Pl~cllologlfl & G,I$lIlIlcllaflskritik, 38 (3). 7·15.
Martin Wieser
Von der Kriegslandschaft zur Topologie der Persönlichkeit
Strategien der Sichtbarmachung im Werk Kurt Lewin s
Dil"~ ' ß,'it,,,/{ Zf.·,-e/mCI dir I·:"t".icklllllg de, Fo rsdwngsproW'I/IIms Kurt 1.':!I'i,!s im Lichte sl'ma Vi5ullli,i,·.ulIg5t,·c/"ukclI lIac/, . Da, Werk L" lI'ins zeig t , ich iiba I'iele Jahru1ml., hinweg I~}I) dl'r OluruIIJ.:IIl1g g .. pr:i.~I, dass die 5lchtbi3rmachullg II/uichtb.lrer ps)"dJ/5cb"r K,;;(,e ,md P,oze$5e suwil' du"" [ ,(ais/mg. Bl'srhreilJU"it. "mi f'unn,IIJ)'il'rlllIg das Z'l'f"lIIeT "'IS$e"slh4tlich,," PJ)"chologil' hIliir. Die /Im! Ll'will }"'Timg,'~ogem'" MrdiC II. I"'" der phii ll umrnoluguc};<'11 Besc/'r('ib!lll/{, d~r "'-1"'/0:<1"'1'''' /; i~ :"m tOJm/()gisc/)( II Diagramm, I' .. ,halten sich ;I'doc" IIie/;t indiffcrellt gl'.gc l!iiber ihum Ulltcr, IIchu"8$jlcgellSlaml. Sulldem habcn ,'/,i,tem%gisc/Il' Ko",t'qUI:I'zt ,,, ~ie zichl'n 1:111<' ~IItiehml:lldl' Düla";u'Tlltig de5 /:or$lher5 g,'g,./Iiib", sei",.m UII/er,u dJIIlIgsgl'g"II$la",/ ",,,h Slrb.
Schlüsst'll!<-griffe: Wissem "ha(tiigc$(/,ichte, .-\f"dir llll!corie. Ges{/"cht., der I's},c!m/'lglt', Ku rt l •• ~wi ll . TO/Jo/"/::I)'cbr P'yc/w/o.c:i,·
!;.·hr illteressif.t;J /I der W iHell$cha(t,tl"'ori" ""be ich bl'rrirs 1)/ 12 als 5lmll'"t "tilgt;:.,,, einer d,' mills 1001Ii/:: anerka"nt""
philosoJ,hiuhm A" r(f1s$'III;: dir '11,('$(, vcrt,,/d//::,. daß Ilte PsycholoKIe. dit· .'$ mit eUIi:r Virlfalt gh'/C"~ritiK vorliegender Faklen ZH / Hn I"u, In~ tfich zur A IIl/lt' II dl/nK
"icht II" r d"s Zeithcgriffs . Sümh'r!l allch de, Ra"", II/!gritf, ge;"'''''g'''' ;,1.
I-"win
Die _Kulturgeschichfe der Unsichtbarkc:i t o< . so schreibt d ie HislOrikcrin
M:lrtina Hessler (2006) , ist ci n Buch, dessen Seitcn noch darauf warten,
gcfüllt zu werden. Am Wandel des LJmg:\ngs mit dem Unsichtbaren in
den \"(/isscnscha fte n lassen sich, ~o argumcl1lien I-lcsslcr in Anlehnung an
den Kunsthistori ker Ha rtmut Böh me (2004 ), d ie med ialen, technischen
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MBrtin WiBsar
und sozialen Bedingungen ablesen, welche wissensehafdicht:n Bcobachrungsprozcssen zu Grunde liegen. In den letztt:n Jahren widmt:te ich mic h der Herausforderung, die von I-Iessler aufgeworfene Frage nach dem ,. Imperativ der Sich tbarmaehung .. in den neuzeitlichen Wissenschaften
auf die Geschichte der akademi schen Psychologie umzulegen - einer Di sziplin, welche sich ja immer schon an einem kategorial Unsichtbaren abzuarbeiten hatte ivgl. Wieser & Slunecko, 2013, Wiese r 2013, 2014). Im Gegensarz zu Jupitermonden, Ultra violettstrahlen oder Nanoteilchen ist die Frage nach der Sichtbarmachung geistiger StrukTuren und Prozesse ja keine Frage der optischen Vergrößerung materiel ler Objekre oder
Übertragung physiblischer Prozesse in für das menschliche Auge wahrnehmbare Wellcnliingen, sondern ein e Frage der olltologischen Tralls formatioll von Prozessen aus dem immateriellen Reich der Psyche in die Welt ausgedehnter, sichtbarer O bje kte.
Gerade aufgrund der notorischen Unsichtharkeit und Flüchtigkeit der Gedanken und Gdii hle, Erinnerungen und Vorstellungen ist d ie Experi
mentalpsychologie, so Illeine Th ese, auf dic Srabili s i erung~- und Objekt ivieru ngsleistungen von visuellen Medien angewiesen, l1ichr nur um der KOllllllunizierbarkeit und Intersubjektivitär ihres Wi ssens wegen, sondern auch um ihren Pla tz in der ehrwürdigen Riege der exakten Naturwissenschaftcn zu plausibilisicren. Die Refiex ion und Analyse dl~r erkenntnis
und gegensta ndstheorerischen Konsequenzen, d ie mit der Wah l ei nes besti mmten Mediums und Forschungsi nstrumcnts einhergehen, werden innerhalb der Experimentalpsychologie jedoch hiiufig vernachlässigt (vgl. Slunecko, 2008 ). Weder dit: a llgemeine Wissenschafrsgesehiehtc, die sich traditionell eher fü r die .. exakten .. Experimcntalwissenschaften interessiert, noch die akademische Psychologie sel bst, die aufgrund der Identitikation mit eben jenen ~ harten « Wissemcha hen in der Regel kei n beson
ders intensives Verhältnis zu ihrer eigenen Vergangenheit pflegt, haben sich delll umfangreichen, wildwüchsigen und his hellte weitgehend vcrnachlässigten Bild:lrchiv der Psychologiegescllichte gewidmet. Aus dcm vie lgesta ltigen und iiußerst ertragreichen Fundus psychologischer Bilder folgt eine Episode ei ner Visualisierungspraxis, d ie sich zwischen zwei Weltkriegen 1111d Konti nenten abspielt: Stationt:n im Leben Kurt Lewins,
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Von oor Kriegstandschaft zu( Topobgie oor Persönlichke it
cinl:m der zwischenzeirlich bekanntesten Psychologen dl:s 20. Jahrhunderts, der sich hereits als Student um eine Sichtbarmachung des Unsich tbarl:n miih te, um auf diesem Wege den Raumbegriff in die P~Yl"hologie
lU imponieren.
Kriegslandschaft oder: Zur Phänomenologie des Schlachtfelds
191 7, am Höhepunkt der Grabenkampfc des Ersten Weltkriegs, erscheint in der Zeitschrift für angewandte Psychologie ein Allfsatz mit
dem Titel KrieKslandsclmft, verfasst von dem 27jiihngcn Kurt Lewin, LeuTnant lmd FeldartillerisT, welcher sich nach Abschluss seiner Dissertalion am Berliner Psychologischen Institut übl:f das Grundgese/;:; der Assoziation als Freiwilliger zum Deutschen Heer gemeldet hatte. Zwischell Schützengräben und Artilleriebeschuss entwirft Lewin eine "Phänomenologie der Lamlschafr« (1982a ), welche bereils den Grundriss
seines zukünftigen Forsehlmgsprogrammes beinhalten so llte. l.ewins Er:dhlung folgt dem Soldaten auf dem Weg zur Front: Die
VOll Dörfern, \X' äldern und Äckern gesäuillte Friedenslandsehaft zeigt
sich, so Lewin, dem Betrachter als unendlich, in alle Richrungen gleichmäßig zum HorizoJ1l hin ausgedehnt. Nähert man sich aber der Front, so erscheine die Landschaft plötzlich einseitig begrenzT. Eine LinI e dun:hschneidet die Lands(;haf[ und verleiht ihr eine Richtung: "Vorne" befinden sich Stellung lllld Schützengrahen, "hinten « Nachschub, Munitionslagcr und I\nillerie . Die lnrensitiil der Gefahr eines Beschusses teilt die Landsl"haft in untcrschiedli(;hc Felder und Zonen, vom Schützengraben im Trommelfcuer iiber ein/.elne, weiter zurlick li egende Gefahreninscln untcr Arrilleriebeschuss bis zur sicheren Deckung im Hinterland. Die geographisch-physikalische Landsl"haft mi r ihren Hügeln und Mulden, Waldern und Teichen wird in Lewins Phänomcnologie des Schlachtfelds zu einem ps}'chologischell Rallm, dessen Strukwr 11Kht nur die Verteillmg von Obj ekten und Menschen im Raum bcstimmt, sondern auch deren Bedeutung und FunkTion: Vor dem Grund des Krieges erscheinen Möbel als Brennholz, Bäume als Dc(;kung und Hauser als .\1uniliollsla·
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Marlin Wiasar
ger, kurz: als ~Geft:l:htsdinge«, deren zivi ler Gebrauchs- oder Tauschwert während des Gefechts völlig verschwindet. Wird der Stellungs- zum BC\vegungskampf, so dynamisiert sich die Kriegslandschaft, im Sturmlauf verflüssigt sich die Grenze und vtrschiebt sich nach vorne bis zum nächs
ten Hügel, Wald oder Graben. Krieg und Frieden schlagen sich in Lewins Darstellung als Kon figurationen psychologischer Kräftcfelder nieder, welche die Landschaft strukturieren und begrenzen, den Soldaten in bestimmte Richtungen locken, von anderen fern halten und die ihm zuhandenen Gegenstände als Kriegs· oder Friedensdinge erscheinen lassen.
Abb. I: Aussclmitte at15 All "uiet Olt t/;e u'estem {rOfft (Mile,tunc, /931J)
Lewins phänomenologische Feldpost blickt dem Kriegsgesche hen mit einer bemerkenswerten Kühle und Distanzierthe it entgegen. In ihrem wissenschaftlichen Gestus steht sie im krassen Gegensatz zu den blutigen Grausamkeiten des Frontgeschehens, wie wir sie beispielsweise in Emil Remarques Im Westen nichts Ne/ws und der gleichnamigen Verfilmung von 1930 (Abb . 1) unverhüllt dargestellt finden. So heschreibt Lewin den plötzlichen Gestaltwechsel in der Wahrnehmung des Soldaten durch eine
Verletzung (wie er sie ein Jahr später selbst crfahrcn sollte) mit den folgenden Worten:
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jer-l1, wo er eigentlich nicht mehr da zu sein brauchte, [merkt erl plötzlich neu und hesonders eindringlich, dar; ,der Krieg doch recht gefährlich ist" und spm:ht nun jedem Gt:fechtsvorgang einen ungewohnr ~tarken Gefahn:harakter zu (Lewin, 19823, S. 320).
In Lewins intellektueller Biographie stiehl Knegsla"dscha(, sowohl sti listisch als auch methodisch deutlich heraus. LitcralUrhinwclse oder theoretisch-hegriffli,he Herleitungcn sucht man umsonst, an Stelle dessen stützt ~ich Lewin einzig auf die phänomenologische Analyse der Struktur der soldatischen Wahrnehmung, um die Kräfte des psychologischen Fddes unter Kriegsbedingungen auszulon:n. ErSllnals stellt Lewin hier jene fun
damentale Fragr, wekhe ihn sei n Leben lang verfolgen so llte: Die Frage n.lch der Kartierung der Strukturen lmd Kriifte innerhalb des psychologischen Raumes. Die zentralen Begrifft· wie .. Sarriere .... ~ Grenze « und ~ Richtung .. von " Feldern .. und _Zonen .. werden hier 1l000h rein sprachlich vermiuelr - Lewins phänomenologische Analyse bewegt sich all~
s,h ließlich im Medium der Schrift - und adressieren dahei die Vorstel
lungskraft des K.ezipienTcll. um die von Lewin beschrieben räumlichm Konfigurationen im Geiste nachzuvollziehen. Auch wenn Lewills Talent in der l\eschrcibung des psychologischen K.a umes offenkundig wird, so sollte er sich als Leutnant der K.eserve in Zukunft auf der Suche nach der Grundlegung einer naturwissenschaftlichen Psychologie nicht mehr alIeine auf die Schrift verl assen: Als Experimentalpsycholuge macht sich Lewin auf die Suche nach andcrc-n Medien und Mitteln als der Phänomeno· logie. um die Vermessung des psychologischen Raumes und seiner inhä· renten Kräfte mit höherem Objektivi!ätsansprlichen zu leisten.
Vom Sch lachtfeld in den Hausgarten
Szenenwechsel: Wir befinden uns im Garten der Familie Lewin in Berlin Tempelhof, zu Ikginn der 1920er Jahre. Kun, inzwisc hen zum As~i~ten
tell am Psychologischen In stitut und Mitarbeiter der eminenten Ge~ralt
psychologen Wolfgang Köhler und Kurt Kuffka aufgestiegen, rüstet sich mir einer 16mm Kinamo-Handkamera aus und beginnt, Familienmirglie·
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M8rtin Wi8Ser
der und Freunde zu filmen. Wie im Sch lachtfeld hält Lewin auch hier das Geschehen aus sicherer Distanz fest, filmt per Teleobjektiv aus einem Zelt heraus, oder versteckt sich im Gebüsch. Viele tausend Meter teuren Nitratfilms verbraucht Lewin für seine filmische Dokum entation, deren
Zweck über eine Archivierung des bürgerlichen Kleinfamiliensonntags weit hinausgeht. Lewin arrangiert gezielt Konfliktsituationen, lässt Töchter, Söhne, Nichten lmd Neffen vor der Kamera Holzklötzchen auftürmen, Rätsel lösen und miteinander strei ten, um dabei ihren Ausdruck, Verhalten, Mim ik und Gestik filmisch festzuhalten. Als methodisches In strument nutzen Lewin und seine MitarbeiterInnen den Film, um die Dynamik der sozialen Interaktion, die Anziehung und Abstor~ung psychi
scher Kräfte im Lebensraum des Kindes zu studieren. Das wohl bekann· teste Beispiel aus dem Lewinschen Filmarchiv ist zweifellos der Kurzfilm »Hannah und der Stein« (Abb. 2). Hanna, die 19 Monate alte Nichte
von Lewins Frau 1vlaria, rotiert mehrmals um einen Stein, ohne Hände oder Blick von diesem lassen zu können. Ihre Versuche, sich auf den
Stein zu setzen, ohne sich vorher umzudrehen, scheitern.
Abb. 2, Sttmdbilde r au, HamfO und der J/ein (/922)
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Voo der Kriegslaodscl1aft zur T opoIogl8 der Perscinlicl1keit
Wa) dtr Film zur Erschei nung bringt, so Lewin, ist das siru,lIive Kräfre
feld, welches der Dynamik des Lehensra ums zu Grunde liege und die
Anzithungs- und Absroßungskräfte auf das Kind im hier und ietzt be
stimmt. Während des Srud iums seines Filmmateriats ~ei er, so Lewin, zu der Überzeugung gekommen,
dag es sehr woht möglich ist, die Dynamik des psychischen Ge
!>ehehens auch innerha lb relativ kurzer Geschehensabliiufe mit
Hi lfe des Films in einer Weise festwhalten, die die wis~enschafrt i
ehe Auswenharkeit der gewöhnlichen Beobachtung g:lIl1. erheb
lich i.ihe rstei~T (Lewin, 1982b, S. 45).
Im Falle I-Iannahs bedtuttt dies: Einc starke Anziehung (Valtnz) des
Obiekt's zieht das Kind zum Stein, im Kind entsteht ein spannu ngsgcla
denes " Quasi-Bed ii rfnis ~, sich d iesem zu nähern. Um sich 3uf den Stein
zu seuen, ist jedoch eine l!ewegung in die entgegengesetzt Kichrung (Um
drehung) notwendig, d_ h. ein Umweg im ph ysi kalischen Raum muss
überwunden werden, um d3s psychologische Ziel (SiTzen am Ste in ) 1.11
erre ichen . nlickrichtung und Handlungsrichtu ng mlissen inn~rpsychjsch
bereitS ausdifferenzicrt und vonein:mder <lbgetrcnnr sein, um den Kon
flikt zu lösen - WilS I-Ianna jedoch noch nicht gelingt.
Ohne den Fi lm wäre LeW1!1S wissensch3futheoretischt' Posi tion, wie
sie in dem Aufs3U Der Übergallg VOll der aristotelisclu:ll ZlIr galileischell
Denkweise ill Bio logie IIlId PsydJ()logie VOll 1931 (Lcwin, 198 1) ausfor
muliert hatte, nich t zu denkrn. Die Suche nach den Gesetzmäßigkeil der
psychischen Dynamik, des Aufb3US von Spannungen, Hemmu ngen,
Grenzen und Barrier~Tl war flir L('wi n nicht durch das bloße S3mmeln
von Beob:lchrungen und Daten zu [(·isten. Lewin stand delll empiristischinduktiven ~3riSlO t ei i schen .. Geist, deli er in der zeitgellO~~ischen US
amerik3nischen EXllCrimemalpsychologie wiedererkannte. äu(~erst kri
tisch gegenüber:
ein bloßes Anhäufen von Fakten Iflihrt1 nur zu einer verwirrenden und unproduktiven Situation [ ... 1 es (kann ] keine bcfriedigende
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I,
I
Martin Wieser
Antwort auf Fragen über UrS<1chen und Bedingungen von Geschehnissen geben (Lewin, 1969, S. 26).
D<1s bloße Sammeln von Beobachtungsdaten sei zweck los, so Lewin, gelte es doch in der psychologischen Forschung stets, »di e passenden Sitllationen und Geschehnisse Izul slKhen, um die im Grund der Tatsache liegenden Beziehungen und Gesetze fimlcn zu können« (Lewin, 1987, S. 442 ). Nicht in statistischen Mittel· oder Streuwerten, sondern in den silllatiollstypischclI Krä fte\'erschiebungen und Spannungsentladungen, dem Spiel von Trieb und Hemmung, \vekhes sich in der M imik und Gestik, dem Ausdruck und der Interaktion im psychologischen Feld des
Kindes niederschlägt, sucht und findet Lewin die dynamIsche Grundlage des psychischen Geschehens. Lewins Wissenschaftstheorie lInd Forschllllgslogik vor der Emigration hauen gam grunJlegend auf das Mediuni des archivier- und reproduzierharen , bewegten Bildes. Dank der filmischen Aufzeichnung reicht im Primip nur eine einzige Beobachtung, so sie nur sorgfältig ausgewählt und durchgefiihrr worden ist, um die
Gesetze der psychischen Dynamik intersuhjektiv, klar, deutlich und wiederhol bar zur Erscheinung zu bringen . In seinen Veröffentlichungen druckt Lewin Bildsequenzen und ·ausschnitte aus seinem Filmarchiv ab (vgl. Lewin , 1982b uud 1982c), in Vorträgen lässt er seine Aufnahmen
abspielen und unterlegt sie mit der feld theoretischen Analyse des psychulogischen Kräftcfelds, lässt im »passenden" Moment stoppen und ,-eigt denselben Bildausschn itt auch gerne mehrmals, um dem Publikum synchron ZUlTl Bild die Tiefenschichten und Kräfte jenes psychologischen Raumes zu erläutern, die dem gezeigten Handlungsablauf zugrunde liegen. Das bewegte Hild stellt für Lewin also nicht nur das Material,
sondern auch ein Ins/rumen! zur Analyse dar. Die Kamera lenkt die Aufmerksamkeit des Betrachters <1uf Teilaspekte der Mimik oder Gestik
oder <1uf die Totale, sie ermöglicht es, jede Handlung sowohl in ihrem individuellen Ablauf als auch als Teil eines siruativen ZllSilmmenhängellden Ganzen zu erfassen. Des Weiteren wird sie iluch wm Perspektivenwechsel genutzt: So s.:hlüpft der Zuseher in Lewins umfangreichstem Filmproiekt »Das Kind und die Welt « in die Position des Kleinkinds, um
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Von <Ser Knegslandsc:hill ZIS Topologie der Persönkhkeit
di e Konturen des kindlichen Lebcllsrau ms aus emem Kind erwagen ha
aus zu schell. Lewins filmisl'h e Qua si-Experimente adressieren damiI ni~' h! nur
zentra le Standards der psychologischen Forschung (zeitliche und in
tersubjektive Wiederholbarkeit), sondern sollten sich für Lewin als ein äußer!>! erfo lgreiches rhetorisdc!> ~l it1d zu r Präsentation und Jlopu larisierung sei nes feldtheorcri scht:n Ansanes herausstel len, Lewin machte sich als Entwicklungspsychologe einen Namen, er reiste mi! seinen fdd theoretischen Schriften und viele n hundert Meter Filmrollen im Gepäck von Bahn über Stanford ( 1932 a ls Gastprofessor) und Tokyo bi~ nach Moskau. wo er mit Alex;1nder Luria die Gründung eines psychologiKhen Film laboratoriums diskutiert e (vgl. Zei garnik, 19R4 ), Äußerst bee indruckt von Lewin s Film und Theorie war auch der russische Regisseur Sergej Ei senslein, dessen ~ bi-mcchan ische~ Theorie des Au sdnK'b sich auf Lcwi nsche Gedanken stürzte (vgl. Uulgakowa, 1990, Eherl'n, 1992, Lück, 1985, Lock & Elteren, 1990, sowie Reichert, 2009),
In Tokyo frägt Lewin Zur DYllamik des kindlicheIl K01/{liklS ( 1987)
in deutscher Sprache, aber mir film ischer Untersriirlllng \'o r: ~icht weniger a ls vier Kurzfilme rahrnC:1l Lewi ns Vortrag ei n und wurden von Lcwin als Beleg für psychodynami sc hc Konfli knheori e herangezogen. Lewins sprach freies Filmmaterial trug wesentlich zum intcrnationalen Durchbruch der Cestaltpsycho logie bei, doch zW:l!1gen die p()Jit i~che n
Umhrüche in Deut!iChland Lcwin zum Abbruch seiner Vorrra gsre ise und I.ur Rückkehr nach Berlin, \ '0 11 wo aus er im Augu st 1933 vor dem NS
Regi me nüchten und in die USA auswandern sollte.
Zur Topologie der Psyche
Schon wä hrend der 1920cr Jahre hatte Lewin damit begon nen, neben (kr Schri ft und dem Film auf ein drittes Medium zurückzugreifen. um die in und Zwisl'hen Personen wirksa meIl psychischen Struklllrell. F(·Jder lrnd Kräft e sichthar zu machen: Aus der mathcffi;1tischen Topologie il11porti(·rre Lcwin den ßildrypus {Ies Diagra mm s, dessen Eigenschaft, komplexe Sachverhalte auf einer zweidimcnsiOIl :a len Fläche kompri miert und üher-
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Marrin Wieser
sichtlic h zu verräumlichen, wie gescha ffen fü r Lewins Forschungsansatz erschien . An der ]owa State Unillersit)' hatte Lewin ein neues akademi
sches Zuhause gefunden, hier veröffentlicht er 1936 sein opus magnum Principles o( Topological Psycho/ogy. Phänomenologische Analysen und Filmaufnahmen sucht man hier vergeblich, stattdessen finden hier sich fa st 50 Diagramme auf rund 200 Seiten. Mir der media len Anbindung
seiner psychologIschen Feldtheorie an die Ma thematik und Geometrie führte Lewin seine Mission der Objektivierung und Sichtbarmachung psychischer Prozesse auf die nächste Stufe: Auf der Suche nach einem universalen »Begriffs ra hmen für die konstruktive Darstellung und Ablei·
tung psychi scher Vorgiinge « (Lewin 1969, S. 28) findet Lewin im Di agram m ein Medi um, welches in seiner Abstraktion vom konkreten sima tivt-:n Gest'hehen no<.:h effektiver als der phänomenologische Ber icht lmd die Filmaufn ahme dIe unsichtbaren Gesetze des psy<.:hologischen Felds sichtba r zu machen versprach.
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" '" '" Abb. 3: . Beziehungen zwischen paschicd<'''''11 .~(hichlell
der Person bei "nterschiedlichen ßedinKUlIKl'n« Lewin (1969, S. 189)
Eines der bemerkenswertesten Diagram me Lewins findet sich in der hier gezeigten » Topologie der Person« (Abb. 3 links). Sie zeKh net einen abgeschlossenen psychi schen Binnenraum, welcher du rch ei ne kreisfö rmige Llll ie die Person von ihrer physikahschen Umwelt (U) trennt und innerhalb dieser geschlossenen Sphä re ein e Reihe von abgetrennrcn Feldern oder Schichten innerhalb der Person umschhcßt. Di e äugcrstc, mit zwci
Kreislinien eingesch lossen Sphäre " M ~ markiert den sensomotorischen
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Von der Kriegslandschaft zur T opobgie der Persö!1~keit
Ikreich, die Grenzzolle der Sinnesorgane und der l\'lolOrik, welche zwischen der Umwelt und den »inneren He reichen der Persö nlichkeit .. ver
rniltelt. Die Linien zwis~'hen Person und Umwelt sowie den Feldern innerhalb d<.'r l'ersÖnlichk<.'it !>tehen h i<.' r flir I~arrieren, Grenzen zwischen
psychischen Kriiftdcldern. deren dynamische Interaktion das Verhalt<.'n und Erltben des Individuums bestimme. Am äußeren Rande des ~ inner
pefsol1:llen Bereichs ~ sehen wir " p ~, die " peripher<.'n~ Schichten der Persönlichkeit, während sich im Zemrul11 des Feldes dlt: ~zentralCIl ~
Bereicht der .. Inneren Persönlichkeit .. hefinden. Die Schichten inntrhal b der .. Ptrson" sind in Lewins Terminologie
als eneq;clische .. Spannungssystemc" zu verstehen, 31s Eigensc haften. Fähigkeiten und M erkma le der Persönlichkeit, wekh e sich je nach den silUativeJl EigenschafH'n tiber die Körperoberfläch t, Mimik , Gesti k und Sprachmotörik ihreJl WeS in die Umwelt bahnen und a uf diest Weise eine Spallnungsreduktion innerhal b des Srsu'ms anstreben. Die hier gezeigte lIi lde rserie macht den dynamischen Charakter der Lewinsehen
Diagrammatik sichTbar: Die Darstellung links zcigt die Person in einer - ungezwunscnen Siruation ~ , in einer .. ruhig-behaglichen « StimmUll!; wie bspw. einern PJ.n~'gcspräch : ~ Oberflächliche « Antei le dcr Person wtrden leicht in Spannung versetz! und können auf d ie MotOrik einwirken, während »ticf~ im Kern der Person lic!;t:nde Wünsche und Erinnerungen die dick m:lrkierte Schwelle nach auf;cl1 nur unter Überwindun); eil1es großen Widersta ndes passieren können. Da ~ miniere Diagramm zeigt d ie Person im angespannten ZUSTand der .. Selbstbeherrschung .. (wie beispielsweise während eines St reitgesprächs), wo die peripheren und zentralen Persönlichkeitsanteiic nur unter hohem und gezit·ltem energetischen Einsatz die Grenze zur motorischen Peripherie überschreiten können. Rechts schließlich, im ZlISland höchster Anspannung (z. B. in ci ner Flucht- oder Angriffssilu:llion ), ist jede Differenzierung des psychischen
Binnenraullls aufgebrochen, die Persönlichkeit zu einem einzigen Kräftefeld verschmolzen, da s Geflihls- und ll andlllngsspekrru m vcrliert an Viclschichtigkeif und Komplexität, dit Person ist zu keiner differtnzicrten Hand lung oder Re(/exion mehr irnM3nde.
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Merlin Wieser
Eine zweite Bilderserie bezeugt die zeitliche Dimension der Lewinschen Topologie der Psyche: Zu Beginn des Lebens (Abb. 4 links) ist der Organismus nur zu wenigen und »primitiven« Reaktionen fäh ig. Im Laufe des Lebens reife im Optimalfall ein vielschichtiger und »harmoni
scher Charakter« im gesunden Erwachsenen heran, wie im Diagramm rechts ge/.eigt, welcher ein differenziertes und situationsadiiquates Verhalten~repertoire aufweise, welches sich deutlich von dem unuifferenzierten Imd energetisc h labilen Feld des Zornigen, des »verha ltensschwierigen« Kindes oder aud des ~Schwachsinnigen" abhebe.
Abb. 4: ,RcKre5sioll 'md pcr50/wll' Stmktl/r«
Lewill (1969. S. 197)
Lewin war fest von der Tragweite seiner Topologie der Person überzeugt, wie er schon in der Einleitung der Topo{ogical Ps}'chology vorausschickte: »Abbildungen«, so lewin, ),sind im Grunde nicht bloß Veranschauli
chungen, sondern können Darstellungen von realen Begriffen sein" (Lewin, 1969, S. 9) . An anderer Stelle heißt es: »Eine richtige Darstel lung
dessen, was )ist" ist zugleich eine >Erklärung' dessen, was geschieht" (Lewin, 1969, S. 99) . Weit mehr als bloße Denkstütze oder metaphori
sches Hil fsmittel , hat das Diagramm hier d ie Rolle des Films als mediale Gnmdlage des Lewinschen Dcnkens übernommen, es leitet und begrenzt das Lewinsehe Forschungsprogramtn. Die Lewinsche Diagramm atik legt eine Reille von Forschungsfragen über die Dynamik der Psyche und die m,neriellen Eigenschaften seiner Schichten (wie deren Elastizität, Stabili tät oder Plastizität) nahe, gibt Begriffen wie "peripheren« und »zentralen<' Anteilen der Persönlichkeit eine geometrisch definierte Bedeutung, begreift Entwicklung als Prozess der Ausdehnung, Differenzierung und
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Voo der Kriegslandschaft zur Topologie der Persii~ l ichke i t
Gewinn an Elastizität und Fluidi tät der psychischen Schichten und dient
so für Lewin als Leitmer.hum Juf der Suche nach der Formalisierung des
menschlidH~n LebensrJumes.
Nach der Grundlegung seiner Topologi schen Psychologie wandre sich
Lewin in den USA von der Wissenschaftstheorie zur Gruppendyn:lmik, Aktionsforschung und angewandteIl Sozialpsychologie zu, ;llIS dies~m
Zeitraum stammen unter anderem die bekannten Studien über demokra
tische und auroritä re Führungsstile (vgl. Lewin, Lippitt & White, 1939). Fi lm und Diagramm kamen auch hier zum Einsatz, doch war Lcwin 1fl
seiner letzten Schidfensperiode weniger um die theoretische oder media le
Weiterentwicklung der Feldtheorie <lls um die Frage ihrer praktischen
Anwendbarkeit bemüht. Die letzten drei Jahre seines Lebens verbrachte
er am MIT als Leiter de~ Research Center (or Group D)'lIamics, bis sei n
höchst produktives Forscherleben mi t nur 56 Jahren durch einen Herzin
farkt ei n Jbruptes Ende nahm. Lewin soll te, wenn auch nicht als Begrün
der einer Schule, doch zumindest als Ideenspender in die Fachgeschichte
eingehen, zahlreiche von ihm geprägte Begriffe wie »Anspruchsniveau«,
»a llS dem Feld gehen« oder »A ufforderungscharakter « sind längst über
die Grenzen der Psychologie hinaus zum begrifflichen Allgemeingm
geworden. Die Rezeptionsgeschichrc des Lewl!1schen Werkes ist andern
orts nachzulesen (vgl. Schön pflug, 2007). An dieser soll abschließend zur
bisher unbeachtet gebliebenen Frage nach der Bedeutung der medienhis
wrischen KOillillui täl in der Forschungspraxis Lewins Stellung nachge
gangen werden.
Absch luss
Schrift, Film und Diagramm: Drei Stationen III Lewllls ,\tledienbiographie
bezeugen eine Konrinuität in dessen Lebenswerk, d ie unmittelbar mit
seiner Suche nach einer neuen Grundlage der Psychologie als exakter
Wis~enschafl von den univers,llell Gesetzmäßigkeiten des psychischen
Raumes zusammenhängen . Die mediale Kontinuität in dieser lebenslan
gen Suche zeigt sieh in Lewins überzeugung, dass die eine soziale Situati on bestimmenden, unsichtbaren Prozesse immer dann durch und ill Me-
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Martin Wieser
dien zur Erscheinun~ kommen, \vcnn sie au(einanderprallell und es zu einem Konflik t gegeneinander geric htettr Kräfte kommt, sei es Z\vischen den Schut7.engrähen am Schlachtfeld, den streitenden Kindern im Garten oder im Inneren der Person. In Lewins Denken fungieren Medien als
Seismogra phen der Kräfteverschiebungen in den Ticfenschiehten des Lehensrauills. Im Zufälligen und Alltäglichen, im Erscheinen des Hugels in der Landschaft und der fluchtigen Geste des Kindes findet Lewin die Spuren der zeitlosen Gesetze des psychologischen Feldes, doch sind diese Spuren mit dem unbewaffneten Auge des eir17.elnen Forschers fcstzuhal· ren, die Beobachtung des Geschehens am Schlachtfeld oder im Hausgarten muss stabi lisiert und wiederhol bar gemacht werden, um die theoreti
schen Schlussfolgerungen vor dem wissenschaftlichen Kollegium plausi bel machen zu können .
Szenerie! Medium der Zemrum/Fokus Untcrsuchun gsfc1d Analyse
Schlachtfeld Schrift/Phänomenologie Soldat
Garten Film Kind
Lebensraum DiagrammfT opologie Person (Abstrak-
(Person + Umwelt) nun)
Tabelle I: Szenerie .. \1ediurn und Zentrum des lcwinschen Fursdllng,programms
Die mediale Aufrüstung von Schrift w Film und Diagramm in Tabe lle dokumentiert die Steigerung des Ge ltungsanspruchs der Lewlnschen Feldtheorie, die in seiner bekannten Gleichung \'om Verhal ten als Funktion von Person und Umwelt gipfelte. In seiner phänomenologischen Medita tion am Schlachtfeld versuchte Lewin noch, sein Publikum mit erzählerischen Mitteln in die Perspektive des Soldaten hinein zu versetzen, um die Transformation des psychologischen R<lumes zwischen Krieg
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Voo der Krieg~schaft zur Topol::>gie der PersÖi1lichke it
und Frieden zu verdeutlichen . Die Filmkamera verlässt sich nicht mehr auf die Ph anrasie des Beobal'hters, sondern führt und foku ssiert dessen I~lick auf kllTze Momente in der 5lenerie des Gartens wie den spontant:n Ausdruck des kindlichen Affekts oder die flüchtige Geste im Zorn oder
Staunen, die ein Licht auf die lU Grunde liegenden Psy,:hodynilmik wer· fen. Klar und deutlich bringt der Film, so Lewin, die psychologischen Kräfte im LebensrauTll des Kindes zur Erscheinung, doch hängt das gefilm te Bild immer noch am hier und jetzt des Moments, welcher durch die maximale Rolle der Filmlänge von sechs zumeist stum men Minuten beschränkt ist. Au f der Suche nach einem universelleren, zeit- und ort· übergreifenden Wissen VOll Situation und Person greift sich Lewin schließlich auf die scharfe Lilllem.eichnung des Diagramms zurlick.
Als Effekt des Mediellwe('hsds lässt sich eine zunehmende Distam:ierungshewegung von der Teilnahme zur l3eohachrung konstatieren, die schon am Beginll von Lewins Karriere angelegt war: In der Kriegsland
schaft zeigt sie sich In der emotionalen Abgrenzung des Sokbten vom blutigen Kriegsgeschehen, im Ha usgarten versteckt sich Lewin hinter Büschen oder Zeltvorhängen, um die Interaktion mit dem kindlichen Geschehen zu minimieren. Der Gebrauch des Diagra mms drängt Lewin schließlich ganz aus dem Feld, um die Gesetze des Lebensraumes ZWIschen gezeichneten Linien, Feldern und Grem.en vom Schreibtisch aus ZII
suchen. Die 7,unehrnende mediale Aufrüstung in Lewins .\;1ethoden:lTsenal be
zeugt dessen Suche nach neuen Instrumenten für eine Wissenschaft, deren Grundbegriffe und Methoden für Lewin, wie für viele gro(se und kleine Denker vor und nach ihm, ganz grundsätz lich zweife lhaft geworden waren (vgl. Teo, 2005) . Der Zweifel an der Psychologie kann auf eine J:ingere Tradition zurlickblicken als das FilCh seihst: Fast hundert
Jahre vor der Gründung der ersten psychologischen Laboratorien wurde dem Fach von Immanud Kan! in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft von ln6 schlichtweg die Unmöglichkeit ihrer zukünftigen Existenz als strenge Experimemalwissenschaft prophe~.el[.
Für Kam war die Anwendung der .\1athematik die Bedingung der l\flöglichkcit jeder strengen Naturwissenschaft, jedoch, so Kam, lasse sich die
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Martin Wiese,
innere Welt der "See!enerscheinungen« nur in der Zeit (über das Kommen und Gehen der Empfindungen und Gedanken), nicht aber im Raum
rekonstruieren. In Kants System der Wissenschaften muss sich die PsychologIe die billigen Plätze mit den historischen Wissenschaften teilen, denn ihr Untersuchungsgegenstand, das menschliche Seelenleben, sei eindimensional - es entbehre jener I.weiten räumlichen Achse, auf die sich die Mathematik stütze. Auch die Beobachtung der psychischen Vorgänge stoße auf unüberwindbare S<:hwierigkeiten, so Kant, da sich das Beobachtete durch den Akt der Beobachtung selbst verändere - die Wut, über die ich spreche, der Neid, den ich intro~pektiv analysierte, sei nicht
mehr dasjenige, was ich eben noch versplirte, sondern durch die Selbstbeobachtung zu einem vergegenständlichten, emotionslosen Sl'hatten abstrahiert llild erkalter. Die Psychologie könne daher über eine bloße »Naturbeschreibung der Seele« niemals hinallskommen - die Tür zur »Seelenwisscnsch;dt « sei ihr sowohl ontologisch als auch methodisch für immer verriegelt (~'g l. Kant, 1900, S. 7) .
Was für die Psychoanalyse der "psychische Apparat" (vgl. Wieser, 2013) und für den 13ehaviorismus das Bild des Organismus als einer ReizReaktions-Maschine war, das leisteten für Lewin die Begriffe »Feld«, »Kraft« und »Grenze« : Eine Zurückwcisung des Kantschen Arguments
von der Unsichtbarkeit und Unlllessbarkeit des Seelenlebens. Diese Entgegnung auf Kant steht lllld fällt mit der erfolgreichen Anwendung von media len Praktiken und technischen Appararen der Sichtbarmachung in der Experimenta lpsychologie, deren Import aus so weit entfernten Gebie~ ten wie der philosophischen Phänomenologie, der Filmtechnik oder der mathematischen Topologie mit einem nicht unerheb lidlen Begrlindungsund Anpassllngsaufwandcs einhergeht. Von daher ist es auch n icht verwunderlich, dass Lewin einen beträchtlichen Anreil seiner Zeit und Ener
gie der Herlcitung und Uegründung seiner feld theoretischen Neuausrieh tung des Faches widmete. Lewins Wanderung von der Phänomenologie über den Film bis zur topologischen Diagra mmati k lässt sich aus medi enhistoris<.:hcr Si<.:ht als Versuch lesen, den naturwissensch'l ftli<.:hcn Status des Faches und die Verräumlichung geistiger Prozesse mit den ObjektivI tätsstandards der benachbarten I.eitwissenschaften wie Biologie und
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Von der Kriegs1andschaft zur Topologie der Peroonlicllkeit
Physik ZU verbinden (zur Kritik an Lewins Feldbegriff vgl. London,
1944). Schon in der Kriegslalldschaft macht sich eine Distanzierungsgeste
des Ikobachrers zum »Feld " bemerkbar, welche sic h in den fo lgenden
Jahren noch verstärken sollte: Die Kamera filmt versteckt, hinter Hecken
oder aus einem Zelt heraus, das PublikuTll wähTll sich als unbeteiligter
Beobachter eines scheinbar »natürlichen" Geschehens, dessen ästhetische
Inszenierung durch die Kamer:l und die damit einhergehende Hierarchi
siefllng ZWischen Forscher und Beforschten verschleiert werden. Die
TopoJogische Psychologie bildet die konseqllenre Fortsetzung Jieser
medial induzierten Distan/.ierungsbewegllllg: Abstrahiert vom histori
schen und gesellschaftlichen Kontnt ihres LJntersuchungsgegenstandes,
steuert die Topologie auf ein zeit- und orrloses Wissen zu, das den mitei
Tlander in Konflikt stehenden Kriiften, die sie so exakt zu beschreiben
rrachtet - ob auf dem Schlachtfeld , Im Hausg:lften oder 1m sozia lpsycho
logischen Labor - nur mehr aus weiter Ferne zusieht.
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