmatischen Inhalte
unserer ästhetischen Erfahrungen wird in den Beiträgen von Elisabeth Schellekens und Jasper
Liptow analysiert. Aber bereits eine Analyse dieser besonderen Gehalte lässt Zweifel
aufkommen, ob Carrolls Bestimmung der ästhetischen Erfahrung als einem schlichten
Registrieren bestimmter Merkmale nicht zu schmal ist, da, wie Liptow herausarbeitet,
ästhetische Eigenschaften einen besonderen Modus der Erfahrung, nämlich Erfahrung in einem
phänomenalen Sinn, erfordern. Eine ganze Reihe von Beiträgen formuliert einen Begriff der
ästhetischen Erfahrung, der substantieller und emphatischer ist als derjenige der
minimalistischen Theorie, da hier spezifische Eigenschaften und Charakteristika der Erfahrung
selbst benannt werden, womit auch Aspekte wie Interesselosigkeit und Wohlgefallen wieder
berücksichtigt werden können, die in einer deflationistischen Theorie keine Rolle spielen.
Solche emphatischeren Theorien ästhetischer Erfahrung werden von Jerrold Levinson, Matthias
Vogel, Catrin Misselhorn, Martin Seel und Christiane Voss vorgeschlagen. Levinson beschreibt
ästhetische Erfahrung als eine zweistufige Erfahrung, in der die basale Erfahrung eines Objekts
und seiner Eigenschaften geschätzt bzw. um ihrer selbst für wertvoll gehalten wird; Vogel
bestimmt sie als eine Art des Verstehens, das als ein mit Lust einhergehender, sinnliche
Wahrnehmungen integrierender und strukturierender Prozess begriffen werden kann; und
Misselhorn versucht den Gedanken Clive Bells zu verteidigen, dass es eine spezifisch
ästhetische Emotion gibt. Seel und Voss entwickeln ihre Sicht ästhetischer Erfahrung in
Auseinandersetzung mit dem Film. Seel beschreibt am Beispiel einer kurzen Sequenz aus
Antonionis Zabriskie Point ästhetische Erfahrung als einen gleichermaßen interpretierenden
Erscheint in: Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse,
hg. v. S. Deines, J. Liptow und M. Seel, Berlin: Suhrkamp 2013, 7-37 25
wie evaluierenden sinnlichen Mitvollzug der Art und Weise, in der sich uns Kunstwerke in
ihrem Erscheinen darbieten, und durch den allein wir uns die Gehalte der Werke erschließen
können; Voss führt am paradigmatischen Fall des Kinos ihren affekttheoretischen Ansatz
ästhetischer Erfahrung aus, demzufolge der Zuschauer als Teil des Filmmediums beschrieben
werden kann, der in seiner Körperlichkeit durch das Leinwandgeschehen berührt wird und in
einem affektiv-verstehenden Mitvollzug den Film mitkonstituiert. In diesen Aufsätzen tritt
ästhetische Erfahrung bereits dezidiert als eine Erfahrung von Gegenständen der Kunst in den
Blick. Nach dem Verhältnis von Kunst und Erfahrung im Rahmen kunstphilosophischer
Erklärungen fragt Stefan Deines. Ihm zufolge lässt sich der Begriff der ästhetischen Erfahrung
nicht einfach heranziehen, um den Begriff der Kunst zu definieren oder den Wert der Kunst zu
erläutern, da die bedeutsamen Erfahrungen, zu denen Kunstwerke Anlass geben, nicht
einheitlich bestimmt werden können, weshalb die Kunsttheorie einen pluralistischen Ansatz der
Erfahrung benötigt. Georg Bertram und James Shelley fragen nach einer potentiellen
Veränderung der Rolle der Erfahrung in der Moderne – Bertram in Auseinandersetzung mit
Hegel und Danto in Bezug auf die Kunst der Moderne insgesamt, insofern sie verstärkt durch
Reflexivität und Selbstreflexivität und weniger durch Sinnlichkeit und Unmittelbarkeit
gekennzeichnet ist; Shelley in Bezug auf so genannte nicht-ästhetische Kunstwerke wie
Duchamps’ Fountain, für die sinnliche Wahrnehmung überhaupt keine Rolle mehr zu spielen
scheint. Eva Schürmann erörtert am Begriff des Stils eine besondere Leistung der Kunst, die
darin besteht, dass sich in der Erfahrung von Kunst fremde Denkstile und
Wahrnehmungsweisen aktualisieren können, womit auch eine Reflexion auf die jeweils
eigenen Wahrnehmungsmuster des Rezipienten möglich wird. Nick Zangwill schließlich
formuliert, in engem Bezug zu der Diskussion in den Beiträgen von Schellekens und Liptow,
eine skeptische Sicht auf die explikative Rolle, die die Erfahrung des Rezipienten für die
Kunsttheorie spielen kann. Denn der Wert der Kunst und ihrer Eigenschaften lässt sich ihm
zufolge nicht über die Art der Erfahrungen explizieren, die sie ermöglichen, sondern umgekehrt
lässt sich unser Interesse an diesen Erfahrungen nur verstehen, wenn wir sie als Erfahrungen
von etwas begreifen, was bereits für sich einen Wert besitzt.