Prozeß-Produkt-Didaktik–Neue Akzente auf dem Weg zur ästhetischen Erfahrung

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Christopher Wallbaum Prozeß-Produkt-Didaktik- Neue Akzente auf dem Weg zur ästhetischen Erfahrung Am Anfang standen Erfahrungen, die ich mit verschiedenen Musikproduktionen in der Schule machte: Radio-Werbespots für den Schulchor und Klassen-Songs, Filmvertonungen, Musique concrete aus Schulklängen, Bach-Computer-Bearbeitungen, Tanz-, Trommel- und szenisch-musikalische Performances. Kurz gesagt ergaben sich aus diesen Erfahrungen die Thesen: daß es (1. These) möglich ist, mit schuleigenen Produktionen ästhetische Erfahrungen anzuregen bzw. zu ermöglichen, und daß diese Möglichkeit bemerkenswert gesteigert wird, indem man (2. These) die zu ver- wendenden Techniken allein von der konkreten Schulsituation abhängig macht, und indem man (3. These) die ästhetische Attraktivität (oder "Qualität" oder "Gelungenheit") des Pro- dukts betont. Jede dieser drei Thesen für sich sowie auch diese Kombination klingt in den Ohren mancher Praktikerinnen möglicherweise nicht neu, und vielleicht arbeiten Sie schon in dieser oder ähnlicher Weise. Allerdings dürfte die 3. These (Produktorientierung) den traditionell "pro- zeßorientierten" Musikpädagoglnnen erst einmal befremdlich erscheinen. Mir stellte sich aus der Schulpraxis heraus die Frage, ob es sinnvoll ist, Produktionen- also Kompositionen im weitesten Sinne und deren Realisierung I -im Sinne dieser Thesen musikdidaktisch ins Zentrum zu rücken, und wenn ja. worauf es besonders zu achten gilt. Dabei bin ich davon ausgegangen, daß vor allem ästhetische Erfahrungen das didaktische Ziel sein sollen. Im ersten von zwei Arbeitsschritten habe ich vorliegende produktionsdidaktische Konzep- tionen2 daraufhin untersucht, welchen Begriff von ästhetischer Erfahrung sie haben und welche Begründungszusammenhänge bzw. Argumentationen sie für die Produktionsdidak- tik liefern. Diese rekonstruierenden Analysen eines nicht selten in sich widersprüchlichen Textmaterials führten tief in Grundfragen ästhetischer Theorie hinein, die ich unten umreißen werde. Letztlich stellte sich heraus, daß keine der untersuchten Konzeptionen einen Begriff von ästhetischer Erfahrung im Sinne meiner Thesen in ihr Zentrum stellt, obwohl entsprechende Beobachtungen in verschiedenen Konzeptionen erwähnt werden. Im zweiten Arbeitsschritt habe ich dann ein (,,relationales") Modell von ästhetischer Erfahrung herangezogen. Damit können die Thesen sowie ihnen entsprechende Positionen in den untersuchten Konzeptionen plausibel gemacht werden, und darüber hinaus werden mit der Unterscheidung von drei Grundformen ästhetischer Wahrnehmungspraxis Differenzierun- gen ermöglicht, die für die prozeß-produkt-didaktische Einrichtung von Erfahrungssituatio- nen nützlich sind. Der Zusammenhang, aus dem heraus die prozeß-produkt-didaktischen Akzente im Sinne und im Gefolge der drei Thesen plausibel werden, ist komplex, und der Versuch, diesen Zusammenhang im hier gegebenen Rahmen sichtbar zu machen, ohne daß der unmittelbare Bezug zur Schulpraxis verlorengeht, macht es erforderlich, daß einige woanders ausführli- cher untersuchte Aspekte teilweise als nackte Behauptungen stehen bleiben müssen. Ich werde im folgenden lern- und bildungstheoretische Voraussetzungen, die meiner Unter- suchung vorausliegen, sowie die Ergebnisse der Analysen von produktionsdidaktischen Konzeptionen nur grob skizzieren, damit mehr Raum bleibt, den Zusammenhang zwischen den Attraktionen ästhetischer Produkte und den drei Grundformen ästhetischer Wahrneh- 236

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Christopher Wallbaum

Prozeß-Produkt-Didaktik- Neue Akzente auf dem Weg zur ästhetischen Erfahrung

Am Anfang standen Erfahrungen, die ich mit verschiedenen Musikproduktionen in der Schule machte: Radio-Werbespots für den Schulchor und Klassen-Songs, Filmvertonungen, Musique concrete aus Schulklängen, Bach-Computer-Bearbeitungen, Tanz-, Trommel- und szenisch-musikalische Performances. Kurz gesagt ergaben sich aus diesen Erfahrungen die Thesen: daß es (1. These) möglich ist, mit schuleigenen Produktionen ästhetische Erfahrungen anzuregen bzw. zu ermöglichen, und daß diese Möglichkeit bemerkenswert gesteigert wird, indem man (2. These) die zu ver­wendenden Techniken allein von der konkreten Schulsituation abhängig macht, und indem man (3. These) die ästhetische Attraktivität (oder "Qualität" oder "Gelungenheit") des Pro­dukts betont. Jede dieser drei Thesen für sich sowie auch diese Kombination klingt in den Ohren mancher Praktikerinnen möglicherweise nicht neu, und vielleicht arbeiten Sie schon in dieser oder ähnlicher Weise. Allerdings dürfte die 3. These (Produktorientierung) den traditionell "pro­zeßorientierten" Musikpädagoglnnen erst einmal befremdlich erscheinen. Mir stellte sich aus der Schulpraxis heraus die Frage, ob es sinnvoll ist, Produktionen- also Kompositionen im weitesten Sinne und deren Realisierung I -im Sinne dieser Thesen musikdidaktisch ins Zentrum zu rücken, und wenn ja. worauf es besonders zu achten gilt. Dabei bin ich davon ausgegangen, daß vor allem ästhetische Erfahrungen das didaktische Ziel sein sollen. Im ersten von zwei Arbeitsschritten habe ich vorliegende produktionsdidaktische Konzep­tionen2 daraufhin untersucht, welchen Begriff von ästhetischer Erfahrung sie haben und welche Begründungszusammenhänge bzw. Argumentationen sie für die Produktionsdidak­tik liefern. Diese rekonstruierenden Analysen eines nicht selten in sich widersprüchlichen Textmaterials führten tief in Grundfragen ästhetischer Theorie hinein, die ich unten umreißen werde. Letztlich stellte sich heraus, daß keine der untersuchten Konzeptionen einen Begriff von ästhetischer Erfahrung im Sinne meiner Thesen in ihr Zentrum stellt, obwohl entsprechende Beobachtungen in verschiedenen Konzeptionen erwähnt werden. Im zweiten Arbeitsschritt habe ich dann ein (,,relationales") Modell von ästhetischer Erfahrung herangezogen. Damit können die Thesen sowie ihnen entsprechende Positionen in den untersuchten Konzeptionen plausibel gemacht werden, und darüber hinaus werden mit der Unterscheidung von drei Grundformen ästhetischer Wahrnehmungspraxis Differenzierun­gen ermöglicht, die für die prozeß-produkt-didaktische Einrichtung von Erfahrungssituatio­nen nützlich sind. Der Zusammenhang, aus dem heraus die prozeß-produkt-didaktischen Akzente im Sinne und im Gefolge der drei Thesen plausibel werden, ist komplex, und der Versuch, diesen Zusammenhang im hier gegebenen Rahmen sichtbar zu machen, ohne daß der unmittelbare Bezug zur Schulpraxis verlorengeht, macht es erforderlich, daß einige woanders ausführli­cher untersuchte Aspekte teilweise als nackte Behauptungen stehen bleiben müssen. Ich werde im folgenden lern- und bildungstheoretische Voraussetzungen, die meiner Unter­suchung vorausliegen, sowie die Ergebnisse der Analysen von produktionsdidaktischen Konzeptionen nur grob skizzieren, damit mehr Raum bleibt, den Zusammenhang zwischen den Attraktionen ästhetischer Produkte und den drei Grundformen ästhetischer Wahrneh-

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1. Zwei Beispiele aus der Schulpraxis Erstes Beispiel: Nach einer gut halbstündigen Aufführung anläßlich einer Abschlußfeier zeigten sich viele der etwa zweihundert Anwesenden stark berührt. Ein Musikkurs hatte Materialien, Themen und Erfahrungen aus der Schule aufgegriffen (z. B. den Pausengong, eine Mathestunde, eine Prüfungsaufgabe, Hoffnung, Freud und Leid), hatte diese musika­lisch und szenisch in kritischer Auseinandersetzung mit einigen New-Age-verwandten Interpretationsangeboten zu Melodie, Rhythmus, Klang, Dynamik etc. verarbeitet und außerdem Bruchstücke aus vergangeneo Musikstunden (zwei Jazzstücke aus dem Vorjahr) und außerschulischen Musizierpraxen herangezogen. Aus einem anfänglich scheinbar trockenen Rückblick auf den Musikunterricht wurde wie beiläufig eine Performance über Schulerfahrungen, Ängste und Visionen. Dabei wurden zum einen die Singfreude und Viel­seitigkeit der Gruppe integriert, zum anderen spezielle Kompetenzen jedes einzelnen im Gesang, am Baß, in Percussion, Tanz, Text und auch konzeptioneller Phantasie fruchtbar gemacht. Schülerinnen und Schüler äußerten sich erstaunt über das, was sie hervorgebracht hatten ("Wir wußten ja gar nicht, was wir da tun"), und von verschiedenen Seiten, auch aus dem Publikum, hörte ich: "Das war gar nicht pädagogisch". Aber was war es? Viele Men­schen haben vermutlich an diesem Abend eine ästhetische Erfahrung gemacht. Und sie bezogen sich dabei auf das Produkt der Schülerinnen und Schüler. Aber es war nicht erst die gelungene Aufführung als abschließendes Produkt, die das Korn­positionsprojekt auszeichnete und offenbar aus einer Sphäre des (nur) pädagogisch Gemein­ten, also aus einem Als-ob, in etwas Echtes verwandelte. 3 Schon der Produktionsprozeß war durch das Bestreben geprägt, ein "wirklich gutes" Produkt herzustellen, das vergessen las­sen konnte, daß dies Schule war. Wie die Orientierung auf das Produkt schon während der Produktion auf zahllose Mikro-Situationen wirkt, auch wenn dieses noch nicht gelungen und erfolgreich einer größeren Öffentlichkeit präsentiert wurde, mag als zweites Beispiel eine kleine Szene zeigen, die sich im Zusammenhang mit dem ersten Beispiel hätte ereig­nen können oder auch an anderer Stelle, etwa bei der Arbeit am Bildschirm oder der Vorbe­reitung zu einer Installation:

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Abb. 1: Wemer und Else in ästhetischer Praxis

Das zweite Beispiel bietet das Bild von Wemer und Else, die vor einem Aufnahmegerät sitzen, das Klänge aus der sie umgebenden Welt aufzu­nehmen, zu bearbeiten und mehrspurig zu colla­gieren erlaubt, und die ihre Gesichter abwech­selnd der Klangquelle und einander zuwenden. Sie spulen zurück, lauschen erneut, weisen einan­der auf mögliche Schnittstellen, Loops und Inter­pretationen hin und versuchen, die betreffende Stelle möglichst ästhetisch attraktiv zu gestalten. In diesem nicht unbedingt und keinesfalls aus­schließlich verbal geführten ästhetischen Streit -einen Großteil macht das Zeigen von Varianten am Produkt aus - beziehen sie sich auf persönli-

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ehe, teilkulturell bzw. lebensweltlich erwachsene Erfahrungen, auf Erfahrungen ihres Gegenübers und auf Erfahrungsgehalte bzw. ästhetische Bedeutsamkeiten, die sie in dem Produkt artikuliert oder auch noch nicht artikuliert finden. Sie beziehen die ästhetische Qua­lität bzw. Funktion des entstehenden Produkts auf ihre eigenen Wahrnehmungen und Erfah­rungen, weil sie nur dann beurteilen können, ob sie das Produkt wirklich gut, unterhaltend, vielleicht witzig gemacht und/oder darin eine "Wahrheit" bzw. Perspektive ihres Lebens treffend artikuliert finden. Beide Beispiele markieren Situationen, in denen Menschen sich ästhetisch wahrnehmend auf ein artikuliertes Produkt einlassen und sich mit einem oder mehreren anderen Menschen darüber verständigen, ob sie das Produkt ästhetisch finden (oder "attraktiv", "gelungen", ,,hat was", "echt geil" oder ähnlich). Dabei verweisen die musikalisch oder allgemeiner ästhetisch artikulierten und wahrgenommenen Bedeutsamkeiten auf kulturell bzw. teilkul­turell oder "lebensweltlich"4 verwurzelte Erfahrungssituationen zurück (vgl. Abb.l). Für solche Situationen ästhetischer Praxis gibt es während der Produktion viele Anlässe, und zwar besonders dann -das ist die dritte These -wenn es darum geht, ein wirklich gutes bzw. ästhetisches Produkt herzustellen. Diese positive Beeinflussung der Wahrnehmungs- und Erfahrungssituation dürfte nicht nur angesichts einer großen Öffentlichkeit und mit einem ästhetisch besonders attraktiven Produkt funktionieren; denn die Orientierung an der ästhe­tischen Attraktivität bzw. Gelungenheit des herzustellenden Produkts wirkt sich auch dann schon im Produktionsprozeß aus, wenn die Veröffentlichung im kleineren Rahmen der Lern­gruppe stattfindet oder das Produkt auch einmal gänzlich mißlingen sollte. Wenn eine Pro­duktion allerdings häufiger auf der Strecke bleibt, dann dürfte der Anspruch schwinden, es gut zu machen, und das wirkt sich dann entsprechend auf zukünftige Produktionsprozesse aus. Prozeß und Produkt hängen zusammen.

2. Warum ästhetische Erfahrung das Ziel ist Die theoretische Auseinandersetzung mit der Frage, warum ästhetische Erfahrung der ,,Zweck der didaktischen Praxis" und zugleich das ,,Prinzip der Wissenschaft" sein soll (Kaiser 1995, S. 26), geht meiner Untersuchung voraus (Allerdings wird sich im 4. Abschnitt- ,,Ein relationales Modell ästhetischer Erfahrung ... "- noch eine weitere Begrün­dung ergeben). Ich gehe also davon aus, daß es musikalisch bildend ist, wenn Schülerinnen und Schüler musikalisch-ästhetische Erfahrungen machen. Es kommt mir dann nur noch darauf an, was genau unter ästhetischen Erfahrungen zu verstehen ist und wie diese zu ermöglichen sind. Der sehr verkürzte Hinweis auf einen lern- und einen bildungstheoreti­schen Begründungszusammenhang muß hier genügen: ( a) Überlegungen zu einer Theorie musikalischen Lernens scheinen (wie Kaiser 1996 zeigt)

geradezu nach der Herstellung von Produkten zu verlangen, weil das Lernen problema­tische Handlungssituationen voraussetzt. Jeder Versuch aber, ein musikalisches Produkt herzustellen, bereitet Probleme. Nach Kaiser enthalten solche komplexen Produktions­prozesse für jeden einzelnen ,,Lerneinschlüsse", in denen Detailprobleme- zum Bei­spiel die Verwendung einer musikalischen Technik - ausgekoppelt, gelöst und dann in den Produktionsprozeß zurückgebracht werden. Allerdings müssen Menschen ein Pro­blem auch lösen wollen, damit ein Lerneffekt auftritt. Dafür erscheinen ästhetische Pro­dukte deswegen besonders geeignet, weil sie per definitionem die teilkulturell bzw. lebensweltlich gewachsenen Erfahrungen der Schülerinnen aufgreifen. Aus dieser lern­theoretischen Sicht dient also das ästhetische Produkt als motivierendes Ziel, dessen

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darin um die Person als ganze geht. Weil sich im ästhetischen Produkt letztlich lebens­formabhängige Qualitäten (bzw. Sichtweisen) artikulieren müssen, wenn es ästhetisch gelingen soll, werden während der Produktion die Welten (bzw. Perspektiven) der ein­zelnen Schülerinnen reflektiert und deren Grenzen damit zugleich überschritten. Ästhe­tische Erfahrungen können daher zu einem Umbau (oder auch zur neuen Festigkeit) des Selbstkonzepts führen. Darin liegt das 'Risiko' (weil man seine bisherige Sichtweise aufs Spiel setzt), aber auch die Chance ästhetischer Praxis und Erfahrung: Sie ist bil­dend.5

Diesen Begründungen dafür, daß ästhetische Erfahrungen der Zweck unseres didaktischen Strebens sein sollten, kann hier nicht weiter nachgegangen werden. Für meine folgenden Überlegungen genügt die Voraussetzung, daß ästhetische Erfahrungen das Prinzip der Wis­senschaft und der Zweck der musikdidaktischen Praxis sein sollen.

3. Grundpositionen in produktionsdidaktischen Konzeptionen Während meiner Untersuchung von produktionsdidaktischen Konzeptionen zeigte sich, daß mit der Reflexion von Musikdidaktik unweigerlich auch die Reflexion des Musikbegrijfs verbunden ist, also dessen, was wir unter Musik bzw. genauer: musikalischer (und damit zugleich ästhetischer6) Erfahrung verstehen.

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Abb. 2: Vier Gruppen von Aussagenfeldern zur ästhetischen Theorie in der Produktionsästhetik

Ich werde hier nur die Grundlinien der verschiedenen Begriffe von musikalischer Erfahrung nachziehen, die hinsichtlich der Ausgangsthesen vier Gruppen ergeben, und im Zusammen­hang mit diesen vier Grundpositionen ästhetischer Theorie grundsätzliche Argumente für verschiedene produktionsdidaktische Akzente umreißen. Als Ausgangspunkt meiner Beschreibung wähle ich Abb. 2. Auf die vielfältigen Argumentationszusammenhänge, die innerhalb jeder einzelnen Konzeption geltend gemacht werden, gehe ich hier nicht ein. Ich lasse die Namen in Abb. 2 dennoch stehen, um anzuzeigen, in welchen Konzeptionen wel­che Argumente geltend gemacht werden. (Die Namenszusätze ,,A" und ,,B" signalisieren, daß es sich um verschiedene Argumentationszusammenhänge bzw. "Theorien" handelt, die

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in derselben Konzeption geltend gemacht werden. Ich werde also nur die Ordnungsaspekte erläutern.) Erstens ist (vgl. These 3) zwischen solchen Begriffen musikalischer Erfahrung zu unter­scheiden, die diese Erfahrung an gestaltete Produkte knüpfen (Al und Bl), und solchen, für die Produkte unerheblich sind (A2 und B2). Unter Produkt ist ein Objekt zu verstehen (das kann auch ein Event sein), das absichtsvoll zusammengesetzt ist. Ob das Produkt minutiös als Kunstwerk ausgearbeitet und als solches anerkannt ist, ob es in der Zusammenarbeit von Laien ausgetüftelt wurde oder ob es die situative Variante eines komponierten und eingeüb­ten Grundmodells ist, bleibt für diese Unterscheidung unerheblich. Gemeinsam ist diesen Produkten, daß sie als intersubjektiver Bezugspunkt wahrnehmbar sind. Demgegenüber betonen die sogenannten prozeßorientierten Begriffe von musikalischer Erfahrung, daß diverse Elemente sich ausschließlich in der individuellen und gleichsam privaten Wahrneh­mung zu etwas verbinden. Zweitens ist (vgl. These 2) zwischen vorgegebenen (A) und nicht vorgegebenen (B) musi­kalischen Techniken zu unterscheiden. Diese Unterscheidung hat sich daraus ergeben, daß in vielen der untersuchten Konzeptionen universalistisch-kulturübergreifende Merkmale musikalischer Erfahrungen geltend gemacht werden. Allerdings werden diese Merkmale an ganz unterschiedlichen Aspekten festgemacht: Es gibt die Annahme eines psychogeneti­schen Gesetzes musikalischer Entwicklung, die Annahme von Kompositionstechniken als Trägem eines historisch-teleologisch fortschreitenden Menschheitswissens, die Annahme von allgemeinmenschlichen Schall- und Musikwahrnehmungen sowie die Annahme, daß allen Menschen gemeinsame existentielle Grunderfahrungen wie Tod, Liebe, Schmerz oder auch Nacht? Bestandteile jeder musikalischen Erfahrung seien. Problematisch ist die Annahme auch nur eines derart kulturübergreifenden, für alle Menschen geltenden Aspek­tes musikalischer Erfahrung, weil sie direkt oder indirekt dazu führt, daß musikalische Tech­niken in Produktionssituationen hineingetragen werden- in der Annahme, daß dies "natur­notwendig" sei. Damit beschränken sie aus einer vermeintlich musikalisch-ästhetischen Sachlogik heraus die thematische, materiale und technische Wahlfreiheit in der konkreten Produktionssituation. Ein Beispiel: Wenn ich davon ausgehe (was ich nicht tue), daß alle Menschenaufgrund der Beschaffenheit ihrer Ohren Schallphänomene nach Parametern wie Höhe, Dauer, Stärke usw. wahrnehmen und (früher oder später) auf natürliche Weise zu einem entsprechenden Musikbegriff und musikalischen Produkten gelangen, dann gestalte ich Produktionssituatio­nen anders, als wenn ich davon ausgehe, daß die als solche wahrgenommenen Aspekte eines musikalischen Phänomens oder "Bausteine" eines Produkts immer schon kulturell durch­wachsen sind. Um diese kulturabhängige, also nicht allgemeinmenschliche Natur musikali­scher Wahrnehmungspraxen zu signalisieren, erscheint der Begriff der ästhetischen bzw. musikalischen Techniken angebracht. Zugleich signalisiert die Rede von musikalischen Techniken, daß sie selbst noch nicht der Gegenstand ästhetischer Erfahrung sind, sondern erst eine Technik auf dem Weg dorthin. Damit ich nicht mißverstanden werde: Es kann durchaus nützlich und empfehlenswert sein, solche vermeintlich kulturübergreifenden musikalischen Techniken zu verwenden; aber es gibt keine Naturnotwendigkeit dafür. Keine von ihnen ist bio-, sozio- oder psychologisch unbedingt gegeben. Sie sind alle kulturell durchwachsen. Wenn wir also wirklich nur musi­kalisch-ästhetische Erfahrungen ermöglichen und nicht darüber hinaus die gezielte Einfüh­rung in (oder auch Anpassung an) eine ganz bestimmte musikalische (Teil)Kultur betreiben wollen, dann gibt es keinen Grund dafür, bestimmte musikalische Techniken vorzugeben.

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Von musikalischen Techniken zurück zum Produkt. Abhängig von der jeweiligen Produkt­Funktion ergeben sich folgende grundlegende produktionsdidaktische Akzente: - Wenn ästhetische Erfahrungen ausschließlich mit Kunstwerken möglich sein sollen, dann

kann der produktionsdidaktische Weg kaum ästhetische Erfahrungen ermöglichen (sofern nicht in jeder Klasse einige Mozarts sitzen). Dann können schulische Musikproduktionen bestenfalls propädeutische Funktion haben. Wenn ästhetische Erfahrungen gar nicht von Produkten abhängig gemacht werden, son­dern allein von der individuellen Wahmehmungsaktivität, dann erscheint die produkti­onsdidaktische Inszenierung von ästhetischen Erfahrungssituationen in der Schule gera­dezu leicht: Dann kann man - zugespitzt gesagt - produzieren, wie und was man will, und die Menschen machen ästhetische Erfahrungen - oder auch nicht. Das didaktische Problem bei Konzeptionen, die einen derart strikt subjektorientierten Begriff von ästhe­tischer Erfahrung haben, ist, daß sie keine weiteren Orientierungshilfen für die Einrich­tung von Erfahrungssituationen geben können als die, offene Prozesse zuzulassen.& Wenn ästhetische Erfahrungen mit schulischen Produkten möglich sein sollen, dann kann auch Produktionsdidaktik ihren musikdidaktischen Zweck erfüllen, indem sie (wirklich) musikalische Produkte herstellt.

Ein Blick auf Abb. 2 zeigt, daß keine der untersuchten Konzeptionen einen Begriff von ästhetischer Erfahrung ins Zentrum rückt, der alle drei Thesen gemeinsam umfaßt: (1.) Das Ermöglichen ästhetischer Erfahrungen (2.) ohne per se vorgegebene Techniken und (3.) mit ästhetischen Produkten. Zwar finden sich in den Konzeptionen von Henze, Orff, Schütz, Roseher u. a. Hinweise auf entsprechende Beobachtungen, aber die führen nicht zu didakti­schen Akzenten. Darum stehen die in Gruppe B 1 versammelten Aussagenfelder in Klam­mem. Die Aufteilung der Gruppen ästhetischer Theorie in Abb. 2 spiegelt zugleich einen grundsätzlichen Streit um den Begriff von ästhetischer Erfahrung wider, dessen verschie­dene Positionen auch in anderen, nicht speziell produktionsdidaktischen Konzeptionen ver­treten werden (vgl. Richter, Jank/Meyer/Ott, Nykrin, Stroh und dazu Kaiser 1995). Kurz gesagt dreht sich der Streit um die Frage, ob ästhetische Erfahrurigen entscheidend vom Objekt oder vom Subjekt abhängen (vgl. in diesem Sinne Jank 1996). Dagegen bietet sich nun ein neues Modell von ästhetischer Erfahrung an, das der Subjekt-Objekt-Alternative ein striktes Weder-noch und Sowohl-als-auch entgegenstellt - was zu neuen didaktischen Akzenten führt. '·

4. Ein relationales Modell ästhetischer Erfahrung rührt weiter Die Umrisse der ästhetischen Theorie von Gruppe Bl in Abb. 2 entsprechen nicht allein meinen schulpraktischen Erfahrungen und beiläufigen Bemerkungen in vielen produktions­didaktischen Konzeptionen, sondern auch einem relationalen Begriff von ästhetischer Erfahrung, wie ihn in letzter Zeit Martin Seel in seiner Untersuchung von Platon über Kant und Dewey bis Adomo und Welsch aufgearbeitet hat.9 Ein solches relationales Modell ästhetischer Erfahrung bietet eine Lösung des Streits um die Subjekt-Objekt-Alternative,JO es ermöglicht eine systematische Beschreibung der Gruppe B 1 und liefert darüber hinaus einige begriffliche Unterscheidungen, die sowohl für die Planung als auch (bei älteren Schü­lerlnnen) im Unterricht selbst zu verwenden sind, um den Eigensinn und die Vernünftigkeit ästhetischer Praxis zu veranschaulichen. Ausgehend von den Abb. 3 - 5 werde ich sie in den folgenden Abschnitten beschreiben.

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Ästhetische Rationalität

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Abb. 3 (C. W.): Die Dimensionen der Ver­nunft nach See[

Ethische Rationalität

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Rationalität

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Moralische ~ Instrumentelle Rationalität

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Rationalität

Abb. 4 (C. W.):

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Drei Dimensionen ästhetischer Wahrnehmung und Grundformen ästhetischer Praxis

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And~re ästhetische Prajen \ I \ I \ I \ I \ I

Astherische Praxis der Kunst

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Andere Wahrnehmungsformen

Abb. 5 (C. W.): Die ästhetishe Praxis der Kunst ist ein Zusammenspiel der drei Grund­formen

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Ästhetische Erfahrungen sind nicht von Kunstwerken abhängig. Sie sind auch nicht von der Verwendung bestimmter ästhetischer Techniken abhängig, seien dies nun Lautimitationen oder Leittonauflösungen, Parameterstrukturen oder gestalthafte Proportionen. Menschen können ästhetische Erfahrungen zum Beispiel angesichts einer Landschaft machen oder beim Lauschen auf ein besonderes Echo, ein Bachgenesel oder die Klänge eines Vortrags. Worin liegt aber dann das Gemeinsame aller ästhetischen Erfahrungen, wenn diese beim Hören sowohl eines Kunstwerks, eines aktuellen Hits, einer Improvisation als auch eines zufälligen Alltagsphänomens gemacht werden können? Als Gemeinsamkeit faßbar bleibt nur eine Form der ästhetischen Wahrnehmung bzw. eine Art der Weltzuwendung als Grund­form ästhetischer Praxis, wie sie sich in einer spezifischen, nämlich ästhetischen Rationa­lität zeigt (vgl. Abb. 3). Die grafische Darstellung in Abbildung drei veranschaulicht zugespitzt, warum Menschen unvernünftig handeln, wenn sie auf eigensinnig ästhetische Praxen und Erfahrungen ver­zichten: Ihnen fehlt eine Ecke.Jl Der Verzicht auf ästhetische Praxis ist also irrational, nicht die ästhetische Praxis. Um diese Art der Weltzuwendung geht es primär im Musikunterricht Nicht um die theoretische, ethische, moralische oder technisch-instrumentelle. Es geht um musikalisch-ästhetische Praxis, damit musikalisch-ästhetische Erfahrungen daraus hervor­gehen können. Wenn Schülerinnen aus solcher ästhetischen Praxis heraus ästhetische Erfah­rungen machen, dann zeigt sich ihnen die innere ,,Logik" bzw. die spezifische Rationalität solcher Praxis. Wenn diese sich dann nicht nur gezeigt, sondern in bemerkenswerten Erfah­rungen auch bewährt hat, dann geht davon ein Impuls aus, ästhetische Praxen erneut aufzu­suchen und damit der ästhetischen Art der Weltzuwendung ihren vernünftigen Platz in der Lebenspraxis einzuräumen. (Dies ist eine weitere Begründung dafür, warum ästhetische Erfahrung das Ziel musikdidaktischen Handeins sein sollte, s. o. Abschnitt 2) In der ,,Ecke" ästhetischer Praxen (Abb. 3) können noch einmal drei Dimensionen der ästhe­tischen Wahrnehmung bzw. drei Grundformen der ästhetischen Praxis unterschieden wer­den: Die korresponsive, die kontemplative und die imaginative (vgl. Abb. 4 und die folgen­den Abschnitte). Abb. 5 schließlich veranschaulicht die ästhetische Praxis der Kunst nach der Unterscheidung von Abb. 4 als eine spezielle Form von ästhetischer Praxis, die dadurch gekennzeichnet ist, daß die drei Grundformen in ein Wechselspiel miteinander geraten. Diese Unterscheidung erlaubt es, auch etwa den Tanz der Derwische, tibetischen Meditati­onsgesang und die Hausaufgaben-Begleitmusik oder andere Praxen des akustischen Raum­designs als ästhetische Praxen zu thematisieren, ohne daß sie zugleich mit der ästhetischen Praxis der Kunst zusammenfallen oder als Kunstwerke aufgefaßt werden müssen.

5. Produkte in Relation zu drei Grundformen ästhetischer Wahrnehmung Es mag erstaunen angesichts meiner Betonung der Produktorientierung, aber das relationale Modell begreift ästhetische Erfahrungen von der ästhetischen Wahrnehmung her. Was bedeutet ästhetische Wahrnehmung? Ich werde mich um der Übersichtlichkeit willen zunächst nur auf eine der drei Grundformen beziehen: die kontemplativ-ästhetische Wahr­nehmung als eine Grundform ästhetischer Praxis. Zunächst muß aisthetische von ästhetischer Wahrnehmung unterschieden werden. Denn eine sinnliche (=ai-sthetische) Wahrnehmung allein macht noch keine ästhetische Wahrneh­mung aus; auch nicht in der Grundform ästhetischer Kontemplation, die der aisthetischen Wahrnehmung sicher am nächsten kommt. Zum Beispiel können wir einen Vortrag durch­aus auditiv (d. h. mit dem Sinnesorgan Ohr) wahrnehmen, dabei aber ein theoretisches oder

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ein moralisch-ethisches oder praktisch-instrumentelles Interesse verfolgen. Eine ästhetische Erfahrung dürfte aus dieser Art der Weltzuwendung kaum hervorgehen. Es könnte aber auch sein, daß uns der Inhalt nicht interessiert oder etwas anderes uns veranlaßt, dem gleich­mäßigen Klangband des Vortragenden mit seinen klanglichen Eigentümlichkeiten zu lau­schen, vielleicht kehrt ein bestimmter Klang ohne inhaltliche Notwendigkeit wieder, viel­leicht kehrt ein bestimmter Klang ohne inhaltliche Notwendigkeit wieder, vielleicht kehrt ein bestimmter Klang ohne inhaltliche Notwendigkeit wieder, bildet nach einer Weile inter­essante Konstellationen mit anderen akustischen Attraktionen im Raum oder vereint sich mit optischen, olfaktorischen, haptischen Phänomenen zu einer rein gegenwärtigen, kon­templativ-sinnfreien ästhetischen Wahrnehmung. Dies ist nach meiner Erfahrung eine ästhe­tische Art der Weltzuwendung, die Schülerinnen und Schülern aus ihrem Schulalltag nicht ganz fremd ist. Wer darin geübt ist, kann diese Einstellung jederzeit einnehmen und jedes beliebige Objekt kontemplieren, sei dies nun das Farbenspiel einer Verkehrsampel, die Stimme eines Vortragenden oder das Geräusch einer Restauranttür, bei dem John Cage ein­mal gefragt wurde, ob dies Musik sei. Er antwortete sinngemäß: ,,lf you celebrate it, it is." Dieses Zelebrieren ist mehr als pure Sinnlichkeit, auch wenn es mit dem Absehen von Sinn darauf hinausläuft. Diese Wahrnehmung als aisthetische im Sinne von sinnlich-auditiv zu beschreiben erfaßt die ästhetische Art dieses Wahrnehmungshandeins nicht. Wir tun also im Musikunterricht für die Ermöglichung von musikalischen Wahrnehmungen und Erfahrun­gen noch nicht genug, wenn wir nur die Haarzellen im Innenohr bewegen. Da hilft nun die Produktorientierung. Wenn ich nämlich einer Schülergruppe ähnlich wie im vorigen Absatz deutlich gemacht habe, was mit ästhetischer Kontemplation gemeint ist, dann ergibt sich schnell, daß es für die Wahrnehmungspraxis der ästhetischen Kontempla­tion unterschiedlich gut geeignete Objekte gibt. (Die Hausaufgabe, einen beliebigen Gegen­stand 10 Minuten zu kontemplieren, ergab zum Beispiel, daß Brötchen nicht so leicht zu konternplieren sind wie eine laufende Waschtrommel und Stimmengewirr in einer vollen Badeanstalt leichter als eine persönliche Beleidigung.) Wie müßte demnach ein musikali­sches Produkt klingen, damit wir es kontemplativ gelungen oder schön oder attraktiv nen­nen können? Eine spannende Produktionsaufgabe. Und die Schülerinnen können über die ästhetisch-kontemplative Qualität des Produkts nur urteilen, wenn sie sich ihm in der ent­sprechenden Wahrnehmungseinstellung zuwenden. Werner und Else (aus Abb. 1) müßten sich also zunächst vom Betrachter ab und dem Klang zuwenden. Sie scheinen sich aller­dings über die ästhetische Qualität ihrer Bandschleife noch nicht ganz einig zu sein. Viel­leicht stören Werner Korrespondenzen zu einigen lndustrial-Metal-Scheiben seines Bruders, und Else fühlt sich beinahe ebenso gestreBt von dem Geräuschband wie von den Musique­concrete-Beispielen, die ihnen der Musiklehrer einmal vorgespielt hat.t2 Beide Korrespon­denzen - die assoziativen und die ausdruckshaft-gefühlsmäßigen - behindern die ästheti­sche Kontemplation der beiden, so daß noch etwas an der Bandschleife geändert werden muß. Ich beende dieses Beispiel hier, obwohl die Beschäftigung mit ästhetisch kontemplativer Wahrnehmung noch zu vielen anderen Fragen und musikalischen Traditionen und Stilmit­teln führt, die von Aktionskunst, Schrott-, konkreter und elektronischer Musik über Mini­mal-Music, Techno und Bachfugen bis zu mönchischen Meditations- und anderen Trance­techniken reichen. Die Funktion des Produkts in bezog auf die Wahrnehmung hat sich in dem Beispiel schon gezeigt: Einerseits dient es zur Verständigung über ästhetische Wahr­nehmungen und Erfahrungen, andererseits wird es zum Gegenstand der Wahrnehmung und Erfahrung, den wir in der ästhetischen Wahrnehmung nicht danach beurteilen, ob er mora-

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. bigen Gegen­acht so leicht zu

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lisch korrekt, praktisch zu handhaben oder empirisch nachweisbar ist. Treffender erscheint folgende Beschreibung: Kontemplativ-ästhetisch gelungen ist das Produkt dann, wenn es uns das Einnehmen der ästhetisch-kontemplativen Wahrnehmungseinstellung erleichtert, uns zum Verweilen in diesem Vollzug verführt und uns vielleicht wünschen läßt, dieses ästhetisch-kontemplative Produkt erneut aufzusuchen oder es anderen zu empfehlen, weil wir meinen, anderen müßte es damit ebenso ergehen. Die ästhetisch-kontemplative ist nun erst eine von drei Dimensionen ästhetischer Wahrneh­mung. Neben der kontemplativen gibt es noch die korresponsive und die imaginative ästhe­tische Wahrnehmung (Abb. 4). Die drei Dimensionen ästhetischer Wahrnehmung und die durch sie bestimmten Grundformen ästhetischer Praxis kommen kaum in Reinform vor und sind nicht hermetisch voneinander abgegrenzt (darum sind die Grenzlinien in Abb. 3-5 gestrichelt), aber zur Orientierung und didaktischen Akzentsetzung erweist sich die Unter­scheidung als nützlich. Außerdem erlaubt sie es, ästhetische Wahrnehmungen und Praxis­formen über das Aisthetische hinaus zu konkretisieren und die Funktion von ästhetischen Produkten zu klären, ohne daß ästhetische Erfahrungen sogleich von Werken der Kunst oder von anthropologischen Konstanten abhängig gemacht werden müssen. Wo die ästhetische Kontemplation von jeglicher Bedeutung oder korresponsiven Ausdruck­haftigkeit absehend sich in zeitloser Gegenwärtigkeil allein der sinnfreien Wahrnehmung der Phänomene hingibt, da ist die ästhetische Imagination konstruktiv auf der Suche nach sinnvollen Wahrnehmungen, also nach möglichen Interpretationen dessen, was in einem Objekt artikuliert erscheint. Die imaginativ-ästhetische Wahrnehmung distanziert sich wie auch die kontemplative vom Objekt, aber ihr Interesse gilt dem, was dort wie artikuliert wird. Zum Beispiel wird sich die Imagination in jeden Versuch einschalten, ein ästhetisches Produkt, das allein zur Kontemplation verführen soll, rein kontemplativ wahrzunehmen, indem sie es zugleich als Ausdruck für Sinnfreiheit wahrnimmt und auf die verwendeten Mittel bzw. Techniken hin befragt. So führt also schon der Versuch, ein rein kontemplativ­ästhetisches Produkt herzustellen in eine Paradoxie und in die ästhetische Praxis der Kunst (vgl. Abb. 5), die durch das auf rätselhafte Weise nicht zur Ruhe kommende Wechselspiel zwischen verschiedenen Grundformen ästhetischer Praxis bestimmt ist. Die Ästhetik (gemeint ist die ästhetische Praxis) der Imagination - "die konventionellste unter den Strömungen der modernen Ästhetik" (Seel 1996, S. 37) - ist von Anfang an mit der Ästhetik der Kunst verbunden. Beispiele für diese ästhetische Praxis gibt es zuhauf. Zum Beispiel wenn ein Zusammenhang zwischen Bachs "Kunst der Fuge" und Keplers Weltbild hergestellt wird (vgl. Schleuning 1993, S. 199) oder wenn Techno von einem DJ (Lenz 1997, S. 33) folgendermaßen beschrieben wird: ,,Die hass drum ist der Herzschlag dieser Musik. Der Herzschlag der Mutter. Das ist Sicherheit, Geborgenheit, das Versprechen des Lebens. Aber man kann nur für Momente im Leben erlöst werden. Ekstase der Befreiung. Auslöschung der Alltagszeichen. Als Akt der Klarheit, nicht als Stumpfsinn". Solche konstruktiv sinnvollen Imaginationen können mit der Zeit als solche in Vergessen­heit geraten und zu sinnhaften Wahrnehmungen, zu ästhetischen Ko"espondenzen13 beim Hören der entsprechenden Musik werden.

6. Die Produktion eines Klassensongs als Beispiel für eine stark korresponsiv­ästhetische Praxis Bei der Wahl der Kleidung, der Frisur, der Automarke und des Autoradios wie auch der Ein­richtung der Wohnung, der Zubereitung des Essens und der Wahl der Tafelmusik sind wir in

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psser Weise täglich "Künstler". Wir gestalten uns und unsere Umgebung so, daß sie unserer Lebensform möglichst entspricht, sie ausdrückt und intensiviert. Dieser korrespon­siven Praxis entspricht eine Art der ästhetischen Wahrnehmung, die unmittelbar auf Gestalt und Ausdruck eines Gegenstandes oder Raumes bezogen ist, mittelbar aber auf die Lebens­konzeption des Wahrnehmenden. Wenn jemand zum Beispiel bei einem Vortrag eine Woll­mütze trägt, dann können wir vermuten, daß er Kopfschmerzen hat, wahrscheinlicher aber ist, daß wir dies korresponsiv als Ausdruck einer Lebenseinstellung wahrnehmen. (Von sti­listischen Eigentümlichkeiten der Redeweise und anderem ganz abgesehen.) "Korresponsiv schöne Gestalt hat, was Ausdruck einer geteilten oder teilbaren und in dieser Gestalt wirk­lich gewordenen Konzeption des Lebens ist. Korresponsiv häßliche Gestalt hat, was Aus­druck und Wirklichkeit eines nicht geteilten oder teilbaren (oder geradezu widerwärtigen) Existenzideals ist und sich somit spürbar inkongruent zum eigenen Leben verhält." (Martin Seel1991, S. 24l)l4Jch möchte an dieser Stelle darauf verzichten auszudiskutieren, ob und warum eine Mütze korresponsiv schön ist oder häßlich (oder vielleicht sogar erhaben) und statt dessen die Aufmerksamkeit auf ein Beispiel aus der Schule richten. In der Max-Brauer­Schule (Hamburg) finden sich die Schülerinnen im 12. Jahrgang (Sekundarstufe 2) zu neuen Lemgruppen, den sogenannten Profilen zusammen, und in den letzten Jahren hat sich die Produktion eines sogenannten ,,Profilsongs" als äußerst beliebt herausgestellt. Einer Befra­gung der wissenschaftlichen Begleitung des Modellversuchs zu fächerverbindendem Unter­richt zufolge betrachtet eine große Mehrheit der Schülerinnen diesen Profilsong als effektiv für musikalisches Lernen und als einem Profil "SpuK" (Sprachen und Kulturenvielfalt) unbedingt zugehörig. Die SpuK-Schülerinnen besuchen gemeinsam die Leistungskurse Geschichte sowie Englisch oder Spanisch und die Grundkurse Musik und Religion. Das fächerübergreifende Thema des ersten Halbjahres heißt ,,Jugendwelten", die Schülerinnen reflektieren Jugend und Sozialisation in Geschichte, jugendkulturelle Muster in Englisch und Spanisch sowie in Religion die Funktion von Initiationsriten, Ritualen, Symbolen und dergleichen. In Musik geht es, kurz gesagt, darum, einen korresponsiv schönen Song zu pro­duzieren. Also einen Song, in dem sie ihre Situation als Gruppe von Jugendlichen im SpuK­Profil ausgedrückt finden. Auch als eine Kombination von Individuen mit unterschiedlichen jugendweltlichen Hintergründen und Erwartungen an die Schule. Bisher wurde viermal die Form gewählt, sich auf einen Refrain zu einigen und in Strophen unterschiedliche Stile und Perspektiven zu artikulieren. Eine Rondoform. Die folgenden drei Refrain-Beispiele lassen schon im Text einen unterschiedlichen Gruppen-Stil erkennen.

(Refrain einer Gruppe (Latin)) Keep on spuking around the culture, keep on spuking around the world (2x) Vamos a bailar, vamos a cantar, que todos juntos vamos a ganar, vamos a bailar, vamos a cantar, ulki spulki ulti multi kulti ulki spulki Keep on spuking -

(Refrain einer anderen Gruppe (Ska)) Sprachen Kulturenvielfalt, spuken ist ne Kleinigkeit, ein Leben der Gemeinsamkeit für Freiheit und Gerechtigkeit. Wir wolln das Abi, wie wir's kriegen ist ganz egal, dödeln hier so'n Ritual, und schon ham wirs, das ist echt genial. Spuu, Spuu, Spuu ... Wir wolln das Abi, ein Leben der Gemeinsamkeit, wir spuken hier so'n Ritual für Freiheit und Gerechtigkeit.

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Gestalt wirk-

.... lti., eren, ob und erhaben) und

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(Refrain einer dritten Gruppe (Rockballade)) We are a group of 23, four letters stand for you and me. The last ones in this century, and after this we will be free. Fun and groupworks in the classroom. Ahhh, Ahhh. Five past eight, the door goes boom, lots of nations, presentations, Got no wings, but we are the kings. SpuKprofile just for a while, we got no wings, but we can fly. SpuKi's groove, so Iet us move, just working out the SpuKi's groove.

Sind diese Refrains bzw. ganze Profilsongs nun korresponsiv schön bzw. gelungen?I5 Das zu beurteilen ist nicht ganz leicht. Für den Leser sind diese Refrains mit hoher Wahrschein­lichkeit korresponsiv nicht schön, weniger noch als für mich, der ich aufgrund meiner bes­seren Kenntnis des situativen Kontextes mehr Korrespondenzen wahrnehme. Und wie war und ist es für die beteiligten Schülerinnen und Schüler? Die Profilgruppe des letzten Bei­spiels möchte noch einmal einige Nachmittage investieren, um eine gute Audio-Aufnahme zu machen. Daraus darf ich schließen, daß es ihr nicht allein darum geht, ein Andenken an ein gemeinsames Event zu bekommen, denn als Andenken würde auch der vorliegende Mit­schnitt genügen. Sie findet in ihrem Song ästhetische Korrespondenzen ausgedrückt, die allerdings noch besser ausgeführt und auch aufgenommen werden sollen. Ein ästhetisch unattraktives Produkt würde diesen Antrieb nicht erzeugen. Darüber, ob eine derart perfek­tionierte Aufnahme - auf CD gebrannt oder nur auf Kassette - während der verbleibenden Schulzeit und womöglich auch danach für eine ästhetisch-korresponsive Praxis herangezo­gen würde, kann ich hier nur spekulieren, wenn auch nicht ohne gute Grunde (empirische Forschung gibt es dazu meines Wissens nicht). Es scheint mir ziemlich sicher, daß etwa auf einem Profil- oder Klassentreffen alle Plauder­eien und vermutlich auch Tänze unterbrochen werden würden, wenn irgendwann der frisch abgemischte Profilsong aufgelegt würde. Jeder einzelne würde den anklingenden Korre­spondenzen nachlauschen und für irritierende Stellen Verstehensmöglichkeiten imaginieren, die die Stellen erklären, die sich den gefühlten Korrespondenzen widersetzen, ohne aus­drucklieh als korresponsiv häßlich wahrgenommen zu werden. Der frisch abgemischte Song würde also gar nicht zu einer dominierend korresponsiven, sondern eher zu einer imagina­tiven ästhetischen (Wahrnehmungs-) Praxis verleiten. Erst wenn er sich hier als stimmig erweist, wird der Song auch als Hintergrundmusik Verwendung finden, vielleicht nach einer mißratenen Klausur stärken, auf der Klassenreise im Bus genossen und zur Abschlußfeier zelebriert werden können. Ganz so weit hat es, soviel ich weiß, noch keiner der vorliegen­den Songs gebracht. Dennoch - so behaupte ich - hat die Produktion jedes der Songs mit dem Anspruch, ihn korresponsiv schön zu machen, in Situationen ästhetischer Praxis und Erfahrung geführt. Und zwar gar nicht primär zu korresponsiven, sondern zu kontemplati­ven und imaginativen ästhetischen Wahrnehmungen; und dieses Ineinander der drei Dimen­sionen ästhetischer Wahrnehmung kennzeichnet die ästhetische Praxis der Kunst (vgl. Abb. 5). In der Auseinandersetzung um die korresponsiv schöne Gestalt des Songs müssen die Schülerinnen wie oben Werner und Else bei der Bandschleifenproduktion die Korrespon­denzen ihrer Mitschülerinnen imaginieren, alternative Ausdrucksweisen in Musik, Text, Bewegung, Outfit und Bühnenbild suchen und deren ästhetische Gehalte oder auch nur potentielle Gehalte zu vernehmen trachten, weil eben diese bestimmend sind für ästheti­sches Gelingen. Zugleich aber führt diese ästhetische Entfernung von allen schnellen, all­täglich interessegeleiteten Wahrnehmungen in eine interesselose Distanz zu allem - bis hin

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zur Begegnung mit dem eigenen Geschmack -, ohne daß Lehrerinnen einen bestimmten anderen, etwa im Lehrplan oder sonstwie offiziell festgelegten Geschmack dagegensetzen müßten. Die ästhetische Praxis birgt ihr kritisches Potential in sich selbst.J6 Auch die Produktion eines korresponsiv-ästhetischen Produkts, wie zum Beispiel eines Pro­filsongs, der auch als Klassensong oder Wir-Lied beschrieben werden kann, führt also in kontemplativ- und imaginativ-ästhetische Praxen hinein. Darüber hinaus machen Schüle­rinnen und Schüler sowie auch Kolleginnen und Kollegen aus anderen Fächern immer wie­der einen gemeinschaftsbildenden Effekt geltend und bringen die Musiklehrerin bzw. Musi­kexpertln damit in Verlegenheit. Steht doch diese Begründung für eine schulische Musik­praxis unter einem musikpädagogischen Bann, nachdem sie, kurz gesagt, von nationalso­zialistischer Musikerziehung als musische Erziehung einseitig geltend gemacht werden konnte (vgl. Nykrin 1994, S. 201 f. u. a.). Der soziale Effekt kann nach meiner Erfahrung auch heute ein starker Grund für die Plazierung musikalischer Praxis in der Schule sein. Dürfen wir als Musikpädagoginnen solche Begründung heranziehen? Ich vermute, daß der gemeinschaftsbildende Effekt und das Ermöglichen von ästhetischer Erfahrung einander nicht ausschließen müssen. Dazu besteht noch Forschungsbedarf. Nur sovielließ sich schon zeigen, daß auch die Produktion von korresponsiven Produkten in kontemplative und ima­ginative ästhetische Praxen hineinführt und damit ästhetische Erfahrungen ermöglicht. Ich fasse zusammen: Die neuen Akzente auf dem Weg zu ästhetischen Erfahrungen liegen darin, daß keine bestimmte musikalische Technik unbedingt verwendet werden muß, so daß die konkrete Situation an der Einzelschule und in der einzelnen Lerngruppe zum Ausgangs­punkt der Planung einer Produktion gemacht werden kann. Dabei empfiehlt es sich aller­dings, die Produktion an der Herstellung von ästhetischen, das heißt korresponsiv-sinnhaf­ten, kontemplativ-sinnfernen und/oder imaginativ-sinnkonstruktiven Produkten und deren entsprechender Wahrnehmung zu orientieren. Die modellhafte Unterscheidung verschiede­ner Arten der Praxis in einer vernünftigen Lebensführung liefert beiläufig eine anschauliche Begründung für Musik als einer ästhetischen Praxis in der Schule: Der Verzicht darauf wäre irrational.

Anmerkungen I Damit sind eher "empirische Kompositionen" (Paynter/Aston 1972) als Improvisationen

gemeint, die kürzlich Eckhardt ( 1995) ausführlich untersucht hat. 2 Die Bezeichnung als Konzeption trifft zweifellos eher auf so umfangreich dokumentierte

produktionsdidaktische Ansätze wie die von Orff und Roscher, aber auch Meyer-Denk­mann, Schütz und Henze zu als auf diejenigen von Koerppen, Hansen oder auch Jöde. Grundsätzlich wird hier das Wort "Konzeption" verwendet, wenn pauschal von den untersuchten Texten zur Produktionsdidaktik die Rede ist. Zur Ambivalenz der Begriffs­verwendung in der Musikpädagogik vgl. Ott 1993, S. 137. Für eine besonders enge Ver­wendung von Konzeption entscheidet sich Gruhn 1993, S. 330 f. Bei der Auswahl des Textmaterials zur Produktionsdidaktik habe ich mich auf deutsch­sprachige Konzeptionen beschränkt, die umfassender als in einzelnen Aufsätzen entfaltet vorliegen. Ausgenommen habe ich außerdem die sogenannten Kreativitätsdidaktiken, weil deren Argumentationszusammenhang potentiell quer zum Begriff ästhetischer Erfahrung liegt. Ausnahmen bilden Hansen (1975) mit einem exemplarisch-problemati­schen Begriff von ,,reiner Musik" und - hinsichtlich eines zentralen Begriffs ein Vorrei­ter der Kreativitätsdidaktiken- Jöde (1928) mit dem Begriff der "schöpferischen Kräfte".

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visationen

Meyer-Denkmann (1972) wird zwar gelegentlich auch als Kreativitätsdidaktik bezeich­net, aber das trifft nicht das Zentrum ihrer früheren wie späteren Schriften. Anmerkungen zu Longardt (1968), Stiefel (1976), Lehr (1979) und Hoerburger (1991) finden sich in einer ersten systematisierenden Darstellung von Wallbaum (1995) sowie in einer aus­führlichen Dokumentation der Analysen zu den ausgewählten Konzeptionen (siehe unten Abb. 2) unter dem Arbeitstitel ,,Produktionsdidaktik und ästhetische Erfahrung" (in Vor­bereitung).

3 Ein anderes Beispiel mit einer schulischen Samba-Batueacta als musikpraktischem Kurs habe ich in Wallbaum 1997 beschrieben.

4 "Kulturell", "teilkulturell" und ,,lebensweltlich" werden hier gleichsinnig insofern ver­wendet, als sie die nicht-universelle Verwachsenheil jeder Subjektivität (und damit auch jeder ästhetischen Erfahrung) mit soziokulturellen Umständen anzeigen (vgl. dazu die zusammenfassende Darstellung in Habermas 1988, S. 63 - 104). Diese Begriffsverwen­dung neben anderen erläutert auch Jürgen Vogt 1997, S. 39 f.

5 Vgl. dazu Kaisers (1995, S. 19- 26) Überlegungen zu Herbart und Rolles Zusammen­fassung seiner Überlegungen zum Zusammenhang von ästhetischer Erfahrung und Bil­dung in einem Satz (1999, S. 5, 6, 11): "Musikalische Bildung findet statt, wenn Men­schen in musikalischer Praxis ästhetische Erfahrungen machen."

6 Daß es auch musikpädagogische Verwendungen des Wortes Musik gibt, die Musik nicht als eine ästhetische Praxis auffassen, habe ich anband einer Analyse vieler Texte von Volker Schütz herausgearbeitet, der sich zu wesentlichen Teilen auf Kaiser und Gruhn bezieht (vgl. Wallbaum 1998).

7 Das ist unglaubwürdig, denn dementsprechend müßte ,Nacht' in "A Night in Tunesia" dasselbe bedeuten wie im "Nocturne", in "Verklärte Nacht", "Mondnacht", "Gute Nacht" oder "Nights in White Satin" (vgl. ausführlicher Vogt 1998).

8 Diese Schlußfolgerung spitzt Nimczik in der Formulierung zu: ,,Das Gelingen ermißt sich in der Gewährung von Spielräumen" (1991, S. 33 kursiv C.W.).

9 Seel1985 und 1991, eine Kurzdarstellung von 1991 findet sich in Seel1996. Eine detail­lierte Beschreibung in bezug auf musikalische Praxen mit produktionsdidaktischen Bei­spielen ist in Vorbereitung.

10 Es bringt nicht einfach zusätzlich zu Subjekt und Objekt einen dritten Aspekt ins Spiel -nämlich das Verhältnis zwischen beiden (vgl. in diesem Sinne Jank 1996, S. 249) -, son­dern schafft etwas ganz neues; denn die Bedeutung von musikalisch hörendem Subjekt und musikalisch gehörtem Objekt ist nun nicht mehr dieselbe wie vorher.

11 Dieses Tortendiagramm kann auch im Unterricht helfen, wenn Schülerinnen fragen, wozu es Musikunterricht gibt. Zum alltäglichen Legitimationsdruck von Lehrerinnen vgl. auch Combe 1994, S. 217.

12 Vgl. dazu die Unterrichtsbausteine und Klangbeispiele zum Zusammenhang von Futu­rismus, Musique concrete und Soundscape in Wallbaum 1998b.

n Vgl. Seel (1991, S. 176): "Die imaginative Genese eines bestimmten Naturverhältnisses oder einer bestimmten Naturerscheinung macht diese nicht notwendigerweise selbst zum imaginativen Verhältnis [ ... ). Eine »Vergessene«, eine im Lauf der Zeiten »verschwun­dene« Projektion ist nicht länger eine Projektion: sie ist zum korresponsiven Naturver­hältnis geworden." Da Seel die prinzipielle Dreidimensionalität der ästhetischen Wahr­nehmung nicht allein für die Ästhetik der Natur beansprucht, muß seine Äußerung auch auf die ästhetische Wahrnehmung von Musik übertragbar sein. (In ähnlicher Weise wer­den aus neurophysiologischer Sicht Gefühle als konzentrierte Erfahrungen beschrieben.

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Vgl. Roth 1994, S. 212) 14 Eine zugespitzte Formulierung dieser Art der Wahrnehmung könnte lauten: Was zu mei­

ner Lebenseinstellung bzw. (Teil)k:ultur paßt, das gefällt mir. Eine davon abgeleitete These habe ich (in 1998a) zum Ausgangspunkt für ein ästhetisches Wahrnehmungsexpe­riment in der Schule gewählt: Wenn ich mein Leben bzw. meine (teil)k:ulturelle Zugehörigkeit ändere, dann ändern sich auch meine ästhetisch-korresponsiven Wahrneh­mungen

15 Die Frage kann auch ohne Kenntnis der entsprechenden - filmisch unambitionierten -Videos oder einer Notation gestellt werden ..

16 Die ästhetischer Praxis innewohnende Kritik ist nicht zu verwechseln mit einer marxi­stisch-gesellschaftstheoretisch begründeten Kritik an Produktionsbedingungen, Kulturin­dustrie und ihren Produkten, wie sie - unter dem Einfluß von Adorno, Horkheimer u. a. -zum Beispiel von Roseher (1970), Meyer-Denkmann (1972) und Henze (1986, vgl. auch Bultmann 1992) vertreten wurde. Die kritische Potenz beruht nicht auf der Kennt­nis einer übergreifenden (z. B. historisch-materialistischen oder anders wissenschaftlich­theoretischen) Wahrheit, sondern auf der eigensinnig (nämlich ästhetisch) rationalen Welt- und Selbstwahrnehmung, die durch keine der anderen Rationalitäten (vgl. Abb. 3) einzuholen ist. Die kritische Differenz zu anderen Sichtweisen kann sich nur aus ästheti­scher Praxis ergeben.

Literatur (Den in Abb. 2 angezeigten Aussagenfeldern von Henze, Orff, Roscher, Meyer-Denkmann und Schütz liegen wesentlich mehr Texte zugrunde als hier aufgeführt werden.) Brockmeier, Jens: Vermittlung und Sinn: Über die Aneignung der ästhetischen Bedeutung. In: Henze 1986, S. 272 - 316 Buhmann, Johannes: Die kulturpädagogische Arbeit Hans Werner Henzes am Beispiel des "Cantiere lnternazionale d'Arte di Montepulciano". (= Perspektiven zur Musikpädagogik und Musikwissenschaft 16). Regensburg (Bosse) 1992 Combe, Amo I Helsper, Werner (Hg.): Was geschieht im Klassenzimmer? Perspektiven einer hermeneutischen Schul- und Unterrichtsforschung. Zur Konzeptualisierung der Pädagogik als Handlungstheorie. Weinheim (Deutscher Studien Verlag) 1994 Eckhardt, Rainer: Improvisation in der Musikdidaktik: Einehistoriographische und syste­matische Untersuchung. (Reihe Forum Musikpädagogik) Augsburg (Wißner) 1995 Eckhart-Bäcker, Ursula (Hg.): Musik- lernen - Theorie und Praxis: Sitzungsbericht 1993 der Wissenschaftlichen Sozietät Musikpädagogik ( = Musikpädagogik. Forschung und Lehre). Mainz (Schott) 1996 Gruhn, Wilfried: Geschic~te der Musikerziehung: Eine Kultur- und Sozialgeschichte vom Gesangsunterricht der Aufklärungspädagogik zu ästhetisch-kultureller Bildung. Hofheim (wolke) 1993 Habermas, Jürgen: Nachmetaphysisches Denken: Philosophische Aufsätze. Zitiert nach Frankfurt/M. 1992 (Suhrkamp Taschenbuch) 1. Aufl. 1988 Hansen, Nils: Kreativität im Musikunterricht Wien (rote reihe, universal edition) 1975 Helms, Siegmund I Schneider, Reinhard I Weber, Rudolf (Hg.): Kompendium der Musik­pädagogik. Kassel (Bosse) 1995 Helms, Siegmund I Schneider, Reinhard I Weber, Rudolf (Hg.): Neues Lexikon der Musik­pädagogik. SachteiL Kassel (Bosse) 1994

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ln~~mPktiven

ng der

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