Audiovisuelle Medien

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338aabc Alexandra Binnenkade Alexandra Binnenkade Audiovisuelle Medien Ein interdisziplinärer Beitrag „To understand a text is to follow its movement from sense to reference, from what it says, to what it talks about.“ 1 (Paul Ricoeur) 1971 veröffentlichte Heribert Heinrichs, Leiter des audiovisuellen Zentrums der Pädago- gischen Hochschule Niedersachsen, sein vielbeachtetes „Lexikon der audio-visuellen Bil- dungsmittel“. Das Buch fehlt in keiner einschlägigen Bibliothek. Sein Erscheinen sollte das Startzeichen für den Beginn einer neuen Ära sein und zugleich wies es als Lexikon explizit darauf hin, dass es in diesem neuen Bereich durchaus bereits etabliertes Wissen gab. Heinrichs verortete sein Thema am Wendepunkt eines gesellschaftlichen Verände- rungsprozesses: „Unser Bildungswesen beginnt in sein technisches Zeitalter einzutreten. Audiovisuelle Bildungsmittel werden heute in einer Vielfalt und technischen Differen- ziertheit angeboten, die dem Praktiker häufig noch verwirrend erscheinen. Vor allem sind ihm die methodischen und didaktischen Möglichkeiten, die die Medien bieten, noch weitgehend unbekannt.“ 2 Heinrichs’ Definitionen, seine didaktischen Versuchsanordnungen und Vorschläge stammen aus einer anderen Zeit. Dieser zeitliche Abstand, der zugleich auch ein tech- nisch-kultureller ist, befruchtet heutiges Nachdenken über den Begriff und die Funktion von audiovisuellen Medien bzw. Quellen. Mit einem solchen Abstand wusste auch bereits Heinrichs umzugehen. Historiografisch – und nicht weniger bedeutsam politisch – ist der Umgang mit ‚neuen Medien‘ kollektiv wie individuell ein zentrales Anliegen. In diesen Auseinandersetzungen standen die Schulen nicht zurück: In Hamburg forderte eine Gruppe von Volksschullehrern bereits 1907 den kritischen und reflektierten Umgang mit dem „Kinematographen“. 3 In den USA führte die Diskussion über neue Medien in den 1960er Jahren zu einschlägigen didaktischen Publikationen etablierter Autoren: Die nati- onale Vereinigung der amerikanischen Englischlehrer warb mit konkreten Beispielen für den Einsatz von (Spiel-)Filmen, von Massenmedien und der „electronic revolution“ im Englischunterricht. 4 Filmpädagogik erlebte ihren ersten Höhepunkt zwischen 1950 und 1963. Danach flossen Ansprüche und Methodik in die „allgemeine Medienpädagogik“ bzw. in die Befähigung zur „visual literacy“ ein. 5 Heinrichs distanzierte sich von allen früheren Definitionsversuchen. Denn die meisten würden einseitig die Funktion audiovisueller Medien in den Mittelpunkt rücken: ihre Fähigkeit, „dem Lernenden (meist zusätzliche) Informationen zu vermitteln, die er auf anderen als den traditionellen Wegen über das Buch und den Lehrervortrag aufnehmen Copyright Wochenschau Verlag

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Alexandra Binnenkade

Audiovisuelle Medien

Ein interdisziplinärer Beitrag

„To understand a text is to follow its movement

from sense to reference, from what it says,

to what it talks about.“1

(Paul Ricoeur)

1971 veröffentlichte Heribert Heinrichs, Leiter des audiovisuellen Zentrums der Pädago-gischen Hochschule Niedersachsen, sein vielbeachtetes „Lexikon der audio-visuellen Bil-dungsmittel“. Das Buch fehlt in keiner einschlägigen Bibliothek. Sein Erscheinen sollte das Startzeichen für den Beginn einer neuen Ära sein und zugleich wies es als Lexikon explizit darauf hin, dass es in diesem neuen Bereich durchaus bereits etabliertes Wissen gab. Heinrichs verortete sein Thema am Wendepunkt eines gesellschaftlichen Verände-rungsprozesses: „Unser Bildungswesen beginnt in sein technisches Zeitalter einzutreten. Audiovisuelle Bildungsmittel werden heute in einer Vielfalt und technischen Differen-ziertheit angeboten, die dem Praktiker häufig noch verwirrend erscheinen. Vor allem sind ihm die methodischen und didaktischen Möglichkeiten, die die Medien bieten, noch weitgehend unbekannt.“2

Heinrichs’ Definitionen, seine didaktischen Versuchsanordnungen und Vorschläge stammen aus einer anderen Zeit. Dieser zeitliche Abstand, der zugleich auch ein tech-nisch-kultureller ist, befruchtet heutiges Nachdenken über den Begriff und die Funktion von audiovisuellen Medien bzw. Quellen. Mit einem solchen Abstand wusste auch bereits Heinrichs umzugehen. Historiografisch – und nicht weniger bedeutsam politisch – ist der Umgang mit ‚neuen Medien‘ kollektiv wie individuell ein zentrales Anliegen. In diesen Auseinandersetzungen standen die Schulen nicht zurück: In Hamburg forderte eine Gruppe von Volksschullehrern bereits 1907 den kritischen und reflektierten Umgang mit dem „Kinematographen“.3 In den USA führte die Diskussion über neue Medien in den 1960er Jahren zu einschlägigen didaktischen Publikationen etablierter Autoren: Die nati-onale Vereinigung der amerikanischen Englischlehrer warb mit konkreten Beispielen für den Einsatz von (Spiel-)Filmen, von Massenmedien und der „electronic revolution“ im Englischunterricht.4 Filmpädagogik erlebte ihren ersten Höhepunkt zwischen 1950 und 1963. Danach flossen Ansprüche und Methodik in die „allgemeine Medienpädagogik“ bzw. in die Befähigung zur „visual literacy“ ein.5

Heinrichs distanzierte sich von allen früheren Definitionsversuchen. Denn die meisten würden einseitig die Funktion audiovisueller Medien in den Mittelpunkt rücken: ihre Fähigkeit, „dem Lernenden (meist zusätzliche) Informationen zu vermitteln, die er auf anderen als den traditionellen Wegen über das Buch und den Lehrervortrag aufnehmen

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kann. Demnach sollten die AVM [audiovisuellen Medien] den Unterricht zumeist ‚leben-diger machen‘, ‚auflockern‘ oder ‚vertiefen‘ und so seine Wirkung verbessern.“ Es sind Einschätzungen, die auch heute noch oft zu hören sind. Heinrichs war dies zu oberfläch-lich. Audiovisuelle Medien können mehr. „Vielmehr“, fuhr Heinrichs daher fort, „soll der Begriff prinzipiell und logisch schärfer gefasst werden. Unter AVM sind dann alle Medien zu verstehen, mit deren Hilfe bei einem Unterrichtsprozess die Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden auf der Grundlage des Hör- und Gesichtssinns stattfinden kann. In diesem Verständnis ist die gesprochene Sprache ein auditives und die geschriebe-ne oder gedruckte Sprache ein visuelles Medium. Dabei sagen die Bezeichnungen ‚audi-tiv‘, ‚visuell‘ und ‚audiovisuell‘ insbesondere etwas über die Kommunikationskanäle aus, die dem jeweiligen Unterricht zugrunde liegen.“6

Heinrichs’ Perspektivenwechsel ist Ausgangspunkt dieses Artikels, weil er auf drei zen-trale Achsen beim Nachdenken über audiovisuelle Quellen hinweist: auf deren Funktion bei der Vermittlung von Inhalten; auf die Besonderheiten, die sich aus ihrer Medialität ergeben; und auf ihre gattungsspezifischen Merkmale, die für die Quellenkritik so wichtig sind. Sie führen zu derjenigen Frage, die auch dem vorliegenden Beitrag zugrunde liegt: Was ist das Besondere an audiovisuellen Quellen im zeitgeschichtlichen Unterricht?

1. Begriffe

1.1 Audiovisuell

Bereits bei einem kurzen Blick in die Sammlungs- und Forschungspraxis einschlägiger Archive und Institutionen wie auch im Gespräch mit Lehrpersonen und Forschenden zeigt sich, dass der Begriff ‚audiovisuell‘ sehr viel mehr offen lässt als beispielsweise ‚Text‘. Drei definitorische Zugänge zeichnen sich im Überblick ab:

Oftmals zielt die Definition auf eine Aufzählung der Produkte, die zur Gruppe der audiovisuellen Quellen gerechnet werden: In den meisten Fällen handelt es sich um Filme (Spielfilme, Dokumentarfilme, Werbefilme, Propagandafilme, Nachrichtensendungen, Fernsehsendungen unterschiedlicher Formate, Zeichentrickfilme), um Fotografien und andere Visuals (wie z.B. Zeichnungen, Flyer, Plakate, Grafiken) sowie um Tonaufnahmen (Radiosendungen, öffentliche und private Gesprächsmitschnitte, Reden, Konzert-/Mu-sikaufnahmen). Einen anderen Zugang wählen Fachleute, die sich explizit mit audiovisu-ellen Medien beschäftigen: Sie definieren audiovisuell vermittels der medialen Zugänge, also als das, was einerseits durch unterschiedliche Rekorder- und Kameratypen aufgenom-men wurde und andererseits durch Projektoren, auf Bildschirmen oder aus Lautsprechern abgespielt wird. Diese technische Definition erweitert das Spektrum der möglichen End-produkte maßgeblich, schließt sie ja auch explizit computergenerierte Quellen ein. Das können Produkte sein, die von jemandem mithilfe einer bestimmten Software hergestellt worden sind (wobei unter bestimmten Bedingungen auch die Software als solche als Quel-le in Betracht gezogen werden kann), oder es handelt sich um all das, was – seit 1989 in unterschiedlichen grafischen und akustischen Formen – im Internet zu finden ist.

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Schließlich bleiben all diejenigen, welche im engen Sinn vom Begriff audiovisuell aus-gehen und sich auf die Sinne der Rezipienten beziehen: Sie bestehen darauf, dass es bei Quellen, die diesen Namen tragen, darum geht, dass man gleichzeitig etwas sehen und etwas hören kann. Dies ist das wohl einschränkendste Verständnis dieser Quellengattung, zugleich trägt es seinerseits eine Erweiterung in sich, denn es schließt neben Film, Diavor-trag und Internet/Computer weitere Formen kultureller Produktion ein, nämlich audio-visuelle Kunstinstallationen.

Diese Bestandsaufnahme legt nahe, für den Umgang mit AVM eine möglichst breite Definition zu wählen, die es zulässt, audiovisuelle Medien in ihrer Komplexität zu erfas-sen. In diese Richtung weisen auch tonangebende kulturwissenschaftliche Publikationen wie W. J. T. Mitchells „Leben der Bilder“.7 Mitchell zeigt die Vorteile eines breiten Ansat-zes deutlich auf. Der Anglist, der den Ausdruck „pictorial turn“ in die Diskussion einge-bracht und sich damit auch in einen ergiebigen Dialog mit dem kunsthistorischen Kon-zept des „iconic turn“ von Gottfried Boehm begeben hat,8 legt die heute wohl weiteste und zugleich eine sehr anregende Definition dessen vor, was ein „Bild“ sei.9 Indem Mitchell auf das Eigenleben von Bildern hinweist und aufzeigt, was für Wechselwirkungen zwischen Bildern, Medien und unseren Körpern bestehen, bringt er einen wichtigen Aspekt unseres Bilderlesens und unserer inneren Bilderproduktion ins Bewusstsein: die Bedeutung von Bildmedien und Bildtechniken für den Inhalt/den Gegenstand von Bildern. Filme sind selbstverständlicher Teil dessen, was er als Bild bezeichnet, mehr noch: Filmstills aus „Der Stadtneurotiker“10 und „Videodrome“11 ermöglichen es ihm erst, die enge Verknüpfung von Bild, Körper, Medium und Botschaft aufzuzeigen. Boehm seinerseits fokussiert auf die Tatsache, dass Bilder die Fundamente unserer Kultur sind, zirkulierend zwischen Indi-viduen und Generationen. Im Hinblick auf die Wirkung von Bildern spricht er deshalb folgerichtig von ‚ikonischer Kompetenz‘ als grundlegende Kulturtechnik.

Wer wollte den einen oder den anderen Aspekt weglassen? Bilder sind die lebendigen, veränderlichen Ergebnisse kultureller Interaktion. Sie als solche ernst zu nehmen heißt, die komplexe Vielfalt ihrer Aspekte zu bedenken. In welcher Weise dieser Ansatz für den Unterricht relevant ist, ist Thema dieses Beitrags.

Diese erweiterte Definition hat sich auch in einem so traditionsreichen wie alltagstaug-lichen Lexikon wie dem Brockhaus durchgesetzt. Dieser bietet zur Definition von audio-visuell explizit beides an: das Entweder-oder wie auch das Sowohl-als-auch akustisch oder optisch vermittelter Inhalte.12 Daher ist der Begriff so weit wie möglich zu fassen und au-diovisuell von allen drei weiter oben vorgestellten Zugängen her zu verstehen. Es wäre ein Versäumnis, die Produkte ohne ihre Medien und Wirkungen zu denken und zu analysie-ren oder deren kulturelle Einbettung, ihre Vergangenheit und Gegenwart auszublenden. Die Spezifik des Vorgehens ergibt sich primär aus dem Quellenbegriff und erst in zweiter Linie aus der Medialität.

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1.2 Quellengrammatik: Was tun mit audiovisuellen Quellen?

„Without an understanding of media grammars,

we cannot hope to achieve a contemporary awareness

of the world in which we live.“

(Marshall McLuhan)

Eine einprägsame Formel für Schülerinnen und Schüler bei Quellenarbeit können – je-denfalls anfänglich – die bekannten sieben Fragen sein, die den Umgang mit Quellen systematisieren, unabhängig davon, ob es sich um einen Zeitungsbericht oder eine Foto-grafie, um einen wissenschaftlichen Text aus dem Jahr 1856 oder einen aus dem Jahr 2009, um eine Spielfilmsequenz oder um einen Ausschnitt aus einem Dokumentarfilm handelt. Jene Fragen sind Ausgangspunkt der in Abbildung 1 dargestellten Quellengrammatik. Die Frage, wer die Autorin/der Autor einer Quelle sei, stellt sich bei einer offiziellen Stellung-nahme der Polizei von Johannesburg zum Soweto-Aufstand von 1976 genauso wie bei

Abb. 1: Modell der Quellenkritik im Geschichtsunterricht

Im Vorgehen unterscheiden sich audiovisuelle anfänglich nicht von anderen Quellen – die

wichtige inhaltliche Differenzierung erfolgt, wenn SchülerInnen deren Gattungsspezifika herausar-

beiten. Während des gesamten quellenkritischen Arbeitsprozesses entwickeln SchülerInnen

Kompetenzen historischen Lernens weiter: wenn sie recherchieren, neue Erkenntnisse und

unterschiedliche Quellen vergleichen, Schlussfolgerungen aus dem Gefundenen ziehen und ihr

Wissen neu formulieren, bevor sie mit neuen Fragen weitere Quellen suchen. (Visuelle Umset-

zung Paloma López Grüninger, Basel)

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einem Zeitungsartikel in The Herald zum dreißigsten Jahrestag dieses Ereignisses oder beim Hören einer dokumentarischen Radiosendung über „Soweto“ von 1996. Die Frage nach der Autorschaft gilt genauso für die Aufnahme des sterbenden Hector Pietersen und ihre Präsentation in den Printmedien von damals bis heute: Wer hat diese Aufnahme ge-macht, wer präsentiert diese Fotografie?

Ist einmal (so gut wie möglich) geklärt, wer zu welchem Zeitpunkt13 an welchem geo-grafischen Ort mit welchen Absichten die entsprechende Quelle produziert hat, wer deren expliziter oder impliziter Adressat oder deren Adressatin war, mit welchen technischen bzw. stilistischen Mitteln dies geschah und was für Folgen es seit damals hatte, dass es dieses Bild oder diesen Text etc. gibt, gilt es, sich den gattungsspezifischen Differenzierun-gen zuzuwenden. Zu Recht weist Hans-Jürgen Pandel auf die zentrale Bedeutung der Gattungskompetenz hin.14 Es ist entscheidend, ob es sich bei der vorliegenden Quelle um einen Text handelt, um eine Fotografie, ein Gemälde, um ein Lied oder eine Rede, um eine Internetseite oder eine DVD – oder auch um einen Gegenstand.15 Die vorliegende Quelle wird vorerst einer der vier vorgeschlagenen Bereichskategorien Text, Audio, Visual und Mischformen (oder Gegenstände) zugeordnet, dann sind differenziert deren Besonderhei-ten anhand der jeweiligen typischen Eigenschaften des betreffenden Mediums herauszu-arbeiten.

Am vertrautesten wird dieses Vorgehen den meisten anhand von Texten sein: Handelt es sich bei einem Text um einen Brief (einen vertraulichen oder einen offenen, einen in beruflicher Funktion oder als Privatperson verfassten, einen edierten oder einen Zufalls-fund), ist es ein Zeitungsbericht, ein Gerichtsprotokoll, ein historiografischer oder litera-rischer Text etc.? Was ist normalerweise ‚typisch‘ für diese Textsorte und inwiefern ent-spricht die vorliegende Quelle diesen Eigenschaften, inwiefern nicht? Wie wurde der Text überliefert? Diese Differenzierung, die anhand von Textquellen oft selbstverständlich vorgenommen wird, gilt entsprechend für Visuals, Audio-Dokumente und deren Misch-formen: Was bedeutet es, wenn zu diesem Thema ein Film vorliegt? Was sind Besonder-heiten einer bestimmten Unterform der Kategorie „Film“? Inwiefern unterscheidet sich ein Werbefilm für Geschirrspülmaschinen von 1951 in seinem Plot, seinen darstelleri-schen Mitteln und seinem Anspruch von einem genauso kurzen Spot aus demselben Jahr, mit dem die US-Regierung unter dem Slogan „Duck and Cover“ Kindern beibringen wollte, wie sie sich bei einem Atombombenangriff verhalten sollten? Trotz der signifikan-ten Unterschiede sind beide Werbebotschaften aufschlussreiche Quellen für eine Alltags-geschichte des Kalten Krieges.

Es fragt sich auch, unter welchen Bedingungen der entsprechende Film aufgeführt wur-de – oder auch nicht. Wie oft war er zu sehen, an welchen Orten, zu was für Zeiten, unter welchen Bedingungen? Wer sich beispielsweise Spiel- oder Dokumentarfilme der DEFA (Deutsche Film-AG der DDR) anschaut, fragt sich, ob dieser Film ‚offiziell‘ zugelassen war. War er verboten oder vielleicht nur in bestimmten Szenen zensiert? Was bedeutet es, wenn er ausgezeichnet wurde (von wem?)? War sein Erfolg vor allem kommerziell, politisch oder ästhetisch, d.h., beeinflusste er spätere Darstellungen? Welche Vorbilder, was für Zitate werden erkennbar? Welche Aussagen machen Handlung und Darstellung jenseits des

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Plots? Was erlebten Schauspieler/-innen und Regisseure davor oder danach, was unter Umständen eine Aussage über die historische Situation erlaubt? Wie hat das Publikum auf den Film reagiert? Solche Fragen machen den Film zur Sonde in den jeweiligen Alltag von Menschen, zum Hinweis auf die Bedingungen und Ausformungen eines bestimmten ge-sellschaftlichen Systems. Sie gelten jedoch nicht allein für DEFA-Filme, man soll sie glei-chermaßen bei Hollywood-, Bollywood- oder Independent-Filmen stellen.

Schließlich gilt die entsprechende Differenzierung auch für Internet-Seiten und -Por-tale, für DVDs oder auch Programme. Aufbauend auf den sieben Kernfragen (die zu be-antworten gerade für diese Gattung oft sehr schwierig ist), gilt es über die Besonderheiten des Mediums nachzudenken: über seine gewollt rasche Veränderung,16 die Abhängigkeit von technischen Rahmenbedingungen, die inhaltlichen Konsequenzen des Hyperlinkings und die logische Struktur einer Website, ebenso über die Vorstellung vom Web als einem fiktionalen Raum. Wie geht die Urheberschaft der Seite auf die Vernetzungsmöglichkeiten der User/-innen ein, auf deren altersspezifische Seh- und Spielgewohnheiten, Nutzungs-kulturen und ästhetische Präferenzen? Welchen Effekt hat die Beziehung zwischen Inhalt und Rahmung, die Gleichzeitigkeit von Ton, Film, Text und Grafik? Gerade bei Internet-Quellen stellt sich schließlich die Frage nach den Lücken, den Zensurkriterien (denjeni-gen der Autorinnen und Autoren einer Seite wie auch denjenigen durch Suchmaschinen oder spätere Mitautorinnen und Mitautoren wie z.B. in Wikis) und ihren rechtlichen wie auch ökonomischen Rahmenbedingungen. Die Auswahlkriterien, die Kassationslogik, die Organisationstradition – all diese Rahmenbedingungen sind in herkömmlichen Ar-chiven zumindest im Grundsatz erkennbar. Das Netz ist jedoch kein Archiv, es ist von ei-ner anderen Nutzungskultur geprägt und folgt meist unreflektierten rechtlichen (politi-schen) und ökonomischen Gesetzen. Jeglicher Inhalt ist beeinflusst von seinem Rahmen.17

Abgeschlossen wird diese zweite Ebene der Quellenkritik bzw. Gattungskompetenz mit einem zentralen synthetisierenden Schritt: Wichtig ist, sich abschließend explizit Re-chenschaft zu geben, welchen Einfluss die bis zu diesem Zeitpunkt gesammelten Informa-tionen und Beobachtungen auf die inhaltliche Interpretation des Dargestellten haben. Denn all dies ist Teil der „Message“ des jeweiligen Mediums. Diese Syntheseleistung ist darum wichtig, weil sie den Sinn des bisherigen Vorgehens am konkreten Resultat zeigt, das die Grundlage für ein reflektiertes, kritisches Sachurteil ist und von dem aus Schüler-innen und Schüler ihr Vorgehen und ihren Lernprozess evaluieren können.

Zu wirklich ergebnisreichen Antworten auf all die gestellten Fragen kommen Schüle-rinnen und Schüler durch kompetenzorientiertes Arbeiten mit den Quellen.18 Auch hier steht die Differenzierung im Zentrum: Erstens durch genaues Beobachten des eigentli-chen Sujets, durch die Art und Weise, wie etwas sprachlich, visuell, hörbar in Szene gesetzt ist (bei einem Film also beispielsweise Farbigkeit, Aufnahmewinkel, Schnitttechnik, Ge-schwindigkeit, Tonebenen, Plot). Vor allem fragt sich, um wen beziehungsweise was es in dieser Präsentationsform gehe.

Daran knüpft zweitens der Vergleich mit anderen Quellen(gattungen) an. Vielfach wird die Spezifik einer Quelle, werden ihre Aussage und ihr Schweigen erst im Vergleich deutlich. Hier hat die Zeitgeschichte einen deutlichen Vorteil: Zahlreiche Ereignisse sind

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gleichzeitig in unterschiedlichen Medien festgehalten und können auf diese Weise mitei-nander in Bezug gesetzt werden.

Deshalb geht es in einem dritten Differenzierungsschritt darum, Hintergrundinforma-tionen einzuholen: in Lehrmitteln, Lexika, Wikis und anderen durch das Internet ver-mittelten Ressourcen, in Fachliteratur, durch Nachfragen. Der vierte und letzte Differen-zierungsschritt besteht darin, die gesammelten Puzzlestücke zusammenzutragen und Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.19 Dies geschieht beim Verfassen einer eigenen, neu-en Erzählung, indem Zusammenhänge sichtbar gemacht, Werthaltungen kommentiert, weitergehende Fragen formuliert werden.

2. Zum Verhältnis von Inhalt und Vermittlung

„Der Inhalt ist der König –der Kontext der Kaiser.“

(Josefa Haas20)

Nachdem in den beiden vorangegangenen Abschnitten vor allem Gemeinsamkeiten im Vordergrund standen – zwischen audiovisuellen Quellen und allen anderen Gattungen, zwischen solchen, die für die Zeitgeschichte verwendet werden, und allen anderen –, gilt es nun, Unterschiede deutlich zu machen. Quellen, die heute geschaffen, archiviert und präsentiert werden, unterscheiden sich erheblich von solchen aus anderen Epochen. Was für die Geschichtsforschung selbstverständlich ist, hat auch Bedeutung im Rahmen der Geschichtsvermittlung.

2.1 Inhalt

Zeitgeschichte ist ein sich erst etablierender Themenkanon in einem Umfeld geschichts-bewusster Quellenproduktion. Nicht zufällig ist das sprichwörtlich gewordene Zitat „So viel Geschichte wie heute war nie“ äußerst beliebt.21 Es ist nicht in erster Linie als Aus-druck faktischer Quellenfülle zu verstehen, sondern vielmehr Zeichen einer boomenden Erinnerungskultur und, damit einhergehend, eines veränderten Geschichtsbewusstseins, einer Popularisierung – Demokratisierung? – von Interesse an der Vergangenheit. Das starke Bewusstsein für die Historizität der Gegenwart stellt eine Tatsache ins Scheinwer-ferlicht, die uns als postmoderne Einsicht geläufig ist: Das unmittelbare Jetzt hat eine Vergangenheit, unser Blick in die Vergangenheit ist geprägt vom Tagesgeschäft. In dieser Unmittelbarkeit liegt eine große Chance für die Zeitgeschichtsdidaktik. Zugleich führt sie zu einer veränderten Sammelpraxis von Institutionen und Privaten. Aktualität und Zu-gänglichkeit sind in zunehmendem Maß Charakteristika und zugleich Bedingungen der Quellen zur Zeitgeschichte.

Wir leben in einer Kultur des Audiovisuellen. „In der zunehmenden Visualisierung unseres Daseins“, sagte 1971 Heribert Heinrichs treffend voraus, erhält „das Bild in seiner elektronischen Form“ eine „neuartige magische Qualität.“22 Technische Neuerungen und gesellschaftliche Bedürfnisse, die mit dieser magischen Qualität zusammenhängen, führten

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und führen dazu, dass in unserem heutigen Alltag – unserem Lern-, Lehr- und Forschungs-alltag – neue Formen der Produktion und der Präsentation von Quellen selbstverständlich sind. Dabei ist vor allem an die ganze im Internet vermittelte „visual culture“ (Marquard Smith/Stuart Hall) zu denken, an Web 2.0 mit seiner Benutzerpartizipation und an Web 3.0, in dem Bilderkennung und Bildpriorisierung die Ära nach Google ankündigen.23

Diese völlig neuen Produktions- und Recherchemöglichkeiten werden in Archivkreisen bereits in die Konzeption von Sammlungen und Dienstleistungen einbezogen. Digitalisie-rung und Internetgewohnheiten verändern unseren Umgang mit Quellen. Pionierleistun-gen erbringt in diesem Zusammenhang das Nederlands Instituut voor Beeld en Geluid in Hilversum. Dort werden neue Formen der Publikation und der Vermittlung mit diesen neuen Instrumenten ausprobiert. In ihrem neuen Projekt „beelden voor de toekomst“ wer-den heutige Nutzerinnen und Nutzer in die Generierung von Metadaten einbezogen. Das heißt, Beeld en Geluid nutzt „social tagging“ und „crowdsourcing“ zur Erschließung und damit letztlich auch zur Verfügungsstellung der Bestände. Es bedeutet auch, dass Archive die Notwendigkeit erkennen, den mit der Digitalisierung einhergehenden Verlust von so genannten Metadaten aufzufangen. Da dies jedoch kostspielige ‚Nachbesserungen‘ sind, müssen die Archive kreativ sein. Das führt oft auch dazu, dass Quellen in kommerzielle Gefäße eingebunden werden.24 Das ist keineswegs schlecht. Es gilt jedoch, die möglichen Konsequenzen dieser Rahmung für die inhaltliche Arbeit zu bedenken. Eine davon brachte Errol Morris, Regisseur und Kolumnist der New York Times, in seinem Blog auf den Punkt:

„The first version of the Time article that I saw was the ‚electronic‘ version from the Web. It is particularly strange, if only because the text (from 1947) is surrounded by modern information, including contemporary advertisements for Liberty Mutual, teeth whitening preparations, wrinkle-cream, and most e-mailed articles. Emmy Göring and Henriette von Schirach complaints are directly adjacent to ‚Will Twitter Change the Way We Live.‘

A thousand years hence, it will be easy to miss the fact that the text comes from two differ-ent periods of time, separated by 62 years. Will all information (regardless of when it was produced) end up packaged in one agglutinated mass? Perhaps this is an example of an unintentional falsification – where we completely lose track of context, where there is no longer a before and after. Only an endless present.“25

Die ewige Gegenwart ist Teil und Folge eines Kosmos der uns umfassenden audiovisuellen Sinnlichkeit. Es beeinflusst unser Verständnis der Gegenwart, dass in den zeitgenössischen Präsentationsformen von Quellen Bilder und Texte mit Tönen, mit anderen Texten, ande-ren Bildern kombiniert dargereicht werden, sei es im Internet, sei es auf DVDs oder in (anderen) Unterrichtsmaterialien.26 Unterscheiden sich deshalb heute generierte Quellen von denjenigen früherer Zeiten hinsichtlich unseres methodischen Umgangs mit ihnen? Eine grundsätzliche Frage, die sich nicht nur bei audiovisuellen Materialien stellt.

Die präsentierte Quellengrammatik kann dazu beitragen, die zeitgebundenen Beson-derheiten von Quellen aufzufangen. Für den Unterricht eröffnen sich zahlreiche Möglich-keiten zur Quellensuche, ihrer Präsentation und der damit verbundenen Kommunikation im Klassenzimmer und aus ihm heraus.

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2.2 Vermittlung

Heribert Fuchs stellte bereits 1971 fest: Audiovisuelle Quellen werden unterschätzt, wenn sie oberflächlich zur Illustration eingesetzt werden. Ihre magische Qualität, ihre Fähigkeit, Gefühle anzusprechen und damit zu fesseln, verführt dazu, sie allein mit diesem be-schränkten Ziel einzusetzen. Wer die ertragreiche, vertiefte Auseinandersetzung mit Visu-als, Ton- und Mixed-Media-Quellen sucht, ist allerdings auf vielen Ebenen gefordert. Hier geht es um die Fähigkeiten wahrzunehmen, zu beschreiben, Fragen zu formulieren, Ant-worten zu sammeln und zu reflektieren, Verknüpfungen herzustellen, zu kontextualisieren und Schlussfolgerungen zu vertreten.27 Die Arbeit mit audiovisuellen Quellen ermöglicht andere Lehr- und Lernarrangements als die Auseinandersetzungen mit Texten – doch im Grunde sind die Unterschiede nicht so groß.28 Ateliers, Gruppenpuzzle, Partner- und Gruppenarbeit sind didaktische Formen, die sich auch mit Filmen, Tondokumenten, In-ternetquellen gestalten lassen. Nicht jeder Arbeitsschritt braucht im Plenum besprochen zu werden, und Quellen lassen sich hervorragend gattungsübergreifend bearbeiten.29

Abb. 2: Quellen als Mehrfachstecker nutzen heißt, Quellen auf unterschiedlichen

Ebenen zu kombinieren.

Das heißt beispielsweise, einen Text und ein Bild

zu kombinieren, die beide auf ein bestimmtes

Ereignis in der Vergangenheit zurückblicken, und

diese beiden Quellen im Unterricht gleichzeitig

zu präsentieren.

Andere, ebenfalls sinnvolle Kombinationsvarian-

ten lassen sich aus diesem Modell ableiten.

(Visuelle Umsetzung Paloma López Grüninger, Basel)

Erster zentraler Orientierungspunkt bleibt die Ausrichtung auf die Lernenden.30 Oft wird in der didaktischen Fachliteratur der Lebensweltbezug thematisch hergestellt. Doch auch ein medialer Zugang ist vielversprechend: Welche Medien interessieren die Schülerinnen und Schüler in der aktuellen Situation am meisten? Der Vietnamkrieg kann ausschließlich via Texte (alle Textsorten, also auch literarische), mittels Filmmaterial (Dokumentar- wie auch

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Spielfilme), anhand von Fotografien oder mit Material im Internet erarbeitet werden. Wer schon einmal einen monomedialen Zugang ausprobiert hat, kennt die beeindruckenden didaktischen Möglichkeiten, die ein solches Vorgehen birgt. Text, Visuals, Ton und deren Mischformen zu verknüpfen ist nach heutigem Stand der Lernforschung ein sehr erfolgver-sprechender Zugang, vorausgesetzt, sie werden einzeln und als Gruppe von klar strukturier-ten Fragestellungen begleitet und mit den dazugehörigen Hintergrundinformationen ge-rahmt.31 Man kann dasselbe Thema aber auch mit unterschiedlichen Medien bearbeiten (nacheinander oder in Gruppen parallel) oder innerhalb einer Gattung – zum Beispiel Film – verschiedene Unterkategorien heranziehen (also beispielsweise Spielfilme zum Vietnam-krieg aus verschiedenen Zeiten, Dokumentarfilme, Fernsehberichterstattungen etc.). Man-che Ereignisse sind eigentlich Medienknoten, beispielsweise ein Wahlkampf: Dieselbe Wahlrede lässt sich (im Internet) als Video anschauen, als Ton/Teil einer Radiosendung hören, als Bilderstrecke verfolgen und als Text bearbeiten. Sie lässt sich mit unterschiedli-chen historiografischen Methoden und aus unterschiedlichen historiografischen Perspekti-ven untersuchen (Alltagsgeschichte, Struktur-/Politikgeschichte, Wirtschaftsgeschichte) bzw. unter mehreren Kompetenzaspekten aufbereiten (Wissen, Erforschen, Präsentieren). Wie wirkt im Einzelfall die Magie des Audiovisuellen? Wie lässt sich eine Brücke schlagen von der Faszination, vom Versprechen der Quelle hin zu der Frage nach den Besonderheiten dieses Mediums, dem Inhalt und seinem Kontext – wie lautet seine „Message“?

Manchmal ist es sinnvoll, vom Thema ausgehend, die Medienwahl einzuschränken oder den Lernenden die Medienwahl selbst zu überlassen. Dies gilt hauptsächlich bei Themen, die aufwühlend sind. Soll in einem solchen Fall mit zusätzlich emotionalisieren-den audiovisuellen Quellen (gerade Film) ein bestimmtes Gefühl tatsächlich noch ver-stärkt werden (wenn ja: mit welchem Lernziel?), oder eignen sich in ausgewählten Fällen Medien besser, die Schülerinnen und Schülern mehr Distanznahme erlauben, weil sie bezüglich der Sinneseindrücke ‚stiller‘ sind?32 Das ist kein Plädoyer für Zensur. Grausam-keit und Gewalt sind Teil unserer Vergangenheit wie unserer Gegenwart, und heutige Lehrmittel sind voller einschlägiger Darstellungen. Schülerinnen und Schüler haben ein Recht darauf, einen reflektierten Umgang mit Ereignissen zu lernen, in denen sie mit ih-rem eigenen Überwältigtsein bzw. -werden konfrontiert werden. Dies gilt im Übrigen nicht nur für die Auseinandersetzung mit den Ereignissen selbst, sondern auch für den Umgang mit deren Darstellung. Der Entscheid dazu soll aber bewusst fallen – seitens der Lehrperson und, soweit möglich, seitens der Lernenden.

Bei der Vorbereitung, Durchführung und Auswertung ihres Unterrichts hat eine Lehr-person heute längst nicht mehr nur Inhalte im Auge, sondern auch die aktuelle Kompe-tenzdebatte. Dieses Feld ist in ebenso starker Bewegung wie die Diskussion um den Zeit-geschichtsbegriff. Davon zeugen zahlreiche namhafte Kompetenzmodelle für die Vermitt-lung von Geschichte.33 Ziel des historischen Lernens, auch im Rahmen der Zeitgeschich-te, bleibt das „historische Denken“34. Das ist, stufengerecht, auch im Baukastensystem möglich und ohne taxonomisch zu simplifizieren.35

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Audiovisuelle Quellen bzw. Medien sind ein Gewinn für einen zeitgeschichtlichen Unterricht, der sich an den Interessen der Lernen-

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den ebenso wie an Kompetenzen historischen Lernens orientiert. Für den Unterricht steht eine Fülle an attraktivem Quellenmaterial zur Verfügung. Methodisch ist unumgänglich, ein Bewusstsein für die Spezifik der jeweiligen Gattung zu entwickeln und diese Eigenhei-ten aktiv in die Interpretation einzubeziehen. Zur Umsetzung gibt es zahlreiche Beispiele, Vorbilder, Pools, die an konkreten Einzelfällen Ideen für den Unterricht bereitstellen, nicht zuletzt im Internet und in diesem Handbuch. Und solcherart methodisch reflektiert, lässt sich einlösen, was Heribert Heinrichs sowohl bemängelt wie auch gefordert hat: Au-diovisuelle Quellen sind keine Illustrationen und auch nicht einfach Motivationszücker-chen ohne inhaltliches Ziel. Vielmehr bauen sie inhaltlich, methodisch und didaktisch Brücken durch die Zeit.

Weiterführende Literatur

Bergmann, Susanne u.a. (Hrsg.): Medienkompetenz. Modelle und Projekte, bpb, Bonn 2004 (CDR mit Modellprojekten, Projektbeschreibungen, Texten, Adressen).

British Film Institute Education: Look again! A teaching guide to using film and television with three-to eleven-year olds, London 2003, siehe auch deren Website www.bfi.org.uk/education.

Holzbrecher, Alfred/Oomen-Welke, Ingelore/Schmolling, Jan (Hrsg.): Foto + Text. Handbuch für die Bildungsarbeit, Wiesbaden 2006.

Kirschenmann, Johannes/Wagner, Ernst (Hrsg.): Bilder, die die Welt bedeuten. „Ikonen“ des Bildgedächt-nisses und ihre Vermittlung über Datenbanken, München 2006.

Lieber, Gabriele (Hrsg.): Lehren und Lernen mit Bildern. Ein Handbuch zur Bilddidaktik, Baltmannswei-ler 2008.

Anmerkungen

1 Ricoeur, Paul: The Model of the Text. Meaningful Action Considered as Text, in: Interpretative Social Science, P. Rabinow/W. Sullivan, Berkeley 1979, S. 73-101, hier S. 97 (später auch auf Französisch erschienen: Le modèle du text: l’action sensée considérée comme un texte, in: Du texte à l’action. Es-sais d’hermeneutique, II, Paris, Seuil 1986).

2 Heinrichs, Heribert (Hrsg.): Lexikon der audio-visuellen Bildungsmittel, München 1971, Umschlagtext.3 Kerstiens, Ludwig: Eintrag „Filmerziehung“, in: Heinrichs, Heribert (Hrsg.): Lexikon der audio-visu-

ellen Bildungsmittel, München 1971, S. 124.4 National Council of Teachers of English: The Motion Picture and the Teaching of English, New York

1963. Im vorangehenden Jahr war bereits ein Band über die Verwendung von Massenmedien im Unter-richt erschienen, 1967 folgte eine Publikation über „English, education, and the electronic revolution“.

5 Der Begriff „visual literacy“ wird auf John Debes (1968) zurückgeführt. Die internationale Vereini-gung „Visual Literacy“ verortet sich in diesem Erbe (mit zahlreichen Ressourcen zum Thema): http://www.ivla.org/portal/intro.htm (4.1.2010). Allerdings meldet sich dort auch Dennis Pett zu Wort, der dem Begriff mehr Väter als nur diesen einen zuordnet: http://www.ivla.org/org_hist_1st_pers.htm. Zur Visual Literacy in der Geschichtsdidaktik siehe: Hamann, Christoph: Visual History und Ge-schichtsdidaktik. Bildkompetenz in der historisch-politischen Bildung, Herbolzheim 2007 (konzent-riert sich auf Fotografien). Pandel, Hans-Jürgen/Schneider, Gerhard (Hrsg.): Handbuch Medien im Geschichtsunterricht (Forum Historisches Lernen), Schwalbach/Ts. 2007, gibt einen Medienüber-blick und unterscheidet deren sechs, siehe darin insbesondere den Abschnitt „Filme“ von Gerhard Schneider, S. 365-386. In nicht deutschsprachigen Ländern gehört Media Education zum obligatori-schen Curriculum, in England seit 1986.

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349Audiovisuelle Medien

6 Heinrichs: Lexikon der audio-visuellen Bildungsmittel (Anm. 2), S. 30.7 Mitchell, W. J. T.: What do pictures want? The lives and loves of images, Chicago 2005, auf Deutsch

mit einem Vorwort von Hans Belting erschienen unter dem Titel: Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur, München 2008.

8 Der Briefwechsel zwischen Boehm und Mitchell findet sich in: Belting, Hans (Hrsg.): Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch, München 2007, S. 26-46.

9 „Unter einem Bild verstehe ich jedes Abbild, jede Darstellung, jedes Motiv und jegliche Gestalt, die in bzw. auf irgendeinem Medium erscheint. [...] Das Buch als Ganzes handelt von Bildern im Sinne von komplexen Verbindungen virtueller, materieller und symbolischer Elemente.“ Mitchell: What do pictures want (Anm. 7) 2008, S. 11.

10 Regie: Woody Allen, 1977.11 Regie: David Cronenberg, 1983.12 Brockhaus, Leipzig 2006, Einträge „audiovisuell“, „audiovisuelle Medien“, „audiovisueller Unter-

richt“ sowie „audiovisuelle Unterrichtsmedien“, S. 671-672.13 Damit ist eine zeitliche Verortung in zweierlei Hinsicht gemeint, also nicht nur die Frage danach,

wann eine Quelle ‚geschaffen‘ worden ist, sondern auch, ob hier über ein Ereignis berichtet wird, das aus der Sicht der Autorin oder des Autors erst wenige Tage oder schon Jahrzehnte zurückliegt.

14 Pandel, Hans-Jürgen: Geschichtsunterricht nach PISA. Kompetenzen, Bildungsstandards und Kern-curricula. Schwalbach/Ts. 2005, S. 27-31.

15 Siehe dazu den Beitrag von Kurt Messmer zu Sachquellen in diesem Band.16 So kann mithilfe von Seiten wie dem „Internet Archive“ genau diese Veränderung über einen be-

stimmten Zeitraum verfolgt und damit auch gedeutet werden: www.archive.org.17 Ausführlich dazu: Hodel, Jan in diesem Band, zudem: Ders.: „Digital lesen, digital schreiben, digital

denken? Über den kompetenten Umgang mit Geschichte im Zeitalter des digitalen Medienwandels“, in: Jorio, Marco/Eggs, Cindy (Hrsg.): Am Anfang ist das Wort. Lexika in der Schweiz, Baden 2008, S. 113-125. Danker, Uwe/Schwabe, Astrid (Hrsg.): Historisches Lernen im Internet. Geschichtsdi-daktik der Neuen Medien, Schwalbach/Ts. 2008.

18 Die lebendige Debatte über Kompetenzen im Geschichtsunterricht im Hinblick auf historisches Ler-nen prägt auch die deutschsprachige Geschichtsdidaktik. Ich gehe in meinen Überlegungen vom Struktur- und Prozessmodell Peter Gautschis aus, das er u.a. vorgelegt hat in: Gautschi, Peter: Was ist guter Geschichtsunterricht? Grundlagen, Erkenntnisse, Hinweise, Schwalbach/Ts. 2009. Mit dem Nachfolgenden gehe ich jedoch nicht auf historisches Lernen an sich ein, sondern ich konzentriere mich auf die zunehmende Kontextualisierung einer Quelle bei deren Erschließung, oder in Gautschis Terminologie auf die Erschließungskompetenz und die Kompetenz zur Wahrnehmung von Verände-rungen in der Zeit.

19 Dies können Schlussfolgerungen auf der Ebene des Sach- wie auch des Werturteils sein; außerdem können Schülerinnen und Schüler auch ihr Vorgehen, ihren Lernprozess explizit machen und reflek-tieren.

20 Haas, Josefa: Der Inhalt ist der König – der Kontext der Kaiser, memoriav Bulletin Nr. 15 (9/2008), S. 24-25.

21 Bergmann, Klaus: „So viel Geschichte wie heute war nie“ – Historische Bildung angesichts der Allge-genwart von Geschichte, in: Politische Sozialisation und Geschichte. Festschrift für Rolf Schörken zum 65. Geburtstag, hrsg. von Angela Schwarz, Hagen 1993, S. 209-228.

22 Heinrichs: Lexikon der audio-visuellen Bildungsmittel (Anm. 2). 23 Dazu grundlegend: Ernst, Wolfgang/Heidenreich, Stefan/Holl, Ute (Hrsg.): Suchbilder. Visuelle

Kultur zwischen Algorithmen und Archiven, Berlin 2003.24 Thomas Lindenberger spricht diesbezüglich davon, dass heute die „Angebote der audiovisuellen Me-

dien [...] in die kommerzielle Logik des modernen Konsums“ integriert sind und mahnt, die Folgen dieser Einbindung zu bedenken. Lindenberger, Thomas: Vergangenes Hören und Sehen. Zeitge-schichte und ihre Herausforderung durch die audiovisuellen Medien, in: Zeithistorische Forschun-

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350aabc Alexandra Binnenkade

gen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 1 (2004), H. 1, Abschnitt 6, http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Lindenberger-1-2004 (20.1.2010).

25 Morris, Errol: http://opinionator.blogs.nytimes.com/2009/06/17/more-bamboozling/ (6.1.2010): „Die erste Version dieses Times-Artikels, die ich sah, war seine ‚elektronische‘ Version im Netz. Es ist sehr seltsam, allein schon weil der Text (von 1947) von modernen Informationen umgeben ist, das schließt zeitgenössische Inserate für Liberty Mutual (eine Versicherungsgesellschaft) ebenso ein wie Anleitungen zum Zähnebleichen, Werbung für Faltencrème und ein Hinweis auf die am häufigsten versandten Artikel dieser Zeitung. Emmy Görings und Henriette von Schirachs Klagen grenzen unmittelbar an „Wird Twit-ter unser Leben verändern?“. In tausend Jahren wird es einfach sein zu übersehen, dass diese Texte aus unterschiedlichen Zeiten stammen, dass sie mit einem Abstand von 62 Jahren entstanden sind. Wird jegliche Information (unabhängig davon, wer sie produziert hat) in einem verklebten Einheitsbrei enden? Vielleicht ist das jetzt ein Beispiel ungewollter Verfälschung – wo wir den Kontext komplett aus den Au-gen verlieren, wo es kein Vorher und Nachher mehr gibt. Nur eine endlose Gegenwart.“

26 Als ein aktuelles Beispiel unter vielen seien zur Verdeutlichung dessen, was hier gemeint ist, die soge-nannten elektronischen Medienpakete der Berner Schulwarte herausgegriffen. Es gibt mittlerweile so viele multimediale, gattungsübergreifende, digitale Unterrichtsgrundlagen, dass ein Verweis auf kon-krete Titel keinen Sinn hat.

27 Siehe den Beitrag von Hans Utz in diesem Band.28 In diesem Zusammenhang wegweisend und anregend die Publikationen des British Film Institutes,

die einen forschungsgestützten positiven Zusammenhang zwischen „cineliteracy“ und allgemeiner „literacy“ aufzeigen. Die Arbeit mit Filmen fördert nachweislich die Lese- und Schreibpraxis und motiviert insbesondere Knaben. In Großbritannien wird „cineliteracy“ bereits ab drei Jahren geför-dert, siehe dazu den „Teaching Guide“ des bfi „Look again!“, London 2003.

29 Siehe Binnenkade, Alexandra: Neue Ansichten. Fotografien im Unterricht, in: Bilder und Töne ent-ziffern/Des images et des sons à déchiffrer. Colloque Memoriav Kolloquium 2008, Baden 2009, S. 128-138, sowie ebenfalls anhand konkreter Beispiele: Binnenkade, Alexandra: ÜberLebenErzählen. Lebensgeschichtliche Interviews im Geschichtsunterricht. Didaktisches Begleitheft, Zürich 2007.

30 Zum Einsatz audiovisueller Quellen im Geschichtsunterricht ist empirisch noch wenig bekannt. An-hand einer ersten Studie in Deutschschweizer Kantonen lässt sich jedoch vorsichtig auf ein größeres Feld schließen. Siehe dazu: Gautschi, Peter/Moser, Daniel V./Reusser, Kurt/Wiher, Pit (Hrsg.): Ge-schichtsunterricht heute. Eine empirische Analyse ausgewählter Aspekte, Bern 2007. Bemerkenswert, wenn auch nicht überraschend, ist die Tatsache, dass Lernaktivitäten mit audiovisuellen Medien bei Schülerinnen und Schülern am beliebtesten sind (S. 201). Grundlegend dazu auch Gautschi, Peter: Guter Geschichtsunterricht: Grundlagen, Erkenntnisse, Hinweise, Forum Historisches Lernen, Schwalbach/Ts. 2009.

31 So weist beispielsweise Ingrid Höpel pars pro toto am Beispiel von Bildern darauf hin, dass „Untersu-chungen im Zusammenhang mit fotografischen Ikonen der Massenkommunikation [...] vermuten (lassen), dass das Zeigen von Bildern nur dann die Erinnerungsleistung der Probanden verbessert, wenn Hintergrundinformationen bekannt und die Bilder biografisch oder schulisch kontextualisiert sind [...]. Dagegen kann das Zeigen von Fotografien ohne begleitendes Entfalten und Durchdringen des Kontextes zu einer falschen Selbsteinschätzung in Bezug auf das eigene Hintergrundwissen führen. Die Betrachter vermeinen zwar die geschichtlichen Kontexte zu kennen, tatsächlich überschätzen sie aber ihr Wissen.“ Höpel, Ingrid: Bildkompetenz als pädagogische Schlüsselkompetenz – Forschungs-stand und Perspektiven einer interdisziplinären Bilddidaktik, in: Lieber, Gabriele (Hrsg.): Lehren und Lernen mit Bildern. Ein Handbuch zur Bilddidaktik, Baltmannsweiler 2008, S. 60-71.

32 Siehe dazu mit konkreten Unterrichtsempfehlungen Gautschi, Peter: Vom Umgang mit Schreckli-chem im Unterricht. Erwägungen und Empfehlungen, in: ph akzente 4 (2005), S. 22-24. Allgemeiner sind insbesondere die Arbeiten von Michalinos Zembylas und (spezifisch zur Fotografie) Ariella Azu-lay sehr aufschlussreich.

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351Audiovisuelle Medien

33 Dabei denke ich für den deutschsprachigen Kontext an Peter Gautschis Struktur- und Prozessmodell historischen Lernens von 2009 (Anm.18), Jörn Rüsens und Michele Barricellis Ausführungen zur historischen Narration, an Überlegungen amerikanischer Geschichtsdidaktiker wie Sam Wineburg, Daisy Martin, Peter Stearns, James Loewen oder Bob Bain, an Peter Seixas (Kanada) oder französische Kolleginnen wie Nicole Tutiaux-Guillon und Marie-Christine Baquès. Der Begriff Kompetenz wird in den für Bildung zuständigen Wissenschaften (Empirische Bildungsforschung, Pädagogik, Psycholo-gie, Fachdidaktiken, Soziologie) nicht einheitlich verwendet. Einen aktuellen Überblick dazu geben Klieme und Hartig: Kompetenzkonzepte in den Sozialwissenschaften und im erziehungswissenschaft-lichen Diskurs, in: Prenzel, Manfred/Gogolin, Ingrid/Krüger, Heinz-Hermann (Hrsg.): Kompetenz-diagnostik. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Sonderheft 8, 2008, S. 11-29. Sie zeigen auf, dass in den letzten Jahren die Zahl der einschlägigen Veröffentlichungen rasant gestiegen ist (2007 weltweit etwa zehn Veröffentlichungen pro Tag). Zit. nach Schott, Franz/Azizi Ghanbari, Shahram: Kompe-tenzdiagnostik, Kompetenzmodelle, kompetenzorientierter Unterricht. Zur Theorie und Praxis über-prüfbarer Bildungsstandards, Münster 2008, S. 13.

34 „Historical thinking“ ist ein Begriff, der vor allem in der angelsächsischen Geschichtsdidaktik verwen-det wird, während im deutschsprachigen Kulturkreis dem „historischen Lernen“ der Vorzug gegeben wird. Vgl. dazu: Messmer, Kurt: Kompass Geschichte – was heisst „historisch denken“? 12 Fixsterne, in: Schweizer Geschichtsbuch 2, Berlin 2001, S. 4-5.

35 Dabei denke ich an die Taxonomie von Bloom.

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