Konkurrenzen – Vergleiche. Die diskursive Etablierung des Felds der Medien

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Konkurrenzen Vergleiche Die diskursive Konstruktion des Felds der Medien Jens Ruchatz So wie das ganze Programm und alle Ausdrucksformen des Fernsehens ein ständiges Versuchen und Abtasten der Mög- lichkeiten und der Grenzen dieses Mediums sind und sein müssen, so ist auch jede Aussage über diese neue Form zwangsläufig ein Versuch, der sich zwischen Theorie und Praxis mühsam seinen Weg suchen muß und in dessen Natur es liegt, Beunruhigung und Unbehagen zu erzeugen. Artur Müller, Fernsehen und Film, 1957 »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen,« so beginnt Niklas Luhmann seine Ausführungen zur Realität der Massenmedien, »wis- sen wir durch die Massenmedien.« 1 Die so banale wie weitreichende Feststellung, dass in den Medien Kommunikationsthemen vorseligiert und entsprechend Informa- tionen bereitgestellt werden, betrifft nicht nur die außerhalb der Medien gelegene Welt Gesellschaft, Geschichte, Natur , sondern als Teil der Gesellschaft, der Geschichte ebenso die Medien selbst. Die Medien nehmen nicht nur laufend Bezug auf vorherige Medienkommunikation, insofern mediale Berichterstattung selbst zum Gegenstand von Berichten und Kommentaren wird oder als Kontext für das Verständnis neuer Informationen aufgerufen wird, 2 sondern auf die Funktions- weise der Medien selbst: Die Fragen, was Medien sind, wie sie sich zueinander verhalten, was sie für soziale Systeme leisten und welche Funktion sie für die Ge- sellschaft erfüllen, 3 werden vor allem unter dem Gesichtspunkt der Potenzialität diskutiert, also hinsichtlich dessen, was Medien sein sollten oder könnten. Die Me- dien sind insofern auch diejenigen Orte, an denen sich die Gesellschaft über Medien verständigt. Medien, so lautet die logische Folgerung, sind in einem doppelten Sinn Voraussetzung zur Beschreibung von Medien: zugleich als Gegenstand und als Mittel der Beschreibung. Ob es sich bei der Behandlung von Medien in den Medien um Selbstreflexion, also eine systeminterne Selbstthematisierung, handelt, ist zumindest fragwürdig. Wenn eine Tageszeitung eine Film- oder Fernsehkritik abdruckt, handelt es sich dann um eine selbstreferenzielle Beobachtung innerhalb eines Mediensystems oder um die fremdreferenzielle Beobachtung eines anderen Mediums? Selbstreferenziel- le Information wird in den Medien nicht radikal gegen fremdreferenzielle abge- trennt, sondern ist, wo sie auftaucht, integraler Bestandteil des Informationsange- ––––––––––– 1 Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien. Opladen 1996, S. 9. 2 Vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1997, S. 1104: »Ein hohes Maß an Reflexivität Berichte in den Medien berichten über Berichte in den Medien gehört zum Alltag.« 3 Luhmann 1997, S. 757, unterscheidet als Systemreferenz von Beobachtung: Funktion in Beziehung zur Gesellschaft insgesamt, Leistung in Bezug auf andere Teilsysteme, Reflexion als Selbstbeobach- tung.

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Konkurrenzen — Vergleiche

Die diskursive Konstruktion des Felds der Medien

Jens Ruchatz

So wie das ganze Programm und alle Ausdrucksformen des

Fernsehens ein ständiges Versuchen und Abtasten der Mög-lichkeiten und der Grenzen dieses Mediums sind und sein

müssen, so ist auch jede Aussage über diese neue Form

zwangsläufig ein Versuch, der sich zwischen Theorie und Praxis mühsam seinen Weg suchen muß und in dessen Natur

es liegt, Beunruhigung und Unbehagen zu erzeugen.

Artur Müller, Fernsehen und Film, 1957

»Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen,« so

beginnt Niklas Luhmann seine Ausführungen zur Realität der Massenmedien, »wis-

sen wir durch die Massenmedien.«1 Die so banale wie weitreichende Feststellung,

dass in den Medien Kommunikationsthemen vorseligiert und entsprechend Informa-

tionen bereitgestellt werden, betrifft nicht nur die außerhalb der Medien gelegene

Welt — Gesellschaft, Geschichte, Natur —, sondern — als Teil der Gesellschaft,

der Geschichte — ebenso die Medien selbst. Die Medien nehmen nicht nur laufend

Bezug auf vorherige Medienkommunikation, insofern mediale Berichterstattung

selbst zum Gegenstand von Berichten und Kommentaren wird oder als Kontext für

das Verständnis neuer Informationen aufgerufen wird,2 sondern auf die Funktions-

weise der Medien selbst: Die Fragen, was Medien sind, wie sie sich zueinander

verhalten, was sie für soziale Systeme leisten und welche Funktion sie für die Ge-

sellschaft erfüllen,3 werden vor allem unter dem Gesichtspunkt der Potenzialität

diskutiert, also hinsichtlich dessen, was Medien sein sollten oder könnten. Die Me-

dien sind insofern auch diejenigen Orte, an denen sich die Gesellschaft über Medien

verständigt. Medien, so lautet die logische Folgerung, sind in einem doppelten Sinn

Voraussetzung zur Beschreibung von Medien: zugleich als Gegenstand und als

Mittel der Beschreibung.

Ob es sich bei der Behandlung von Medien in den Medien um Selbstreflexion,

also eine systeminterne Selbstthematisierung, handelt, ist zumindest fragwürdig.

Wenn eine Tageszeitung eine Film- oder Fernsehkritik abdruckt, handelt es sich

dann um eine selbstreferenzielle Beobachtung innerhalb eines Mediensystems oder

um die fremdreferenzielle Beobachtung eines anderen Mediums? Selbstreferenziel-

le Information wird in den Medien nicht radikal gegen fremdreferenzielle abge-

trennt, sondern ist, wo sie auftaucht, integraler Bestandteil des Informationsange-

––––––––––– 1 Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien. Opladen 1996, S. 9. 2 Vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1997, S. 1104: »Ein hohes

Maß an Reflexivität — Berichte in den Medien berichten über Berichte in den Medien — gehört

zum Alltag.«

3 Luhmann 1997, S. 757, unterscheidet als Systemreferenz von Beobachtung: Funktion in Beziehung

zur Gesellschaft insgesamt, Leistung in Bezug auf andere Teilsysteme, Reflexion als Selbstbeobach-

tung.

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bots. Die Medienseite der Tageszeitungen ist neben Feuilleton, Politik, Sport, Wirt-

schaft usw. ein gleichberechtigter Bestandteil. Überdies tauchen die Medien betref-

fende Informationen auch außerhalb der Medienrubrik auf, im Kulturteil genauso

wie auf den Wirtschaftsseiten. Information über die Medien ist für die Allgemeinheit

also genauso von Interesse wie Information über das, was ›außerhalb der Medien‹

geschieht: Fremdreferenzielle und selbstreferenzielle Beobachtung haben innerhalb

des Medienangebots dieselbe Valenz, denn Medien sind unhintergehbar Teilobjekt

gesellschaftlicher Selbstbeschreibung.4 Daher finden sich Diskurse über Medien

genauso in unterschiedlichen Publikationsorten — von der Tageszeitung über

Fachbücher bis hin zur Diskussion im Fernsehen — wie sie von verschiedenen

gesellschaftlichen Teilbereichen wie Wissenschaft, Politik und Erziehung angestellt

werden. Mediendiskurse geben insofern keinen monolithischen Block ab, der sich

eindeutig einem bestimmten System und einem eindeutigen Systembezug zurech-

nen ließe.

Sollen Mediendiskurse Reflexion sein, so setzt das andererseits die Existenz

eines klar konturierten Mediensystems voraus. Ob die Gesamtheit der Medien oder

auch nur ein Ausschnitt der Medien eine solche Systemizität erreicht hat, wie häufig

unterstellt wird, scheint zweifelhaft. An die Medialität von Kommunikation schlecht-

hin kann ein System der Medien nicht gekoppelt werden, denn der Gebrauch von

technischen wie vortechnischen Verbreitungsmedien ist in allen gesellschaftlichen

Funktionsbereichen an der Tagesordnung. Das von Luhmann extrapolierte System

der Massenmedien ist in diesem Sinn zwar an technische Verbreitungsmedien ge-

bunden — im besonderen ihre Uni-Direktionalität der Kommunikation —, jedoch

nur insofern sie dazu dienen, Informationen zu filtern, zu konstruieren und bereitzu-

stellen, die auf die ›öffentliche Meinung‹ einwirken.5 Anstatt von einem System der

Massenmedien zu sprechen, wäre es in diesem Sinne angebrachter, dies mit Institu-

tionen wie Publizistik oder Journalismus zu identifizieren, denn die Medien enden

nicht dort, wo es um die Verbreitung von Weltwissen im engeren Sinne geht. So

liefert etwa das Fernsehen nicht nur sachliche Informationen, sondern verbreitet

und erzeugt genauso Unterhaltung, zuweilen auch Kunst.6 Dass in diesem Rahmen

die Unterscheidung von Information/Nicht-Information, also von Neuem und be-

reits Bekanntem, die Luhmann als Leitdifferenz des Mediensystems ausgemacht

––––––––––– 4 Vgl. Luhmann 1997, S. 1097: »Unausweichlich muß jede Beschreibung unserer Gesellschaft diese

Mittel [d.h. die Massenmedien] (und insofern: ihre eigenen Mittel) und deren Verhältnis zu sich

selbst mitenthalten.«

5 Luhmann 1997, S. 1098. Diffuse Adressierung und Einsinnigkeit der Kommunikation (ohne unmit-telbare Möglichkeit zu antworten) stellen traditionell das Definiens von Massenmedien dar.

6 Die Grenzen dieser Größen sind freilich fließend: So kann Information unterhaltend und künstle-

risch dargeboten werden. Unter dem Dach des Systems der Massenmedien unterscheidet Luhmann

als Programmbereiche Nachrichten, Werbung und Unterhaltung — gerade die Einordnung der

»Unterhaltung« unter die Codierung Information/Nicht-Information scheint mir wenig überzeugend

durchgeführt; vgl. Luhmann 1996, S. 51 und S. 96–102.

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hat,7 nicht das einzige Relevanzkriterium sein kann, belegt beeindruckend der hohe

Anteil von Wiederholungen bereits gesendeten Materials innerhalb des Fernseh-

oder Radioprogramms. Jedenfalls werden im Angebot des Fernsehens die unter-

schiedlichsten Sparten amalgamiert, im Programmfluss nebeneinandergestellt und

von derselben Institution — der Sendeanstalt — verantwortet. Man wäre also ge-

zwungen, entweder dem Mediensystem eine flexiblere Leitcodierung zugrunde zu

legen oder aber bestimmte Programmelemente des Fernsehens aus dem System der

Massenmedien auszuschließen. Auch wenn sich die Hypothese eines Systems von

Medien unter bestimmten Perspektiven heuristisch fruchtbar erweist, sind die ver-

schiedenen Einzelmedien — als soziale wie kulturelle Institutionen und Praktiken

begriffen — sowohl intern als auch untereinander so heterogen, dass ein überzeu-

gender Vorschlag, der sie theoretisch zwingend zu einem deutlich abgegrenzten

System zusammenfügen könnte, nicht in Aussicht steht.

In Mediendiskursen werden freilich häufig Beziehungen zwischen diversen als

Medien bezeichneten Phänomenen beobachtet: Sie werden in eine historische Fort-

schrittslogik gebracht, die jüngere Medien als Perfektionierungen älterer Medien

und ihrer Funktionen erscheinen lässt; es werden Transfers von Formen diagnosti-

ziert — ästhetisch abgelehnt oder begrüßt —, die ihrem ›ursprünglichen‹ Medium

entlehnt worden sind; um das ›Wesen‹ eines Mediums zu bestimmen, werden ande-

re Medien als Vergleichspunkte hinzugezogen. Solche ›intermedialen‹ Bezugnah-

men unterstellen einerseits eine Gemeinsamkeit zwischen den angesprochenen

Medien, eine Vergleichsebene, die überhaupt die Grundlage für den übergreifenden

Begriff ›Medien‹ abgibt; sie zielen andererseits darauf ab, in Kontrast zu der geteil-

ten Ebene dem jeweils fokussierten Medium genauere Konturen zu verleihen. Die

diskursive Differenzierung einzelner Medien und die Integration zu einem Feld der

Medien erfolgen im selben Zug. So wird durch Medienvergleiche wenn auch kein

System, so doch — als diskursives Phänomen — ein Feld der Medien aufgespannt,

wobei die diversen angesetzten Vergleichskriterien die ganze Heterogenität des Me-

dienbegriffs, seiner Gebrauchsweisen und Fassonierungen wiederspiegeln.

Es trifft zweifellos zu, dass das Eigene eines Mediums nur in Differenz zu

einem vergleichbaren Anderen, d.h. in der Regel einem anderen Medium, bestimm-

bar ist. Die Definition eines Mediums lässt sich demnach nicht allein auf einen

bestimmten Wesenskern, etwa seine technische Basis zurückführen, sondern beruht

größtenteils auf seiner diskursiven Verortung im Verhältnis zu anderen Medien.

Wenn man hier allerdings von einer »ontologischen Intermedialität«8 spricht, also

davon ausgeht, dass jedes neue Medium auf ein ihm vorgängiges Feld der Medien

trifft und bezogen wird, dann verfehlt man die Doppelseitigkeit des Vergleichens:

Mit der Bestimmung des einzelnen Mediums wird im Akt der Bezugnahme auf

vergleichbare Entitäten zugleich das Feld der Medien bestimmt. Medium und Me-

––––––––––– 7 Vgl. unmissverständlich Luhmann 1996, S. 41: »Informationen lassen sich nicht wiederholen; sie

werden, sobald sie Ereignis werden, zur Nichtinformation. Eine Nachricht, die ein zweites Mal ge-

bracht wird, behält zwar ihren Sinn, verliert aber ihren Informationswert.«

8 Jens Schröter: »Intermedialität. Facetten und Probleme eines medienwissenschaftlichen Begriffs«.

In: montage/av, 2 (7), 1998, S. 129–154, hier: S. 146–149.

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dien sind in diesem Sinne gleich ursprünglich. Aus dieser diskursorientierten Per-

spektive ist beispielsweise Sprache kein älteres Medium als die Schrift, denn erst

durch das Hinzutreten eines zweiten Mediums wird Sprache überhaupt als Medium

fassbar. Als Kommunikationsmodus eigener Art kann Sprechen erst begriffen wer-

den, als mit der Schriftlichkeit eine Alternative als Vergleichsfolie vorliegt.9 Der so-

genannte Medienumbruch von der Verbalsprache zur Schrift verdeutlicht anderer-

seits, dass Medienvergleiche zumeist im Zeichen der Konkurrenz angestellt werden,

dann nämlich, wenn ein neues Medium Funktionen eines alten — je nach Lesart —

zu usurpieren droht oder zu optimieren verspricht. Es muss heute kaum noch betont

werden, dass alte Medien durch neue nicht einfach verdrängt oder abgelöst werden.

Mediale Innovationen stellen jedoch eine Irritation des Mediengefüges dar, die

Diskurse in Gang setzen, um, oftmals indem sie den einzelnen Medien eine ›Spezi-

fik‹ vorschreiben, eine neue Grenzziehung zwischen den Medien ausloten. Wäh-

rend die Einen mediale Innovation als Fortschritt begrüßen, warnen Andere vor

ihren Gefahren und Defiziten, um die besondere Leistung der älteren Medien her-

auszustellen. Der Vergleich erlaubt somit, beiden konkurrierenden Sphären Kontu-

ren zu verleihen:

Erst in dieser Konkurrenz werden neu auftretende Medien gezwungen, Medienspezifik hinsichtlich

Themenbesetzung, Darstellungs- und Inszenierungsstilen sowie Reflexivität (Selbst- und Fremdbe-obachtung bzw. Selbst- und Fremdreferenz) zu entwickeln. Erst dadurch, daß durch das Auftreten

eines neuen Mediums Differenzbeobachtungen forciert werden, werden auch die Beobachtungen

von Folgen, Konsequenzen und Implikaturen der immer stärker selektiv werdenden Nutzung der jeweiligen Medien im Mediensystem trennschärfer.10

Zwar werden Medienkarrieren vom Stadium der Erfindung an permanent diskursiv

begleitet und überformt; am folgenreichsten und dichtesten erweisen sich Medien-

diskurse jedoch, wenn neue Anwärter auf Medienstatus das herrschende Gefüge der

Medien erschüttern. Für die soziale Etablierung neuer Medien sind medienverglei-

chende und -definierende Diskurse von gleichem Rang wie die praktische Erpro-

bung. Als Beobachtung der Medienpraxis nehmen sie nicht nur Einfluss auf diese

Praxis selbst, sondern beteiligen sich als publizierte Diskurse auch an der Heraus-

bildung der Erwartungsstrukturen, innerhalb derer diese Praxis abläuft. Der Vor-

gang sozialer Etablierung besteht darin, dass Diskurse und Programme gemeinsam

––––––––––– 9 Paradigmatisch wird hier immer wieder Platons Sprachkritik im Phaidros angeführt; vgl. etwa

Irmela Schneider: »Zur Konstruktion von Mediendiskursen. Platons Schriftkritik als Paradigma«. In: Angela Krewani (Hrsg.): Artefakte/Artefiktionen. Transformationsprozesse zeitgenössischer Li-

teraturen, Medien, Künste, Architekturen. Heidelberg 2000, S. 25–38.

10 Siegfried J. Schmidt: Die Welten der Medien. Grundlagen und Perspektiven der Medienbeobach-tung. Braunschweig/Wiesbaden 1996, S. 153. Vgl. auch ders.: »Medienkulturwissenschaft«. In:

Ansgar Nünning (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze — Personen —

Grundbegriffe. Stuttgart/Weimar 1998, S. 349–351, hier: S. 349: »Neue Medien verdrängen nicht

etwa die bereits vorhandenen. Sie zwingen vielmehr die Gesellschaft zu einer Respezifikation des

Gesamtmediensystems, erhöhen die kommunikative Komplexität und modifizieren das Verhältnis

zwischen personaler und medienvermittelter Kommunikation.«

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nach und nach Erwartungshorizonte erzeugen und stabilisieren, so dass Produkti-

ons- und Rezeptionsseite miteinander in Einklang stehen.

Das Medium, das in den 1950er Jahren im Zentrum der Medienvergleiche steht,

weil es das Mediengefüge irritiert, ist unstrittig das Fernsehen. Obwohl sich das Fern-

sehen zunächst nur gemächlich ausbreitete — ab Weihnachten 1952 strahlte der

NWDR ein reguläres Programm aus, ein bundesweites Programm der ARD folgte

1954, doch erst einige Jahre später war es flächendeckend empfangbar —, wurden

seine Folgen bereits seit Anfang der 50er Jahre heftig diskutiert. Um mögliche

Konsequenzen des Fernsehens — gerade auch für die anderen Medien — abschät-

zen zu können, blickte man ins Ausland. Die USA und England, die in der Fernseh-

entwicklung einige Jahre Vorsprung hatten, sollten Anhaltspunkte geben, was sich

in der deutschen Medienlandschaft abspielen könnte. Die Mediendiskurse der frü-

hen Fernsehzeit blieben somit gezwungenermaßen spekulativ. Wenn die prognosti-

zierten Entwicklungen überhaupt eintraten, dann ließen sie zumindest länger auf

sich warten. So waren zurückgehende Kino-Zuschauerzahlen in Deutschland nicht

vor Ende der Dekade feststellbar und das anschließende ›Kinosterben‹ setzte erst in

den 60er Jahren ein. Als operative Hypothesen, die einen Eingriff in die laufenden

Entwicklungen erlaubten, waren solche Spekulationen jedoch eminent wichtig.

Befürchtet wurde, dass das Fernsehen einige etablierte Medien ›aufsaugen‹ und

›kassieren‹ könnte. Solche Prognosen zogen ihre Nahrung daraus, dass sich das

Fernsehen ausgiebig im Fundus der anderen Medien bedient, Theaterstücke, Hör-

spiele und literarische Erzählungen adaptiert, Filme ausstrahlt und Nachrichten

verbreitet. Nicht ganz zu Unrecht ist es daher von Raymond Williams als ›parasitä-

res Medium‹ bezeichnet worden.11 Freilich steht das Fernsehen damit nicht allein:

Die Schrift enkodiert das gesprochene Wort, der Buchdruck vervielfältigt das ge-

schriebene Wort usf. Marshall McLuhan hat auf dieses Phänomen mit seinem popu-

lären Aphorismus aufmerksam gemacht, der besagt, dass jedes Medium ein anderes

enthalte.12 Der Film, ein unmittelbares Vorgängermedium des Fernsehens, entlieh in

seiner Frühzeit seinerseits die Programmelemente einem breiten Spektrum von

Kunstformen und populären Schauattraktionen: dem Varieté, dem Theater, dem

Tanz, der Laterna magica, dem Roman, der bildenden Kunst, um nur die wichtigs-

ten zu nennen. Es ist für frühe Entwicklungsphasen von Medien geradezu typisch,

dass im neuen Medium mit Versatzstücken der alten experimentiert wird und seine

Neuheit unter einem Kleid kontinuitätsstiftender Formen verborgen wird.

Als schwerwiegendste Hypothese wurde überlegt, ob das Fernsehen als neues

Supermedium all das in sich vereinen könne, was die anderen Medien bieten:

»Könnte man nun unter alle bisherigen Werkformen von Presse, Rundfunk und

Film einen Schlussstrich ziehen und darunter schreiben: Fernsehen?«13 fragt etwa

––––––––––– 11 Vgl. Raymond Williams: Television. Technology and Cultural Form. 2. Aufl. London [1975] 1990,

S. 25.

12 Vgl. Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media. Dresden/Basel [1964]

1994, S. 22.

13 Jürgen Möller: »Das Fernsehen und seine Beziehungen zu Presse, Rundfunk und Film. Versuch

eines Vergleichs.« In: Rundfunk und Fernsehen, 3 (4), 1956, S. 225–232, hier: S. 229.

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Jürgen Möller 1956 im Fachorgan Rundfunk und Fernsehen. Solche Fragen deuten

auf den Wettbewerb hin, in dem die verschiedenen Medien um Aufmerksamkeit

buhlen, die dann in ökonomische Werte wie Werbeeinnahmen, Eintrittsgelder oder

Subventionen konvertierbar ist. In diesem Wetteifern um die Zeit des Publikums

musste sich ein Medium, das wie das Fernsehen ein vielseitiges Angebot mit der

bequemen Heimlieferung verbindet, den etablierten Wettbewerbern als gefährlicher

Konkurrent darstellen:

Die Heraufkunft des Fernsehens ist vom ersten Tage an mit viel Argwohn beobachtet worden, nicht

zuletzt mit dem Argwohn, den jeder Neuling unter Eingesessenen zu erregen pflegt. Denn klarer als die mancherlei ästhetischen und moralischen Gefährdungen dieses Neulings war zu erkennen, daß

er Zeit verschlingen würde als passive Gegenleistung für die Darbringung seiner Programme. So

bildete sich bald eine solide, skeptisch-gegnerische Form der Eingesessenen. Kein Wunder, daß un-ter ihnen vornehmlich solche Personen, Institutionen und Gruppen waren, die es in gleicher Weise

auf die Zeit ihrer Konsumenten abgesehen hatten [...].14

Als besonders durch das Fernsehen bedrängt galten jene beiden Medien, die man

als nächste Verwandte des Fernsehens ansah: Hörfunk und Film. Insofern das Fern-

sehen das Radio um die visuelle Komponente ergänzt, schien es folgerichtig, dass

über kurz oder lang das neue Medium dem alten vorgezogen würde. Der Blick nach

Übersee untermauerte diese Prognose:

Der Aufschwung und die Ausbreitung des Fernsehens muss sich mit der Zeit auf den Rundfunk auswirken. In Amerika ist diese Auswirkung seit geraumer Zeit schon festgestellt worden. Wer ein

Fernsehgerät besitzt oder Gelegenheit hat, eines mitzubenutzen, der stellt seinen Rundfunkempfän-

ger kaum mehr an, so wie er in der Regel nur noch ausgesprochene Spitzenfilme aufsucht und im übrigen seinen Filmbedarf über die Television sich frei ins Haus liefern läßt.15

Die pragmatisch-nüchterne Antwort auf die Konkurrenzsituation lag darin, sich auf

die neue Situation einzustellen und den verbliebenen Nischen stärker Rechnung zu

tragen, denn beileibe nicht in allen Einsatzfeldern war der Hörfunk im Hintertref-

fen. Schon 1958 hatte der Süddeutsche Rundfunk den Plan in der Schublade, paral-

lel zur Verbreitung des Fernsehens dem traditionellen Bildungsfunk ein reines Un-

terhaltungsprogramm zur Seite zu stellen. Auch hier legte man Beobachtungen aus

dem Ausland zugrunde, wie Programmdirektor Peter Kehm im Spiegel ausführt:

»Aus Amerika wissen wir, daß der Hörrundfunk bei weiter stürmischer Fernseh-

entwicklung zwar keineswegs ganz verschwindet, von seiner Bedeutung aber doch

erheblich einbüßt. Wenn das Fernsehgerät erst einmal in die Wohnstube aufge-

nommen worden ist, wandert der Radioapparat in die Küche.«16

––––––––––– 14 Hans Joachim Lange: »Rundfunk und Fernsehen. Vorrang oder Gleichberechtigung«. In: Rundfunk

und Fernsehen, 4 (4), 1956, S. 346–351, hier: S. 346. 15 E. K. Fischer: »Rundfunk im Schatten des Fernsehens«. In: Rundfunk und Fernsehen, 4 (4), 1956,

S. 361–367, hier: S. 361. Vgl. auch O. H. Leiling: Funk. Ein neues Weltreich. München 1959,

S. 174: »Löst das Fernsehen den Tonrundfunk ab, macht es ihn überflüssig? In Amerika hat man

fast den Eindruck, daß der Prozeß schon zugunsten des Fernsehens entschieden sei.«

16 Anonymus: »Musik für die Küche«. In: Der Spiegel, 26 (12), 1958, S. 52. Vgl. auch Leiling 1959,

S. 175: »Man darf vor allem, so sagen die Verteidiger des Tonrundfunks, die Hausfrauen nicht ver-

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Die Tendenz, den Hörfunk zum Musik- und Serviceprogramm für Hausfrauen zu

entwickeln, fand nicht ungeteilten Beifall. Gegen das Gesetz der Quantität wurde

der Kulturauftrag des Mediums, seine Funktion »im geistigen Leben des modernen

Menschen«17 ins Feld geführt. Man versprach sich sogar von dem alternativen Me-

dienangebot des Fernsehens, den »Dauerhörer«, »Alptraum der Programmverant-

wortlichen«, von seinem schrankenlosen Hörkonsum zu heilen.18 Umgekehrt

wünscht Hans-Werner von Meyenn, Leiter der Evangelischen Kirchlichen Rund-

funkzentrale, das Primat des Wortes aus dem Hörfunk als Kontrollinstanz ins

Fernsehen zu integrieren, um der »Inflation der Bilder, welche ja eigentlich eine

Überschwemmung durch die unwirkliche Welt des Photos ist,« Herr zu werden:

Denn was auch immer der besondere Reiz und die erregenden Möglichkeiten des Fernsehens sind

— die Aktualität, die Beobachtung des Menschen in der Improvisation oder überhaupt die Erobe-rung der Welt für das Heim — , es wäre all dies dem heutigen Menschen eher eine Gefahr als ein

Nutzen, wenn nicht das durch den Rundfunk wiederentdeckte Wort in der Fülle seiner Bild- und

Aussagekraft das Auge in Zucht zu nehmen und so zu verhindern verstünde, daß das Fernsehen mehr der ›Zerstreuung‹ statt dem Aufmerken auf das Wesentliche, im Heiteren oder Ernsten,

dient.19

Anstelle der Konkurrenz soll die gemeinsame Kulturmission von Hörfunk und

›Sehfunk‹ treten, bei der die Aufgaben der beiden Medien aufeinander bezogen

sind. In diesem Sinn sollen, so die harmonische Vorstellung, Fernsehen und Hör-

funk nicht miteinander konkurrieren, sondern im »friedlichen Wettstreit« miteinan-

der die optimale soziale Wirkung erzielen. Als Garanten für die komplementäre

Versöhnung beider Medien fungiert dabei die institutionelle Organisationsform, die

ökonomische Konkurrenz ausschließt:

Daß bei uns in Deutschland Hörfunk und Sehfunk unter einer gemeinsamen Leitung arbeiten, einer

Leitung, die den Austausch von Personen, Ideen, dramaturgischen Erfahrungen und Sendestoffen

jederzeit ermöglicht, bedeutet eine Gewähr dafür, daß das Fernsehen den Rundfunk nicht überwin-

den wird, sondern, daß beide Einrichtungen einander ergänzen werden.20

Dagegen ist das Verhältnis von Film und Fernsehen weit entfernt von der Vision

eines friedlichen Miteinander. Zwar wird die Verwandtschaft der Medien beschwo-

–––––––––– gessen, die mit zu den eifrigsten Hörern zählen. Bei vielen ihrer nicht gerade interessanten, aber

doch sehr notwendigen Tätigkeiten werden sie die Musik oder auch die Schulfunksendung des gu-

ten alten Tonrundfunks nicht missen wollen.« 17 Hans-Werner von Meyenn: »Verdrängt das Fernsehen den Rundfunk?« In: epd/Kirche und Fernse-

hen, 6 (7), 1955, S. 1–3, hier: S. 1.

18 Lange 1956, S. 351. 19 Von Meyenn 1955, S. 2–3.

20 Fischer 1956, S. 367. Vgl. auch Lange 1956, S. 351: »So wird es das nicht geben, was beider

Situation zu ihren Ungunsten verzerren würde: eine Konkurrenz im wirtschaftlichen Sinne, einen

Wettstreit um Zahlen, um die Zeit dessen, dem zu dienen ist. Freuen wir uns auf diese kommende

Zeit, da wir dazu beitragen können, daß ein friedlicher Wettstreit entbrennt um ein lohnendes Ziel:

das freundschaftliche Interesse unserer Mitmenschen.«

144 Jens Ruchatz

ren, doch handelt es sich hier um »feindliche Geschwister«.21 Auch hier ist es der

Blick ins Ausland, der die Sorgen um die Zukunft des Films nährt. Kontinuierlich

wird über den Konkurrenzkampf zwischen der amerikanischen Filmindustrie und

dem Fernsehen informiert. Der Niedergang der Kinos findet genauso Aufmerksam-

keit wie die Gegenoffensive Hollywoods. Unter dem von Spyros P. Skouras, dem

Präsidenten der 20th Century Fox, ausgegebenen Motto »Movies are better than

ever« werden Filmproduktion und Kinos aufgerüstet, um die Differenz zum Fern-

sehen zu verstärken. Auf ebenso viel Interesse stößt die umgekehrte Strategie der

Filmwirtschaft, selbst ins Fernsehgeschäft einzusteigen, um sich einen neuen Dis-

tributionskanal zu sichern. Bereits in den 50er Jahren laufen verschiedene Pilotpro-

jekte zum ›Münz-Fernsehen‹, wie pay-TV in Deutschland bezeichnet wird.22 Was

als trotzige Blockade, dem Fernsehen keine aktuellen Filme zu liefern, begann,

endet schließlich damit, dass Hollywood in größerem Umfang für das Fernsehen als

für die Kinos produziert.23 Die Konvergenz von Filmwirtschaft und Fernsehen be-

ruht auf der Bereitschaft der amerikanischen Konzerne, »die Institution, die bisher

der einzige Verkaufsplatz für ihre Produkte war: das Kino«24, zu opfern. Aus Eng-

land, das mit dem öffentlichen Fernsehen dem deutschen Modell eher entspricht,

wird Ende der 50er Jahre eine ähnliche Kinokrise gemeldet.25

Die deutschen Strategien basieren auf den beobachteten Entwicklungen im

Ausland. Die Aussage des NWDR-Fernsehintendanten Werner Pleister, das Fernse-

hen brauche keine »Bedrohung der Filmkunst oder eine Beeinträchtigung des Film-

geschäftes« zu werden, wurden umgehend als abwiegelnde, »gummiartige Formu-

lierungen« abgetan.26 Informiert durch den Blick in die USA bemühte sich die deut-

sche Filmwirtschaft das Gesetz des Handelns zu ergreifen. »Diese aktive Fernseh-

politik geht von dem realistischen Gesichtspunkt aus, dass Film und Fernsehen in

Wirklichkeit echte Konkurrenten sind. Das Publikum, an das sich der Fernsehsen-

der am Abend zwischen 20 und 22 Uhr wendet, ist — wie die Erfahrungen in Ame-

rika beweisen — das gleiche Publikum, das bisher etwa zur gleichen Zeit in die

––––––––––– 21 Kurt Joachim Fischer: »Die feindlichen Geschwister«. In: Rundfunk und Fernsehen, 2/3 (5), 1957,

S. 153–156. Zur Verwandtschaftsmetaphorik vgl. auch Knut Hickethier: »Vom Ende des Kinos und

vom Anfang des Fernsehens. Das Verhältnis von Film und Fernsehen in den fünfziger Jahren«. In: Hilmar Hoffmann/Walter Schobert (Hrsg.): Zwischen Gestern und Morgen. Westdeutscher Nach-

kriegsfilm 1946–1962. Ausstellungskatalog Deutsches Filmmuseum Frankfurt. Frankfurt/M. 1989,

S. 282–315, hier: S. 282. 22 Vgl. Anonymus: »Kuppelei in großem Stil«. In: Der Spiegel, 26 (5), 1951, S. 33; Anonymus: »Das

Fernseh–Kino«. In: Der Spiegel, 1 (12), 1958, S. 40f.; Anonymus: »Das Heimkino«. In: Der Spie-

gel, 30 (14), 1960, S. 58f.; Klaus Hebecker: »Zwischen Kultur und Geschäft«. In: Rundfunk und Fernsehen, 3 (4), 1956, S. 261–268, hier: S. 264.

23 Vgl. Hebecker 1956, S. 265.

24 Der Spiegel, 1 (12), 1958, S. 40f., hier: S. 40. 25 Vgl. Anonymus: »Das Kino-Sterben«. In: Der Spiegel, 48 (12), 1958, S. 76–78, hier S. 76. In

differenzierteren Darstellungen wird die Kinokrise nicht monokausal auf das Fernsehen zurückge-

führt. Fischer 1957, S. 154–155, nennt als Faktoren des amerikanischen Kinosterbens die Unmög-

lichkeit, kleinere Kinos auf Cinemascope umzurüsten, die Verlagerung der Bevölkerung in kinoarme

Vororte sowie als außermediale Konkurrenz das neue Hobby des Heimwerkens. 26 Anonymus: »Der Kampf beginnt«. In: Der Spiegel, 1 (7), 1953, S. 32.

145 Konkurrenzen — Vergleiche

Kinos ging.«27 Durch den Informationsvorsprung wollte man schlauer sein als die

Amerikaner und, statt das neue Medium in Bausch und Bogen zu verdammen, von

Anfang an aktiv an seiner Ausgestaltung mitwirken. Bei dem Bemühen, dem ame-

rikanischen Medienkampf ein Modell der Verständigung entgegenzusetzen,28 stand

jedoch die öffentlich-rechtliche Organisationsform des Fernsehens im Weg. Gegen-

über dem monopolistischen, gebührenfinanzierten Fernsehprogramm fühlte sich die

Filmwirtschaft im Hintertreffen und forderte als neuen Absatzweg für ihre Filme

die Genehmigung eines kommerziellen Fernsehsenders.29 Wider Erwarten führten

die Bemühungen um eine konzertierte Fernsehpolitik — nicht zuletzt wegen der

internen Uneinigkeit der Filmwirtschaft — zu keinen brauchbaren Ergebnissen, so

dass man sich in der zweiten Hälfte der 50er Jahre doch in eine ebenso löcherige

Blockadepolitik flüchtete, die sich in Parolen wie »Keinen Meter Film dem Fernse-

hen« oder dem Verbot an Filmstars, im Fernsehen aufzutreten, niederschlug.30 Die

Hoffnung auf eine harmonische Auflösung der Medienkonkurrenz zerschlug sich an

der Uneinsichtigkeit der Kontrahenten: »So bleiben Film und Fernsehen unverän-

dert rivalisierende Geschwister, denen leicht zu helfen wäre, wenn sie sich raten

ließen, ihren geistigen Fundus auffrischen zu lassen, indem sie sich auf ihre Reviere

beschränkten, in die sie gehören.«31

Die Fernsehverantwortlichen versuchten, die Produzenten anderer Medien zu

beschwichtigen. In einem Vortrag vor Verlegern und Buchhändlern legte Eberhard

Beckmann, Intendant des Hessischen Rundfunks, dar, dass das Fernsehen — wie

schon der Rundfunk vor ihm — dem Buch keine Leser abspenstig machen werde,

sondern im Gegenteil neue Leser zuführen werde. Grundsätzlich setzt Beckmann

auf einen Medienverbund, ein Angebot diversifizierter Medien:

Auch die Medien, die wir heute beiseite lassen, um das Thema zu straffen, das Theater, die Zeitung,

der Film sind ins Leben getreten ohne böse Folgen für andere, ein Ganzes ist aus dem Vielen ge-worden. Uns bleibt nur der Schluß, daß die Erlebnisfähigkeit des modernen Menschen wenn nicht

tiefer so doch weiträumiger geworden ist als die unserer Väter.32

Der »moderne Mensch« bedarf demnach einer Pluralität von Medien. Ungeachtet

ihrer unterschiedlichen Argumentationswege gelangen fast alle Stimmen in den

Konkurrenzdebatten zu dem Ergebnis, dass die Koexistenz einander ergänzender

––––––––––– 27 Der Spiegel, 1 (7), 1953, S. 32. Zur Fernsehpolitik der deutschen Filmwirtschaft ausführlich Hi-

ckethier 1989. 28 Toni Schelkopf, Geschäftsführer der Fernseharbeitsgemeinschaft deutscher Spiel- und Kulturfilmpro-

duzenten, meinte, daß, »[w]enn es nach ihm geht, [...] der große Krieg zwischen Fernsehen und Film

(wie er in Amerika tobt) nie ausbrechen [werde], jedenfalls nie zwischen dem Fernsehen und den Filmproduzenten«; zit. nach Anonymus: »Borsche frei Haus«. In Der Spiegel, 4 (7), 1953, S. 29.

29 Vgl. Hickethier 1989, S. 288–289; vgl. Der Spiegel, 1 (7), 1953, S. 32; vgl. Fischer 1957, S. 155–156.

30 Vgl. Irmela Schneider: »Ein Weg zur Alltäglichkeit. Spielfilme im Fernsehprogramm«. In: Helmut Kreuzer/Christian W. Thomsen (Hrsg.): Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutsch-

land. Bd. 2. München 1994, S. 227–302, hier: S. 238–241; vgl. Hickethier 1989, S. 302; vgl. Ano-

nymus: »Fernseh-Bannstrahlen«. In: Der Spiegel, 1 (13), 1959, S. 54.

31 Fischer 1957, S. 156.

32 Eberhard Beckmann: »Buch — Funk — Fernsehen«. In: Rufer und Hörer, (8), 1953/54, S. 504–513,

hier: S. 508.

146 Jens Ruchatz

Medien anzustreben sei. Ein solches letztlich konkurrenzfreies Nebeneinander der

Medien setzt voraus, dass sich diese auf ihre Spezifika konzentrieren. So müsse sich

das Theater, argumentiert der Theaterwissenschaftler Hans Knudsen, nur geringe

Sorgen um die mögliche Konkurrenz »theaternaher oder theaterähnlicher Aus-

drucksformen« machen, wenn es nur seine Stärken hinreichend zur Geltung bringe:

So wie bei der Beurteilung des Verhältnisses von Theater und Film das Verderbliche und Un-

fruchtbare einer Erörterung darin lag, daß man die Eigengesetzlichkeit jeder der beiden Ausdrucks-formen viel zu wenig beachtete oder sehen wollte, so wie damals die Entscheidung nicht lauten

durfte: entweder Theater oder Film, sondern nur: beides, aber jedes nach den eigenen Notwendig-

keiten und Möglichkeiten — genauso wird aller Voraussicht nach die ›Konkurrenz‹ zwischen

Theater und Fernsehen dahin führen, daß beide Erscheinungen sich ganz betont, erkennend, verläß-

lich auf die abgegrenzten Gestaltungsmöglichkeiten werden besinnen müssen.33

Das Parasitäre, etwa der ausgiebige Einsatz von Spielfilmen im Fernsehen, erweist

sich in dieser Perspektive als doppeltes Problem: Wenn ein Medium im legitimen

Terrain eines anderen wildert, behindert es zugleich die Ausbildung seiner eigenen

Spezifik. Daher sei es verfehlt, so der Fernsehtheoretiker Gerhard Eckert im filmfo-

rum, den Spielfilm zum Kern des Fernsehprogramms zu machen:

Stilistische Unterschiede feststellen, heißt ja nicht etwa, nur das Fernsehen in den Vordergrund stellen, sondern zugleich auch die Autonomie des Films betonen. Und gerade die stilistische Wesensver-

schiedenheit beider Mittel ist letzten Endes die sicherste Garantie für ein fruchtbares Nebeneinander

beider Möglichkeiten, die Menschen zu erfreuen, zu unterhalten, zu bilden und zu informieren.34

Die Feststellung von Konkurrenzsituationen gibt in diesem Sinn den Anstoß zu

medienvergleichenden Diskursen, die kontrastiv die Besonderheiten des jeweiligen

Mediums konstruieren. Vermutlich weil die Konkurrenz hier am deutlichsten her-

vortrat, wurde Fernsehen am häufigsten und elaboriertesten in Abgrenzung zum

Film definiert. Grundsätzlich herrscht Einigkeit über den unüberwindlichen Unter-

schied der Medien. »Es erscheint schon mehr als überflüssig,« behauptet der Päda-

gogikprofessor und künftige ZDF-Intendant Karl Holzamer 1957, »die Verschie-

denartigkeit von Film und Fernsehen, bei aller Verwandtschaft der Mittel und ob-

wohl im Fernsehen die Filmübertragung selber eine große Rolle spielen kann, her-

vorzuheben. Das Fernsehen ist kein Heimkino [...].«35 In Kontrast zum Film ergeben

sich drei Definitoren des Fernsehens: das relativ kleine Bildformat, die Situierung

des Empfängers im Privatbereich sowie der Live-Charakter. Die wesentlichen, die

––––––––––– 33 Hans Knudsen: »Ist Fernsehen eine Gefahr für das Theater?« In: Rundfunk und Fernsehen, 2 (1),

1953, S. 57f., hier: S. 58.

34 Gerhard Eckert: »Moderne Rivalen: Film und Fernsehen — Gegensätze?« In: filmforum, 4 (1), 1952,

o.S. Vgl. auch Fischer 1957, S. 154: »Denn diese Auseinandersetzung ist eine Verfahrensfrage, die ihren Stil und ihr Temperament in den technischen Modalitäten ausdrückt, die für den Film wie

aber auch für das Fernsehen, verbindlich sind. Der Film muß Film bleiben, wie das Fernsehen

Fernsehen bleiben muß, selbst wenn es die Filmaufzeichnung zum Kernstück des Programms

erhebt.«

35 Karl Holzamer: »Ein Optimum, nicht ein Maximum des Schaubaren. Fernsehen und Film im

Vergleich.« In: Rundfunk und Fernsehen, 2/3 (5), 1957, S. 131–135, hier: S. 131.

147 Konkurrenzen — Vergleiche

unveränderlichen Kennzeichen des Mediums werden also an seiner Technik und

dem durch sie aufgespannten dispositiven Arrangement festgemacht. Die entschei-

dende Frage ist allerdings, was diese Merkmale für die Funktion des Mediums

besagen.

Alle drei Kennzeichen werden insgesamt als Beleg für die größere Intimität und

Menschlichkeit des Fernsehens angesehen. Seine technisch-dispositiven Eigen-

schaften machen das Fernsehen zur Schnittstelle von Privatsphäre und Öffentlich-

keit:

Die Wirklichkeit in der Reportage oder in der bildhaft-künstlerischen Verdichtung dringt durch die-

ses Medium in unsere Intimsphäre ein und verbindet diese, ohne sie ihres Intimcharakters zu ent-kleiden, mit der großen und kleinen, mit der äußeren und innerlichen Welt jenseits unseres Bewußt-

seins oder des Familienhorizontes. Der Horizont bleibt aber gewahrt.36

Holzamers Deutung zufolge passt sich das Fernsehen dem menschlichen Maß an,

geht auf den Familienmenschen zu, um ihn mit der Welt zu versöhnen. Eine solche

Wirkung kann das Kino, selbst wenn es sich darum bemühte, nicht erzielen:

Wir kaufen uns eine Eintrittskarte und suchen ein Lichtspieltheater auf, in dem das Bildgeschehen uns in einer anonymen Besucherschar begegnet. Das das menschliche Maß bis zur modernen

Breitwand überdimensionierende Bild rückt völlig aus der Intimität heraus, auch wenn inhaltlich

ein sehr privater und intimer Vorgang gezeigt wird. Obgleich uns etwa mit den modernsten techni-schen Mitteln die Distanz zum dem bewegten Bild vor und neben uns genommen wird und wir in

der ›raffiniertesten‹ Weise in den Raum des Geschehens ganz realistisch einbezogen werden kön-

nen, bleibt die ganz persönliche Begegnung — wie beim Fernsehempfang — vorenthalten [...].37

Die Verteidiger des Fernsehens vertreten eine humanistische Interpretation der Me-

dientechnik. Als privates ›Fenster zur Welt‹ wird ihnen das Fernsehen zum Ort, wo

Menschen, so etwa der Generaldirektor des NWDR Adolf Grimme, »Freud und

Leid der anderen« miterleben können. »Denn durch diese Zauberschale wird die

Ferne zur Nähe werden, und der Raum zwischen fremden Ländern wird wie aufge-

hoben sein. Das Schicksal der Anderen wird künftig mitten in unserer eigenen Stu-

be stehen, und das Fernsehen kann so aus dem Entfernten unseren Nächsten ma-

chen.«38 Indem die private Rezeptionssituation fokussiert und zum Kino kontrastiert

wird, stilisiert man das Fernsehen zu einem Medium, das — seiner kommunikati-

ven Struktur zum Trotz — nicht wie ein Massenmedium wirkt, sondern den einzel-

nen Zuschauer persönlich adressiert. So wird es Grimme möglich, im Fernsehen gar

ein »Instrument zur Überwindung der Vermassung«39 zu sehen. Und Holzamer

––––––––––– 36 Holzamer 1957, S. 131.

37 Holzamer 1957, S. 131–132.

38 Adolf Grimme anno 1955, zit. nach Monika Elsner/Thomas Müller/Peter M. Spangenberg: »Zur Entstehung des Dispositivs Fernsehen in der Bundesrepublik Deutschland der fünfziger Jahre«. In:

Helmut Kreuzer/Christian W. Thomsen: (Hrsg.): Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik

Deutschland. Bd. 1. München 1994, S. 31–66, hier: S. 42.

39 Adolf Grimme anno 1953, zit. nach Elsner/Müller/Spangenberg 1994, S. 42. Derselbe Sachverhalt

konnte — unter Beibehaltung der üblichen Differenzierung von Fernsehen und Kino — auch ent-

gegengesetzt bewertet werden. Die Zersplitterung des Publikumskollektivs in isoliert konsumieren-

148 Jens Ruchatz

pflichtet bei, dass — im Gegensatz zum Massenmedium Kino — »die Fernsehver-

breitung und ihr Empfang von Informations- und Unterhaltungsgütern aller Art

auch bei einer Millionenschar von Zuschauern ein vorwiegend individuelles oder

gruppenhaft ansprechendes Medium ist (bzw. sein sollte).«40

Der verräterische Nachsatz, in dem eine Ist-Beschreibung zu einer Soll-

Vorschrift mutiert, verdeutlicht das Problem der essentialistischen Konstruktion, die

aus scheinbar stabilen, technischen Eigenheiten Wesen, Wirkung und Funktion des

Mediums ableitet. Um Eindeutigkeit zu erzielen, ist es dabei einerseits erforderlich,

die Technik zu purifizieren und tautologisch auf eine bestimmte Form festzuschrei-

ben, die dann wiederum der Wesensbestimmung zugrundegelegt wird. So unter-

scheidet Holzamer den »eigentlichen Standort« des Fernsehers im Privatraum von

dem ›uneigentlichen‹ in Gaststätten und an anderen öffentlichen Orten. Bei dem

postulierten Gegensatz von Fernseh- und Filmdistribution handele es sich um eine

»prinzipielle Grenze [...], an deren Respektierung dem Filmschaffen wie der Fern-

seh-Programmgestaltung im Interesse des ›Konsumenten‹ wie auch im Interesse des

je eigenständigen Formstils gelegen sein sollte«. 41 Andererseits soll also diese Spe-

zifik auch in die einzelnen medialen Texte eingeschrieben werden, die dann ihrer-

seits die postulierte Mediendifferenz stützen. Das Paradox der Medienspezifika ist,

dass sie nicht einfach gegeben sind, sondern dass sie im Schritt von der Deskription

zur Präskription in die Produktionsabläufe eingeführt werden müssen, um wirksam

zu werden und die Medien ästhetisch wie funktional zu differenzieren. Das ästheti-

sche ›Gesetz‹ des Fernsehens ist damit — wie bei allen anderen Medien auch — ein

zugleich im Material vorgefundenes wie ihm vorgeschriebenes.

Am deutlichsten tritt das prekäre Verhältnis von technischem Wesen und nor-

mativer Programmierung in der Fernsehspieldebatte hervor. Als die fernsehspezifi-

sche Kunstform war das Fernsehspiel Fokus der medialen Spezifik und damit ein

Prestigeobjekt von Fernsehtheorie und –praxis gleichermaßen. Gerhard Eckert,

schon zu Zeiten des nationalsozialistischen Fernsehens Theoretiker des Live-

Mediums, unterschied das Fernsehspiel differenzästhetisch vom Theater durch die

Einblendung von Filmsequenzen während der Umbaupausen, vom Film hingegen

durch den theaterähnlichen Ereignischarakter der Live-Aufführung, der überdies

eine kontinuierliche Produktion erforderte.42 Gegenüber dem Spielfilm garantierte

die Live-Form nicht nur die scheinbar unmittelbare Teilhabe des Publikums am

Gesendeten, sondern sorgte überdies für ein behäbigeres Tempo und unterwarf die

Darsteller nicht dem technischen Kunstgriff der Montage, die aus Fragmenten erst

nachträglich eine artifizielle Einheit synthetisiert. Auch hier konnte das Fernsehen

–––––––––– de »Massen-Eremiten« stellte für Günther Anders nicht eine Gegenbewegung, sondern das »Ideal«

der medialen Produktion von Massenmenschen dar; vgl. Günther Anders: »Die Welt als Phantom

und Matrize«. In: ders.: Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München 1956, S. 97–211, hier: S. 101–104.

40 Holzamer 1957, S. 132.

41 Holzamer 1957, S. 132.

42 Vgl. Irmela Schneider: »Das Fernsehspiel. Wie es war, ist und sein könnte«. In: Helmut Kreu-

zer/Karl Prümm (Hrsg.): Fernsehsendungen und ihre Formen. Typologie, Geschichte und Kritik

des Programms in der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart 1979, S. 25–52, hier: S. 26.

149 Konkurrenzen — Vergleiche

als Hüter des Menschlichen gepriesen werden: »Jeder Versuch das Fernsehspiel

zum Film hin zu entwickeln, hieße ein menschliches Verhältnis in eine maschinelle

Beziehungslosigkeit zu verändern und damit die Substanz der Fernsehkunst anzu-

greifen. Hierfür liefert das Fernsehspiel gerade den Beweis.«43 Während die Fern-

sehtheoretiker das Live-Spiel zum Aufhänger ihrer Differenzästhetik machten,

beklagten sich Fernsehspielpraktiker wie Hans Gottschalk über die praxisfeindliche

›Live-Ideologie‹, die eine technische Unzulänglichkeit zum Wesen des Fernsehens

verklärte und die Analogie zum Bewegungsbild des Films unzulässig kappte. Als

Ersatz für den Live-Charakter hatte man sich allerdings ein nicht weniger humanis-

tisch aufgeladenes Merkmal als Wesenszug des Fernsehens ausgeguckt. Durch die

Größe des Bildschirms hielt man das Fernsehen für besonders auf das menschliche

Gesicht, das »beredteste unter allen Dingen«, verpflichtet: »Und da vorerst noch

(und wahrscheinlich auch weiterhin) die Höhe des Fernseh-Bildschirms der Höhe

des Gesichts entspricht, wird die Großaufnahme, die in der gigantischen Vergröße-

rung auf der Filmleinwand immer ein falsches Pathos besitzt, sozusagen die natürli-

che Grundeinstellung des Fernsehens sein.«44 Die Fernsehentwicklung holte freilich

sämtliche Spekulationen über die für das Fernsehen geeignete Spielform ein. Nicht

nur als Speichermedium für Fernsehserien und Fernsehspiele, sondern auch in der

steigenden Anzahl ausgestrahlter Kinofilme integrierte das Fernsehen sein Diffe-

renzmedium.45

Neben der Schwierigkeit, Medienspezifik in Medienprogramme umzusetzen,

krankt die differenzielle Bestimmung von Medien noch an einem fundamentaleren

Problem. Was sich vor der Folie des Films als unveräußerlicher Wesenszug des

Fernsehens präsentierte, zerfällt umgehend bei anders gewählten Vergleichsrelatio-

nen. Im Vergleich zum Theater wird die vielgepriesene Unmittelbarkeit und

Menschlichkeit des Mediums relativ. Das Theater wird in Zeiten der Medienkon-

kurrenz zunehmend zu einem Bezugspunkt jenseits der Massenmedien stilisiert,

indem man die Interaktion zwischen Bühne und Zuschauerraum in den Vorder-

grund stellt und die unmittelbare Begegnung von Darstellern und Publikum hypo-

––––––––––– 43 Gerhard Eckert, zit. nach Hickethier 1989, S. 295. Für einen Überblick zur Debatte über den Live-

Charakter des Fernsehens vgl. Hickethier 1989, S. 293–298; vgl. Knut Hickethier: Das Fernseh-

spiel in der Bundesrepublik. Themen , Form, Struktur, Theorie und Geschichte 1951–1977. Stutt-

gart 1980, S. 39–45. 44 Heinz Schwitzke: »Wort und Bild in der Gefahr der Abstraktion«. In: epd/Kirche und Fernsehen,

20 (8), 1956, S. 1f. Vgl. auch Schneider 1979, S. 26. Vgl. auch Anonymus: »Muss das Fernsehspiel

›Kammerspiel‹ sein«. In: epd/Kirche und Fernsehen, 15 (10), 1958, S. 1f. Dieser Artikel vertritt die außergewöhnliche Position, dass jede ästhetische Bindung des Fernsehspiels eine »Flucht aus der

Vielfalt der Möglichkeiten vornehme. Die Kammerspielthese würde doch bedeuten, dass man sich

von der technischen Gegebenheit her einen Stil aufpressen ließe.« 45 Vgl. Schneider 1994. Bereits in den 50er Jahren hatte Artur Müller gemahnt, dass das Fernsehen

»auf den künstlerisch gestalteten Spielfilm nicht verzichten [darf], denn er entspricht, ganz anders

als das Theater, aus seinen optischen Gesetzen heraus dem Fernsehen völlig und ist darum einer der

legalsten Programmbestandteile für alle Zukunft.« Die theoretischen und praktischen Anstrengun-

gen zur Fernsehspezifik sind für Müller das Resultat des anhaltenden Filmmangels; vgl. Artur Mül-

ler: »Fernsehen und Film«. In: Rundfunk und Fernsehen, 2/3 (5), 1957, S. 122–130, hier: S. 126.

150 Jens Ruchatz

stasiert. So erscheint das Theater als Residuum einer archaischen, noch unmediati-

sierten Stufe von Kommunikation und Gemeinschaft.

Die von der Theaterszene ausströmende Atmosphäre, die atmende Magie, eben das Erlebnis der

Körperlichkeit, durch die sich das Seelische offenbart, der geheimnisvolle Zusammenhang zwi-schen Zuschauer und Darsteller infolge der unabwägbaren Gefühlsschwingungen hinüber und her-

über fallen völlig weg. Mögen die Figuren im Theater erdichtet sein, sie künden trotzdem in

menschlicher Körperlichkeit pulsierendes Leben in all seinen schicksalhaften Kämpfen und Ver-strickungen und geben dem Zuschauer somit ein Stück eigenes Leben, eigener Alltäglichkeit und

Gegenwartsnöte, denen er entweder mit freudigem Beifall seine Zustimmung gibt oder seine un-

mißverständliche Ablehnung bekundet.46

Die Bildmedien können dagegen nur einen begrenzten Ausschnitt solcher Ereignis-

se einfangen. Nur was nach Maßgabe der Medientechnik erfassbar ist, lässt sich

reproduzieren und distribuieren. So ist im Fernsehen auch die Synchronie von Pro-

duktion und Rezeption lediglich behauptet und zeichenhaft. Ohne entsprechende

Markierung können die Zuschauer vor den Bildschirmen nicht unterscheiden, ob

das eben Gezeigte unmittelbar übertragen, wenige Minuten oder sogar mehrere

Jahre vergangen ist. Und damit ist das Fernsehen — verglichen mit der unhinter-

gehbaren Präsenz des Theaters — dem Film verwandter als den Live-Theoretikern

lieb sein kann.47

Gleichermaßen relativiert sich im Vergleich zum Rundfunk die Intimität des

Fernsehens. Die in die Wohnstuben gesendeten Bilder können, so scheint es vor

dem Hintergrund des Hörfunks, als aufdringlich erfahren werden, so dass mancher

»in unwillkürlicher Abwehr gegen die fortschreitende Verflachung und Veräußerli-

chung oft in einem Anflug von Besinnlichkeit und inneren Sammlungsbedürfnis ein

Hörspiel einstellen und seinem beschwörenden Wort danken«48 wird. Wo das tele-

visuelle ›Fenster zur Welt‹ die ganze Familie versammelt, respektiert das Radio die

Intimität des Einzelnen. »Demgegenüber kennt man die Neigung der Mitglieder

zahlreicher Familien, möglichst in jedem echten Privatzimmer, wohin sich der ein-

zelne zurückziehen kann, das eigene Rundfunkgerät zu haben, — gerade als sollte

der Dialog mit dem Anonymen, mit den Klängen der Welt in intimere Schauplätze

verlegt werden.« Das Fernsehen, zumal seine Programme aus den öffentlichen

Medien Film und Theater schöpfen, widerstrebe hingegen einer solchen Privatisie-

rung: »es ist zu aufdringlich, als daß es nicht unversehens als Bühne des gemeinsa-

men Wohnraums die Mitglieder zusammenbringen und –locken sollte.«49 Diese von

Hans Joachim Lange eingebrachte Abgrenzung der Sphären von Rundfunk und

––––––––––– 46 Peter Bauer: »Ist der Rundfunk der Prolog des Fernsehens?« In: Rufer und Hörer, (5), 1950/51,

S. 492–494, hier: S. 493. Nicht weniger pathetisch über das Theater als Ort unmittelbarer Gemein-

schaftserfahrung Müller 1957, S. 123. 47 René Drommert: »Dem Theater oder dem Film näher? Eine Betrachtung zur Theorie des Fernse-

hens«. In: Rundfunk und Fernsehen, 3 (4), 1956, S. 240–247.

48 Bauer 1950/51, S. 494. Vgl. auch Edgar Stern-Rubarth: »Fernsehen kontra Rundfunk. Eine Laien-

betrachtung«. In: Rundfunk und Fernsehen, 4 (4), 1956, S. 377–386, der die Dezenz des Rundfunks

von der Aufdringlichkeit des Bildmediums abgrenzt.

49 Lange 1956, S. 349.

151 Konkurrenzen — Vergleiche

Fernsehen lässt überkommene bildkritische Überlegungen einfließen: Während die

Oberflächlichkeit des Bildes der Austauschplatz der Massen ist, die den Einzelnen

unweigerlich ins Kollektiv bindet, bietet der geheimnisvolle Klang — vor allem

anderen die Stimme — eine Rückzugssphäre, in der sich die einzelnen Glieder der

Massengesellschaft noch als Individuen erleben können.50

Auf welcher Seite der Unterscheidungen privat/öffentlich und unmittelbar/ver-

mittelt das Fernsehen auftaucht, hängt folglich davon ab, durch welchen Medien-

vergleich diese Unterscheidung konkretisiert wird. Je nach Vergleichsgröße taucht

das Fernsehen auf der einen oder der anderen Seite dieser Unterscheidungen auf.

Wesensbestimmungen von Medien sind in dieser Hinsicht nicht nur instabile, son-

dern auch äußerliche Konstruktionen: Die Spezifik eines Mediums wird nicht ge-

funden, sondern erfunden. Welche Züge eines Mediums, die potenziell in seine

Definition einfließen könnten, ausgewählt, welche abgeblendet werden und wie

sich diese zu einer Wesensbestimmung fügen lassen, unterliegt der diskursiven

Konstruktion. Insofern die jeweils zugrunde gelegten Vergleichskriterien auf ganz

verschiedenen Ebenen liegen können, fällt das Feld der Medien entsprechend hete-

rogen aus. So reiht etwa Lange das Fernsehen »in die Reihe der Kulturinstrumente

und -institute ein, denen sich das neue Medium von Anfang an zugehörig, verwandt

oder abhängig gefühlt hat: zu Film, Rundfunk, Theater, aber auch zu den Büchern,

der Musik und der Zeitung.«51 Nicht alle als Vergleichsgrößen des Fernsehens ge-

wählten »Kulturinstrumente« lassen sich freilich unter derselben Perspektive den

Medien zuschlagen: Mal handelt es sich bei der Vergleichsebene um die technische

Distribution, mal um die künstlerischen Mittel, ein andermal um die Bereitstellung

von Information.

Die zur Definition eines jeweiligen Mediums zugrundegelegten Vergleichs-

punkte sind allerdings nicht frei wählbar. So wie in den 50er Jahren der Vergleich

mit dem Film fokussiert wird, um das Fernsehen zu fassen, so werden in Abhängig-

keit vom sozialen Umfeld stets einige Beziehungen unter den verschiedenen mögli-

chen bevorzugt. Gegenüber dem klassischen Massenmedium Kino, das sein Publi-

kum einem illusionistischen Bild unterwirft, scheint es der Fiktion eines Massen-

mediums zu bedürfen, das nicht als solches funktioniert, sondern die persönliche

menschliche Begegnung ermöglicht. Dieses diskursiv konstruierte Fernsehen ver-

spricht beispielsweise der neuen demokratischen Gesellschaft ihre Anonymität zu

nehmen, indem es bei der Übertragung von Parlamentsdebatten die Volksvertreter

bei ihrer Arbeit auch als Menschen nahe bringt.52 Das aus »in Millionen Zimmer

verteilte[n] Einzelwesen« zusammengesetzte Publikum dieses Mediums schildert

Artur Müller mit freundlichem Spott: »Aus dem Theater oder dem Kino kann man

sich die Menschen zu Taten oder Untaten aufbrechend vorstellen. Vom Fernseh-

schirm führt der Weg ins Bett und — wenn es hoch kommt — am nächsten Tag zu

––––––––––– 50 Vgl. Lange 1956, S. 349; Fischer 1956, S. 365; von Meyenn 1955, S. 2.

51 Lange 1956, S. 346–347.

52 Vgl. Elsner/Müller/Spangenberg 1994, S. 43f.

152 Jens Ruchatz

einer lauwarmen Diskussion, die bald versiegt.«53 Weil in der jüngsten deutschen

Geschichte sich aber gerade die inhumanen ›Untaten‹ aufdrängten, war ein eher

besänftigendes als aufpeitschendes — ein im McLuhanschen Sinne ›kaltes‹ —

Medium als gesellschaftliches Forum überaus erwünscht.54 Diese nach sozialer

Harmonie strebende Grundhaltung äußert sich auch in der verbreiteten Idealvorstel-

lung eines Medienverbundes, in dem — anders als in den radikalkapitalistischen

USA — die einzelnen Medien bar der Konkurrenz zum Allgemeinwohl beitragen.

In ihrer Einheit in der Vielheit stellt diese Gemeinschaft der Medien geradezu ein

Gesellschaftsmodell dar — ein Motiv, das die Utopie der Medien mit einer Utopie

der Gesellschaft kurzschließt.

Literatur

Anders, Günther: »Die Welt als Phantom und Matrize«. In: ders.: Die Antiquiertheit des Menschen. Bd.

1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München 1956, S. 97–211. Anonymus: »Kuppelei in großem Stil«. In: Der Spiegel, 26 (5), 1951, S. 33.

—: »Der Kampf beginnt«. In: Der Spiegel, 1 (7), 1953, S. 32.

—: »Borsche frei Haus«. In Der Spiegel, 4 (7), 1953, S. 29. —: »Das Fernseh-Kino«. In: Der Spiegel, 1 (12), 1958, S. 40f.

—: »Musik für die Küche«. In: Der Spiegel, 26 (12), 1958, S. 52.

—: »Das Kino-Sterben«. In: Der Spiegel, 48 (12), 1958, S. 76–78 —: »Fernseh-Bannstrahlen«. In: Der Spiegel, 1 (13), 1959, S. 54.

—: »Das Heimkino«. In: Der Spiegel, 30 (14), 1960, S. 58f.

—: »Muss das Fernsehspiel ›Kammerspiel‹ sein«. In: epd/Kirche und Fernsehen, 15 (10), 1958, S. 1f. Bauer, Peter: »Ist der Rundfunk der Prolog des Fernsehens?« In: Rufer und Hörer, (5), 1950/51, S. 492–

494. Beckmann, Eberhard: »Buch — Funk — Fernsehen«. In: Rufer und Hörer, (8), 1953/54, S. 504–513.

Drommert, René: »Dem Theater oder dem Film näher? Eine Betrachtung zur Theorie des Fernsehens«.

In: Rundfunk und Fernsehen, 3 (4), 1956, S. 240–247. Eckert, Gerhard: »Moderne Rivalen: Film und Fernsehen — Gegensätze?« In: filmforum, 4 (1), 1952, o.S.

Elsner, Monika/Thomas Müller/Peter M. Spangenberg: »Zur Entstehung des Dispositivs Fernsehen in

der Bundesrepublik Deutschland der fünfziger Jahre«. In: Helmut Kreuzer/Christian W. Thomsen: (Hrsg.): Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland. Bd. 1. München 1994,

S. 31–66.

Fischer, E. K.: »Rundfunk im Schatten des Fernsehens«. In: Rundfunk und Fernsehen, 4 (4), 1956, S. 361–367.

Fischer, Kurt Joachim: »Die feindlichen Geschwister«. In: Rundfunk und Fernsehen, 2/3 (5), 1957,

S. 153–156. Hebecker, Klaus: »Zwischen Kultur und Geschäft«. In: Rundfunk und Fernsehen, 3 (4), 1956, S. 261–268.

Hickethier, Knut: Das Fernsehspiel in der Bundesrepublik. Themen , Form, Struktur, Theorie und Ge-

schichte 1951–1977. Stuttgart 1980. —: »Vom Ende des Kinos und vom Anfang des Fernsehens. Das Verhältnis von Film und Fernsehen in

den fünfziger Jahren«. In: Hilmar Hoffmann/Walter Schobert (Hrsg.): Zwischen Gestern und Mor-

gen. Westdeutscher Nachkriegsfilm 1946–1962. Ausstellungskatalog Deutsches Filmmuseum Frankfurt. Frankfurt/M. 1989, S. 282–315.

Holzamer, Karl: »Ein Optimum, nicht ein Maximum des Schaubaren. Fernsehen und Film im Ver-

gleich.« In: Rundfunk und Fernsehen, 2/3 (5), 1957, S. 131–135.

––––––––––– 53 Müller 1957, S. 124

54 Zur Unterscheidung von heißen und kalten Medien vgl. McLuhan [1964] 1994, S. 44–61.

153 Konkurrenzen — Vergleiche

Knudsen, Hans: »Ist Fernsehen eine Gefahr für das Theater?« In: Rundfunk und Fernsehen, 2 (1), 1953,

S. 57f. Lange, Hans Joachim: »Rundfunk und Fernsehen. Vorrang oder Gleichberechtigung«. In: Rundfunk und

Fernsehen, 4 (4), 1956, S. 346–351.

Leiling, O.H.: Funk. Ein neues Weltreich. München 1959. Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien. Opladen 1996.

—: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1997.

McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle. Understanding Media. Dresden/Basel [1964] 1994. Meyenn, Hans-Werner von: »Verdrängt das Fernsehen den Rundfunk?« In: epd/Kirche und Fernsehen, 6

(7), 1955, S. 1–3.

Möller, Jürgen: »Das Fernsehen und seine Beziehungen zu Presse, Rundfunk und Film. Versuch eines Vergleichs.« In: Rundfunk und Fernsehen, 3 (4), 1956, S. 225–232.

Müller, Artur: »Fernsehen und Film«. In: Rundfunk und Fernsehen, 2/3 (5), 1957, S. 122–130.

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Braunschweig/Wiesbaden 1996.

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[in: Irmela Schneider/Peter Spangenberg (Hg.), Medienkultur der

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Opladen: Westdeutscher Verlag 2002, S. 137-153.]