Von der Kriegslandschaft zur Topologie der Persönlichkeit. Strategien der Sichtbarmachung im Werk...

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& G,I$lIlIlcllaflskritik, 38 (3). 7·15. Mart in Wieser Von der Krie gslandschaft zur Topologie der Persönlichkeit Strategien der Sichtbarmachu ng im Werk Kurt Lewin s ß,'it,,,/{ Zf.· ,-e/mCI dir I·: "t". icklllllg de, Fo rsdwngsproW'I/IIms Kurt 1.':! I'i,! s im Lichte sl'ma Vi5 ullli,i,· .ulIg5t ,·c/"ukclI lI ac/, . Da, Werk L" lI' ins zeigt ,ich iiba I'iel e Jahru1ml., hinweg dl'r OluruIIJ.:IIl1g g .. dass die 5lchtbi3rmachullg II/uicht- b.lrer ps)"dJ/5cb"r K,;;(,e ,md P,o ze$5e suwil' du"" [ ,(ais/mg. Bl'srhreilJU"it. "mi f'unn,IIJ)' il' rlllIg das Z'l'f"lIIeT "'IS$e " slh4tlich,," PJ)"chologil' hIliir. Die /Im! Ll'will MrdiC II. I"'" der phii llumrn ol uguc};<'11 Besc/'r('ib!lll /{, " '-1"'/0:<1 "' 1'''' : "m tOJm/() gisc/)( II Diagram m, I' .. ,halten sich ;I'doc" IIie/;t indif fcrellt gl'.gc l!iiber ihum Ulltcr, II chu"8$jlcgellSlaml. Sull dem habcn ,'/,i,tem%gisc/Il' Ko",t'qUI:I'zt ,,, zichl'n 1:111<' Düla";u'Tll tig de5 /:or$lher5 g,'g,./Iiib", sei",.m UII/er,u - dJIIlIgsgl'g"II$la",/ ",,,h Slrb. Schlüsst'll!<-griff e: Wissem " ha(t iig c$(/,icht e, .-\f"dir llll!co rie. Ges{/"ch t., der I's},c!m/'lglt', Ku rt l •• TO/Jo/"/::I) 'cbr P'yc/w/o.c:i,· !;.·hr illteressif.t;J /I der WiHell$cha( t,tl "'ori" ""be ich bl'rrirs 1)/ 12 als 5lmll'"t "tilgt;:.,,, einer d,'mills 1 001Ii/:: anerka"nt"" philosoJ ,hiuhm A" r(f1s$'III;: dir '11,('$(, vcrt,,/d//::,. daß Ilte PsycholoKIe. dit· .'$ mit eUIi:r Virlfalt vorliegender Faklen ZH / Hn I"u, zur A IIl/lt' II dl/nK "i cht II" r d"s Zeithcg ri ffs . Sümh'r!l all ch de, Ra" ", II/!gritf, ge;"'''' 'g'''' ;,1 . I-"win Die _Kulturgeschic hf e der Unsich tbar kc:i t o< . so sc hr eibt die H islO ri kcrin M:lrtina Hes sl er (2006), ist ci n Buch, dessen Seitcn noch darauf warten, gcfüllt zu werden. Am Wand el des LJm g:\ n gs mit de m Unsichtbaren in den \"( /isscnschaften lassen sich, argumcl1li en I-l csslcr in Anlehnung an den Kunsth isto ri ker Hartmut Böhme (2004), d ie medialen, technischen P &G 3114 7

Transcript of Von der Kriegslandschaft zur Topologie der Persönlichkeit. Strategien der Sichtbarmachung im Werk...

Pl~cllologlfl & G,I$lIlIlcllaflskritik, 38 (3). 7·15.

Martin Wieser

Von der Kriegslandschaft zur Topologie der Persönlichkeit

Strategien der Sichtbarmachung im Werk Kurt Lewin s

Dil"~ ' ß,'it,,,/{ Zf.·,-e/mCI dir I·:"t".icklllllg de, Fo rsdwngsproW'I/IIms Kurt 1.':!I'i,!s im Lichte sl'ma Vi5ullli,i,·.ulIg5t,·c/"ukclI lIac/, . Da, Werk L" lI'ins zeig t , ich iiba I'iele Jahru1ml., hinweg I~}I) dl'r OluruIIJ.:IIl1g g .. pr:i.~I, dass die 5lchtbi3rmachullg II/uicht­b.lrer ps)"dJ/5cb"r K,;;(,e ,md P,oze$5e suwil' du"" [ ,(ais/mg. Bl'srhreilJU"it. "mi f'unn,IIJ)'il'rlllIg das Z'l'f"lIIeT "'IS$e"slh4tlich,," PJ)"chologil' hIliir. Die /Im! Ll'will }"'Timg,'~ogem'" MrdiC II. I"'" der phii ll umrnoluguc};<'11 Besc/'r('ib!lll/{, d~r "'-1"'/0:<1"'1'''' /; i~ :"m tOJm/()gisc/)( II Diagramm, I' .. ,halten sich ;I'doc" IIie/;t indiffcrellt gl'.gc l!iiber ihum Ulltcr, IIchu"8$jlcgellSlaml. Sulldem habcn ,'/,i,tem%gisc/Il' Ko",t'qUI:I'zt ,,, ~ie zichl'n 1:111<' ~IItiehml:lldl' Düla";u'Tlltig de5 /:or$lher5 g,'g,./Iiib", sei",.m UII/er,u ­dJIIlIgsgl'g"II$la",/ ",,,h Slrb.

Schlüsst'll!<-griffe: Wissem "ha(tiigc$(/,ichte, .-\f"dir llll!corie. Ges{/"cht., der I's},c!m/'lglt', Ku rt l •• ~wi ll . TO/Jo/"/::I)'cbr P'yc/w/o.c:i,·

!;.·hr illteressif.t;J /I der W iHell$cha(t,tl"'ori" ""be ich bl'rrirs 1)/ 12 als 5lmll'"t "tilgt;:.,,, einer d,' mills 1001Ii/:: anerka"nt""

philosoJ,hiuhm A" r(f1s$'III;: dir '11,('$(, vcrt,,/d//::,. daß Ilte PsycholoKIe. dit· .'$ mit eUIi:r Virlfalt gh'/C"~ritiK vorliegender Faklen ZH / Hn I"u, In~ tfich zur A IIl/lt' II dl/nK

"icht II" r d"s Zeithcgriffs . Sümh'r!l allch de, Ra"", II/!gritf, ge;"'''''g'''' ;,1.

I-"win

Die _Kulturgeschichfe der Unsichtbarkc:i t o< . so schreibt d ie HislOrikcrin

M:lrtina Hessler (2006) , ist ci n Buch, dessen Seitcn noch darauf warten,

gcfüllt zu werden. Am Wandel des LJmg:\ngs mit dem Unsichtbaren in

den \"(/isscnscha fte n lassen sich, ~o argumcl1lien I-lcsslcr in Anlehnung an

den Kunsthistori ker Ha rtmut Böh me (2004 ), d ie med ialen, technischen

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MBrtin WiBsar

und sozialen Bedingungen ablesen, welche wissensehafdicht:n Bcobach­rungsprozcssen zu Grunde liegen. In den letztt:n Jahren widmt:te ich mic h der Herausforderung, die von I-Iessler aufgeworfene Frage nach dem ,. Imperativ der Sich tbarmaehung .. in den neuzeitlichen Wissenschaften

auf die Geschichte der akademi schen Psychologie umzulegen - einer Di s­ziplin, welche sich ja immer schon an einem kategorial Unsichtbaren abzuarbeiten hatte ivgl. Wieser & Slunecko, 2013, Wiese r 2013, 2014). Im Gegensarz zu Jupitermonden, Ultra violettstrahlen oder Nanoteilchen ist die Frage nach der Sichtbarmachung geistiger StrukTuren und Prozesse ja keine Frage der optischen Vergrößerung materiel ler Objekre oder

Übertragung physiblischer Prozesse in für das menschliche Auge wahr­nehmbare Wellcnliingen, sondern ein e Frage der olltologischen Tralls ­formatioll von Prozessen aus dem immateriellen Reich der Psyche in die Welt ausgedehnter, sichtbarer O bje kte.

Gerade aufgrund der notorischen Unsichtharkeit und Flüchtigkeit der Gedanken und Gdii hle, Erinnerungen und Vorstellungen ist d ie Experi­

mentalpsychologie, so Illeine Th ese, auf dic Srabili s i erung~- und Objekt i­vieru ngsleistungen von visuellen Medien angewiesen, l1ichr nur um der KOllllllunizierbarkeit und Intersubjektivitär ihres Wi ssens wegen, sondern auch um ihren Pla tz in der ehrwürdigen Riege der exakten Naturwissen­schaftcn zu plausibilisicren. Die Refiex ion und Analyse dl~r erkenntnis­

und gegensta ndstheorerischen Konsequenzen, d ie mit der Wah l ei nes besti mmten Mediums und Forschungsi nstrumcnts einhergehen, werden innerhalb der Experimentalpsychologie jedoch hiiufig vernachlässigt (vgl. Slunecko, 2008 ). Weder dit: a llgemeine Wissenschafrsgesehiehtc, die sich traditionell eher fü r die .. exakten .. Experimcntalwissenschaften interes­siert, noch die akademische Psychologie sel bst, die aufgrund der Identiti­kation mit eben jenen ~ harten « Wissemcha hen in der Regel kei n beson­

ders intensives Verhältnis zu ihrer eigenen Vergangenheit pflegt, haben sich delll umfangreichen, wildwüchsigen und his hellte weitgehend vcr­nachlässigten Bild:lrchiv der Psychologiegescllichte gewidmet. Aus dcm vie lgesta ltigen und iiußerst ertragreichen Fundus psychologischer Bilder folgt eine Episode ei ner Visualisierungspraxis, d ie sich zwischen zwei Weltkriegen 1111d Konti nenten abspielt: Stationt:n im Leben Kurt Lewins,

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Von oor Kriegstandschaft zu( Topobgie oor Persönlichke it

cinl:m der zwischenzeirlich bekanntesten Psychologen dl:s 20. Jahrhun­derts, der sich hereits als Student um eine Sichtbarmachung des Unsich t­barl:n miih te, um auf diesem Wege den Raumbegriff in die P~Yl"hologie

lU imponieren.

Kriegslandschaft oder: Zur Phänomenologie des Schlachtfelds

191 7, am Höhepunkt der Grabenkampfc des Ersten Weltkriegs, er­scheint in der Zeitschrift für angewandte Psychologie ein Allfsatz mit

dem Titel KrieKslandsclmft, verfasst von dem 27jiihngcn Kurt Lewin, LeuTnant lmd FeldartillerisT, welcher sich nach Abschluss seiner Disserta­lion am Berliner Psychologischen Institut übl:f das Grundgese/;:; der Assoziation als Freiwilliger zum Deutschen Heer gemeldet hatte. Zwi­schell Schützengräben und Artilleriebeschuss entwirft Lewin eine "Phä­nomenologie der Lamlschafr« (1982a ), welche bereils den Grundriss

seines zukünftigen Forsehlmgsprogrammes beinhalten so llte. l.ewins Er:dhlung folgt dem Soldaten auf dem Weg zur Front: Die

VOll Dörfern, \X' äldern und Äckern gesäuillte Friedenslandsehaft zeigt

sich, so Lewin, dem Betrachter als unendlich, in alle Richrungen gleich­mäßig zum HorizoJ1l hin ausgedehnt. Nähert man sich aber der Front, so erscheine die Landschaft plötzlich einseitig begrenzT. Eine LinI e dun:h­schneidet die Lands(;haf[ und verleiht ihr eine Richtung: "Vorne" befin­den sich Stellung lllld Schützengrahen, "hinten « Nachschub, Munitions­lagcr und I\nillerie . Die lnrensitiil der Gefahr eines Beschusses teilt die Landsl"haft in untcrschiedli(;hc Felder und Zonen, vom Schützengraben im Trommelfcuer iiber ein/.elne, weiter zurlick li egende Gefahreninscln untcr Arrilleriebeschuss bis zur sicheren Deckung im Hinterland. Die geographisch-physikalische Landsl"haft mi r ihren Hügeln und Mulden, Waldern und Teichen wird in Lewins Phänomcnologie des Schlachtfelds zu einem ps}'chologischell Rallm, dessen Strukwr 11Kht nur die Vertei­llmg von Obj ekten und Menschen im Raum bcstimmt, sondern auch deren Bedeutung und FunkTion: Vor dem Grund des Krieges erscheinen Möbel als Brennholz, Bäume als Dc(;kung und Hauser als .\1uniliollsla·

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Marlin Wiasar

ger, kurz: als ~Geft:l:htsdinge«, deren zivi ler Gebrauchs- oder Tauschwert während des Gefechts völlig verschwindet. Wird der Stellungs- zum BC\vegungskampf, so dynamisiert sich die Kriegslandschaft, im Sturmlauf verflüssigt sich die Grenze und vtrschiebt sich nach vorne bis zum nächs­

ten Hügel, Wald oder Graben. Krieg und Frieden schlagen sich in Lewins Darstellung als Kon figurationen psychologischer Kräftcfelder nieder, welche die Landschaft strukturieren und begrenzen, den Soldaten in bestimmte Richtungen locken, von anderen fern halten und die ihm zu­handenen Gegenstände als Kriegs· oder Friedensdinge erscheinen lassen.

Abb. I: Aussclmitte at15 All "uiet Olt t/;e u'estem {rOfft (Mile,tunc, /931J)

Lewins phänomenologische Feldpost blickt dem Kriegsgesche hen mit einer bemerkenswerten Kühle und Distanzierthe it entgegen. In ihrem wissenschaftlichen Gestus steht sie im krassen Gegensatz zu den blutigen Grausamkeiten des Frontgeschehens, wie wir sie beispielsweise in Emil Remarques Im Westen nichts Ne/ws und der gleichnamigen Verfilmung von 1930 (Abb . 1) unverhüllt dargestellt finden. So heschreibt Lewin den plötzlichen Gestaltwechsel in der Wahrnehmung des Soldaten durch eine

Verletzung (wie er sie ein Jahr später selbst crfahrcn sollte) mit den fol­genden Worten:

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jer-l1, wo er eigentlich nicht mehr da zu sein brauchte, [merkt erl plötzlich neu und hesonders eindringlich, dar; ,der Krieg doch recht gefährlich ist" und spm:ht nun jedem Gt:fechtsvorgang einen ungewohnr ~tarken Gefahn:harakter zu (Lewin, 19823, S. 320).

In Lewins intellektueller Biographie stiehl Knegsla"dscha(, sowohl sti lis­tisch als auch methodisch deutlich heraus. LitcralUrhinwclse oder theore­tisch-hegriffli,he Herleitungcn sucht man umsonst, an Stelle dessen stützt ~ich Lewin einzig auf die phänomenologische Analyse der Struktur der soldatischen Wahrnehmung, um die Kräfte des psychologischen Fddes unter Kriegsbedingungen auszulon:n. ErSllnals stellt Lewin hier jene fun ­

damentale Fragr, wekhe ihn sei n Leben lang verfolgen so llte: Die Frage n.lch der Kartierung der Strukturen lmd Kriifte innerhalb des psychologi­schen Raumes. Die zentralen Begrifft· wie .. Sarriere .... ~ Grenze « und ~ Richtung .. von " Feldern .. und _Zonen .. werden hier 1l000h rein sprach­lich vermiuelr - Lewins phänomenologische Analyse bewegt sich all~­

s,h ließlich im Medium der Schrift - und adressieren dahei die Vorstel ­

lungskraft des K.ezipienTcll. um die von Lewin beschrieben räumlichm Konfigurationen im Geiste nachzuvollziehen. Auch wenn Lewills Talent in der l\eschrcibung des psychologischen K.a umes offenkundig wird, so sollte er sich als Leutnant der K.eserve in Zukunft auf der Suche nach der Grundlegung einer naturwissenschaftlichen Psychologie nicht mehr alIei­ne auf die Schrift verl assen: Als Experimentalpsycholuge macht sich Le­win auf die Suche nach andcrc-n Medien und Mitteln als der Phänomeno· logie. um die Vermessung des psychologischen Raumes und seiner inhä· renten Kräfte mit höherem Objektivi!ätsansprlichen zu leisten.

Vom Sch lachtfeld in den Hausgarten

Szenenwechsel: Wir befinden uns im Garten der Familie Lewin in Berlin Tempelhof, zu Ikginn der 1920er Jahre. Kun, inzwisc hen zum As~i~ten ­

tell am Psychologischen In stitut und Mitarbeiter der eminenten Ge~ralt­

psychologen Wolfgang Köhler und Kurt Kuffka aufgestiegen, rüstet sich mir einer 16mm Kinamo-Handkamera aus und beginnt, Familienmirglie·

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M8rtin Wi8Ser

der und Freunde zu filmen. Wie im Sch lachtfeld hält Lewin auch hier das Geschehen aus sicherer Distanz fest, filmt per Teleobjektiv aus einem Zelt heraus, oder versteckt sich im Gebüsch. Viele tausend Meter teuren Nitratfilms verbraucht Lewin für seine filmische Dokum entation, deren

Zweck über eine Archivierung des bürgerlichen Kleinfamiliensonntags weit hinausgeht. Lewin arrangiert gezielt Konfliktsituationen, lässt Töch­ter, Söhne, Nichten lmd Neffen vor der Kamera Holzklötzchen auftür­men, Rätsel lösen und miteinander strei ten, um dabei ihren Ausdruck, Verhalten, Mim ik und Gestik filmisch festzuhalten. Als methodisches In strument nutzen Lewin und seine MitarbeiterInnen den Film, um die Dynamik der sozialen Interaktion, die Anziehung und Abstor~ung psychi ­

scher Kräfte im Lebensraum des Kindes zu studieren. Das wohl bekann· teste Beispiel aus dem Lewinschen Filmarchiv ist zweifellos der Kurzfilm »Hannah und der Stein« (Abb. 2). Hanna, die 19 Monate alte Nichte

von Lewins Frau 1vlaria, rotiert mehrmals um einen Stein, ohne Hände oder Blick von diesem lassen zu können. Ihre Versuche, sich auf den

Stein zu setzen, ohne sich vorher umzudrehen, scheitern.

Abb. 2, Sttmdbilde r au, HamfO und der J/ein (/922)

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Voo der Kriegslaodscl1aft zur T opoIogl8 der Perscinlicl1keit

Wa) dtr Film zur Erschei nung bringt, so Lewin, ist das siru,lIive Kräfre­

feld, welches der Dynamik des Lehensra ums zu Grunde liege und die

Anzithungs- und Absroßungskräfte auf das Kind im hier und ietzt be­

stimmt. Während des Srud iums seines Filmmateriats ~ei er, so Lewin, zu der Überzeugung gekommen,

dag es sehr woht möglich ist, die Dynamik des psychischen Ge­

!>ehehens auch innerha lb relativ kurzer Geschehensabliiufe mit

Hi lfe des Films in einer Weise festwhalten, die die wis~enschafrt i­

ehe Auswenharkeit der gewöhnlichen Beobachtung g:lIl1. erheb­

lich i.ihe rstei~T (Lewin, 1982b, S. 45).

Im Falle I-Iannahs bedtuttt dies: Einc starke Anziehung (Valtnz) des

Obiekt's zieht das Kind zum Stein, im Kind entsteht ein spannu ngsgcla ­

denes " Quasi-Bed ii rfnis ~, sich d iesem zu nähern. Um sich 3uf den Stein

zu seuen, ist jedoch eine l!ewegung in die entgegengesetzt Kichrung (Um ­

drehung) notwendig, d_ h. ein Umweg im ph ysi kalischen Raum muss

überwunden werden, um d3s psychologische Ziel (SiTzen am Ste in ) 1.11

erre ichen . nlickrichtung und Handlungsrichtu ng mlissen inn~rpsychjsch

bereitS ausdifferenzicrt und vonein:mder <lbgetrcnnr sein, um den Kon­

flikt zu lösen - WilS I-Ianna jedoch noch nicht gelingt.

Ohne den Fi lm wäre LeW1!1S wissensch3futheoretischt' Posi tion, wie

sie in dem Aufs3U Der Übergallg VOll der aristotelisclu:ll ZlIr galileischell

Denkweise ill Bio logie IIlId PsydJ()logie VOll 1931 (Lcwin, 198 1) ausfor­

muliert hatte, nich t zu denkrn. Die Suche nach den Gesetzmäßigkeil der

psychischen Dynamik, des Aufb3US von Spannungen, Hemmu ngen,

Grenzen und Barrier~Tl war flir L('wi n nicht durch das bloße S3mmeln

von Beob:lchrungen und Daten zu [(·isten. Lewin stand delll empiristisch­induktiven ~3riSlO t ei i schen .. Geist, deli er in der zeitgellO~~ischen US­

amerik3nischen EXllCrimemalpsychologie wiedererkannte. äu(~erst kri­

tisch gegenüber:

ein bloßes Anhäufen von Fakten Iflihrt1 nur zu einer verwirrenden und unproduktiven Situation [ ... 1 es (kann ] keine bcfriedigende

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Martin Wieser

Antwort auf Fragen über UrS<1chen und Bedingungen von Ge­schehnissen geben (Lewin, 1969, S. 26).

D<1s bloße Sammeln von Beobachtungsdaten sei zweck los, so Lewin, gelte es doch in der psychologischen Forschung stets, »di e passenden Sitllationen und Geschehnisse Izul slKhen, um die im Grund der Tatsa­che liegenden Beziehungen und Gesetze fimlcn zu können« (Lewin, 1987, S. 442 ). Nicht in statistischen Mittel· oder Streuwerten, sondern in den silllatiollstypischclI Krä fte\'erschiebungen und Spannungsentladungen, dem Spiel von Trieb und Hemmung, \vekhes sich in der M imik und Gestik, dem Ausdruck und der Interaktion im psychologischen Feld des

Kindes niederschlägt, sucht und findet Lewin die dynamIsche Grundlage des psychischen Geschehens. Lewins Wissenschaftstheorie lInd For­schllllgslogik vor der Emigration hauen gam grunJlegend auf das Medi­uni des archivier- und reproduzierharen , bewegten Bildes. Dank der filmischen Aufzeichnung reicht im Primip nur eine einzige Beobachtung, so sie nur sorgfältig ausgewählt und durchgefiihrr worden ist, um die

Gesetze der psychischen Dynamik intersuhjektiv, klar, deutlich und wiederhol bar zur Erscheinung zu bringen . In seinen Veröffentlichungen druckt Lewin Bildsequenzen und ·ausschnitte aus seinem Filmarchiv ab (vgl. Lewin , 1982b uud 1982c), in Vorträgen lässt er seine Aufnahmen

abspielen und unterlegt sie mit der feld theoretischen Analyse des psychu­logischen Kräftcfelds, lässt im »passenden" Moment stoppen und ,-eigt denselben Bildausschn itt auch gerne mehrmals, um dem Publikum syn­chron ZUlTl Bild die Tiefenschichten und Kräfte jenes psychologischen Raumes zu erläutern, die dem gezeigten Handlungsablauf zugrunde liegen. Das bewegte Hild stellt für Lewin also nicht nur das Material,

sondern auch ein Ins/rumen! zur Analyse dar. Die Kamera lenkt die Aufmerksamkeit des Betrachters <1uf Teilaspekte der Mimik oder Gestik

oder <1uf die Totale, sie ermöglicht es, jede Handlung sowohl in ihrem individuellen Ablauf als auch als Teil eines siruativen ZllSilmmenhängell­den Ganzen zu erfassen. Des Weiteren wird sie iluch wm Perspektiven­wechsel genutzt: So s.:hlüpft der Zuseher in Lewins umfangreichstem Filmproiekt »Das Kind und die Welt « in die Position des Kleinkinds, um

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Von <Ser Knegslandsc:hill ZIS Topologie der Persönkhkeit

di e Konturen des kindlichen Lebcllsrau ms aus emem Kind erwagen ha­

aus zu schell. Lewins filmisl'h e Qua si-Experimente adressieren damiI ni~' h! nur

zentra le Standards der psychologischen Forschung (zeitliche und in­

tersubjektive Wiederholbarkeit), sondern sollten sich für Lewin als ein äußer!>! erfo lgreiches rhetorisdc!> ~l it1d zu r Präsentation und Jlopu lari­sierung sei nes feldtheorcri scht:n Ansanes herausstel len, Lewin machte sich als Entwicklungspsychologe einen Namen, er reiste mi! seinen fdd ­theoretischen Schriften und viele n hundert Meter Filmrollen im Gepäck von Bahn über Stanford ( 1932 a ls Gastprofessor) und Tokyo bi~ nach Moskau. wo er mit Alex;1nder Luria die Gründung eines psychologiKhen Film laboratoriums diskutiert e (vgl. Zei garnik, 19R4 ), Äußerst bee in­druckt von Lewin s Film und Theorie war auch der russische Regisseur Sergej Ei senslein, dessen ~ bi-mcchan ische~ Theorie des Au sdnK'b sich auf Lcwi nsche Gedanken stürzte (vgl. Uulgakowa, 1990, Eherl'n, 1992, Lück, 1985, Lock & Elteren, 1990, sowie Reichert, 2009),

In Tokyo frägt Lewin Zur DYllamik des kindlicheIl K01/{liklS ( 1987)

in deutscher Sprache, aber mir film ischer Untersriirlllng \'o r: ~icht weni­ger a ls vier Kurzfilme rahrnC:1l Lewi ns Vortrag ei n und wurden von Lc­win als Beleg für psychodynami sc hc Konfli knheori e herangezogen. Le­wins sprach freies Filmmaterial trug wesentlich zum intcrnationalen Durchbruch der Cestaltpsycho logie bei, doch zW:l!1gen die p()Jit i~che n

Umhrüche in Deut!iChland Lcwin zum Abbruch seiner Vorrra gsre ise und I.ur Rückkehr nach Berlin, \ '0 11 wo aus er im Augu st 1933 vor dem NS­

Regi me nüchten und in die USA auswandern sollte.

Zur Topologie der Psyche

Schon wä hrend der 1920cr Jahre hatte Lewin damit begon nen, neben (kr Schri ft und dem Film auf ein drittes Medium zurückzugreifen. um die in und Zwisl'hen Personen wirksa meIl psychischen Struklllrell. F(·Jder lrnd Kräft e sichthar zu machen: Aus der mathcffi;1tischen Topologie il11por­ti(·rre Lcwin den ßildrypus {Ies Diagra mm s, dessen Eigenschaft, komplexe Sachverhalte auf einer zweidimcnsiOIl :a len Fläche kompri miert und üher-

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Marrin Wieser

sichtlic h zu verräumlichen, wie gescha ffen fü r Lewins Forschungsansatz erschien . An der ]owa State Unillersit)' hatte Lewin ein neues akademi­

sches Zuhause gefunden, hier veröffentlicht er 1936 sein opus magnum Principles o( Topological Psycho/ogy. Phänomenologische Analysen und Filmaufnahmen sucht man hier vergeblich, stattdessen finden hier sich fa st 50 Diagramme auf rund 200 Seiten. Mir der media len Anbindung

seiner psychologIschen Feldtheorie an die Ma thematik und Geometrie führte Lewin seine Mission der Objektivierung und Sichtbarmachung psychischer Prozesse auf die nächste Stufe: Auf der Suche nach einem universalen »Begriffs ra hmen für die konstruktive Darstellung und Ablei·

tung psychi scher Vorgiinge « (Lewin 1969, S. 28) findet Lewin im Di a­gram m ein Medi um, welches in seiner Abstraktion vom konkreten sima ­tivt-:n Gest'hehen no<.:h effektiver als der phänomenologische Ber icht lmd die Filmaufn ahme dIe unsichtbaren Gesetze des psy<.:hologischen Felds sichtba r zu machen versprach.

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" '" '" Abb. 3: . Beziehungen zwischen paschicd<'''''11 .~(hichlell

der Person bei "nterschiedlichen ßedinKUlIKl'n« Lewin (1969, S. 189)

Eines der bemerkenswertesten Diagram me Lewins findet sich in der hier gezeigten » Topologie der Person« (Abb. 3 links). Sie zeKh net einen abge­schlossenen psychi schen Binnenraum, welcher du rch ei ne kreisfö rmige Llll ie die Person von ihrer physikahschen Umwelt (U) trennt und inner­halb dieser geschlossenen Sphä re ein e Reihe von abgetrennrcn Feldern oder Schichten innerhalb der Person umschhcßt. Di e äugcrstc, mit zwci

Kreislinien eingesch lossen Sphäre " M ~ markiert den sensomotorischen

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Von der Kriegslandschaft zur T opobgie der Persö!1~keit

Ikreich, die Grenzzolle der Sinnesorgane und der l\'lolOrik, welche zwi­schen der Umwelt und den »inneren He reichen der Persö nlichkeit .. ver­

rniltelt. Die Linien zwis~'hen Person und Umwelt sowie den Feldern in­nerhalb d<.'r l'ersÖnlichk<.'it !>tehen h i<.' r flir I~arrieren, Grenzen zwischen

psychischen Kriiftdcldern. deren dynamische Interaktion das Verhalt<.'n und Erltben des Individuums bestimme. Am äußeren Rande des ~ inner ­

pefsol1:llen Bereichs ~ sehen wir " p ~, die " peripher<.'n~ Schichten der Persönlichkeit, während sich im Zemrul11 des Feldes dlt: ~zentralCIl ~

Bereicht der .. Inneren Persönlichkeit .. hefinden. Die Schichten inntrhal b der .. Ptrson" sind in Lewins Terminologie

als eneq;clische .. Spannungssystemc" zu verstehen, 31s Eigensc haften. Fähigkeiten und M erkma le der Persönlichkeit, wekh e sich je nach den silUativeJl EigenschafH'n tiber die Körperoberfläch t, Mimik , Gesti k und Sprachmotörik ihreJl WeS in die Umwelt bahnen und a uf diest Weise eine Spallnungsreduktion innerhal b des Srsu'ms anstreben. Die hier gezeigte lIi lde rserie macht den dynamischen Charakter der Lewinsehen

Diagrammatik sichTbar: Die Darstellung links zcigt die Person in einer - ungezwunscnen Siruation ~ , in einer .. ruhig-behaglichen « StimmUll!; wie bspw. einern PJ.n~'gcspräch : ~ Oberflächliche « Antei le dcr Person wtrden leicht in Spannung versetz! und können auf d ie MotOrik einwirken, während »ticf~ im Kern der Person lic!;t:nde Wünsche und Erinnerungen die dick m:lrkierte Schwelle nach auf;cl1 nur unter Überwindun); eil1es großen Widersta ndes passieren können. Da ~ miniere Diagramm zeigt d ie Person im angespannten ZUSTand der .. Selbstbeherrschung .. (wie bei­spielsweise während eines St reitgesprächs), wo die peripheren und zent­ralen Persönlichkeitsanteiic nur unter hohem und gezit·ltem energetischen Einsatz die Grenze zur motorischen Peripherie überschreiten können. Rechts schließlich, im ZlISland höchster Anspannung (z. B. in ci ner Flucht- oder Angriffssilu:llion ), ist jede Differenzierung des psychischen

Binnenraullls aufgebrochen, die Persönlichkeit zu einem einzigen Kräfte­feld verschmolzen, da s Geflihls- und ll andlllngsspekrru m vcrliert an Viclschichtigkeif und Komplexität, dit Person ist zu keiner differtnzicr­ten Hand lung oder Re(/exion mehr irnM3nde.

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Merlin Wieser

Eine zweite Bilderserie bezeugt die zeitliche Dimension der Lewin­schen Topologie der Psyche: Zu Beginn des Lebens (Abb. 4 links) ist der Organismus nur zu wenigen und »primitiven« Reaktionen fäh ig. Im Laufe des Lebens reife im Optimalfall ein vielschichtiger und »harmoni­

scher Charakter« im gesunden Erwachsenen heran, wie im Diagramm rechts ge/.eigt, welcher ein differenziertes und situationsadiiquates Ver­halten~repertoire aufweise, welches sich deutlich von dem unuifferenzier­ten Imd energetisc h labilen Feld des Zornigen, des »verha ltensschwieri­gen« Kindes oder aud des ~Schwachsinnigen" abhebe.

Abb. 4: ,RcKre5sioll 'md pcr50/wll' Stmktl/r«

Lewill (1969. S. 197)

Lewin war fest von der Tragweite seiner Topologie der Person überzeugt, wie er schon in der Einleitung der Topo{ogical Ps}'chology vorausschick­te: »Abbildungen«, so lewin, ),sind im Grunde nicht bloß Veranschauli­

chungen, sondern können Darstellungen von realen Begriffen sein" (Le­win, 1969, S. 9) . An anderer Stelle heißt es: »Eine richtige Darstel lung

dessen, was )ist" ist zugleich eine >Erklärung' dessen, was geschieht" (Lewin, 1969, S. 99) . Weit mehr als bloße Denkstütze oder metaphori­

sches Hil fsmittel , hat das Diagramm hier d ie Rolle des Films als mediale Gnmdlage des Lewinschen Dcnkens übernommen, es leitet und begrenzt das Lewinsehe Forschungsprogramtn. Die Lewinsche Diagramm atik legt eine Reille von Forschungsfragen über die Dynamik der Psyche und die m,neriellen Eigenschaften seiner Schichten (wie deren Elastizität, Stabili ­tät oder Plastizität) nahe, gibt Begriffen wie "peripheren« und »zentra­len<' Anteilen der Persönlichkeit eine geometrisch definierte Bedeutung, begreift Entwicklung als Prozess der Ausdehnung, Differenzierung und

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Voo der Kriegslandschaft zur Topologie der Persii~ l ichke i t

Gewinn an Elastizität und Fluidi tät der psychischen Schichten und dient

so für Lewin als Leitmer.hum Juf der Suche nach der Formalisierung des

menschlidH~n LebensrJumes.

Nach der Grundlegung seiner Topologi schen Psychologie wandre sich

Lewin in den USA von der Wissenschaftstheorie zur Gruppendyn:lmik, Aktionsforschung und angewandteIl Sozialpsychologie zu, ;llIS dies~m

Zeitraum stammen unter anderem die bekannten Studien über demokra­

tische und auroritä re Führungsstile (vgl. Lewin, Lippitt & White, 1939). Fi lm und Diagramm kamen auch hier zum Einsatz, doch war Lcwin 1fl

seiner letzten Schidfensperiode weniger um die theoretische oder media le

Weiterentwicklung der Feldtheorie <lls um die Frage ihrer praktischen

Anwendbarkeit bemüht. Die letzten drei Jahre seines Lebens verbrachte

er am MIT als Leiter de~ Research Center (or Group D)'lIamics, bis sei n

höchst produktives Forscherleben mi t nur 56 Jahren durch einen Herzin­

farkt ei n Jbruptes Ende nahm. Lewin soll te, wenn auch nicht als Begrün ­

der einer Schule, doch zumindest als Ideenspender in die Fachgeschichte

eingehen, zahlreiche von ihm geprägte Begriffe wie »Anspruchsniveau«,

»a llS dem Feld gehen« oder »A ufforderungscharakter « sind längst über

die Grenzen der Psychologie hinaus zum begrifflichen Allgemeingm

geworden. Die Rezeptionsgeschichrc des Lewl!1schen Werkes ist andern­

orts nachzulesen (vgl. Schön pflug, 2007). An dieser soll abschließend zur

bisher unbeachtet gebliebenen Frage nach der Bedeutung der medienhis­

wrischen KOillillui täl in der Forschungspraxis Lewins Stellung nachge­

gangen werden.

Absch luss

Schrift, Film und Diagramm: Drei Stationen III Lewllls ,\tledienbiographie

bezeugen eine Konrinuität in dessen Lebenswerk, d ie unmittelbar mit

seiner Suche nach einer neuen Grundlage der Psychologie als exakter

Wis~enschafl von den univers,llell Gesetzmäßigkeiten des psychischen

Raumes zusammenhängen . Die mediale Kontinuität in dieser lebenslan ­

gen Suche zeigt sieh in Lewins überzeugung, dass die eine soziale Situati ­on bestimmenden, unsichtbaren Prozesse immer dann durch und ill Me-

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Martin Wieser

dien zur Erscheinun~ kommen, \vcnn sie au(einanderprallell und es zu einem Konflik t gegeneinander geric htettr Kräfte kommt, sei es Z\vischen den Schut7.engrähen am Schlachtfeld, den streitenden Kindern im Garten oder im Inneren der Person. In Lewins Denken fungieren Medien als

Seismogra phen der Kräfteverschiebungen in den Ticfenschiehten des Lehensrauills. Im Zufälligen und Alltäglichen, im Erscheinen des Hugels in der Landschaft und der fluchtigen Geste des Kindes findet Lewin die Spuren der zeitlosen Gesetze des psychologischen Feldes, doch sind diese Spuren mit dem unbewaffneten Auge des eir17.elnen Forschers fcstzuhal· ren, die Beobachtung des Geschehens am Schlachtfeld oder im Hausgar­ten muss stabi lisiert und wiederhol bar gemacht werden, um die theoreti ­

schen Schlussfolgerungen vor dem wissenschaftlichen Kollegium plausi ­bel machen zu können .

Szenerie! Medium der Zemrum/Fokus Untcrsuchun gsfc1d Analyse

Schlachtfeld Schrift/Phänomenologie Soldat

Garten Film Kind

Lebensraum DiagrammfT opologie Person (Abstrak-

(Person + Umwelt) nun)

Tabelle I: Szenerie .. \1ediurn und Zentrum des lcwinschen Fursdllng,programms

Die mediale Aufrüstung von Schrift w Film und Diagramm in Tabe lle dokumentiert die Steigerung des Ge ltungsanspruchs der Lewlnschen Feldtheorie, die in seiner bekannten Gleichung \'om Verhal ten als Funk­tion von Person und Umwelt gipfelte. In seiner phänomenologischen Medita tion am Schlachtfeld versuchte Lewin noch, sein Publikum mit erzählerischen Mitteln in die Perspektive des Soldaten hinein zu verset­zen, um die Transformation des psychologischen R<lumes zwischen Krieg

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Voo der Krieg~schaft zur Topol::>gie der PersÖi1lichke it

und Frieden zu verdeutlichen . Die Filmkamera verlässt sich nicht mehr auf die Ph anrasie des Beobal'hters, sondern führt und foku ssiert dessen I~lick auf kllTze Momente in der 5lenerie des Gartens wie den spontant:n Ausdruck des kindlichen Affekts oder die flüchtige Geste im Zorn oder

Staunen, die ein Licht auf die lU Grunde liegenden Psy,:hodynilmik wer· fen. Klar und deutlich bringt der Film, so Lewin, die psychologischen Kräfte im LebensrauTll des Kindes zur Erscheinung, doch hängt das ge­film te Bild immer noch am hier und jetzt des Moments, welcher durch die maximale Rolle der Filmlänge von sechs zumeist stum men Minuten beschränkt ist. Au f der Suche nach einem universelleren, zeit- und ort· übergreifenden Wissen VOll Situation und Person greift sich Lewin schließlich auf die scharfe Lilllem.eichnung des Diagramms zurlick.

Als Effekt des Mediellwe('hsds lässt sich eine zunehmende Distam:ie­rungshewegung von der Teilnahme zur l3eohachrung konstatieren, die schon am Beginll von Lewins Karriere angelegt war: In der Kriegsland­

schaft zeigt sie sich In der emotionalen Abgrenzung des Sokbten vom blutigen Kriegsgeschehen, im Ha usgarten versteckt sich Lewin hinter Büschen oder Zeltvorhängen, um die Interaktion mit dem kindlichen Geschehen zu minimieren. Der Gebrauch des Diagra mms drängt Lewin schließlich ganz aus dem Feld, um die Gesetze des Lebensraumes ZWI­schen gezeichneten Linien, Feldern und Grem.en vom Schreibtisch aus ZII

suchen. Die 7,unehrnende mediale Aufrüstung in Lewins .\;1ethoden:lTsenal be­

zeugt dessen Suche nach neuen Instrumenten für eine Wissenschaft, deren Grundbegriffe und Methoden für Lewin, wie für viele gro(se und kleine Denker vor und nach ihm, ganz grundsätz lich zweife lhaft gewor­den waren (vgl. Teo, 2005) . Der Zweifel an der Psychologie kann auf eine J:ingere Tradition zurlickblicken als das FilCh seihst: Fast hundert

Jahre vor der Gründung der ersten psychologischen Laboratorien wurde dem Fach von Immanud Kan! in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft von ln6 schlichtweg die Unmöglichkeit ihrer zukünftigen Existenz als strenge Experimemalwissenschaft prophe~.el[.

Für Kam war die Anwendung der .\1athematik die Bedingung der l\flög­lichkcit jeder strengen Naturwissenschaft, jedoch, so Kam, lasse sich die

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Martin Wiese,

innere Welt der "See!enerscheinungen« nur in der Zeit (über das Kom­men und Gehen der Empfindungen und Gedanken), nicht aber im Raum

rekonstruieren. In Kants System der Wissenschaften muss sich die Psy­chologIe die billigen Plätze mit den historischen Wissenschaften teilen, denn ihr Untersuchungsgegenstand, das menschliche Seelenleben, sei eindimensional - es entbehre jener I.weiten räumlichen Achse, auf die sich die Mathematik stütze. Auch die Beobachtung der psychischen Vor­gänge stoße auf unüberwindbare S<:hwierigkeiten, so Kant, da sich das Beobachtete durch den Akt der Beobachtung selbst verändere - die Wut, über die ich spreche, der Neid, den ich intro~pektiv analysierte, sei nicht

mehr dasjenige, was ich eben noch versplirte, sondern durch die Selbst­beobachtung zu einem vergegenständlichten, emotionslosen Sl'hatten abstrahiert llild erkalter. Die Psychologie könne daher über eine bloße »Naturbeschreibung der Seele« niemals hinallskommen - die Tür zur »Seelenwisscnsch;dt « sei ihr sowohl ontologisch als auch methodisch für immer verriegelt (~'g l. Kant, 1900, S. 7) .

Was für die Psychoanalyse der "psychische Apparat" (vgl. Wieser, 2013) und für den 13ehaviorismus das Bild des Organismus als einer Reiz­Reaktions-Maschine war, das leisteten für Lewin die Begriffe »Feld«, »Kraft« und »Grenze« : Eine Zurückwcisung des Kantschen Arguments

von der Unsichtbarkeit und Unlllessbarkeit des Seelenlebens. Diese Ent­gegnung auf Kant steht lllld fällt mit der erfolgreichen Anwendung von media len Praktiken und technischen Appararen der Sichtbarmachung in der Experimenta lpsychologie, deren Import aus so weit entfernten Gebie~ ten wie der philosophischen Phänomenologie, der Filmtechnik oder der mathematischen Topologie mit einem nicht unerheb lidlen Begrlindungs­und Anpassllngsaufwandcs einhergeht. Von daher ist es auch n icht ver­wunderlich, dass Lewin einen beträchtlichen Anreil seiner Zeit und Ener­

gie der Herlcitung und Uegründung seiner feld theoretischen Neuausrieh ­tung des Faches widmete. Lewins Wanderung von der Phänomenologie über den Film bis zur topologischen Diagra mmati k lässt sich aus medi ­enhistoris<.:hcr Si<.:ht als Versuch lesen, den naturwissensch'l ftli<.:hcn Status des Faches und die Verräumlichung geistiger Prozesse mit den ObjektivI ­tätsstandards der benachbarten I.eitwissenschaften wie Biologie und

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Von der Kriegs1andschaft zur Topologie der Peroonlicllkeit

Physik ZU verbinden (zur Kritik an Lewins Feldbegriff vgl. London,

1944). Schon in der Kriegslalldschaft macht sich eine Distanzierungsgeste

des Ikobachrers zum »Feld " bemerkbar, welche sic h in den fo lgenden

Jahren noch verstärken sollte: Die Kamera filmt versteckt, hinter Hecken

oder aus einem Zelt heraus, das PublikuTll wähTll sich als unbeteiligter

Beobachter eines scheinbar »natürlichen" Geschehens, dessen ästhetische

Inszenierung durch die Kamer:l und die damit einhergehende Hierarchi­

siefllng ZWischen Forscher und Beforschten verschleiert werden. Die

TopoJogische Psychologie bildet die konseqllenre Fortsetzung Jieser

medial induzierten Distan/.ierungsbewegllllg: Abstrahiert vom histori ­

schen und gesellschaftlichen Kontnt ihres LJntersuchungsgegenstandes,

steuert die Topologie auf ein zeit- und orrloses Wissen zu, das den mitei­

Tlander in Konflikt stehenden Kriiften, die sie so exakt zu beschreiben

rrachtet - ob auf dem Schlachtfeld , Im Hausg:lften oder 1m sozia lpsycho­

logischen Labor - nur mehr aus weiter Ferne zusieht.

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