Von der Farbe zur Nicht-Reproduzierbarkeit. Akteur-Medien-Theorie und 'deutsche' Medientheorie am...

34
Tristan Thielmann, Erhard Schüttpelz (Hg.) in Verbindung mit Peter Gendolla Akteur-Medien-Theorie

Transcript of Von der Farbe zur Nicht-Reproduzierbarkeit. Akteur-Medien-Theorie und 'deutsche' Medientheorie am...

Tristan Thielmann, Erhard Schüttpelz (Hg.)in Verbindung mit Peter Gendolla

Akteur-Medien-Theorie

2013-07-26 09-04-11 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0377341240182528|(S. 1- 4) TIT1020.p 341240182536

Diese Arbeit ist im Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg 615 der Universi-tät Siegen entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung dervon der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel ge-druckt.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekBibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deut-schen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2013 transcript Verlag, Bielefeld© 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages ur-heberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Überset-zungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Sys-temen.

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, BielefeldLektorat: Sebastian Abresch, Ludwig Andert, Keith McLennan,

Erhard Schüttpelz, Tristan ThielmannSatz: Pablo Abend, Sebastian Abresch, Tristan ThielmannÜbersetzungslektorat: Johannes Paßmann, Frederic Ponten, Gustav Roßler,

Leonhard Schmeiser, Erhard SchüttpelzPersonen- und Sachverzeichnis: Pablo AbendDruck: CPIISBN 978-3-8376-1020-8

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.deBitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter:[email protected]

2013-07-26 09-04-11 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0377341240182528|(S. 1- 4) TIT1020.p 341240182536

INHALT

EINLEITUNG

ERHARD SCHÜTTPELZ 

Elemente einer Akteur-Medien-Theorie ...........................................9 

PROLOG

ANTOINE HENNION / BRUNO LATOUR 

Die Kunst, die Aura und die Technik gemäß Benjamin – oder wie man so viele Irrtümer auf einmal begehenkann und dafür auch noch berühmt wird........................................71 

I. KONTROVERSEN

ANTOINE HENNION 

„Dinge, die dauern ...“. Objekte, Vermittlung, Soziologie .........81

BRUNO LATOUR / PHILIPPE MAUGUIN / GENEVIÈVE TEIL 

Eine Notiz zu sozio-technischen Graphen .................................. 107 

JÖRG POTTHAST / MICHAEL GUGGENHEIM 

Symmetrische Zwillinge. Zum Verhältnis von ANT und Soziologie der Kritik ................ 133 

ISABELL OTTO 

„I put a study into the field that very night.“ The Invasion from Mars als ‚Faitiche‘ der Medienwissenschaft .................................................................... 167 

II. ERFINDUNGEN

ALBERT KÜMMEL-SCHNUR 

Zirkulierende Autorschaft. Ein Urheberrechtsstreit aus dem Jahre 1850 ...............................201 

JENS SCHRÖTER 

Von der Farbe zur Nicht-Reproduzierbarkeit .............................235 

JULIAN ROHRHUBER 

Intractable Mobiles. Patents and Algorithms between Discovery and Invention .....265 

CHRISTIAN MEYER 

Wechselnde Agencies: Virtuelle Akteure in der rituellen Medialität ................................307 

III. VERMITTLER

ANTOINE HENNION / CÉCILE MÉADEL 

In den Laboratorien des Begehrens: Die Arbeit der Werbeleute ..............................................................341 

TRISTAN THIELMANN 

Digitale Rechenschaft. Die Netzwerkbedingungen der Akteur-Medien-Theorie seit Amtieren des Computers............377 

FREDERIC PONTEN 

Zur Vermittlung von Mitleid. Ein Kommentar zu Luc Boltanskis La souffrance à distance ......425 

MARTIN ZILLINGER 

Die Trance, das Blut, die Kamera. Rituelle Medien und Boundary Objects bei marokkanischen Bruderschaften ...........447 

IV. ARTEFAKTE

STEFAN KAUFMANN 

„Friends?“ – Ambivalente Beziehungen von Bergsteigern zu ihren Objekten ............................................. 483 

BRUNO LATOUR / ADAM LOWE 

Das Wandern der Aura – oder wie man das Original durch seine Faksimiles erforscht............................. 511 

JOHN SHIGA 

Reproducing Copyright: The Modular Mobility of Mp3........... 531 

CHRISTIAN KASSUNG 

Beyond Dualism. Mikrostrukturen des Zählens ......................... 563 

V. INSKRIPTIONEN

VALÉRIE NOVEMBER / EDUARDO CAMACHO-HÜBNER / BRUNO LATOUR  

Das Territorium ist die Karte. Raum im Zeitalter digitaler Navigation ......................................... 583 

ARNO SCHUBBACH 

Spuren in Bildern. Zur Nachträglichkeit von Aufzeichnung und Speicherung ...... 615 

THOMAS HENSEL 

Von Graphit, Graphemen und Gestellen. Aby Warburg und die Aktanten der Kunstwissenschaft .......... 643 

MICHAEL CUNTZ 

Die Ketten der Sängerin. Zu Hergés Bijoux de la Castafiore ... 691 

AUTORINNEN UND AUTOREN ............................................................ 741

PERSONEN- UND SACHREGISTER ........................................................ 749

235

Jens Schröter

Von der Farbe zur Nicht-Reproduzierbarkeit

Die Gesellschaft ist gar nicht stabil genug, um sich in irgend etwas einzuschreiben.

(Bruno Latour 2002: 242)

Die Antwort hat nichts mit Metaphysik, Ontologie oder den Menschenrechten zu tun;

vielmehr handelt es sich um Empirie. (Michel Callon 2006a: 321)

1 Einleitung

Erstens soll die durch die Akteur-Netzwerk-Theorie vorgeschlagene Reformu-lierung des Verhältnisses von ‚Technik‘ und ‚Gesellschaft‘ auf die deutsche medienwissenschaftliche Debatte zu eben diesem Verhältnis bezogen werden. Dabei werden eine Reihe von Problemen und Fragen zu diskutieren sein (1). Zweitens soll diese Diskussion an einer historischen Fallstudie konkretisiert werden (2).

2 Technik und Gesellschaft – Kittler, Winkler, AMT1

In welchem Verhältnis die Technik der Medien zu den Praktiken von ‚Inhalts-produzenten‘ und denen von Rezipienten bzw. Nutzern steht, ist keine einfa-che Frage. Man kann diese Frage umgehen, wie es die kommunikationswissen-schaftliche Medienwirkungsforschung tut, wenn sie schon vom Begriff her ausschließlich die Kommunikation in den Blick nimmt. Beim Fernsehen z.B. geht es dann nur um die kommunizierten Programme, aber z.B. nicht um die Technik des Plasmabildschirms, die im Normalfall nicht mitkommuniziert wird.

In der BRD hat sich ab etwa Mitte der 1980er Jahre eine Strömung der beginnenden Medienwissenschaft etabliert – die ‚Medienarchäologie‘ in der Folge Friedrich Kittlers –, die dementgegen die Medientechnik in den Mittel-punkt rückt und ihr eine starke determinierende Wirkung auf die Nutzer zuschreibt. So betonte Kittler schon 1986, dass „Nachrichtentechniken aufhö-ren, auf Menschen rückführbar zu sein, weil sie selber, sehr umgekehrt, die

1 AMT = Akteur-Medien-Theorie.

Jens Schröter | Von der Farbe zur Nicht-Reproduzierbarkeit

236

Menschen gemacht haben“ (Kittler 1986: 306). Folglich muß das „Phantasma vom Menschen als Medienerfinder“ (ebd.: 5f.) zurückgewiesen werden. Me-dien sind vielmehr „anthropologische Aprioris“ und Menschen ihnen gegen-über „Haustiere, Opfer, Untertanen“ (ebd.: 167).2

Diese Position hatte das Verdienst, der Verdrängung des Technischen entgegenzutreten. Doch ließ sie auch Zweifel aufkommen. Wenn man so ostentativ das ‚Phantasma vom Menschen als Medienerfinder‘ zurückweist, drängt sich die Frage auf, woher die Medien(techniken) denn dann kommen, an Bäumen wachsen sie jedenfalls nicht... Es war vor allem das Militär, welches als Ersatzinstanz bemüht wurde. Manchmal wurden konkrete militärische Forschungen herangezogen, manchmal eher allgemein eine ‚eskalative‘ Logik der Medientechnik bemüht, nach der eine Technik n die Gegenseite zur ‚Erfindung‘ einer Technik n+1 zwingt (vgl. Schröter 2004b). Doch blieb diese Erzählung aus mehreren Gründen unbefriedigend:

1. Es zeigt sich bei historischen Rekonstruktionen der Genese von Medien-techniken, dass keineswegs immer das Militär Ort der Entstehung neuerVerfahren ist – ein gutes Beispiel dafür ist die Fotografie.3

2. Bei Techniken, die zumindest partiell aus militärischen Imperativen bzw.Forschungszentren hervorgehen, üben in der Regel noch andere – sagenwir – Praxisfelder eine signifikante Formung aus, z.B. Naturwissenschaf-ten, die Ökonomie, manchmal sogar eher subkulturelle Bastlerszenen.Ein gutes Beispiel dafür ist das Internet (vgl. Schröter 2004a: 20-148).

3. Selbst wenn man einen Fall fände, in dem eine Technik explizit und ‚rein‘vom Militär strukturiert worden wäre, bleibt die – zentrale – Frage,inwiefern diese Strukturierung spätere Praktiken mit der Technik vor-strukturiert. Findet sich z.B. die militärische – aber nur teilweise undüber Umwege in das Design des Internets eingegangene – Konzeptioneines verteilten Packet Switching-Netzwerks, das die Erreichbarkeit jedesGliedes der militärischen Kommandokette auch im thermonuklearenKriegsfall sicherstellen sollte, in den heutigen Nutzerpraktiken wieder?Ist die jetzt von Arbeitgebern und Freunden verlangte ständige Erreich-barkeit per E-Mail (und a fortiori per Handy) sozusagen die nicht-militä-rische Fortsetzung eines militärischen Imperativs – vielleicht in einer‚militarisierten‘ Ökonomie? Oder ist dieser Vergleich völlig an den Haa-

2 Eine ausführliche Darstellung von Kittlers Ansatz liefert Winthrop-Young (2005).

3 Vgl. Kittler (2002: 169), der für die Fotografie als einzigen Beleg für die, offenbar als immer zwingend angenommene, militärische Genealogie neuer Medientechno-logien nur Daguerres „kriegerischen Namen“ – insofern in ‚Daguerre‘ eben ‚guerre‘ vorkommt – anführen kann...

Jens Schröter | Von der Farbe zur Nicht-Reproduzierbarkeit

237

ren herbeigezogen, weil es bei heutiger E-Mail und heutigen Handys möglich ist, abzuschalten oder nicht nachzusehen, was in einer militäri-schen Befehlskette ein zu sanktionierendes Vergehen darstellt? Ist also die Pointe an der militärischen Erreichbarkeit nicht gerade, dass sie nur durch eine soziale Anweisung, einen institutionellen Code sichergestellt wer-den kann?

Mit solchen Problemen setzte sich seit Mitte der 1990er Jahre Hartmut Winkler auseinander. Er griff die Idee einer wenn schon nicht völligen Deter-mination, dann doch zumindest Limitation von Praktiken durch Techniken zwar auf, ergänzte sie aber um die Vorstellung, dass Technik selber ein Resultat von Praktiken sei. Winkler (2004: 118-129; 1997: 131-184) orientiert sich am Modell der Sprache.4 Sprachäußerungen (paroles), die – wenn man so will – sprachlichen Nutzungsakte, verschieben immer wieder unabsehbar die Struk-tur der Sprache (langue), die sie gleichwohl voraussetzen müssen. In seinem zyklischen Modell verfestigen sich Praktiken dadurch, dass sie sich in Techni-ken einschreiben, welche sich dann in die nachfolgenden Praktiken zurückschreiben und sie so zumindest partiell determinieren. Neben Formen der Institutiona-lisierung und ritualisierten Wiederholung ist dies nach Winkler die Weise, wie Diskurse Stabilität erlangen können (vgl. Winkler 2004: 116f.). Diese Idee einer zyklischen Vermittlung5 ist zweifelsohne elegant – insbesondere hinsichtlich der Idee, die konträren theoretischen Modelle, welche sich entweder um die Technik oder um die Praktiken scharen, an den beiden Polen des Zyklus zu verorten und so systematisch zu verbinden.

Doch bleibt zunächst unklar, welche Praktiken sich in Technik einschreiben und so stabilisieren können. Winkler (2000: 14) spricht selbst davon, dass nur „einige, nicht alle Praxen [...] in Technik“6 sedimentieren. Der Kittlersche Ansatz einer Bevorzugung des Militärs ist mithin plausibel, da das Militär in vielen Situationen über große finanzielle, personelle und logistische Ressour-cen verfügt, um neue Techniken zu entwickeln (und sich so ‚einzuschreiben‘). Dies suggeriert, dass vor allem große Machtorganisationen (vgl. Mann 1990: 13-64) zur ‚Einschreibung‘ im Stande sind. Doch Winkler (2004: 132) stellt zumindest die Frage, ob auch die alltäglichen Nutzungspraktiken dazu in der

4 Vgl. insbesondere Winkler (2004: 126): „Technik ist – parallel zur Sprache – eine komprimierte Struktur, in der die Praxen der Vergangenheit untergegangen sind und die die Folge-Praxen präformiert.“

5 Insofern der Zyklus nicht zum Ausgangspunkt zurückkehrt, handelt es sich eher um eine Spirale – Ähnlichkeiten zu den Spiralen materialistischer Dialektik sind ohne Zweifel beabsichtigt (vgl. ebd.: 122).

6 Winkler benutzt statt des von mir bevorzugten Begriffs der ‚Praktiken‘ den Begriff der ‚Praxen‘.

Jens Schröter | Von der Farbe zur Nicht-Reproduzierbarkeit

238

Lage seien: „Schwitzen Telefongespräche – die Verkürzung sei erlaubt – Ku-pferkabel aus?“ Das Problem an dieser Art der Frage ist offensichtlich, dass unterstellt wird, die Praktiken, zu denen eine Medientechnologie genutzt wird, seien dieselben, welche die Technik hervorbringen. Doch Winkler weiß selbst, dass „Medientechnik [...] in spezialisierten Bereichen“ (ebd.: 132) entsteht. Er schreibt:

Die erste mögliche Lösung wäre, zwei Diskurse zu kreuzen, die Äuße-rungspraxen und die technisch-praktische Herstellung von Medien-techniken/Werkzeugen/Infrastrukturen der Kommunikation. Wäh-rend die Äußerungspraxis Äußerung und Code produziert, würde eine zweite technische Praxis die Medientechnik bereitstellen. Code und Medienpraxis gemeinsam münden in die neuerliche Äußerungspraxis ein. Diese Lösung hat den Defekt, dass beide Diskurse noch unvoll-kommen verbunden sind. Ihre Stärke ist, dass sie vorstellbar macht, dass neben den Äußerungspraxen eine mehr oder minder autonome Technikentwicklung verläuft; Kameras werden von Kameraherstellern und eben nicht von Kameramännern produziert. [...] Stärke dieses Ansatzes ist, dass er die institutionelle Trennung zwischen den Äuße-rungspraxen und der Herstellung der technischen ‚Voraussetzungen‘ gut spiegelt. Problem ist, dass ein Einfluss der Äußerungspraxen auf die technischen Praxen kaum noch plausibel gemacht werden kann. Das Modell muss damit in die Nähe der technikdeterministischen An-sätze geraten. (Ebd.: 136f.)

Warum müssen eigentlich die beiden Diskurse, die Winkler ‚Äußerungspraxis‘ (also die Produktion von Inhalten bzw. Zeichen mit Medien) und ‚technische Praxis‘ (die Produktion der technischen Infrastruktur) nennt, ‚vollkommen‘ miteinander ‚verbunden‘ werden? Kann man nicht verschiedene Praktiken an-nehmen, von denen ‚einige, nicht alle‘ Technologien hervorbringen, während andere mit diesen Technologien arbeiten, spielen oder was auch immer? Die ‚institutionelle Trennung‘ von Kameramännern und Kameraherstellern ist doch offenkundig gegeben. Und wieso ist die Akzeptanz dieser Trennung eine Umarmung ‚technikdeterministischer Ansätze‘? Zu behaupten, dass es eine Tren-nung zwischen Technikproduktion und -nutzung gibt, bedeutet doch nicht zwingend, dass erstere die letztere bestimmt. Das Problem scheint eher zu sein, dass Winkler a priori unterstellt, Technologien würden qua Einschreibung eine spezifische, determinierende Kraft tragen und dann zu zeigen versucht, wie auch das, was er ‚Äußerungspraxen‘ nennt, sich einschreiben kann.

Jens Schröter | Von der Farbe zur Nicht-Reproduzierbarkeit

239

Statt aber zu versuchen, nicht nur den ‚mächtigen Enunziatoren‘7, sondern auch den schwachen Nutzern Räume der ‚Einschreibung‘ zu eröffnen, müsste das Konzept der ‚Einschreibung‘ von seiner Identifikation mit dem der ‚technologischen Determination‘ und mithin der ‚Stabilität‘ gelöst werden (was Akrich 2006: 411/412 vorschlägt). Das Verhältnis von Technik und anderen Praktiken ist bei Winkler asymmetrisch. Zwar können auch ‚Äußerungs-praktiken‘ etwa durch rituelle Wiederholung eine große Stabilität erlangen (vgl. ebd.: 124 zur Monumentalität der Subjekte), sie können aber auch flüchtig und in „ständigem Umbau“ (ebd.: 122) sein. Technik scheint hingegen immer stabil zu sein. „Diskurse sind fluide, Medientechniken sind hart/monumental“ (ebd.: 143). Was wäre aber, wenn man diese Annahme selbst in Frage stellt, mensch-liche und nicht-menschliche Akteure symmetrisch behandelt, und mithin der Technik zugesteht je nach Zusammenhang stabil oder instabil sein zu können? Ist es nicht eine alltägliche Erfahrung, dass sich die technische Umgebung in ‚ständigem Umbau‘ befindet und keineswegs so stabil und dauerhaft ist, wie die von Winkler als (extremes) Beispiel bemühte Cheopspyramide? John Law argumentiert zunächst scheinbar ähnlich wie Winkler:

Wenn man [...] eine Reihe von Beziehungen in dauerhaften Materi-alien verkörpert, stellt das eine gute Ordnungsstrategie dar. Folglich verfügt ein von einer Anzahl dauerhafter Materialien verkörpertes und ausgeführtes Netzwerk über gewisse Stabilität. (Law 2006: 439)

Doch schon im nächsten Absatz warnt er:

Auch wenn die Argumentation attraktiv erscheint, ist sie nicht so einfach, wie es den Anschein hat. Die Ursache dafür liegt darin, dass auch Dauerhaftigkeit ein weiterer relationaler Effekt ist und nicht etwas in der Natur der Dinge Liegendes. (Ebd.)8

Dies bedeutet vor allem dreierlei:

1. Scheitern: Die Frage, ob sich die ‚Äußerungspraxen‘ zu einer andernorts entwickelten Technik verhalten können, hat eine Antwort, die bei Wink-ler (2004: 141) zwar vorkommt, aber nicht stark genug gemacht wird.

7 Winklers zweiter Lösungsvorschlag unterscheidet sich in der Frage nach der Diffe-

renz der technikgenerierenden zu den techniknutzenden Praktiken nicht grund-sätzlich von seinem ersten: „Die Welt scheint in zwei Typen von Enunziatoren zu zerfallen, mächtige, die die Standards und Programme artikulieren, und weit weni-ger mächtige, die auf solche Standards festgelegt, innerhalb einer vordefinierten Welt sich bewegen“ (ebd.: 139).

8 Vgl. auch Callon (2006b: 332) zum Problem der Dauerhaftigkeit.

Jens Schröter | Von der Farbe zur Nicht-Reproduzierbarkeit

240

Techniken können scheitern. Die Mediengeschichte ist voll von Entwür-fen, schrulligen Prototypen, aber auch marktreif entwickelten Verfahren, die sich niemals durchsetzen konnten, meist weil sie an zentrale Prakti-ken, wie z.B. die ‚Reproduktion von Familie‘ (vgl. Morley/Silverstone 1990) – ein Beispiel, auf das zurückzukommen sein wird –, nicht an-schlussfähig waren. Dass sich solche Techniken nicht am Markt durch-setzen, bedeutet nicht, unkritisch den Markt als optimales oder zumin-dest alternativloses Allokationsverfahren zu beschreiben. Durchaus vor-stellbar wäre ein Feedback der Mediennutzer durch eine basisdemokra-tische Direktkommunikation mit den Produzenten. Doch unter gegebe-nen Bedingungen der anonymen Produktion sind Markterfolg und Marktversagen zwei zentrale Mechanismen, durch welche die ‚Äuße-rungspraxen‘ sehr wohl (indirekt) in die Produktion eingreifen können. Werden die Kameras eines bestimmten Herstellers nicht mehr, z.B. we-gen eines spezifischen technischen Mangels, von den Kameramännern gekauft, so wird der Produzent diesen Mangel abstellen – also das tech-nische Design ändern müssen –, oder er ist vom Ruin bedroht.

2. Instabilität: Technik ist nicht a priori stabiler als andere Formen der Insti-tutionalisierung, ja nicht einmal als die Praktiken (z.B. haben sich viele religiöse Rituale über sehr lange Zeit bis heute gehalten und sind so gese-hen ‚stabiler‘ als manche heutige Techniken, die schon nach einem hal-ben Jahr als veraltet gelten).9 Auffällig bei Winkler ist, dass die techni-sche Störung oder der (insbesondere von Paul Virilio diskutierte) techni-sche Unfall (vgl. Kassung 2008; Weick 1990; Perrow 1984; Potthast 2007) überhaupt nicht vorkommen.10 Der Laptop auf meinem Schreib-

9 Vgl. Law (2006: 433): Die Akteur-Netzwerk-Theorie besage, „dass es keinen

Grund dafür gibt, von vorneherein anzunehmen, dass entweder Objekte oder Per-sonen a priori den Charakter sozialen Wandels oder sozialer Stabilität determinie-ren.“ Im Übrigen hängt die Zuschreibung von Stabilität auch von der gewählten Zeitskala ab. Während Winkler die ‚normale‘, ‚menschliche‘ Zeitskala als Maß der Stabilität einfach voraussetzt, war es laut Latour (2007: 319) „die wichtigste Aus-sage“ der Akteur-Netzwerk-Theorie, dass „Maßstab [...] die Leistung der Akteure selbst“ ist. Wenn man bedenkt, welche Rolle sehr schnelle, das menschliche Maß weit überschreitende Geschwindigkeiten z.B. in jedem heutigen Computer spielen, die wiederum den Alltag prägen, müsste man hier wohl tatsächlich die Maßstabs-setzung noch einmal durchdenken.

10 In der Akteur-Netzwerk-Theorie bilden gestörte Medientechnologien hingegen die zentrale Gruppe von Beispielen. Vgl. Latour (2007: 70) zu ‚versagenden Compu-tern‘ (eine sehr alltägliche Erfahrung); vgl. ebd. (139), welche „Gelegenheit [...] Unfälle, Defekte und Pannen“ bieten; und Law (2006: 435) zu defekten Fernsehge-räten. Zur produktiven Rolle der Störung vgl. auch Kümmel/Schüttpelz (2003).

Jens Schröter | Von der Farbe zur Nicht-Reproduzierbarkeit

241

tisch ist nur scheinbar stabil. Ein kurzes Zucken mit der Hand, schon ist die Tasse Kaffee über den Rechner verschüttet – und der Rechner ist im schlimmsten Fall zerstört, alle ‚Einschreibungen‘, seien es die Pro-Gram-me der Hersteller (Hardware oder Software) oder meine Texte und selbstprogrammierten Codes, vernichtet. Eine winzige Handbewegung genügt, die ich aber – manchmal unter Schmerzen, die nach Nietzsche ein Gedächtnis machen – sorgsam zu vermeiden gelernt habe. Die Stabilität der Technik, gerade die digitalen Medientechnologien machen das überdeutlich, muss selbst durch eine (zuweilen nervenaufreibende) performative Praxis gesichert werden: ständige Downloads von Updates und neuen Virenschutzprotokollen, unausgesetzte Reparaturen, Anrufe bei überlasteten Medientechnikern, die hektisch herumlaufen und händeringend nach Lösungen suchen,11 Sicherheits- und Gebrauchs-anweisungen (vgl. Akrich/Boullier 1991), Warnungen und ggf. Andro-hung von Sanktionen, wenn z.B. Kaffeetassen in der Nähe von Com-putern abgestellt werden, sind nur einige wenige Beispiele.12 Auch Tech-nik benötigt unaufhörliche „Arbeit und Montage“ (Latour 1995: 151)13, um stabil zu bleiben. Die Kaffeetasse könnte sogar vorsätzlich über den Rechner geschüttet werden – in einem Akt der Sabotage, um im gehetz-ten Arbeitsprozess Zeit zu gewinnen. Die Frage nach der Praxis, die notwendig ist, um die Technik selbst zu stabilisieren, führt zwanglos zur Frage nach dem Missbrauch von Technik. Es muss nicht gleich die Zer-störung sein, aber die Beispiele sind ebenfalls reichlich, dass Techniken gegen den Strich ihrer Gebrauchsanweisungen und ihrer ‚Einschreibun-gen‘ verwendet werden (vgl. Oudshoorn/Pinch 2003). Prinzipiell sind solche abweichenden Praktiken auch notwendig, um zu erklären, wie Ge-schichte überhaupt möglich ist. Würden Praktiken durch Technik (Institu-tionalisierung, Wiederholung) vollständig ausdeterminiert, könnte über-haupt keine Abweichung, ja noch nicht einmal ein abweichendes ‚Be-dürfnis‘ (vgl. Winkler 2004: 141f.; 1997: 14-17) entstehen.

3. Destabilisierung: Die Annahme, Technik – auch dann wenn sie selbst stabilund determinierend wäre – würde automatisch Praktiken stabilisieren,scheint durch nichts gerechtfertigt. Erstens besteht das grundsätzlicheProblem, dass eine Technologie, die eine Praxis n stabilisiert, natürlich

11 Dass Technik ‚Nachfrage‘ unwahrscheinlich mache, wie Winkler (2004: 144) nahe legt, gilt wohl nur für den eher seltenen Fall, dass alles problemlos läuft.

12 Zur Performativität der Materialität vgl. Barad (1998). Zur Instabilität von Medi-entechnologien siehe auch Stauff (2001).

13 Dies gilt auch für die von Winkler als Beispiel für Stabilität oft bemühte Architek-tur – daher gibt es z.B. Hausmeister.

Jens Schröter | Von der Farbe zur Nicht-Reproduzierbarkeit

242

jede oppositionelle Praxis anti-n, die die Praxis n destabilisieren will, selbst destabilisiert. Mithin ist unter den Bedingungen komplexer, differenzierter und pluralistischer Gesellschaften de facto jede Technik, die eine stabilisierende Funktion einnimmt, zugleich notwendig destabili-sierend. Zweitens sind die digitalen Medientechnologien wieder gute Bei-spiele dafür, dass sich heterogene Praktiken mit Technik wechselseitig destabilisieren können. Die erleichterte (wenn auch keineswegs ‚verlust-freie‘) Reproduzierbarkeit kann wohletablierte Industrien und die ihnen zugeordneten Äußerungs- und Rezeptionspraktiken erheblich destabili-sieren – Beispiele sind die Bedrohung der Musik- und Filmindustrie durch die Computerindustrie. Nicht nur durch Kopierschutzmaßnah-men, also die Produktionen von technischer Nicht-Reproduzierbarkeit, sondern auch durch die Androhung teilweise drakonischer Strafen (so-wohl durch Gesetze also auch paratextuell durch entsprechende Clips im Kino- oder DVD-Vorprogramm) soll eine Nutzung der Technik etab-liert werden, die stabilisierend wirkt. Also: Es ist keineswegs die Technik per se, die stabilisierend wirkt, sondern ein spezifischer Ausschnitt ihrer möglichen Verwendungsweisen, ein Ausschnitt, der nur durch extratech-nische Verhaltensmaßregelungen fixiert werden kann.

Wie alle drei Punkte deutlich machen, ist Winklers zyklische Vermittlung von Praktiken und Einschreibungen (Monumenten, Wiederholungen und vor allem Technik) problematisch, zumindest insofern die Technik reduktionistisch als stabil und stabilisierend gefasst wird.14 Für eine AMT als „antireduktionisti-sche Heuristik“ (Schüttpelz 2008: 235) muss sich das Problem hingegen anders darstellen. Es kann nicht angehen, erst die komplexe Lage sorgfältig in die bei-den Kisten ‚Technik‘ und (soziale) ‚Praktiken‘ zu sortieren, um sich dann den Kopf zu zerbrechen, wie die beiden Seiten (und sei es zyklisch) wieder zusam-mengeführt werden können.15 Vielmehr müssen zunächst die Makro-Katego-

14 In der Betonung der Stabilität der Technik sind sich Kittler und Winkler vollkom-

men einig. Kittler könnte gar nicht (mit Heidegger) eine durch eine spezifische Technik evozierte ‚epochale Zäsur‘ ausrufen, wenn er nicht implizieren würde, dass die gegebene Technik während dieser Epoche und d.h. mindestens mittelfris-tig stabil genug bliebe, um eben ‚ihre‘ Epoche immer wieder determinieren zu können.

15 Vgl. Latour (2007: 130) mit einem Beispiel, das sowohl gegen Winkler gerichtet sein könnte, als auch auf das von Kittler so geschätzte Militär Bezug nimmt: „‚Materielle‘ und ‚soziale‘ Bindungen a priori zu unterscheiden, bevor man sie wie-der verknüpft, macht ungefähr so viel Sinn, wie die Dynamik einer Schlacht wie-derzugeben, indem man sich auf der einen Seite eine Gruppe vollkommen nackter Soldaten und Offiziere vorstellt und daneben einen riesigen Haufen Gerät – Pan-

Jens Schröter | Von der Farbe zur Nicht-Reproduzierbarkeit

243

rien der ‚Technik‘ und der ‚sozialen Praktiken‘ durch die mikrologischeren Bezeichnungen ‚nicht-menschliche‘ und ‚menschliche Akteure‘ ersetzt und dann deren Kettenbildungen beschrieben werden.16 Bestimmte Kettenbildungen – ‚Akteur-Netzwerke‘ – können stabiler als andere sein. Deren Stabilität liegt nicht in der Technik allein, sondern in historisch und lokal spezifischen Verbindungen menschlicher und nicht-menschlicher Akteure.

Folglich können mit Techniken und Artefakten auch keine Praktiken, Codes etc. über Raum und Zeit kontinuiert werden, ohne dass die Praktiken und Diskurse selbst, die sich auf die Techniken und Arte-fakte beziehen, ebenfalls kontinuiert werden. (Stauff 2005: 191)17

Da Winkler selbst darauf hingewiesen hat, dass auch die Praktiken z.B. durch ankonditionierte und rituelle Wiederholung Stabilität erlangen können, gälte es zu zeigen, wie in je historisch spezifischen Fällen Praktiken und Technologien so zusammenwirken, dass sie sich wechselseitig stabilisieren. Die schon er-wähnte ‚ständige Erreichbarkeit‘ z.B. kann nur erzeugt werden durch Handys und die wie auch immer (im Militär: durch Strafandrohungen und Drill) einge-übte Angst, etwas Wichtiges zu verpassen oder sich verdächtig zu machen, wenn man das Handy abschaltet. Diese Stabilität ist aber stets prekär, wenn einzelne Akteure (menschliche oder nicht-menschliche) ausscheren, kann sie kollabieren (vgl. Latour 2007: 63; Law 2006: 437f.).

Diese Argumentation führt zu dem Punkt, an dem die grundlegende me-thodische Differenz zwischen einer AMT und Winklers Ansatz deutlich wird. Winkler betont, seinem eigenen Vorgehen sehr differenziert gegenüberste-hend, den „notwendigerweise abstrakte[n]“ (Winkler 2004: 130) Charakter sei-nes Modells, denn nur so sei es möglich, den auf Einzelmedien und ihre Besonderheiten verengten Blick zu überwinden. „Als abstrakte Modelle sind sie notwendig falsch“ (ebd.). Doch problematisch ist sein Modell nicht, weil es abstrakt versucht, das Verhältnis von technischer Einschreibung und ‚Äuße-rungspraktiken‘ zu beschreiben, ohne auf Einzelmedien einzugehen (jedenfalls

zer, Gewehre, Schreibgeräte, Uniformen – und dann behauptet, es gebe ‚natürlich eine (dialektische) Beziehung zwischen den beiden.‘“

16 In diesem scheinbar kleinen, aber zentralen Punkt unterscheidet sich Bruno Latours Vorgehen in einem Aufsatz, dessen deutscher Titel Technik ist stabilisierte Gesellschaft nach Winkler klingt, eben von jenem Winklers. Vgl. Latour (2006: 376f.); vgl. auch Akrich (2006).

17 Stauff diskutiert ausführlich die Frage nach der Stabilität der Technik (ebd.: 181-202) und weist (ebd.: 193) darauf hin, dass Kittlers Begriff der ‚Aufschreibesys-teme‘ bereits als „Netzwerk von Techniken und Institutionen“ (Kittler 1995: 519) angelegt war.

Jens Schröter | Von der Farbe zur Nicht-Reproduzierbarkeit

244

in meinen Augen nicht). Es ist, wie gezeigt, gerade auch auf der abstrakten Ebene selbst problematisch. Erstens wird a priori vorentschieden, dass ein bestimmter Akteur bzw. eine bestimmte Gruppe von Akteuren – die Technik – für Stabilität sorgt. Zweitens wird a priori vorentschieden – es wurde oben kurz angesprochen –, dass die Praktiken, die Winkler ‚technische Praxis‘ und ‚Äußerungspraxis‘ nennt, durch eine ‚vollkommene Verbindung‘ strukturiert werden müssten, statt sie als historisch kontingent und heterogen zu akzep-tieren. Eine solche Akzeptanz führt keineswegs dazu, Technikentwicklung als ‚autonom‘ oder Technik als ‚determinierend‘ zu betrachten, sondern nur dazu, dass kein allgemeines Prinzip – z.B. eine spiralförmige Vermittlung von Einschreiben und (partiellem) Zurückschreiben – angegeben werden kann. In diesem Sinne bemerkt Callon (2006b: 337), dass

es keine Theorie oder kein Muster des Akteurs gibt, auch nicht im Plural. Der Akteur hat eine variable Geometrie und ist untrennbar mit den Netzwerken verbunden, die ihn definieren und die er zusammen mit anderen zu definieren hilft. Deswegen wird Geschichte zu einem notwendigen Teil der Analyse.

Wo Winkler die „theoretische Anstrengung“ (Winkler 2004: 130, Hervorhebung J.S.) einfordert, um ein vorhersagbares Muster (die zyklische Einschreibung) als Erklärung für jeden Fall anzubieten, ruft eine AMT nach den „Mühen der Ebene“ (Schüttpelz 2008: 235), um die „unvorhersagbare und ungeplante Sedi-mentierung“ (ebd.: 238) techno-sozialer Strukturen und ihre prekäre Stabilisie-rung detailliert zu beschreiben – ohne a priori festzulegen (zumindest ist das der Anspruch), nach welchem Muster dies verläuft. Daher kann Callon (2006b: 335) schreiben: „Die Methodenwahl gehorcht keinem epistemischen Impera-tiv, da sie gänzlich vom Zustand des Netzwerks diktiert wird.“18

Man kann das an einem bekannten Beispiel verdeutlichen: Ein Vorschlag für ein allgemeines Prinzip, mit dem die Entstehung von Medientechnologien erklärt werden soll, stammt von Marshall McLuhan. Seine These ist, Medientechnologien gingen aus einer Externalisierung menschlich-körperlicher Fähigkeiten und Kräfte hervor. Es gab eine lange und differenzierte Diskussi-on über diese Frage, nicht zuletzt Winkler hat dezidiert Stellung gegen die Ex-ternalisierungsthese bezogen (vgl. Winkler 1997: 52f.). Doch würde eine AMT eben die (historische und/oder ethnographische) Beschreibung über die Erklä-rung stellen – und dann drängte sich die Frage auf, ob überhaupt a priori dezi-diert werden kann, ‚Medien‘ als Externalisierungen des Menschen aufzufassen

18 Vgl. Latour (2007: 86) zur Infrasprache der Akteure, die der/die Analytiker/in zu

beachten haben.

Jens Schröter | Von der Farbe zur Nicht-Reproduzierbarkeit

245

oder nicht. Könnte man nicht einfach formulieren, dass es Medientechnologi-en gibt, die auf gezielter Nutzung des Wissens um Eigenschaften der mensch-lichen Wahrnehmung beruhen (z.B. Kino, Stereoskopie, MP3-Soundkompres-sion) und solchen, die das nicht tun (z.B. Fotografie, Holografie, analoge Schall-aufzeichnung)? Erstere Medientechnologien wären in dem Sinne Externalisie-rungen des Menschen, als das Wissen über die Wahrnehmung des Menschen Teil ihrer Konstruktion ist; letztere würden solches Wissen nicht voraussetzen und wären in diesem Sinne keine Externalisierung des Menschen...

Kurz nachdem er das Verhältnis von ‚Technik‘ und ‚Gesellschaft‘ disku-tiert hat, schreibt Latour (2002: 242): „An dieser Stelle wäre eine detaillierte Fallstudie zu soziotechnischen Netzwerken angebracht“.

3 Fallstudie

In diesem Sinne möchte ich einen bemerkenswerten Fall beschreiben. An ihm lassen sich die bislang skizzierten Probleme explizieren, aber eben in einer historisch spezifischen ‚Geometrie‘. Als Beispiel sei ein eher randständiges Verfahren herangezogen, nämlich die Interferenz-Farbfotografie oder kurz: Lippmann-Fotografie.19 Gerade die Randständigkeit des Verfahrens erlaubt die Sichtbarmachung jener Prozesse, die in den diskursüberwucherten Main-stream-Entwicklungen kaum noch zu entschlüsseln sind. Es wurde in den 1890er Jahren von Gabriel Lippmann, einem französischen Physiker, entwi-ckelt, der dafür 1908 den Nobelpreis erhielt.

1891-1907: Enthüllung und Scheitern

Am 2. Februar 1891 stellte Gabriel Lippmann ein neues Verfahren der Farb-fotografie der französischen Akademie der Wissenschaften vor (vgl. Lippmann 1891). Es sei zunächst in seinen Grundzügen erklärt: Licht des Objekts (im Schema eine Rose) wird durch die Linse auf die Fotoplatte fokussiert. Hinter der Glasplatte befindet sich eine dünne Schicht20 einer speziellen Emulsion, hinter der sich wiederum eine stark reflektierende Schicht befindet. Da Silber als Reflektor infolge möglicher chemischer Reaktionen mit der Emulsion aus-schied, benutzte Lippmann eine Quecksilberschicht.

19 Vgl. zur Geschichte des Verfahrens und seiner Differenzierung von der Photochro-

mie Connes (1987). In Kittler (2002) taucht das Verfahren nicht auf.

20 Die Dicke der Emulsions-Schicht ist abhängig davon, ob man nur monochromati-sches (etwa bei einem Sonnenspektrum) oder auch polychromatisches Licht (wie bei einer normalen Szene) aufzeichnen will. Vgl. Ives (1908).

Jens Schröter | Von der Farbe zur Nicht-Reproduzierbarkeit

246

Abb. 1: Schema der Lippmann-Fotografie (Bjelkhagen 1999a: 56).

Wird nun das Bild des Objekts auf die Platte projiziert, so spiegelt sich das einfallende Licht an der Oberfläche des Quecksilbers. Das einfallende und das reflektierte Licht interferieren miteinander und bilden so in der Emulsion stehende Wellen. Deren Maxima befinden sich jeweils auf der Hälfte der Wellenlänge des Lichts – daher die in Abbildung 1 angegebenen Ausdrücke λ/2n, mit λ als Wellenlänge des jeweiligen Lichts und n als Brechungsindex der Emulsion. An den Punkten der Maxima bilden sich in der Emulsion hauch-dünne Lamellen von Silber, da das Licht, wie in einer ganz normalen Schwarz/ Weiß-Fotografie, das in der Emulsion enthaltene Silberhalogenid zu Silber und den von der Emulsion geschluckten Halogen-Ionen zersetzt.21 Wird nach der Entwicklung der Platte weißes Licht auf die Platte geleitet, zeigt sich in einem bestimmten Blickwinkel ein farbiges Bild der Szene, da von den Lamellen jeweils per Interferenz alle Farbanteile des Lichts ausgelöscht werden, die nicht der ursprünglichen Farbe entsprechen.22

21 Seine ersten Fotos machte Lippmann allerdings nicht auf der Basis von Silberhalo-

geniden, sondern auf der Basis von Bichromat-Gelatine. Vgl. Valenta (1894: 76).

22 Eine anschauliche Erklärung liefert Valenta (1894: 30-36). Ähnlich entstehen im Übrigen die intensiven Farben, die man auf der Oberfläche von Seifenblasen beo-bachten kann. Vgl. Rood (1880: 47-50).

Jens Schröter | Von der Farbe zur Nicht-Reproduzierbarkeit

247

Abb. 2: Die Integrale Lippmanns (1894: 104).

1894 publizierte Lippmann eine Gruppe von Integralen, die genau beschrei-ben, welche selektive Reflexion in der Emulsionsschicht durch welche Fre-quenz verursacht wird. Es handelt sich dabei um den physikalisch getreuesten Prozess zur Wiedergabe von Farbe (vgl. Nareid 1988). Da keine Farbstoffe im Spiel sind, handelt es sich überdies um die archivarisch stabilste Form der Farbfotografie. Wie ist dieses Verfahren nun einzuschätzen?

Zunächst kann man sagen, dass hier tatsächlich eine Art von Ein-Schreibung vorliegt. Denn anders als bei vielen anderen fotografischen Prozessen, wo das Funktionieren von Effekten beobachtet und genutzt wurde, ohne dass genau-ere Kenntnisse über die tieferen physikalischen und chemischen Gründe vor-lagen (vgl. Arago 1839: 29; Hagen 2002: 200), gab es hier vorher eine detaillierte, auf der im 19. Jahrhundert entwickelten Wellenoptik23 basierende, Theorie. Ein Kommentator bemerkte dazu: „Mathematics conquer Photography“ (Connes 1987: 157).24 Lippmann wollte gezielt die Potentiale der Wellenoptik zur Reproduktion von Farbe in der Fotografie nutzen. Wenn man so will, haben sich zwei Zielvorstellungen in die Interferenz-Farbfotografie einge-schrieben: a) die Demonstration der Richtigkeit der wellenoptischen Theorie-bildung und b) – als Mittel zur Erreichung von a) – die Möglichkeit der Repro-duktion der Farbe durch die Fotografie.

In welchem Sinne könnten sich diese Einschreibungen nun im Sinne Winklers in die Äußerungspraktiken zurückschreiben? Zu Einschreibung a): Auf dieser Ebene ist das Verfahren allein ein Verbündeter für Lippmann. In den naturwissenschaftlichen Praktiken konnte sich seine Demonstration in dem Sinne ‚zurückschreiben‘, dass ein Nobelpreis errungen werden konnte (auch wenn das sicher nicht ursächlich von Lippmann angestrebt wurde). Doch warum sollten die ‚Normalnutzer‘ an der Demonstration der Richtigkeit von Lippmanns wellenoptischen Integralen interessiert sein? Hieran zeigt sich das diskutierte, potentielle Auseinanderfallen derjenigen Praktiken, die eine Medien- technik erzeugen und derjenigen, die sie nutzen. Im Falle der Lippmann-Foto-

23 Zur Entwicklung des wellenoptischen Konzepts der Interferenz in der ersten

Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. Buchwald (1989).

24 Daher lässt sich die Lippmann-Fotografie auch hervorragend in Computersimu-lationen darstellen. Vgl. Nareid/Pedersen (1991).

Jens Schröter | Von der Farbe zur Nicht-Reproduzierbarkeit

248

grafie könnte allein Einschreibung b) für die ‚alltäglichen‘ Praktiken relevant sein. Die Reproduktion der Farbigkeit, so sollte man meinen, hätte das Verfah-ren unmittelbar populär gegenüber der bloß schwarz/weißen Fotografie machen müssen. Zumindest, wenn die Reproduktion von Farbe ein gewünsch-tes Ziel seitens der potentiellen Nutzer wäre. So könnten solche ‚realistische-ren‘ Abbildungen Stellvertreter-Funktionen für abwesende Familienmitglieder erfüllen – Funktionen, die im Rahmen der zunehmenden Mobilisierung von Arbeitskräften ab dem Ende des 19. Jahrhunderts immer wichtiger werden.

So kam es zwar auch – Farbfotografien von Familienmitgliedern sind häu-fig auf Schreibtischen in Büros anzutreffen, während S/W-Bilder eher im Kunstbereich oder zur Darstellung Verstorbener reüssieren25 –, aber nicht mithilfe der Interferenz-Farbfotografie. Die Lippmann-Fotografie scheiterte an den Nutzern. Hat sich in diesem Sinne die Äußerungspraxis nicht tatsächlich in die Technik, zumindest in die letztlich bevorzugte Technik der fotografi-schen Farbreproduktion ‚zurückgeschrieben‘? Nein: ‚Zurückschreiben‘ macht als Begriff keinen Sinn, weil es nicht so ist, dass die Äußerungspraktiken die Form einer Technik bestimmen. Vielmehr werden aus einem Feld potentieller Verfahren diejenigen selektiert, die an Praktiken anschließbar sind. Warum scheiterte Lippmanns, aus Sicht der Physiker nobelpreiswürdiges, Verfahren letztlich so kläglich am ‚Markttest‘ (vgl. Callon 2006a) bzw. an den ‚Anti-Pro-grammen‘ (Latour 2006: 371)26 der Nutzer? Es scheiterte aus drei Gründen:

1 Es scheiterte an sehr langen Belichtungszeiten, die der extrem feinkörnigen Emulsion geschuldet waren. Die Emulsionen müssen so feinkörnig, mit-hin hochauflösend sein, um Strukturen in der Größe der halben Wellen-längen des sichtbaren Spektrums überhaupt aufzeichnen zu können. Zu-nächst war die Herstellung solcher Emulsionen eine jahrelang bearbeitete Schwierigkeit für die Umsetzung des abstrakt-mathematisch so eleganten Konzepts Lippmanns (vgl. Eder 1979 [1932]: 967-970). Aber selbst als Lippmann das Problem gelöst hatte, blieb es für alltägliche fotografische Praktiken ein Problem:

a) Je feinkörniger fotografische Emulsionen sind, desto weniger lichtem-pfindlich sind sie auch, was verlängerte Belichtungszeiten bedeutet. Auch als die Brüder Lumiére am 23. März 1892 der Société des sciences industrielles mit-

25 Oder bei Christian Boltanski beides zugleich.

26 Der Unterschied von Latours (und Akrichs) Begriff des Anti-Programms zur Vor-stellung einer ‚Zurückschreibung‘ ist der, dass ‚Anti-Programm‘ nicht notwendig unterstellt, die Wünsche und Praktiken konkreter Nutzer würden die Technik ver-ändern (obwohl das nicht ausgeschlossen ist). Es bedeutet nur, dass Nutzer anders als von Herstellerseite vorgesehen mit Techniken umgehen können.

Jens Schröter | Von der Farbe zur Nicht-Reproduzierbarkeit

249

teilen konnten, dass sie eine verbesserte Emulsion gefunden hatten (‚korn-lose Bromsilbergelatine‘), blieben die Belichtungszeiten im Vergleich zu derzeit bereits üblichen Bromsilber-Gelatinen sehr lang. Das vielgerühmte „erste photographische Bildnis eines menschlichen Antlitzes in natür-lichen Farben“ (ebd.: 972) von 1893 zeigt ein schlafendes, oder doch zu-mindest mit geschlossenen Augen mit dem Kopf auf einem gedeckten Tisch ruhendes Mädchen. Ruhend, eben weil die Abwesenheit von Bewe-gung die Länge der notwendigen Belichtungszeit nicht spürbar werden lässt. In der familiären Fotografie ist aber die ‚Suche nach dem perfekten Moment‘, das Festhalten ‚spontaner‘ Ereignisse in Schnappschüssen hoch-geschätzt (vgl. King 2003). Schnappschüsse sind mit Lippmann-Fotogra-fien unmöglich.

b) Die Emulsionen sind aber nicht nur langsam, sondern auch empfindlich gegenüber Störungen. Da die Farbinformation als äußerst feine und subtile Silberlamellen gespeichert ist, verändert jedes Verziehen der Emulsions-schicht durch Druck oder sogar durch stärkere Temperaturänderungen die Farbwiedergabe: Die Technik ist störungsanfällig, mithin instabil. „Haucht man eine Lippmann-Fotografie an, sodass die Gelatineschicht quillt und die geschwärzten Schichten aneinanderrücken, so verändert das Bild seine Farben“ (Bergmann et al. 2004: 352f.). Beweist das nicht zumindest indi-rekt, dass Winklers Überlegungen zutreffen, insofern nur die stabilisie-rungsfähigen Medientechniken selektiert werden? Nein, denn einerseits kön-nen auch (für eine Praxis n) destabilisierende Techniken selektiert werden, wenn das entweder von einer oppositionellen Praxis anti-n durchsetzbar ist oder als unerwarteter Nebeneffekt27 einfach auftritt. So hätte die Durch-setzung der Lippmann-Fotografie viele etablierte Praktiken der S/W-Fotografie destabilisiert (was später mit dafür geeigneteren Verfahren der Farbfotografie ja auch geschehen ist). Andererseits zeigt dies, wie schwierig es ist, genau zu bestimmen, auf welche Art von Stabilisierung Technolo-gien angelegt sind. Lippmanns Verfahren wollte in erster Linie zeigen, dass die wellenoptische Wiedergabe der Farbe überhaupt möglich ist – dass dieser Effekt systematisch reproduzierbar und in diesem Sinne stabil ist. Die Frage, wie man das Verfahren transformiert, um familiäre Praktiken zu stabilisieren, was das Verfahren im Gegenzug als erfolgreiche Technik (am Markt) stabilisiert hätte, stand (zunächst) gar nicht zur Debatte. Allei-ne der von Lippmann vorgeschlagene Einsatz des toxischen Schwerme-

27 Brian Winston (1998: 11-15) müsste ja gar nicht das Konzept eines ‚law of the sup-

pression of radical potential‘ einführen, wenn das nicht geschehen könnte.

Jens Schröter | Von der Farbe zur Nicht-Reproduzierbarkeit

250

talls Quecksilber verbietet die Benutzung der Technik in häuslichen Zu-sammenhängen, wo z.B. Kinder vorkommen.28

2 Es scheiterte an der Irideszenz der Farbe. Irideszenz bedeutet, dass die kor-rekte Farbwiedergabe des Bildes nur gelingt, wenn das Licht bei der Be-trachtung im gleichen Winkel auf die Platte fällt wie bei der Aufnahme. Bei anderen Blickwinkeln zeigt sich gar kein Bild oder das Bild erscheint in Komplementärfarben.29 Diese Eigenschaft verhindert die kollektive Be-trachtung des Bildes, da kaum mehr als eine Person das Bild korrekt wahr-nehmen kann. Gerade die gemeinsame Betrachtung und Kommentierung z.B. von fotografisch festgehaltenen ‚perfekten Momenten‘ wird dadurch verunmöglicht. Auch macht es wenig Sinn, ein Lippmann-Foto z.B. auf ei-nen Büroschreibtisch zu stellen, da es aus den meisten Blickwinkeln ein-fach kein oder kein richtiges Bild zeigt. All dies macht die Nutzung von Lippmann-Fotografien für Familienfotos eher ungeeignet.

3 Es scheiterte an der Nicht-Reproduzierbarkeit der Bilder. Zunächst gibt es bei Lippmann-Fotos nicht die Differenz von Negativ und Positiv, da das Bild unmittelbar entsteht und zwar entwickelt, aber nicht mehr ‚abgezogen‘ werden muss. Der Prozess bietet keine Reproduktion an. Doch man könnte überlegen, das Bild zu beleuchten und z.B. mit einem konventio-nellen Verfahren der Dreifarbfotografie abzufotografieren, jedoch: „The illumination for recreating a color correct image of a Lippmann photo-graph must be perpendicular to the image. Recording of such an image must be performed perpendicularly as well, which means, that the camera will block the light that is needed to illuminate the original Lippmann pho-tograph“ (Bjelkhagen 1999a: 60). Das mag nicht sofort einleuchten, denn man kann ein Lippmann-Foto ja auch betrachten. Zwar muss das Bild, da in der Kamera immer im 90°-Winkel zum Objektiv platziert, auch aus diesem Winkel beleuchtet werden, doch wird das farbige Licht ja real ab-gestrahlt und so kann und muss der Blick des Betrachters etwas von der Seite kommen. Doch so könnte man es nicht abfotografieren, da dann die Schrägneigung des Bildes mitfotografiert würde (vgl. Abb. 4b). Aber selbst wenn dies gelänge, würde das konventionell reproduzierte Bild nicht mehr

28 Diese Kritik gilt allerdings nur für Lippmanns ursprünglichen Ansatz. Schon 1904

schlug ein gewisser E. Rothé (1904) vor, die Grenze zwischen der Emulsion und der Luft als Totalreflektor zu nutzen. Der Einsatz von Quecksilber konnte da-durch vermieden werden.

29 Nicht zufällig gibt es eigene Webseiten über das Betrachten von Lippmann-Fotogra-fien, http://holoinfo.no-ip.biz/wiki/index.php/Lippmann_Photography, 11.05.2013.

Jens Schröter | Von der Farbe zur Nicht-Reproduzierbarkeit

251

die Irideszenz zeigen – das ist der Punkt, auf den letztlich alles ankommt. Irideszenz ist bis heute unreproduzierbar.30

Um erneut das Beispiel der Familienfotografie aufzugreifen (die mit Abstand der größte Bereich der Verwendung der Fotografie ist): In der Regel werden Familienfotos nicht nur einmal angefertigt. Sie werden reproduziert, in Wohn-räumlichkeiten, Büros, Portemonnaies verteilt oder Verwandten geschickt (und heute in digitaler Form gerne auf Websites publiziert). Ja, das ist manchmal sogar wichtiger als sie anzusehen. Sie werden reproduziert, um dann in Alben und in Schränken archiviert zu werden. Wichtiger als ihre tatsächliche ist ihre potentielle Verfügbar- und Aktualisierbarkeit.

Aber nicht nur in ideologischen Machtorganisationen (vgl. Mann 1990: 46-49) wie der Familie ist die Reproduzierbarkeit des fotografischen Bildes, von der Walter Benjamin und später Rosalind Krauss suggerierten, sie sei a priori identisch mit der Aufzeichnung des Lichts (Photo-graphie), was keineswegs

30 Genaueres zur Reproduktion von Lippmann-Fotografien: a) Möglich ist die Am-

plitude des Lippmann-Fotos als Vorlage für eine S/W-Reproduktion zu nehmen (vgl. Bjelkhagen 1999a: 58) – aber die hat weder Farbe noch Irideszenz. b) Will man sich der Farbigkeit des Original-Bildes annähern, besteht eine Möglichkeit der Reproduktion im Einsatz von Prismen, bzw. Strahlteilern, die zugleich Lichteinfall und Fotografie mit einem konventionellen Farbfilm ermöglichen: Nur so ist mei-ner Einschätzung nach Eders (1979 [1932]: 974) Bemerkung über die „erste Re-produktion einer Lippmann-Photochromie im Dreifarbendruck“ durch Lehmann 1907 verständlich. In dem von mir zitierten Faksimile-Reprint des Bandes ist als Tafel IV eine S/W-Reproduktion einer Lippmann-Reproduktion eines Ölgemäldes aufzufinden. Solche Kopien zeigen aber nicht die Irideszenz des Lippmann-Bildes. c) Denkbar ist die Reproduktion der Lippmannfotografie durch Prisma/Strahltei-ler und dann erneuten Einsatz des Lippmannverfahrens. Bjelkhagen (1999a: 60) diskutiert dies. Auffällig und bedauerlich ist, dass er nur behauptet: „Even if the se-curity Lippmann photograph was laminated to a prism, it is still difficult to illumi-nate it correctly and at the same time record a color correct Lippmann photograph of it. The quality of such a copy will be very poor and significantly different from an original Lippmann photograph, if it is at all possible to obtain.“ Er beschreibt nicht genau, was dabei die Limitationen sind. Hier besteht noch Forschungsbedarf. d) Dies gilt auch hinsichtlich einer weiterführenden Diskussion, die sich auf die Frage bezieht, inwiefern die unter bestimmten Bedingungen erscheinende kom-plementärfarbige Erscheinung des Lippmann-Bildes als eine Art Negativ für die Reproduktion des Bildes genutzt werden könnte. Vgl. die Diskussion unter http://holographyforum.org/phpBB2/viewtopic.php?f=14&t=5253, 10.03.2010. Interessanterweise hat schon Lippmann 1905 selbst diese Möglichkeit erwogen, ohne jedoch ein reproduzierbares Verfahren etablieren zu können (vgl. Lippmann 1905). Letztlich zeigen alle diese vergeblichen Diskussionen: Lippmann-Fotografie ist zumindest nicht reproduzierbar genug – sonst gäbe es die entsprechenden Ver-fahren längst.

Jens Schröter | Von der Farbe zur Nicht-Reproduzierbarkeit

252

der Fall ist,31 unverzichtbar. Politische Machtorganisationen, wie die Staatsge-walt, benötigen Fahndungsfotos, um Kriminelle zu identifizieren und klassifi-zieren (vgl. Sekula 2003). Naturwissenschaften und Medizin benötigen repro-duzierbare Bilder, um z.B. Aufzeichnungen von und so auch das Wissen über besondere Ereignisse oder aussagekräftige Symptome in wissenschaftlichen Publikationen vervielfältigen zu können etc.

Jedenfalls war es spätestens um die Lippmann-Fotografie geschehen, als 1907 die ersten Autochromplatten der mittlerweile vom ökonomisch erfolgs-unverdächtigen Lippmann-Verfahren abgefallenen Gebrüder Lumiére „mit durchschlagendem Erfolge in den Handel“ kamen. „Bei der Autochromplatte befinden sich gemischte rote, grüne und blaue Stärkekörnchen auf einer Glas-platte; darüber ist eine dünne Schicht einer panchromatischen Gelatineemul-sion aufgetragen. Die Belichtung erfolgt durch die Glasplatte und die Farbras-terschicht hindurch“ (Eder 1979 [1932]: 958). Dieses Verfahren basiert auf dem Wissen um die physiologische Farbwahrnehmung, der additiven Farbsyn-these.32 Das Medium der Autochromplatten kann mithin als Externalisierung menschlicher Wahrnehmung beschrieben werden – anders als die strikt physi-kalische Lippmann-Fotografie.33 An diesem konkreten Beispiel zeigt sich, wie verfehlt es wäre a priori vorzuentscheiden, ob Medientechnologien ‚Auswei-tungen‘ des Menschen sind oder nicht. Manche sind es, manche nicht.34 Wie dem auch sei: Unter Bezug auf den Physiker und Photochemiker Hans Lehmann (1907, 1908), mit dem die „Technik der Lippmann-Photochromie ihren Höhepunkt“ erreicht habe (weil Lehmann hervorragende Emulsionen entwickelt hatte), bemerkt Eder (1979 [1932]: 974) schließlich:

Im Jahre 1909 brach die Arbeit H. Lehmanns jäh ab, weil mittlerweile die Autochromplatten der Brüder Lumières [sic] auf den Markt ge-kommen waren, die in sehr bequemer und verhältnismäßig billiger Weise auf anderem Wege das Problem der Photographie in natür-lichen Farben gelöst hatten und überdies mit kürzeren Belichtungs-zeiten ihr Ziel erreichten. Wenn auch die Lippmannsche Interferenz-photographie aus der photographischen Praxis verschwunden ist, ist sie doch ein Höhepunkt der wissenschaftlichen Lösung der Probleme

31 Schon das erste, einigermaßen massenwirksame fotografische Verfahren, die

Daguerreotypie, war nicht reproduzierbar.

32 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Kornraster-Verfahren, 11.05.2013.

33 Vgl. Connes (1987: 158) zur Lippmann-Fotografie: „The vagaries of human vision [...] are not even considered.“

34 Daher scheint auch McLuhans (1994: 288-309) Diskussion nur sehr bestimmter Verfahren der Fotografie als ‚der Fotografie‘ im Rahmen seiner Konzeption von Medien als ‚extensions of man‘ problematisch.

Jens Schröter | Von der Farbe zur Nicht-Reproduzierbarkeit

253

der Photographie in natürlichen Farben in direkten Aufnahmen in der Kamera.

Zu dem siegreichen Autochrom-Verfahren schreibt er: „Die Vervielfältigung von Autochrombildern wurde bald Gemeingut aller Reproduktionsanstalten“ (ebd.: 958).35

1999: Wiederkehr

Für fotografische Verfahren36 kann es ein „fundamentale[r] Nachteil“37 sein, nicht reproduzierbar zu sein. Die Betonung liegt auf ‚kann‘. Keineswegs lässt sich eine medienontologische Figur konstruieren, nach der nicht-reproduzier-bare fotografische Verfahren in einem als homogen unterstellten ‚Kontext‘, der z.B. aufgrund seiner kapitalistischen Verfasstheit das Reproduzierbare bevor-zugt (wie Benjamin unterstellte), immer zum Scheitern verurteilt sind.

Denn trotz aller Probleme tauchte die Lippmann-Fotografie wieder auf. 1999 bemerkte Hans I. Bjelkhagen: „Recent publications on Lippmann photo-graphy are mainly historic papers on this old photographic technique“ (1999a: 56). Bis zu diesem Zeitpunkt war die Interferenz-Farbfotografie in das Archiv der toten Medien abgesunken. Doch eben mit Bjelkhagens Aufsatz (und einem dazugehörigen Patent, vgl. Bjelkhagen 1999b) sollte sich das ändern. Die Keh-re im Geschick der Lippmann-Fotografie wird von Bjelkhagen expliziert:

The limitations of the Lippmann technique [...] which made this type of color photography impractical, have now become important ad-vantages of the new type of security application of Lippmann photo-graphy presented here. (Bjelkhagen 1999a: 55)

35 Autochromplatten weisen überdies keine Irideszenz auf.

36 Von denen es viel mehr gab (und gibt), als man sich heute vorstellen kann. Vgl. dazu neben dem unverzichtbaren Eder (1979 [1932]) den Überblick bei Knodt/ Pollmeier (1989).

37 Vgl. Eder (1979 [1932]: 432): „Die Daguerreotypie litt an einem fundamentalen Nachteil: Sie gab in der Camera obscura immer nur ein einziges photographisches Bild, welches zu einer Vervielfältigung durch einfache photographische Kopier-prozesse kaum geeignet war.“

Jens Schröter | Von der Farbe zur Nicht-Reproduzierbarkeit

254

Was ist geschehen, dass ‚now‘ die Nachteile zu Vorteilen werden?38 Vor allem die zunehmend im Alltag zur Verfügung stehenden Potentiale der Reprodu-zierbarkeit durch Fotokopierer – beginnend mit Carlsons Patent zur ‚Electron Photography‘ von 194039 – erzeugten nicht nur wohltuende Arbeitserleichte-rung, sondern auch neue Probleme. Der Fotokopierer mag die Büroarbeit erleichtern und insofern stabilisieren, er wirkt andernorts aber destabilisierend. Vor allem seit Kopierer hervorragende Leistungen in der Reproduktion farbi-ger Vorlagen erzielen, konnten Dokumente sowohl der ökonomischen als auch der politischen Machtorganisationen, also Geldscheine und z.B. Personal-papiere o.ä., relativ leicht kopiert werden. Die Potentiale der technischen Re-produzierbarkeit erzeugen zwangsläufig einen Bedarf nach technischer Nicht-Reproduzierbarkeit,40 die den Unterschied zwischen Original und Kopie stabi-lisieren soll – eine Differenz, die entgegen einiger postmodernistischer Diskur-se (vor allem Baudrillard) schlicht weiter existiert. Deswegen ist „die Technik der modernen Post viel interessanter als die Theorie der Postmoderne“ (Bolz 1994: 10).

Der Unterschied zwischen Original und Kopie hat z.B. im Falle des Per-sonalausweises keine geringere Aufgabe, als das zu sichern, was Sie ohne Zwei-fel für ihren persönlichsten und intimsten Besitz halten – Ihre Identität. Ihre Identität ist nämlich gar nicht Ihr persönlichster, vor-technischer Besitz, son-dern wird erst durch solche externen Technologien der Identifizierung sicher- und damit hergestellt.41 Durch eine kleine Feldstudie lässt sich das ganz leicht herausfinden: Gehen Sie ohne Ausweis zu einer Bank und versuchen Sie an das zentrale Medium kapitalistischer Vergesellschaftung – das Geld – zu kommen.42 Oder: Versuchen Sie ohne Ausweis in ein Land außerhalb des Schengen-Raums zu reisen. Sie können noch so oft und unter Tränen beteuern, Sie seien Sie – niemand wird Ihnen glauben, wenn Sie nicht einen fälschungssicher gemachten Personalausweis vorlegen können. Sie machen sich extrem ver-

38 Abgesehen von dem technischen Punkt, dass seit der beginnenden Ausbreitung

(ab 1963) der Holographie die extrem feinkörnigen Fotoplatten wieder in guter Qualität und ausreichender Menge zur Verfügung standen. Vgl. Johnston (2006: 220-227).

39 Vgl. Carlson (1940). Vgl. zur Geschichte der Xerographie Mort (1989).

40 Die auf keinen Fall mit Benjamins ‚Aura‘ verwechselt werden darf. Vgl. ausführlich Schröter (2010).

41 Vgl. zur ständigen steigenden Zahl von ‚Identitätsdiebstählen‘, einem großen Pro-blem vor allem für die Geldwirtschaft Hoofnagle (2007).

42 Die Frage nach der Nicht-Reproduzierbarkeit gilt natürlich auch für EC-Karten, Kreditkarten etc., die einerseits selbst oft holographische Elemente aufweisen, um nicht reproduzierbar zu sein, andererseits erst bezogen werden können, wenn zuvor ein Personalausweis vorgelegt wurde.

Jens Schröter | Von der Farbe zur Nicht-Reproduzierbarkeit

255

dächtig, wenn Sie es wagen sollten, eine Fotokopie Ihres Ausweises (oder Ihrer Kreditkarte) vorzulegen. Sie sind nur Sie ‚selbst‘ u.a. dank der gegebenenfalls auf Lippmann-Verfahren basierenden Sicherheitselemente auf Ihrem originalen Ausweis (vgl. Latour 2007: 360). In vielen Bereichen wächst der Bedarf nach Sicherheitsapplikationen:

The worldwide market for document security is large and rapidly growing. The holographic security industry including the worldwide OVD[43] market size in 2001 was $1.09 billion. There are many per-sonalised documents which would benefit from a higher degree of security, for example, driving licences, traveling documents (Shengen Visa), corporate ID cards (air pilot’s ID cards, people working in nuclear power stations), and military personnel, police officers, cus-tom inspectors, etc., are all potential candidates for more secure ID documents. (Bjelkhagen 2013)

Lange Zeit (und bis heute) wurden vor allem holographische Verfahren für diese Zwecke genutzt.44 Aber natürlich drängt sich sofort ein Einwand auf: Wenn Holographien so schwer zu reproduzieren sind, wie können sie dann massenhaft auf Ausweisen, Kreditkarten oder Geldscheinen verwendet wer-den? Offenkundig müssen sie ja doch irgendwie reproduzierbar sein – und das sind sie unter sehr speziellen Bedingungen auch. Um 1980 entwickelten sich kommerziell genutzte Verfahren des Prägehologramms.45 Hologramme kön-nen dabei reproduziert werden, indem das Holografie zugrunde liegende Inter-ferenzmuster mechanisch einem entsprechenden Material aufgeprägt wird. Auf diese Weise ist es möglich, kleine Hologramme in großer Zahl zu reproduzie-ren – ohne dass die Reproduktion für Otto Normalbürger an einem Fotoko-pierer möglich wäre:

Das Fälschen eines Hologramms erfordert einen immensen Apparate-aufwand, mit hochwertigen Lasern, Präzisionsoptiken, extrem schwin-gungsfreie optische Labortische, photochemische Entwicklung, Gal-vanik zur Abformung von Prägewerkzeugen, spezielle Prägefolien und Prägemaschine. (Dreischulte/Wick 2009)

43 OVD = Optical Variable Device. Dies ist ein Sammelbegriff für alle Verfahren, die

ähnlich wie Lippmannfotografien ihre Erscheinungsweise abhängig vom Blickwin-kel verändern und daher schwer zu kopieren sind.

44 Vgl. Schröter (2009). Dort auch genauere Ausführungen über die Formen opti-schen Wissens, die solche Nicht-Reproduzierbarkeit ermöglichen.

45 Vgl. Johnston (2006: 372-377). Auf S. 374/375 erfährt man Details über die Ein-führung von Holographien als Kopierschutzverfahren für Kreditkarten. Auf S. 376 ist zu lesen, dass 1993 95 Prozent des Holographie-Marktes von den Prägeholo-grammen bestimmt waren.

Jens Schröter | Von der Farbe zur Nicht-Reproduzierbarkeit

256

Es zeigt sich: Reproduzierbarkeit ist nicht etwas, das es a priori gibt oder nicht, sondern ist etwas, das historisch gestuft und verteilt vorliegt – im Sinne von Callons ‚variablen Geometrien‘. Eine bestimmte Reproduzierbarkeit steht Machtorganisationen zur Verfügung:

Die Beherrschung des gesamten Herstellungsprozesses für qualitativ hochwertige Prägehologramme erfordert sowohl sehr komplexes, technisches Equipment als auch umfangreiches Know-how und Erfahrung der Techniker. Diese Kombination findet man weltweit nur in wenigen Holographie-Produktionsfirmen.46

Den meisten Menschen steht diese Ausrüstung nicht zur Verfügung. Aller-dings sollen bereits Fälle von Hologramm-Fälschungen vorgekommen sein (vgl. Pizzanelli 1998). Lippmann-Fotografien sind aber noch schwerer zu re-produzieren. Da die Farbinformation ja im Emulsions-Volumen vorliegt, lässt sich eine Lippmann-Fotografie nicht einmal durch Prägung duplizieren.

Es gibt grundsätzlich verschiedene Formen der Nicht-Reproduzierbarkeit, die sich keineswegs einfach auf den Unterschied Original/Kopie beziehen, sondern vielmehr (a) auf die Differenz gültiger und ungültiger Kopien und (b) auf den Unterschied gültiger und ungültiger Originale:

a) Geldscheine sollen zwar als identische Kopien reproduzierbar sein, aber nur durch die vorgesehenen politischen Machtorganisationen. Es soll verhindert werden, dass falsche Kopien in Umlauf gelangen. Dafür sind Verfahren wie Prägehologramme, die in kontrollierter, aber dann durch-aus zahlreicher Weise vervielfältigbar sind, gut geeignet.

b) Pässe zu vervielfältigen macht keinen Sinn, da sie ohnehin nur einer Per-son zugeordnet sind. Es geht vielmehr darum, ob der Pass der betreffen-den Person ausgestellt werden durfte oder nicht. Es soll also verhindert werden, dass falsche Originale in Umlauf gelangen.

Gerade für den letzten Fall sind Lippmann-Fotografien ideal geeignet. Viele Eigenschaften, die z.B. für die Praktiken der familiären Selbstreproduktion durch fotografische Medien hinderlich waren, verkehren sich nun zu Vorteilen. Bjelkhagen macht etwa den Vorschlag auf einen Pass eine verkleinerte Lipp-mann-Fotografie des Passes aufzulaminieren (vgl. Abb. 3 und 4).

46 So die Aussage eines Unternehmens, das u.a. Hologramme für Sicherheitsanwen-

dungen herstellt (http://www.topac.de/de/leistungen/holographie/herstellung.html, 11.05.2013).

Jens Schröter | Von der Farbe zur Nicht-Reproduzierbarkeit

257

Abb. 3a und 3b: Schema einer Lippmann-Sicherheitsapplikation, aus dem Patent von Bjelkhagen (1999b). Die Nr. 22 bezeichnet hierbei den gesamten Pass, die 21 die Re-produktion des Passes als Lippmann-Element auf dem Pass. In Abb. 3b (unten) be-zeichnen 33 und 34 verschiedene Blickpositionen auf das Lippmann-Element.

Abb. 4a und 4b: Prototyp eines Passes mit einer Lippmann-Sicherheitsapplikation. Die beiden Bilder zeigen den Pass aus verschiedenen Blickwinkeln und folglich sieht das auflaminierte Lippmann-Element gemäß seiner Irideszenz unterschiedlich aus (einmal negativ, einmal positiv). Abdruck der Abbildungen mit freundlicher Genehmigung von Hans I. Bjelkhagen.

Jens Schröter | Von der Farbe zur Nicht-Reproduzierbarkeit

258

Zunächst ist eine Pointe des Konzepts, dass eine Lippmann-Kopie des Passes auf dem Pass selbst die Übereinstimmung zwischen dieser Kopie und dem Original prüfbar macht:

The most important advantage is that there is really no point in trying to copy a Lippmann OVD since it is unique to a particular passport and of no use applied to a different passport. The authenticity of a Lippmann OVD is easy to verify simply by looking at it. However, it is also possible to make automatic inspection equipment that can check the iridescence of the image or compare the information re-corded on the document itself with the corresponding information stored in the Lippmann OVD. (Bjelkhagen 2013)

Bemerkenswert ist, dass die „difficulty in viewing“ (Bjelkhagen 1999a: 55) nun eben zur entscheidenden Qualität geworden ist. Wie Abbildung 3 in der Mar-kierung zweier Blickpunkte auf das Lippmann-OVD zeigt, hat sich nun das Problem der Lippmann-Fotografie, nämlich den richtigen Blickpunkt zu fin-den, von dem aus das Bild korrekt erscheint, in die Stärke verwandelt, dass man durch die Variation des Blickpunkts und die Variation (oder eben Nicht-Variation) der Erscheinung des Bildes einfach feststellen kann, ob es sich um eine Lippmann-Applikation handelt oder nicht. Die Frage, welcher der richtige Blickpunkt ist, hat sich also zur Frage, ob es einen Unterschied zwischen Blickpunkten (und mithin Erscheinungsweisen) gibt, verschoben. Da es bloß noch um diese Differenz geht, kann die Entscheidung – wie Bjelkhagen be-schreibt – auch an Maschinen delegiert werden, die problemlos die je nach Neigungswinkel veränderten Reflexionseigenschaften des Lippmann-OVDs messen könnten. Es gibt Praktiken, die solche Verfahren für die Sicherstellung ihres Operierens benötigen – umgekehrt konnte nur durch solche Praktiken die Lippmann-Fotografie wieder aus dem Archiv der vergessenen Medien auf-steigen.

Beide Seiten verändern sich dadurch. Bestimmte Arten z.B. von persona-ler Identifikation können ohne Lippmannfotos nicht hergestellt und so bestimmte Praktiken, die diese Identität brauchen, stabilisiert werden. Umge-kehrt interessiert an der Lippmannfotografie nicht mehr, dass sie Farbe repro-duzieren kann, sondern dass sich ihre Farbigkeit verändert und dass man dies nicht reproduzieren kann. Praktiken und Techniken sind hier ko-konstitutiv.47 Sie stabilisieren sich wechselseitig, nichts geht dem anderen voran, weder logisch noch zeitlich. Es macht einfach keinen Sinn zu sagen, dass dies irgend-wie in die Lippmannfotografie ‚eingeschrieben‘ war. Zu Zeiten ihrer Entste-

47 Vgl. Oudshoorn/Pinch (2003), die von „Ko-Konstruktion“ sprechen.

Jens Schröter | Von der Farbe zur Nicht-Reproduzierbarkeit

259

hung und ersten Verwendung kam niemand auf die Idee, dass ihre Nicht-Reproduzierbarkeit ihre Stärke sein könnte. Heute, über hundert Jahre und diverse Fotokopierergenerationen später, hat sich das alles gewandelt. Schon einer der ersten Pioniere der Fotografie, Dominique François Jean Arago, hatte bemerkt: „So kann aus einer zufälligen Entdeckung und Erfindung noch manches Neue, Nützliche, Merkwürdige entstehen, woran im Anfange gar nicht gedacht wurde“ (1839: 21).

Literatur

Akrich, Madeleine/Boullier, Denis (1991): „Le mode d’emploi: genèse, forme et usage“, in: Denis Chevallier (Hrsg.), Savoir-faire et pouvoir transmettre, Paris, 113-131.

Akrich, Madeleine (2006): „Die De-Skription technischer Objekte“, in: Andréa Belliger/David Krieger (Hrsg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld, 407-428.

Arago, François (1839): Das Daguerreotyp oder die Erfindung des Daguerre, die mittelst der Camera obscura und des Sonnenmikroskops auf Flächen dargestellten Lichtbilder zu fixieren, Stuttgart.

Barad, Karen (1998): „Getting Real: Technoscientific Practices and the Materi-alization of Reality“, in: Differences: A Journal of Feminist Cultural Studies 10, 88-128.

Bergmann, Ludwig et al. (Hrsg.) (102004): Lehrbuch der Experimentalphysik: Wel-len- und Teilchenoptik, Berlin.

Bjelkhagen, Hans I. (1999a): „New Optical Security Device Based on One-hundred-year-old Photographic Technique“, in: Optical Engineering 38(1), 55-61.

Bjelkhagen, Hans I. (1999b): „Secure Photographic Method and Apparatus“, US Patent No. 5972546, 26.10.1999, http://www.freepatentsonline.com/ 5972546.pdf, 11.05.2013.

Bjelkhagen, Hans I. (2013): „Lippmann Security. Optically Variable Device for Security Documents“, http://holoinfo.no-ip.biz/wiki/index.php/Lippmann _Security, 11.05.2013.

Bolz, Norbert (1994): „Computer als Medium – Einleitung“, in: ders. et al. (Hrsg.), Computer als Medium, München, 9-16.

Buchwald, Jed Z. (1989): The Rise of the Wave Theory of Light, Chicago, IL.

Jens Schröter | Von der Farbe zur Nicht-Reproduzierbarkeit

260

Callon, Michel (2006a): „Akteur-Netzwerk-Theorie. Der Markttest“, in: Andréa Belliger/David Krieger (Hrsg.), ANThology. Ein einführendes Hand-buch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld, 545-560.

Callon, Michel (2006b): „Techno-ökonomische Netzwerke und Irreversibili-tät“, in: Andréa Belliger/David Krieger (Hrsg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld, 309-342.

Carlson, Chester (1940): „Electron Photography“, US Patent No. 2221776, 19.11.1940, http://www.freepatentsonline.com/2221776.pdf, 11.05.2013.

Connes, Pierre (1987): „Silver Salts and Standing Waves: The History of Inter-ference Colour Photography“, in: Journal of Optics (Paris) 18(4), 147-166.

Dreischulte, Michael/Wick, Markus (2009): „Tesa als Datenspeicher“, http://winfwiki.wi-fom.de/index.php?title=Tesa_als_Datenspeicher& redirect =no, 11.05.2013.

Eder, Josef Maria (1979 [1932]): Geschichte der Photographie, New York.

Hagen, Wolfgang (2002): „Die Entropie der Fotografie. Skizzen zu einer Ge-nealogie der digital-elektronischen Bildaufzeichnung“, in: Herta Wolf (Hrsg.), Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd. 1, Frankfurt a.M., 195-235.

Hoofnagle, Chris Jay (2007): „Identity Theft. Making the Known Unknowns Known“, in: Harvard Journal of Law & Technology 21(1), 98-122.

Ives, Herbert E. (1908): „An Experimental Study of the Lippmann Color Photograph“, in: The Astrophysical Journal 27, 325-352.

Johnston, Sean (2006): Holographic Visions. A History of New Science, Oxford.

Kassung, Christian (Hrsg.) (2008): Die Unordnung der Dinge. Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls, Bielefeld.

King, Barry (2003): „Über die Arbeit des Erinnerns. Die Suche nach dem per-fekten Moment“, in: Herta Wolf (Hrsg.), Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd. 2, Frankfurt a.M., 173-214.

Kittler, Friedrich (1986): Grammophon Film Typewriter, Berlin.

Kittler, Friedrich (31995): Aufschreibesysteme, München.

Kittler, Friedrich (2002): Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999, Berlin.

Knodt, Robert/Pollmeier, Klaus (1989): Verfahren der Fotografie. Bilder der foto-grafischen Sammlung im Museum Folkwang, Essen.

Kümmel, Albert/Schüttpelz, Erhard (Hrsg.) (2003): Signale der Störung, Mün-chen.

Jens Schröter | Von der Farbe zur Nicht-Reproduzierbarkeit

261

Latour, Bruno (1995): Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin.

Latour, Bruno (2002): Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a.M.

Latour, Bruno (2006): „Technik ist stabilisierte Gesellschaft“, in: Andréa Belliger/David Krieger (Hrsg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld, 369-398.

Latour, Bruno (2007): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a.M.

Law, John (2006): „Notizen zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Ordnung; Strategie und Heterogenität“, in: Andréa Belliger/David Krieger (Hrsg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld, 429-446.

Lehmann, Hans (1907): „Über eine neue kornlose Platte für Lippmann-Photo-graphie“, in: Zeitschrift für wissenschaftliche Photographie 5, 279-283.

Lehmann, Hans (1908): „Über die Abstimmung der Lippmannplatten“, in: Eder’s Jahrbuch fur Photographie und Reproductionstechnik, Bd. 22, 157-164.

Lippmann, Gabriel (1891): „La photographie des couleurs“, in: Comptes rendus hebdomadaires des séances de l’academie des sciences, Bd. 112, 274-275.

Lippmann, Gabriel (1894): „Sur la théorie de la photographie des couleurs simples et composées par la methode interférentielle“, in: Journal de physique 3(3), 97-107.

Lippmann, Gabriel (1905): „Photographies en couleurs du spectre négatives par transmission“, in: Journal de physique. Théorique et appliquée 4(1), 560-561.

Mann, Michael (1990): Geschichte der Macht, Bd. 1, Frankfurt a.M.

McLuhan, Marshall (1994): Understanding Media – Die magischen Kanäle, Dresden/ Basel.

Morley, David/Silverstone, Roger (1990): „Domestic Communication: Tech-nologies and Meanings“, in: Media, Culture and Society 12(1), 31-55.

Mort, Joseph (1989): The Anatomy of Xerography. Its Invention and Evolution, Jefferson, NC.

Nareid, Helge (1988): „A Review of the Lippmann Colour Process“, in: The Journal of Photographic Science 36, 140-147.

Nareid, Helge/Pedersen, Hans M. (1991): „Modeling of the Lippmann Color Process“, in: Journal of the Optical Society of America 8(2), 257-265.

Oudshoorn, Nelly/Pinch, Trevor (Hrsg.) (2003): How Users Matter: The Co-Construction of Users and Technologies, Cambridge, MA.

Jens Schröter | Von der Farbe zur Nicht-Reproduzierbarkeit

262

Perrow, Charles (1984): Normal Accidents: Living with High Risk Technologies, New York.

Pizzanelli, David (1998): „Counterfeit Holograms and Simulations“, in: SPIE Proceedings 3314, 86-96.

Potthast, Jörg (2007): Die Bodenhaftung der Netzwerkgesellschaft – Eine Ethnografie von Pannen an Großflughäfen, Bielefeld.

Rood, Ogden N. (1880): Die moderne Farbenlehre, Leipzig.

Rothé, E. (1904): „Photographies en couleurs obtenues par la méthode interfé-rentielle sans miroir de mercure“, in: Comptes Rendus Hebomadaires des Séances de l’Academie des Sciences 139, 565-567.

Schröter, Jens (2004a): Das Netz und die Virtuelle Realität. Zur Selbstprogrammie-rung der Gesellschaft durch die universelle Maschine, Bielefeld.

Schröter, Jens (2004b): „Technik und Krieg. Fragen und Überlegungen zur militärischen Herkunft von Computertechnologien am Beispiel des Inter-nets“, in: Harro Segeberg (Hrsg.), Die Medien und ihre Technik, Marburg, 356-370.

Schröter, Jens (2009): „Das holographische Wissen und die Nicht-Reprodu-zierbarkeit“, in: Stefan Rieger/Jens Schröter (Hrsg.), Das holographische Wis-sen, Berlin, 77-86.

Schröter, Jens (2010): „Das Zeitalter der technischen Nicht-Reproduzier-barkeit“, in: Navigationen 10(1), 9-36.

Schüttpelz, Erhard (2008): „Der Punkt des Archimedes. Einige Schwierigkei-ten des Denkens in Operationsketten“, in: Georg Kneer et al. (Hrsg.), Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen, Frankfurt a.M., 234-258.

Sekula, Allan (2003): „Der Körper und das Archiv“, in: Herta Wolf (Hrsg.), Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd. 2, Frankfurt a.M., 269-334.

Stauff, Markus (2001): „Medientechnologien in Auflösung. Dispositive und diskursive Mechanismen von Fernsehen“, in: Andreas Lösch et al. (Hrsg.), Technologien als Diskurse. Konstruktionen von Wissen, Medien und Körpern, Heidelberg, 81-100.

Stauff, Markus (2005): ‚Das neue Fernsehen‘. Machtanalyse, Gouvernementalität und digitale Medien, Münster.

Valenta, Eduard (1894): Die Photographie in natürlichen Farben unter besonderer Berücksichtigung des Lippman’schen Verfahrens, Halle.

Jens Schröter | Von der Farbe zur Nicht-Reproduzierbarkeit

263

Weick, Karl (1990): „The Vulnerable System: An Analysis of the Tenerife Air Disaster“, in: Journal of Management 16(3), 571-593.

Winkler, Hartmut (1997): Docuverse. Zur Medientheorie der Computer, München.

Winkler, Hartmut (2000): „Die prekäre Rolle der Technik“, in: Heinz B. Heller et al. (Hrsg.), Über Bilder Sprechen. Positionen und Perspektiven der Medienwissen-schaft, Marburg, 9-22.

Winkler, Hartmut (2002): „Das Modell. Diskurse, Aufschreibesysteme, Tech-nik, Monumente – Entwurf für eine Theorie kultureller Kontinuierung.“, in: Hedwig Pompe/Leander Scholz (Hrsg.), Archivprozesse. Die Kommunika-tion der Aufbewahrung, Köln, 297-315.

Winkler, Hartmut (2004): Diskursökonomie, Frankurt a.M.

Winston, Brian (1998): Media Technology and Society. A History: From the Telegraph to the Internet, New York.

Winthrop-Young, Geoffrey (2005): Friedrich Kittler zur Einführung, Hamburg.