Die Personzentrierte Systemtheorie in der Beratung

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MS-Version, Text erschien 2012/13 in Gahleitner, S. et al (Hg.): Personzentriert beraten: alles Rogers?. Theoretische und praktische Weiterentwicklungen. Weinheim: Beltz Juventa, S. 99 - 130 Die Personzentrierte Systemtheorie in der Beratung Jürgen Kriz, Osnabrück Einführung: Die Grundfragen der Personzentrierten Systemtheorie Die Personzentrierte Systemtheorie hat sich in den letzten 25 Jahren aus dem Bedürfnis heraus entwickelt, auf schlichte und einfache Fragen im Rahmen von Beratung, Psychotherapie und Coaching Antworten geben zu können, welche den Autor inhaltlich wie theoretisch befriedigen, weil sie den zentralen Phänomenen gerecht werden (Kriz 1991, 2004a, 2010). Beginnen wir mit drei fiktiven aber prototypischen Vignetten, wie sie typischerweise in einer Beratungsstelle zu finden sind: A) Bettina, 7, wird von ihrer Mutter in der Beratungsstelle vorgestellt: Bettina geht seit drei Monaten zur Schule. Sie fühlt sich zunehmend unwohl und fängt inzwischen schon auf dem Schulweg, auf dem sie von ihrer Mutter begleitet wird, an zu zittern – und zwar so stark, dass die Mutter mit ihr gelegentlich umkehren muss. B) Ein Elternpaar kommt mit ihrem Sohn, Kurt, 12. Grund ist, nach Aussage des Vaters die Verhaltensstörung von Kurt. Dauernd stellt er irgendetwas an, ärgert permanent seine Schwester (9), und auch der Klassenlehrer beschwert sich, dass Kurt als „Klassenclown“ zunehmend auffalle. C) Anna, eine 28-jährige Frau, kommt in die Beratung wegen ihres „burn out“. Vielleicht sei sie ja auch depressiv, meint sie – allerdings kein Fall für eine Therapie: Allein schon, weil sie befürchten müsse, dass sie dann mit einem hohen Risikozuschlag bei der privaten Rentenversicherung zur Kasse gebeten zu werden. Eine ebenso schlichte wie grundlegende Frage ist: Weshalb kommen diese Menschen in die Beratung und was können wir als Berater für sie tun? Darauf haben natürlich die unterschiedlichen Richtungen – die man jeweils grob zu vier Gruppen zusammenfassen könnte: der psychodynamische, der verhaltenstherapeutische, der humanistische und der systemische Ansatz – unterschiedlich zentrierte Antworten (Kriz 2007). Und zwar sowohl hinsichtlich des Verständnisses der jeweiligen Ursachen als auch in der Art der konkreten Vorgehensweisen zur Behandlung bzw. Beratung. Wobei Beratung gegenüber der Psychotherapie in Deutschland den Vorteil hat, dass sie nicht so stark durch fachfremde Kräfte reglementiert ist, und daher beispielsweise Konzepte aus unterschiedlichen Ansätzen sowohl in der Ausbildung als auch in der Praxis integrieren kann. Personzentrierte Berater, die dem humanistischen Cluster zuzuordnen sind, würden beispielsweise zentral darauf schauen, wo zwischen dem Erleben und den Bedürfnissen des Organismus und dem Selbstbild der zu Beratenden größere Inkongruenzen bestehen. Dies könnte – als jeweils ein Aspekt, und sehr verkürzt skizziert – bei Bettina das Bedürfnis sein, noch umsorgt und behütet zu werden aber gleichzeitig den Muttern darin gefallen zu wollen,

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MS-Version, Text erschien 2012/13 in Gahleitner, S. et al (Hg.): Personzentriert beraten: alles Rogers?. Theoretische und praktische Weiterentwicklungen. Weinheim: Beltz Juventa, S. 99 - 130

Die Personzentrierte Systemtheorie in der BeratungJürgen Kriz, Osnabrück

Einführung: Die Grundfragen der Personzentrierten SystemtheorieDie Personzentrierte Systemtheorie hat sich in den letzten 25 Jahren aus dem Bedürfnis heraus entwickelt, auf schlichte und einfache Fragen im Rahmen von Beratung, Psychotherapie und Coaching Antworten geben zu können, welche den Autor inhaltlich wie theoretisch befriedigen, weil sie den zentralen Phänomenen gerecht werden (Kriz 1991, 2004a, 2010).

Beginnen wir mit drei fiktiven aber prototypischen Vignetten, wie sie typischerweise in einer Beratungsstelle zu finden sind:

A) Bettina, 7, wird von ihrer Mutter in der Beratungsstelle vorgestellt: Bettina geht seit drei Monaten zur Schule. Sie fühlt sich zunehmend unwohl und fängt inzwischen schon auf dem Schulweg, auf dem sie von ihrer Mutter begleitet wird, an zu zittern – und zwar so stark, dass die Mutter mit ihr gelegentlich umkehren muss.

B) Ein Elternpaar kommt mit ihrem Sohn, Kurt, 12. Grund ist, nach Aussage des Vaters die Verhaltensstörung von Kurt. Dauernd stellt er irgendetwas an, ärgert permanent seine Schwester (9), und auch der Klassenlehrer beschwert sich, dass Kurt als „Klassenclown“ zunehmend auffalle.

C) Anna, eine 28-jährige Frau, kommt in die Beratung wegen ihres „burn out“. Vielleicht sei sie ja auch depressiv, meint sie – allerdings kein Fall für eine Therapie: Allein schon, weil sie befürchten müsse, dass sie dann mit einem hohen Risikozuschlag bei der privaten Rentenversicherung zur Kasse gebeten zu werden.

Eine ebenso schlichte wie grundlegende Frage ist: Weshalb kommen diese Menschen in die Beratung und was können wir als Berater für sie tun?

Darauf haben natürlich die unterschiedlichen Richtungen – die man jeweils grob zu vier Gruppen zusammenfassen könnte: der psychodynamische, der verhaltenstherapeutische, der humanistische und der systemische Ansatz – unterschiedlich zentrierte Antworten (Kriz2007). Und zwar sowohl hinsichtlich des Verständnisses der jeweiligen Ursachen als auch in der Art der konkreten Vorgehensweisen zur Behandlung bzw. Beratung. Wobei Beratung gegenüber der Psychotherapie in Deutschland den Vorteil hat, dass sie nicht so stark durch fachfremde Kräfte reglementiert ist, und daher beispielsweise Konzepte aus unterschiedlichen Ansätzen sowohl in der Ausbildung als auch in der Praxis integrieren kann.

Personzentrierte Berater, die dem humanistischen Cluster zuzuordnen sind, würden beispielsweise zentral darauf schauen, wo zwischen dem Erleben und den Bedürfnissen des Organismus und dem Selbstbild der zu Beratenden größere Inkongruenzen bestehen. Dies könnte – als jeweils ein Aspekt, und sehr verkürzt skizziert – bei Bettina das Bedürfnis sein, noch umsorgt und behütet zu werden aber gleichzeitig den Muttern darin gefallen zu wollen,

schon ein großes Mädchen zu sein, das autonom zur Schule geht, und „die Zähne zusammenbeißen“ kann, um mit dem Problem fertig zu werden. Bei Kurt könnte es der Wunsch nach Aufmerksamkeit sein, und die Idee, etwas Besonderes sein zu wollen, ohne die entsprechenden Leistungen bringen zu wollen oder zu können. Und bei Anna könnte es vor allem die Leid-idee sein, nur dann gemocht zu werden, wenn sie sich im Beruf und auch sonst für andere aufopfert – egal wie ausgepowert sie selbst ist – und damit ihre immer stärker werdende Erschöpfung zu ignorieren oder zumindest herunterzuspielen.

In der detaillierten Arbeit würden sich dann ggf. jeweils weitere und differenziertere Aspekte ergeben. Und Personzentrierte Berater würden entsprechend den in diesem Buch vorgestellten Konzepten ihre helfenden Kompetenzen entfalten.

Das ist gut so. Doch wenn wir zur Frage zurückkehren, was die Menschen eigentlich in die Beratung führt, so ahnen wir, dass auch ganz andere Begründungen möglich wären, als nur auf die Person und ihre Inkongruenz zu schauen. Denn sowohl eine „Person“ hat sich nicht nur erst in sozialen Interaktionen aus einem zunächst rein agierenden und reagierenden Baby zu einer solchen entwickelt, sondern sie bleibt mit all ihren aktualisierten Strukturendes Wahrnehmens, Erlebens und Verhaltens stets auch in soziale Interaktionsstruktureneingebettet. Und diese können sowohl zur Veränderung unpassender personaler Lebensstrukturen beitragen als auch zu deren Stabilisierung.

Schauen wir nun aus dieser Perspektive auf die drei Vignetten, so könnte – wieder als jeweils nur ein Aspekt, und sehr verkürzt skizziert – bei Bettinas Problem stabilisierend wirken, dass die Mutter sie quasi belohnt, wenn sie umkehren muss, und sie sich der Herausforderung durch die Schule nicht zu stellen braucht. Bei Kurt könnte es sein, dass seine Auffälligkeiten oft Thema zwischen den Eltern sind – und er diese dann endlich gemeinsam erlebt, während diese sonst eher einen subtilen Ehekrieg führen und es gar Kurts Befürchtung ist, dass die Familie sonst auseinanderfällt. Ärger mit den Eltern für Kurt schlimm – aber immer noch deutlich entspannender, als Ärger zwischen den Eltern hilflos erleben zu müssen. Anna letztlich wird sicherlich von vielen anderen Menschen beachtet, gelobt und gemocht: nett, stets hilfsbereit, ohne große eigene Ansprüche – das ist für viele ein praktischer Mitmensch.

Wesentlich ist, dass man die eine Perspektive nicht gegen die andere ausspielen kann: Egal was sich noch an detaillierten Informationen ergeben würde: die Prozesse auf beiden Ebenen, der psychischen und der interaktionellen, spielen stets zusammen. Und selbst in der skizzenhaften Kürze der Vignetten wird deutlich, dass einer Veränderung der intrapersonalen Prozesse durch deren Stabilisierung seitens der interpersonalen erschwert wird. Das gilt auch umgekehrt: Auch wenn die Menschen um Anna sie nicht mehr lobend bekräftigen würden, können wir vermuten, dass sie sich nur noch umso mehr anstrengen würde, diese durch besondere Leistungen und Zuvorkommen gewinnen zu wollen: Denn das ist das einzige Muster, das sie kennt. Und das bisher so erfolgreich war, dass sie „kleine Rückschläge“ durchaus übersteht. Auch Kurt würde vielleicht nur noch mehr Energie in seine „Verhaltensstörung“ stecken, wenn die Aufmerksamkeit nachließe; und Bettina würde sich nun ohne die Mutter vermutlich gar nicht mehr auf den Schulweg begeben.

Bei einem solchen Verständnis miteinander verwobener Prozesse liegt es nahe, zumindest noch zwei weitere Prozessebenen mit zu berücksichtigen: Das eine sind die körperlichen Prozesse, das andere sind über die unmittelbaren Interaktionssysteme (Familie, aber auch Firma, Schule, Sportgruppe) hinausgehende Strukturen, die wir gemeinhin als Kultur bezeichnen wollen. Bettinas Zittern, Kurts Hyperaktivität und Annas völlige Abgeschlagenheit deuten ja schon die körperliche Ebene an. Neben somatischer

Vulnerabilität und Prädisposition haben sich biographische Erlebnisse eben auch allgemein im Körper niedergeschlagen. Und die Leid-Sätze von Anna sind nicht nur von ihr erstmalig erfunden, sondern spielen und unserer heutigen Leistungs- und Ausbeutungskultur eine Rolle, ebenso wie Kurts Bemühen, eher aufzufallen, statt sich unscheinbar einzupassen (wie es vielleicht in asiatischen Kulturen eine erfolgreichere Verhaltensweise wäre). Und die Sorge von Bettinas Mutter kann auch damit zu tun haben, dass bereits von ihren Eltern (also Bettinas Großeltern) vermittelt wurde, wie zentral es ist, sein Kind zu beschützen: Diese hatten nämlich in den Wirren des Krieges und der anschließenden Flucht zwei Kinder verloren und nur das dritte, Bettinas Mutter, konnten sie heil durchbringen. Insofern sind strukturelle Antworten auf die Herausforderungen von Kriegen, Verreibung, Nazi-Herrschaft etc. in den Überlebensgeschichten eines ganzen Kontinents (Europa) auf je eigene Weise in den Sinnstrukturen der Folgegenerationen verankert und beeinflussen die Lebensprozesse –z.B. durch Geschichten, Erziehungsprinzipien, Geboten und Verboten, Wertvorstellungen etc.

Allerdings, das ist genauso klar, sind wir ja alle mehr oder weniger durch solche Strukturen belastet (und profitieren auch von den positiven Folgen bzw. „Antworten“ auf diese Herausforderungen – etwa unsere besondere Sensibilität in Deutschland gegenüber faschistischen Strömungen, oder der materielle Reichtum, der sich aus der Überwindung der Kriegszerstörungen ergeben hat). Und wir kommen auch weitgehend damit klar – müssen also nicht alle dauernd in Beratungsstellen um Hilfe bitten. Es muss bei den Menschen, die um Beratung nachsuchen, somit noch etwas Besonderes hinzukommen.

Nennen wir ganz allgemein das, womit Menschen in die Beratung gehen, ein „Problem“ (im weitesten Sinne), so handelt es sich dabei – wie aus den Beispielen deutlich wird - um Muster bzw. Ordnungen in den kognitiven oder interaktiven Prozessen, die zum Kontext der Situation oder zu den Anforderungen nicht passen. Immer wieder findet man sich dann in Situationen wieder, die einen ängstigen, traurig machen oder die Gedanken zu lähmen scheinen. Oder in denen man sich über seine eigenen Handlungen bzw. Reaktionen nur selbst wundern kann. Oder man fühlt sich ggf. den „Machenschaften“ anderer hilflos ausgeliefert bzw. interagiert selbst ein einer Weise, die andere offenbar verwirrt, abschreckt oder verletzt, obwohl man das eigentlich nicht wollte.

In den meisten Fällen wären diese belastenden Gedanken, Gefühle und Handlungen aber durchaus angemessen, wenn sie zu den Umständen passen würden: Denn Angst bei realen Gefahren, Trauer bei einem erlittenen Verlust, Ausruhen von bedrückenden gedanklichen Anforderungen, Selbstverteidigung über Verwirrung, Abschreckung und notfalls Verletzung anderer um die eigene, real bedrohte Haut zu retten usw. – all dies wären in entsprechenden Situationen durchaus Ressourcen im Spektrum des Erlebens und Verhaltens. Aber bei Problemen weiß man, dass diese Reaktionen eigentlich nicht zu Realität passen – zumindest nicht zu jenen, wie die anderen sie wahrnehmen und wie man sie man meist ein wenig später selbst wahrnimmt: Denn es gab eben keine reale Bedrohung, kein aktueller Verlust etc. Die Muster und Ordnungen des Verhaltens in den problematischen Situationen scheinen somit zu anderen Realitäten zu passen – und sich zudem, das macht Probleme, Muster und Ordnungen aus, häufig zu wiederholen. Man kann auch sagen, dass diese Wahrnehmungs-, Erlebens- und Verhaltensmuster nicht genügend adaptiv an die aktuellen Gegebenheiten angepasst sind. Aber sie können eben auch nicht einfach durch neue, passendere, ersetzt werden (denn dann bräuchte man keine professionelle Hilfe).

Probleme, die in die Beratung führen, sind daher mit mangelnden Ordnungs-Ordnungs-Übergängen (Schiepek 1999) verbunden: Von Ordnungen, die einmal gepasst haben mögen

nun aber symptomatische oder zumindest problematische Prozessstrukturen widerspiegeln , zu solchen Ordnungen, die nun besser passen und weniger leidvoll sind. Wie wichtig solche mangelnden Ordnungs-Ordnungs-Übergänge im Lebens des Menschen sind, lässt sich auf der Ebene der Familiendynamik leicht verständlich machen: So ist sofort einsichtig, dass auch ein sehr gutes Interaktionsmuster zwischen einem 3-jährigen Kind und seinen Eltern dann als „auffällig“ oder gar „hoch pathologisch“ beurteilt werden würden, wenn dieses Muster über 20 Jahre unverändert bliebe. Denn dann würde ja der nun 23-jährige Erwachsene immer noch wie ein 3-Jähriger behandelt werden und sich so behandeln lassen. Materielle (inklusive biologische) Entwicklungsaufgaben – z.B. mit der Geschlechtsreife umzugehen, für sich selbst zu sorgen, einen größeren Bewegungsradius zu entwickeln etc. –sowie kulturelle Entwicklungsaufgaben – z.B. einem Beruf nachzugehen, Verantwortung zu übernehmen etc. – wären hier nicht oder nur inadäquat gelöst.

So werden z.B. an ein Kleinkind, Schulkind, Berufstätigen oder Rentner jeweils recht unterschiedliche Erwartungsstrukturen gerichtet; ebenso sind die Lebenskontexte für das heranwachsende Kind als Single, als Partner, als ein Eltern und dann als Partner mit erwachsenen Kindern jeweils deutlich anders. Wie wichtig die Übergänge zwischen Anforderungsprofilen und neuen Entwicklungsaufgaben sind, wird oft mit Initiationsriten oder zumindest Festritualen unterstrichen, um die neuen Entwicklungsaufgaben und Anforderungsprofile „feierlich“ hervorzuheben: Einschulung, Konfirmation/Kommunion Abitur, Examen, Eheschließung, Pensionierung etc. Dieses Loslassen alter (Teil-)Strukturen um neue zu etablieren entspricht übrigens auch dem Konzept des „Wachstums“ in der Humanistischen Psychologie (im Gegensatz zum pervertierten „immer mehr!“ vordergründigen Wirtschaftswachstums).

Aber nicht nur der Einzelne durchläuft Entwicklungen mit neuen Aufgaben. Ebenso hat ein Paar typischerweise vom Verlieben, über Heirat, ggf. Elternschaft, bis hin zur Pensionierung und dem Tod eines Partners diese und zahlreiche weitere Entwicklungsaufgaben zu meistern. Und es muss sich dabei mit seinen Strukturen und Ordnungen jeweils neu an die geänderten Erfordernisse zu adaptieren. Dies gilt analog für alle sozialen Systeme.

Üblicherweise funktioniert eine solche dynamische Adaptation an jeweils neue Entwicklungsaufgaben recht (oder zumindest: hinreichend) gut. In die Beratung kommen nun aber genau jene Menschen, bei denen eine solche Adaptation scheinbar nicht klappt. In bestimmten wiederkehrenden Situationen wird dann zu Wahrnehmungs-, Verarbeitungs-, Handlungs-, oder allgemein: Lösungsmustern gegriffen, die unpassend sind. Zwar waren solche Muster vielleicht früher einmal oder für andere Aufgaben effizient und angemessen. Aber nun sind sie ineffizient, unangemessen und sonderbar.

Damit haben wir nun jene Aspekte im Kern herausgearbeitet, die für die Beantwortung der Frage wesentlich sind, warum Menschen zu uns in die Beratung kommen und was wir für sie tun können: Offensichtlich geht es darum, zum einen die gegenseitigen Einflüsse zwischen den unterschiedlichen systemischem Prozessebenen zu fassen, zum anderen zu verstehen, warum diese bisweilen zu überstabilen Mustern und Ordnungen tendieren. Und letztlich geht es um den Frageaspekt, wie die Wiedererlangung der Adaptationsfähigkeit unterstützt werden kann. Genau diese Fragen zu klären, ist das Anliegen der Personzentrierten Systemtheorie.

Ein kurzer Exkurs in die Systemtheorie Wenn wir von überstabilen Mustern und Ordnungen in Prozessen gesprochen haben, so mag das anhand der drei Fallvignetten vielleicht etwas plausibel sein. Dennoch fehlen in den Metaphern der Alltagswelt für solche Stabilitäten oder gar Überstabilitäten griffige Bilder –entgegen mechanistischen Prinzipien: Wenn man sagen würde, ein Prozess oder eine Entwicklung sei „stecken geblieben“ oder „blockiert“ und müsse nun wieder „flott gemacht“ werden, so kommt schnell das innere Bild von z.B. einem kleinen Handwagen auf, für dessen Weiterkommen solche Begriffe adäquat sind.

Die Aktualisierungstendenz in Rogers Personzentrierten Ansatz, die in Übereinstimmung mit den Prinzipien moderner interdisziplinärer Systemtheorie steht, ist aber kein Handwagen, der im Fortkommen steckenbleiben könnte. Vielmehr ist damit die Tendenz beschrieben, dass rückgekoppelte Prozesse Ordnungen ausbilden. Mit einer solchen Wirkung von Ordnungstendenzen hat sich im Bereich der Psychologie bereits die klassische Gestaltpsychologie (besonders der Berliner Schule, mit Max Wertheimer, Kurt Koffka, Wolfgang Köhler, Kurt Lewin, Kurt Goldstein) beschäftigt als zentrales Beispiel für das Konzept der „Gestalt“ die dynamische Ordnung von Tönen zu einer Melodie verwendet:

Eine Melodie entsteht dadurch, dass sich in der Wahrnehmung des Hörers die einzelnen Töne ordnen – man spricht von einer „bottom-up“ Dynamik, weil viele einzelne Elemente sich zu einem Muster formen. Wichtig ist aber, dass die Wirkung auch andersherum verläuft – man spricht von „top-down“ – wobei die einzelnen Töne erst durch die Melodie bestimmte Eigenschaften erhalten, die sie ohne diese nicht hätten. So gibt es z.B. einen „Grundton“ oder „Leitton“ nur in Bezug auf eine Melodie und nicht für isolierte Töne.

Dies ist typisch für den viele Phänomene, die in den Naturwissenschaften, aber eben auch in den kognitiven Wissenschaften, im Rahmen von selbstorganisierter Ordnungsbildung beschrieben werden: Die gegenseitigen Beeinflussungen – man spricht von Rückkopplungsprozessen - der Elemente (hier: Töne) führen dazu, dass sich in der Dynamik der Elemente auf der Mikroebene eine Ordnung herausbildet (bottom-up ). Während gleichzeitig eben diese makroskopische Ordnung die Prozesse auf der Mikroebene beeinflusst (top-down). Dieses zirkuläre Verhältnis ist in Abb. 1 dargestellt:

Abb. 1: Zirkuläres Verhältnis von Melodie und Tönen

Weitere Beispiele sind das gemeinsame rhythmische Klatschen nach z.B. einem Konzert, bei dem aus dem „Rauschen“ der vielen Rhythmen von, sagen wir, tausend Personen selbstorganisiert ein gemeinsamer Rhythmus entsteht. Falls jemand auf die Bühne springt und den Rhythmus vorgibt, so wäre die natürlich „fremd-organisiert“ – aber das geschieht in der Regel nicht. Sondern einige brauchbar passende Rhythmen koordinieren sich zufällig (bottom up), werden dadurch lauter, und geben für einige andere (top down) den Impuls,

hier einzufallen. Das macht diesen Rhythmus noch lauter, noch mehr fallen ein etc. etc. bis der ganze Saal klatscht.

In der Systemtheorie (Haken 1984, Kriz 1999) nennt man eine solche selbstorganisierte Ordnung einen Attraktor (ein Begriff der interdisziplinärer ist, als die „Gestalt“ in der Psychologie). Um überhaupt von „Ordnung“ oder „Struktur“ im Sinne der Systemtheorie reden zu können, bedarf es mindestens 2 Ebenen: eine Mikroebene auf der sich die Phänomene ordnen und eine Makroebene dieser Ordnung selbst: Die vielen Töne der Mikroebene bilden die Melodie der Makroebene, oder die vielen Klatschrhythmen auf der Mikroebene ordnen sich zum Muster des gemeinsamen Klatschrhythmus auf der Makroebene. Dabei wird gleichzeitig deutlich, dass „Ordnung“ eigentlich eine enorme Reduktion von Komplexität bedeutet: viele Töne bilden eine Melodie, oder das Rauschen vieler Rhythmen bilden einen gemeinsamen Rhythmus. Diese enorme Reduktion von Komplexität ist, wie wir sehen werden, gerade auch im psychologischen Bereich ein wichtiger und nützlicher Effekt von Ordnung.

Ein letztes zentrales Konzept, das wir für die weiteren Erörterungen benötigen, ist die Komplettierungsdynamik: Damit ist das Phänomen gemeint, dass in attrahierenden Dynamiken die ordnenden Kräfte top-down den gesamten Prozess so beeinflussen, dass noch nicht geordnete Teile (bzw. Teildynamiken) geordnet werden. Die Ordnung wird also komplettiert. Im Klatsch-Beispiel reichen 20-30 Personen aus, dass der ganze Saal mit tausend Leuten dann diesen Rhythmus komplettiert.

Die ordnende und dabei komplettierende Eigenschaft wird – am Beispiel einer Melodie –deutlich, wenn man Personen bittet, eine ihm unbekannte Melodie (sofern sie allerdings hinreichend den Regeln typischer Melodien in diesem Kulturkreis folgt) „weiter zu singen“, bzw. zu raten, welche weiteren Töne folgen könnten: Der Raum an realisierten Möglichkeiten erweist sich nämlich deutlich kleiner als der theoretische Raum möglicher Folgetöne. So werden beispielsweise kaum Töne „aus einer anderen Tonart“ als der erkannten verwendet; die Rhythmik wird weitgehend fortgesetzt, wiederholt oder nur leicht abgewandelt etc. D.h. der theoretisch mögliche Raum von weiteren Tonereignissen wird durch die ersten Töne und das „Entstehen einer Melodie“ rasch in sinnvolle und nicht-sinnvolle unterteilt (wobei der erstere meist sehr viel kleiner ist).

Dieser Effekt ist natürlich noch sehr viel stärker, wenn der Hörer die Melodie „erkennt“: Fehlen einige Töne in der Mitte oder am Ende einer solchen Melodie, so wird diese mehr oder weniger zu der vollständigen Melodie komplettiert. Doch was heißt eigentlich „erkennen“? – Wie kann man sicher sein, dass wirklich genau jene (erkannte) Melodie gemeint war? Vielleicht war die dargebotene Melodie ja nur so ähnlich; oder die angebotenen Teile entsprachen zwar genau der „erkannten“ Melodie, aber das, was gar nicht mehr gehörte wurde, hätte eigentlich anders sein sollen.

Solche Prozesse sind nicht nur beim Wahrnehmen von Melodien bekannt und relevant, sondern typisch für die Reduktion der komplexen Phänomene unserer Alltagswelt zu (oft nur vermeintlich) Bekanntem. Dies wird in Paartherapien geradezu prototypisch sichtbar, weil es dort oft vorkommt, dass der eine Partner schon zu wissen meint, was der andere sagen will. . Jedenfalls entspricht es der typischen Erfahrung von Paartherapeuten, dass auf die Frage: „Haben Sie eigentlich gehört, was Ihr Partner gerade gesagt hat?“ ebenso typisch die Antwort folgt: „Oh – nein – aber wie er anfing und mich ansah, wusste ich sowieso schon, was er sagen würde!“ Und damit wird deutlich, dass nicht nur der Raum an möglichen

Interaktionen, sondern auch jener des Erlebenswelt und der Beschreibungswelt gleichermaßen reduziert wird.

Diese sinnhafte Reduktion der Komplexität zu längst Bekanntem hat natürlich auch ihre guten Seiten. Denn das „Erkannte“ - und damit Bekannte - ist irgendwie vertraut und vorhersehbar. Zudem entlastet diese Ordnung den Menschen üblicherweise von der herausfordernden Komplexität des immer Neuen: Jeden Morgen neu mit dem Partner alleRegeln des Zusammenlebens wieder infrage zu stellen, wäre überaus unpraktisch, zeitraubend und zermürbend. Zudem ist es ja oft auch zutreffend, wenn man schon zu wissen meint, was der Partner eigentlich sagen oder tun will - auch wenn er dies noch nicht voll entfaltet hat. Die Komplettierung von einzelnen wahrgenommenen Teilen zu einem bekannten Ganzen ist dann sehr praktisch.

Allerdings verhindert dieselbe Fähigkeit des Menschen, in wahrgenommenen Phänomenen immer nur längst Bekanntes zu entdecken, auch, dass etwas Neues Einzug halten kann. Auf der Paarebene kann sich das dann z.B. so auswirken, dass sich der eine Partner zwar vornimmt, sich nun endlich einmal anders zu verhalten und z.B. keine Vorwürfe zu machen. Aber wenn der nur den Mund aufmacht, meint der andere zu wissen, dass er ja sowieso wieder nur Vorwürfe machen will – hört also gar nicht, oder nicht genau hin, und reagiert somit eher auf das Vermutete und Unterstellte als auf das, was gerade wirklich geschieht. Auch davon weiß besondere die Paartherapie ein Lied zu singen; denn eine weitere prototypische und häufig Äußerung ist: „Wozu soll ich mich ändern – mein Partner würde das sowieso nicht merken, wie sich oft herausgestellt hat.“

Die Psychologie hat mit vielerlei Begriffen und Konzepten diese im Alltag nur allzu bekannten Phänomene solch überstabiler Ordnungen beschrieben. So wird beispielsweise mit dem Begriff „funktioneller Gebundenheit“ (Maier 1931) darauf hingewiesen, dass Gegenstände, die in bestimmter Funktion verwendet wurden – sei es durch Vorerfahrung oder auch nur durch Vorinformation anhand von Skizzen oder Beschreibungen -, selten für andere Funktio-nen eingesetzt werden, auch wenn dies zur Lösung eines gestellten Problems notwendig wäre. Mit „situativer Gebundenheit“ bezeichnet man mangelhafte Transferleistungen von guten Strategien und Lösungen in einen anderen oder neuen Bereich, in dem man dies „nicht gewohnt“ ist. Oder mit „Rigidität“ ist der Hang gemeint, von einmal gefundenen und verwendeten Lösungswegen – z.B. bei Rechenaufgaben, oder Befehlsabfolgen in der Bedienung von Handy bzw. Computer – selbst dann abzusehen, wenn es in neuen Konstellationen einfachere Wege gäbe, oder die bisherigen gar nicht mehr funktionieren (Luchins 1942). In allen Fällen handelt es sich um semantische oder syntaktische Ordnungen, welche die Komplexität der Situation zwar eine Zeit lang erfolgreich reduziert und das Leben effizienter gestaltet haben. Doch nun, bei veränderten Bedingungen und neuen, anderen Aufgaben bleibt man in dieser reduzierten Deutung gefangen. Auch der gesamte Formenkreis neurotischer Störungen kann so verstanden werden, dass einmal gefundene „Lösungen“ (meist für belastende, traumatisierende Bedingungen) beibehalten werden, obwohl das Leben inzwischen neue Bedingungen und damit ganz andere Anforderungen konstelliert hat.

Die Komplettierungsdynamik als Wirkung der ordnenden Kräfte eines Attraktors macht auch deutlich, dass ein Attraktor einen Überhang zur Stabilität hat: Der Attraktor sorgt – bildlich gesprochen – dafür, dass selbst kleinere Störungen der Ordnung immer wieder ausgeglichen werden. Der Attraktor bleibt somit gegenüber Veränderungen der Umgebungsbedingungen über-stabil. Erst wenn diese Veränderungen so stark geworden sind, dass die „störenden“ und „abweichenden“ Teildynamiken selbst autokatalytisch verstärkt werden – sich also ein

neuer und vielleicht stärkerer Attraktor anbahnt, wird eben nun dieser komplettiert. D.h. das System geht nun in einen anderen Ordnungszustand über – der o.a. Ordnungs-Ordnungs-Übergang.

Dies ist – ohne hier auf mathematische Details oder die genauere systemwissenschaftliche Bedeutung eingehen zu können (vgl. Kriz 1999) – in Abb. 2 schematisiert: C und B sind für das System (durch die Kugel repräsentiert) die Attraktoren in einer Landschaft (die „Kurve“), welche die Umgebungsbedingungen repräsentiert. Vom Systemzustand bei A führt der Weg nach B – dieser Attraktor zieht, sozusagen, die Kugel an: Die Ordnung wird komplettiert. Und auch bei kleineren Störungen („Anstupsen“ der Kugel) käme sie immer wieder bei B zu liegen. Erst eine große Störung (oder aber eine Veränderung der Landschaft) könnte dazu führen, dass die Kugel den Hügel der Instabilität in der Nähe von A überwindet und in den Attraktor C läuft – wo sie dann wieder gegenüber kleineren Störungen stabil bleibt.

Abb. 2: Attraktoren (C und B) und Instabilität (bei A)

Trotz der Beispiele mag das Modell für manche noch recht abstrakt erscheinen. Es wird sich aber im Folgenden zeigen, dass diese Modellvorstellungen sehr viel Sinn machen und recht hilfreich sind, Prozesse auch der Psychotherapie zu verstehen.

Wir haben nun zwar nur wenige aber doch zentrale Konzepte der Systemtheorie eingeführt, und können uns mit diesem konzeptionellen und begrifflichen Rüstzeug den zentralen Ebenen beraterischer Prozesse zuwenden: Obwohl die Personzentrierte Systemtheorie mit den strukturwissenschaftlichen Vorstellungen interdisziplinärer Systemtheorie übereinstimmt, welche zunächst im Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften entwickelt wurden (Haken 1984, Haken & Stadler 1992), geht es in Beratung (sowie Therapie und Coaching) natürlich nicht um die raum-zeitliche Ordnung physischer Objekte unter energetischen Einflüssen. Sondern es geht primär um sinnhafte Ordnungen menschlicher(Er-)lebensprozesse den Einflüssen von materiellen, somatischen, sozialen und kulturellen Bedingungen, wie auch die Fallvignetten und die bisherige Argumentation deutlich gemacht haben. Denn der Mensch ist stets ein „animal symbolicum“ (Cassirer, 1960). Um diesen Unterschied in der Fragestellung begrifflich hervorzuheben, wurde in der Personzentrierten Systemtheorie der Begriff des Sinn-Attraktors eingeführt (Kriz 1987, 2011). Prozessebenen sind dabei somit vor allem psychische sowie interaktive Prozesse. Diese sind aber so stark mit kulturellen Prozessen einerseits und körperlichen Prozessen andererseits verbunden, dass es ratsam ist, auch diese mit einzubeziehen.

Diesen Prozessebenen wollen wir uns im Folgenden zunächst einzeln zuwenden

Die kognitive bzw. individuelle ProzessebeneSinn-Attraktoren auf dieser Ebene betreffen vor allem die Ordnung, mit welcher wir die unglaubliche Komplexität der Sinneseindrücke im Lichte bisheriger Erfahrungen und gelernter Ordnungen reduzieren und uns damit „die Welt“ verständlich machen. Dazu gleich ein einfaches Beispiel, das zur obigen Abb. 2 passt:

Wenn in einer Freundschaft alles „in Ordnung ist“, wird man vieles, was der Freund sagt, tut, und man sonst wie von ihm erfährt auf den Sinn-Attraktor (B) „ich kann ihm vertrauen, er sagt mir die Wahrheit und hintergeht mich nicht“ reduzieren (wobei es auch viele Inhalte geben wird, die mit dieser Frage gar nichts zu tun haben). Dabei wird es auch einiges geben, wo man sich vielleicht wundert und kurz ein wenig verstört ist, oder man hört so das eine und andere, das nicht voll dazu passt. Aber das wird man schnell vergessen oder anders interpretieren („hat er sicher irgendwie gut gemeint“). Ist diese Störung allerdings zu groß (es gibt zu viele oder zu gravierende oder unwiderlegbare Anzeichen, dass man belogen und hintergangen wird), so kann dieses Bild kippen in den Attraktor (C): „er belügt und hintergeht mich“. Interessanterweise werden nun nicht nur neue Handlungen in diesem Lichte interpretiert, sondern auch der Prozess der Erinnerung wird davon mitgeformt: Man wird sich plötzlich an Anzeichen erinnern, wo man eigentlich „längst hätte misstrauisch werden“ müssen, wo eigentlich „längst klar war“, dass das nicht stimmen kann. „Wie konnte ich nur so blind oder blöd sein!“ sagt man sich häufig. Aber es war eben weder Blindheit noch Blödheit, sondern die Kraft von Attraktor B, welche der Vieldeutigkeit fast aller Worte, Handlungen, Informationen eben damals jene Bedeutung gab, während nun, unter Attraktor C, alles ganz anders aussieht. Und natürlich hat nun auch C seine Überstabilität: Es reichen jetzt nicht einfach ein paar „Vertrauensbeweise“, über die man im Zustand B entzückt gewesen wäre. Nein, nun regiert der Einfluss von C, was die „Vertrauensbeweise“ ggf. als besonders raffinierte Manöver erscheinen lässt, einen wieder hereinzulegen und zu hintergehen.

Nach diesem anschaulichen alltäglichen Beispiel nun ein ebenso anschauliches Experiment, in dem einzelne Aspekte noch deutlicher werden:

Bereits vor rund 80 Jahren wurde durch F. Bartlett (1932) eine Vorgangsweise verwendet, welche die iterative Anwendung von Operationen verwendet. Eines der klassischen Bartlett-Experimente war dem ähnlich, was man in abgewandelter Form und spielerisch „stille Post“ nennt: Man nimmt eine komplexe Information, z.B. einen längeren Satz, flüstert ihn dem Nachbarn ins Ohr, der das, was er verstanden hat, seinerseits dem Nachbarn ins Ohr flüstert und so fort. Es handelt sich also um eine serielle Reproduktion von (in diesem Fall) Gehörtem. Bartlett konnte zeigen, dass komplexe Information – z.B. Geschichten aus einem fremden Kulturkreis – zunächst stark vereinfacht und verändert werden, sich dann aber so etwas wie ein hinreichend stabiles Muster herausbildet. D.h. diese veränderten und reduzierten Kurzfassungen blieben dann recht unverändert.

Die Herausarbeitung von stabilen Mustern bei kognitiven Prozessen gilt natürlich nicht nur für die Reproduktion von Geschichten. Besonders anschaulich ist die Prägnanztendenz mittels serieller Reproduktion im Bereich der visuellen Wahrnehmung, wie es in Abb. 8.6 an einem Beispiel wiedergegeben ist: Ein komplexes Punktemuster (1. Muster links oben) wird einer Person gezeigt, die es sich merken und dann reproduzieren soll (2. Bild von links in der 1. Zeile). Dieses Bild wird nun einer weiteren Person gezeigt, die es sich ebenfalls merken und reproduzieren soll (3. Bild) usw. Die Bilder in dieser seriellen Reproduktion werden lange verändert, bis das Ergebnis so einfach und prägnant ist, dass es perfekt reproduziert werden

kann (wobei natürlich keineswegs immer aus dem Muster links oben das „Quadrat“ rechts unten folgen muss, sondern auch andere prägnante Formen als Attraktor möglich sind –beispielsweise eine Raute, ein Kreuz usw.).

Abb. 3: Serielle Reproduktion eines komplexen Punktemusters bei 19 aufeinander folgenden Versuchspersonen (nach Stadler & Kruse 1990)

In diesem Experiment ging die Reproduktion zwar über viele Personen, aber das ist ein eher technisches Detail des Experiments und sollte nicht vom Eigentlichen ablenken: Wie man z.B. aus der Forschung zu Zeugenaussagen weiß, verändert und stabilisiert auch eine einzige Person die komplexe Information beim oftmaligen Nacherzählen – oder auch nur beim Erinnern selbst: Denn dazu muss immer wieder Information aus dem Langzeitgedächtnis ins Kurzzeitgedächtnis gerufen werden – also ein interner iterativer Prozess.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Verbindung mit den bereits mehrfach angeführten bottom-up- und top-down Dynamiken: Hier hatten wir bereits hervorgehoben, dass ein Attraktor mit Feldwirkungen generiert wird, wenn auch nur ein Teil der Subsysteme bzw. Elemente bereits geordnet ist, und dass dieses dann im weiteren Verkauf den Rest des Systems so beeinflusst, dass die Ordnung komplettiert wird. Diese wichtige zirkuläre Wirkung ist im linken Teil von Abb. 4 nochmals schematisiert hervorgehoben.

Beispielsweise lässt sich ein klassisches gestaltpsychologischen Experiment von Asch (1946) in diesem Kontext neu interpretieren: Entsprechend seiner gestaltpsychologischen Orientierung betonte Asch, dass der Gesamteindruck von einer Situation oder von einer fremden Person nicht nur eine Sammlung verschiedener einzelner Informationen ist, sondern dass diese Informationen in einem Kontext gesehen werden und somit ein organisiertes Ganzes ergeben. Seine Arbeit beginnt mit der Feststellung: "Wir schauen einen Menschen an, und sofort bildet sich in uns ein bestimmter Eindruck über seinen Charakter" (Asch, 1946, S.258). Dies entspricht der Komplettierungsdynamik. In einem von Aschs vielen variantenreichen Experimenten wurden Schülern als Beschreibung einer Person langsam nacheinander 6 typische Eigenschaften vorgelesen. Einer Gruppe wurde die Eigenschafts-Liste: „intelligent - eifrig - impulsiv - kritisch - eigensinnig – neidisch“ präsentiert. Eine andere Gruppe erhielt dieselbe Liste, allerdings in umgekehrter Reihenfolge, also: „neidisch -eigensinnig - kritisch - impulsiv - eifrig – intelligent“. Es zeigte sich, dass die erste Gruppe von

der beschriebenen Person anschließend einen deutlich positiven Eindruck hatte, während die zweite Gruppe die Person deutlich negativ beurteilte.

Dieser in der Literatur als „Primacy-Effekt“ oft zitierte Befund lässt sich im Lichte der zirkulären Kausalität bzw. Komplettierungsdynamik auch wie in Abb. 8.7. verstehen (wobei die Pfeilrichtungen natürlich nur mögliche Hauptrichtungen der Wirkungen darstellen):

Abb. 4: Aschs Experiment als Komplettierungsdynamik in einem kognitiven Feld

Im Sinne der oben beschriebenen Dynamik bei der Bildung von Sinn-Attraktoren lässt sich sagen, dass anfänglich gehörte Eigenschaften bottom-up eine noch diffuse, aber über die reine Eigenschaft weit hinausgehende Vorstellung der zu beurteilenden Person ergeben, wobei bisherige Erfahrungen eine Rolle spielen. Diese Vorstellung beeinflusst nun top-down das Verständnis der folgenden Eigenschaften, die ja – wie die meisten Alltagsinformationen und Situationen – polysemantisch sind. So hat beispielsweise der Begriff „kritisch“ eher eine positive Konnotation, wenn man ihn auf einen intelligenten und eifrigen Studenten bezieht; in Bezug auf einen neidischen und eigensinnigen Studenten versteht man „kritisch“ eher negativ. Dies ist ein typisches Beispiel für eine „Komplettierungsdynamik“ beim Verstehen: Erste Elemente rufen Ordnungsparameter der Dynamik auf, welche dann im Weiteren die Ordnungsbildung, also das Verstehen, zu einer Gesamtgestalt komplettieren (Kriz 2004a).

Solche Selektions- und Interpretationsprozesse zur dynamischen Etablierung und Stabilisierung kognitiver Ordnung laufen aber natürlich nicht nur ab, wenn neue Information – quasi „von außen“ – vorgegeben wird. Sondern diese Ordnungsdynamiken spielen ebenso eine Rolle, wenn auf bereits im Gedächtnis vorliegendes Wissen – quasi „von innen“ –zugegriffen wird. Wobei üblicherweise beide Teilprozesse zusammenspielen. Dies ist gerade in der klinischen Psychologie und Psychotherapie bedeutsam: Denn die für uns alle so wesentliche Reduktion komplex-chaotischer Reizströme mit ihrer unfassbaren Polysemantik zur sinnvollen Struktur unserer Lebenswelt ist eben bei Menschen, die uns um professionelle Hilfe aufsuchen, in bestimmten Teildynamiken aus dem Toleranzspektrum der Normalität „verrückt“. Der Mensch beobachtet dann an sich selbst (oder wird von anderen darauf aufmerksam gemacht), dass er typischerweise in manchen Situationen die gegebene Polysemantik „befremdlich“ reduziert: Er versteht die „Welt“ entsprechend seinen (weitgehend unbewusst ablaufenden) Strukturierungsprinzipien und/oder er reagiert darauf in einer Weise, die nicht nur völlig unangemessen sondern auch selbst leidvoll (=parthisch) ist. Gegebenenfalls bemerkt er das auch erst durch die Reaktion der anderen.

Sowohl angemessene wie „verrückte“ Strukturierungsprinzipien, welche die dynamische Basis der Realität dieses Menschen darstellen, sind primär in früher Kindheit entstanden. Damals musste ja das Chaos der Welt erstmalig geordnet werden. Und dafür war die Entwicklung grundlegender Strukturierungsprinzipien entsprechend den spezifischen

Bedingungen dieser Welt notwendig (im Rahmen der angeborenen Möglichkeiten, solche Strukturen überhaupt bilden zu können). „Bindung“ (Bowlby 1988) oder „Grammatik“ sind beispielsweise Konzepte, welche diese Herausbildung solcher Strukturierungsprinzipien – als „working model“ oder als Sprachkompetenz – thematisieren.

Es ist nun sehr plausibel, dass von solchen „verrückten“ Strukturierungsprinzipien gerade die engere Umgebung dieses Menschen (sein Lebenspartner, Familienangehörige, Freunde etc.)nicht unbeeinflusst bleiben kann. Allerdings würden wir mit einer solchen Aussage – wenn wir sie für die „ganze Wahrheit“ hielten – einem „Element“ die ganze Macht über das System zuschreiben, d.h. einem einzelnen Familienmitglied die Macht über die inter-personellen Handlungs- und Verstehensstrukturen der ganzen Familie. Während wir doch gerade die Interdependenz zwischen individuellen und interpersonellen Sinnprozessen betont haben. Ob also der Mensch mit seinen „verrückten Strukturierungsprinzipien“ z.B. die Partnerschaft beeinflusst, oder aber die Partnerschaft die „verrückten Strukturierungs-prinzipien“ ist eine Frage der Perspektive. Sicherlich wirkt beides zusammen:

Die interpersonelle ProzessebeneDie Grenzen in der Angemessenheit „klassischer“ Betrachtungsweise - mit ihrer Fokussierung auf Input-Output, bzw. Reiz-Reaktion oder unabhängige-abhängige Variable –werden auf der interaktionellen Ebene besonders anschaulich sichtbar: In manchen Büchern über Kommunikation finden wir dieses Input-Output-Denkschema als „Sender“ und „Empfänger“, die eine „Nachricht“ austauschen. So könnte man sich vorstellten, dass eine Mutter - als „Sender“ - ihrer 16-jährigen Tochter - als „Empfänger“ - beispielsweise die Frage als „Nachricht“ übermittelt: „wo kommst Du jetzt her?!“, wenn diese morgens um 4 Uhr nach Hause kommt. Das Input-Output-Schema dahinter ist schnell erkennbar: Da die Mutter nicht direkt in das Gehirn der Tochter blicken kann, gibt sie der „black box“ Tochter-Gehirn einen Stimulus, der in der Box verarbeitet wird und als Output eine Antwort produziert. Aus den Relationen zwischen Input und Output kann man dann etwas über den Zustand der black box erfahren.

Mutter und Tochter sind aber nicht Teile einer mechanistischen Maschine, sondern sie stehen in einer sinnorientierten, dynamischen und adaptiven Beziehung. Diese ist durch viele bisherige Rückkoppelungen (vgl. Abb. 5) beeinflusst und hat entsprechend den Gegebenheiten bestimmte Ordnungen ausgebildet. Daher weiß die Tochter: Wenn sie einfach sagen würde, wie es in ihr aussieht (soweit sie überhaupt selbst darauf Zugriff hat), könnte sich die Mutter Sorgen machen und/oder es würde Ärger geben. Entsprechend der aktualisierten Ordnung dieser spezifischen Mutter-Tochter-Dyade wird sie daher ihre bisherigen Erfahrungen und ihre Erwartungen bei ihrer Antwort in Rechnung stellen.

Auf der anderen Seite weiß allerdings auch die Mutter, dass sie ihrer Tochter gar nicht eine so naive Frage vorlegen muss, da ihre Tochter eben nicht so funktioniert wie ihr Auto, bei dem sie einfach auf einen bestimmten Input eine bestimmte Reaktionen erwarten kann. Daher wird sie bei ihrer Frage sinnvoller Weise ebenfalls die bisherige Beziehung, ihre Erfahrungen und Erwartungen, in Rechnung stellen. Und genau diese Erwartungsstrukturen machen eben eine „Beziehung“ aus – gegenüber zwei wildfremden Menschen, die sich rein sachlich austauschen und wo das simple „Sender-Empfänger-Modell“ vielleicht noch hinreichend passen mag.

Der große Unterschied zwischen der klassisch-mechanistischen und systemischen Sichtweise besteht somit, wie oben bereits gesagt, in der Berücksichtigung von Rückkoppelungen. Somit ist die Interaktion im gewählten Mutter-Tochter-Beispiel durch ein Muster (=dynamische Ordnung) charakterisiert, das im konkreten Fall z.B. wie folgt aussehen könnte: A (Mutter): „Entzieh Dich mir nicht!“ und B (Tochter) „Kontrolliere mich nicht so!“. Damit sind beide, Mutter und Tochter, als Part (=Teil) dieser Dyade anzusehen, re-agieren also als „Part“-ner, wie in Abb. 5 dargestellt:

Abb. 5 Verhalten und dessen Interpretation in einer stabilisierten attrahierenden Dynamik

Beide Verhaltensweisen, A und B, stabilisieren sich gegenseitig im Rahmen dieses einfachen Interaktionssystems. Jeder trägt zu diesem Muster durch sein Verhalten bei (bottom-up) ist aber gleichzeitig (top-down) auch von diesem Muster beeinflusst, wenn nicht gar in ihm gefangen.

Zusätzlich ist aber der Aspekt bedeutsam, dass die Beteiligten solche Verhaltensweisen meist nicht einfach in die Beziehung einbringen, sondern dass sich diese Muster erst in kleinen Schritten selbstorganisiert so entwickeln: A und B kommen dann zunächst in geringem Ausmaß oder nur hie und da eher zufällig einmal vor – so, wie auch in zahlreichen anderen Beziehungen, die kein solches Muster entwickeln. Wenn die Mutter aber auf B ver-stärkt mit A reagiert und die Tochter auf A mit B, so differenziert sich ein Muster heraus –das sich soweit radikalisiert, wie es die Randbedingungen zulassen. So kann z.B. die Tochter nicht ewig wegbleiben. Und kontrollierendes Ausfragen geht nur in Anwesenheit der Tochter. Weder dieses Muster selbst noch die konkrete Frequenz sind aber „von außen“, „biologisch“ oder sonst wie vorgegeben oder von einem der beiden (in der Regel) intendiert, sondern eben selbstorganisiert. Genau dies meint das Konzept „Attraktor“.

Was hier an einem einfachen Beispiel zweier Personen skizziert wurde, lässt sich auf mehr Personen – z.B. Familien, Gruppen, Organisationen – und auf kompliziertere Muster – z.B. „Symptome“, „Störungen“, „Probleme“ – erweitern. Allerdings sind dabei die jeweiligen Rahmenbedingungen und Eigendynamiken sehr sorgfältig zu beachten (Kriz 1999, 2008).

Es sei betont, das durch den Fokus auf die Selbstorganisation keineswegs die (fremd)organisierenden Einflüsse biologischer oder gesellschaftlicher Art ignoriert werden. Was aber eine spezifische Dynamik ausmacht und von anderen unterscheidet, ist eben nicht gesellschaftlich oder somatisch determiniert oder auch nur organisiert (z.B. durch Gesetze), sondern „spielt“ sich als Regel(mäßigkeit) zwischen diesen Menschen ein und organisiert sich somit selbst. Und dies gilt genauso für andere Muster in sozialen Interaktionsdynamiken –also auch für die Selbstorganisationsprozesse in Organisationen.

Die gesellschaftlich-kulturelle ProzessebeneBeide Ebenen, die kognitive und die interaktive, wirken bereits zusammen. Denn wesentlich für den Menschen ist, dass alle Interaktionen zwischen den Personen nicht einfach aufeinander folgen, sondern stets durch das „Nadelöhr“ persönlichen Verstehens, also durch die kognitiv- affektiven Verarbeitungsprozesse innerhalb der Beteiligten, gehen müssen. Doch: wie „persönlich“ ist das Verstehen eigentlich? Immerhin benutzen wir doch eine Sprache, Konzepte, Handlungsprinzipien, Wertvorstellungen etc., die wir nicht selbst erfunden haben – und die oft auch nicht innerhalb einer Familie gebildet wurden – sondern die in übergreifenden kulturellen Prozessen über viele Generationen hinweg entstanden und verfestigt sind.

So ist die Bedeutung des Wortes „kritisch“ in dem in Abb. 4 schematisierten Experiment eben nicht nur durch die experimentelle Bedingung bestimmt – auch wenn die Wirkung eines Sinn-Attraktors „positiver Person“ bzw. „negative Person“ beeindruckend genug ist. „Kritisch“ ist auch ein Wort, das bei unterschiedlichen Menschen z.B. aufgrund ihrer jeweils persönlichen Sozialisation in ihrer Familie nicht genau dasselbe bedeutet. Und in unserer Kultur und ihren Subkulturen – bzw. gruppen herrschen gegenüber jeweils andere wiederum unterschiedliche Bedeutungsnuancen vor.

Auch der der interaktive Sinn-Attraktor, der in Abb. 5 schematisiert wurde – und der grob mit „Autonomie vs Kontrolle in der Pubertät“ bezeichnet werden könnte - ist ja nicht nur zwischen dieser Mutter und dieser Tochter entstanden (wenn auch, in seinen genauenFormen, eben nur diese beiden die interaktive Ordnung so und nicht anders gestaltet haben). Aber die Problematik ist viel zu prototypisch, als dass sie ausschließlich den beiden zugeschrieben werden kann: „Autonomie vs. Kontrolle“ ist ohnedies ein allgemeines Entwicklungsthema und, in spezifischerer Form und auf die Pubertät bezogen, ein Sinn-Attraktor, der auch in der Kultur vorkonstelliert ist.

Gerade auch für typische Problematiken, mit denen Menschen die Beratung aufsuchen, gibt es eine Reihe von malignen Sinn-Attraktoren, welche die Interpretations- und Handlungsoptionen verringern; so etwa die Dichotomien „gut“ – „böse“, „wahr“ – „falsch“, „krank“ – „gesund“, „schuldig“ – „unschuldig“ , „richtig – falsch“ etc. Es handelt sich dabei um durchaus große und wichtige Themen menschlicher Orientierung, die aber dann eine maligne Kraft entfalten, wenn sie totalitär verstanden werden. Damit ist gemeint, wenn beispielsweise geklärt werden soll, wer der Böse in der Familie ist, oder was unter allen Umständen als falsch zu gelten hat. Darüber hinaus gibt es zahlreiche weitere Bedeutungs-felder in der Sprache, Kultur und Gesellschaft, die vom Einzelnen in kurzer Zeit kaum verändert werden können.

Auch in den drei kleinen Fallvignetten zu Beginn wirken kulturelle Sinnattraktoren mit an der Gesamtdynamik: Konzepte wie „burn-out“ oder „Depression“ steuern zur Selbstbeschreibung und zum Selbstverständnis von Anna bestimmte Muster bei. Im Fall von Bettina und ihre Mutter geht es auch mit um die kulturellen Sinnattraktoren, welche „Schule“ (und deren Bedeutung für die Bildung) oder „selbständig“ auf das Verständnis der ablaufenden Phänomene ausüben. Und wie stark eine festschreibende Reduktion wie „Kurthat eine Verhaltensstörung“ Handlungsoptionen nehmen und hilflos machen kann, wird im dritten Fall deutlich. Denn man darf davon ausgehen, dass sich eine große Vielfalt anSituationen mit jeweils unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten ergibt, wenn man sich genau schildern lässt, woran die Eltern „die Verhaltensstörung“ erkennen bzw. festmachen. Diese Fülle an Verstehens- (und damit eben auch: Reaktions-)möglichkeiten wird nun aber

auf eine einzige Beschreibungskategorie reduziert – und der Raum an Handlungsoptionen wird damit verengt.

Aus Platzgründen muss es an dieser Stelle bei den skizzierten Zusammenhängen und Einflüssen bleiben und auf mehrere Ausarbeitungen in jüngerer Zeit über die Vernetzung dieser kulturellen Prozesse mit den Sinn-Attraktoren auf anderen Ebenen verwiesen werden (u.a. Kriz 2008, 2010, 2011).

Die körperliche ProzessebeneÄhnlich kurz muss hier die Skizze der körperlichen Ebene für die attrahierendenProzessdynamiken ausfallen. Deren Relevanz ist schon mit der obigen Feststellung angedeutet worden, dass alle Interaktionen zwischen den Personen stets durch das „Nadel-öhr“ persönlichen Verstehens, also durch die kognitiv- affektiven Verarbeitungsprozesse innerhalb der Beteiligten, gehen müssen. Denn es ist klar, dass diese „psychischen“ Prozesse nicht nur durch die interpersonellen sondern auch durch die somatischen Prozesse mit moderiert werden. So wird aktueller – oder eben auch massiver zurückliegender –Drogenkonsum die kognitiv-affektiven Prozesse stark beeinflussen. Aber uns geht es hier um alltäglichere, aber nicht minder relevante, Zusammenhänge.

Gehen wir dafür zunächst von dem „klassischen“ Modell der Informationsverarbeitung aus, wie es von Atkinson und Shiffrin (1968) sowie Murch und Woodworth (1978) entwickelt wurde und drei unterschiedlich getaktete Prozesse – sog. Gedächtnis-„Speicher“ – vorsieht(vgl. Abb. 6a):

a) VSTM (very short term memory) bzw. sensorischer- oder Reiz“Speicher“, mit einer Dauer < 5 sec (typisch sogar <1 sec.) und an die Prozesse in den Sinnesorganen geknüpft.

b) STM (short term memory), das „Kurzzeitgedächtnis“ in den die nicht aussortierte („vergessene“/“selektierte“) Information aus dem VSTM und LTM aktuell bereitgestellt wird; in ähnlichen Modellen wird dies auch als „Arbeitsgedächtnis“ bezeichnet, was wir hier bevorzugen. Auch hier kann die die Information nur kurz, nämlich ca. 20 sec., aufrechterhalten werden (und der inhaltliche Umfang ist 7 plus/minus 2 „Elemente“).

c) LTM (long term memory), das “Langzeitgedächtnis”, das mit sehr großer Kapazität Informationen sehr lange speichern kann.

Abb. 6a Abb. 6b

Der Mensch nimmt an seiner Mitwelt teil, indem er ständig den Strom seiner Eindrücke (Wahrnehmungen) mit dem Strom seines Ausdrucks (Handlungen/Verhalten) abstimmt. Diese Strukturierungsprozesse finden weitgehend im (oder unter Beteiligung des) AG statt.

Da das AG allerdings nur rund 20 sec. Information behalten kann, muss etwas immer wieder aus dem LTM ins AG geholt werden, damit es präsent sein kann.

Allerdings muss dieses Grundmodell (Abb. 6a) um zwei sehr wichtige Aspekte bereichert werden, damit es als ein brauchbares Modell für das Verständnis der Ordnung von (Er-)lebensprozessen dienen kann (vgl. 6b):

1.) Ist das LTM – üblicherweise (Teile vom) Gehirn verstanden – nicht das einzige Gedächtnis, das den kurzlebigen Prozess im AG längerfristige Stabilität verleiht. Vielmehr wird biographische (und wohl auch ererbte) Information auch in anderen Teilen des Körpers gespeichert. Von besonderer Bedeutung sind neben dem Hormonsystem die muskulären Strukturen – was Körpertherapeuten schon immer betont haben. Auch hier sind Regelkreise typisch: So können starke Emotionen dadurch unterdrückt werden, dass man den Atem flach hält. Muss dies chronisch erfolgen – z.B. bei ungünstigen emotionalen Bedingungen seitens die Eltern – so werden die entsprechenden Muskeln chronisch angespannt. Wie alle Muskeln werden sie durch solches „Training“ zunehmen. Dies nun wiederum kann dazu führen, dass muskuläre Panzer (Reich 1933) ausgebildet werden, welche die Atmung und die Emotionen auch dann noch flach halten, wenn der Mensch vielleicht erwachsen geworden ist und sich längst von den Eltern gelöst hat. Über Interozeptoren kommt nun nicht nur Information aus dem LTM sondern auch von diesen und anderen Bereichen des Körpers ins AG.

Eine weitere Stabilisierung erfährt das kurzlebige AG durch Koppelung an externe Prozesse –materielle, symbolische und soziale Strukturen, die man nun wieder wahrnehmen kann. Im einfachsten Fall kann man sich etwas aufschreiben, um es später wieder zu lesen. Ferner wurden die interaktiven und kulturellen sozialen „Speicher“-Prozesse bereits oben diskutiert: So gibt eben der Partner, die Familie und die Kultur mit ihren Sinn-Attraktoren eben Stabilität. Sinn wird aber auch materiell gespeichert: Fast alles um uns herum ist über Generationen hinweg materiell gestalteter Sinn – dieses Buch, Kleidung, Wohnung, Werkzeuge, Autos, usw.

2.) Es gibt einen weiteren Prozess, der mit den Prozessen im AG gekoppelt ist: dies ist das Bewusstsein – so wie es in Abb. 7 dargestellt ist. Abgesehen von einem nicht sehr ausgeprägten „Langzeit-Ged. 3“ finden wir ein vergleichbares LTM und einen Körper zum längerfristigen Speichern von Information auch bei z.B. Säugetieren. Was wir dort aber nicht finden ist das Bewusstsein. Dieser Prozess kommt somit explizit hinzu.

Abb. 7: Der organismische Prozess inklusive des Bewußtseinstroms bzw. des „Selbst“.

Gerade im Personzentrierten Ansatz von Rogers ist dieser Aspekt essentiell: Abb.6 zeigt nämlich den Organismischen Verarbeitungsprozess, und erst in Abb. 7 kommt dessen Symbolisierung im Bewusstsein hinzu; wobei die Strukturierungsprinzipien dieses Stroms das „Selbst“ genannt werden (und die Inhalte u.a. das Selbstbild). Bekanntlich wird mit dem Begriff der „Inkongruenz“ dabei verstanden, dass organismische Prozesse (die bewusstseinsfähig wären) nicht im Selbst symbolisiert sind, also nicht bewusst werden können. Dies entspricht im Kern der Störungslehre des Personzentrierten Ansatzes.

So kann beispielsweise die Tatsache, dass der Vater einen fürchterlichen Tod hatte, im LTM gespeichert sein und diese Information kann ins AG fließen bzw. von diesem oft abgerufen werden und dann den Strom von Eindrücken und das Verhalten ggf. recht stark beeinflussen bzw. strukturieren. Und das alles, ohne dass es bewusst werden muss. Ähnliches gilt für Information, die im (nicht neuronalen) Körper gespeichert ist. Das bedeutet, nicht alle Erinnerung, welche unsere Wahrnehmung und/oder unser Verhalten wesentlich beeinflussen kann, ist bewusstseinspflichtig. Andersherum: Dass Bewusstsein kann den „Er-Lebensstrom“ zwar moderieren und von ihm moderiert werden – aber dies muss keineswegs der Fall sein.

Die für Rogers personzentrierten Ansatz essentielle Differenzierung in (rein) organismische Prozesse, mit denen der Mensch „in der Welt“ ist, und in Prozesse einer bewussten Symbolisierung dieser Erfahrungen, ist somit auch von der Personzentrierten Systemtheorie als eine der Verschränkungen zweier Prozessebenen zentral (allerdings werden eben auch stärker die interpersonelle – über die von Rogers beachteten Mutter-Kind und Therapeut-Klient Beziehung hinaus – und die kulturellen Sinnstrukturierungsprozesse berücksichtigt). Dort wo bedeutende Inkongruenzen zu finden sind – entsprechend dem Unbewussten bei S. Freud – wird einer der Kerne für problematische und symptomatische Dynamiken gesehen: Der Mensch wundert sich dann ggf. über sein Verhalten oder seine immer wieder auftretenden Gefühle und/oder Gedanken, aber er versteht deren Gründe nicht (da diese ja nicht bewusst symbolisiert werden können). Im personzentrierten Ansatz ist ein spezielles Konzept dafür entwickelt worden, wie der Berater nun konkrete Hilfestellungen geben kann, um eine Beziehung zwischen den bewussten Symbolisierungsprozessen und den bedeutsamen organismischen Prozessen herzustellen bzw. zu verbessern: nämlich das Focusing (Gendlin 1998, Wiltschko 2008).

Personzentrierte Systemtheorie und die AktualisierungstendenzBekanntlich ist die Aktualisierungstendenz das zentrale Erklärungskonzept in Rogers personzentriertem Ansatz (Rogers 1976, 1981). Diese meint nun genau das, was im Kontext der Personzentrierten Systemtheorie als Attraktor bezeichnet haben – wobei hier allerdings die unterschiedlichen Prozessebenen und ihre gegenseitigen dynamischen Verschränkungen herausgearbeitet werden, während von Rogers nur die organismische und Selbst-Aktualisierung unterschieden wird (da er ohnehin auf interpersonelle fast und auf kulturelle Prozesse gar nicht fokussierte).

„Attraktor“ ist, wie gezeigt wurde, ein recht schlichter Begriff, der einfach beschreibt und thematisiert, das ein System dann, wenn die Rückkopplungen zwischen dessen Teilen nicht unterbunden werden, selbstorganisierte Ordnungen ausbildet. Dies geschieht allerdings stets in Adaptation an die Umgebungsbedingungen – wobei es gegenüber kleinen

Veränderungen überstabil ist, bis diese so groß werden, dass das System mit einem Ordnungs-Ordnungs-Übergang reagiert.

Ein solches schlichtes Verständnis täte auch der Aktualisierungstendenz im personzentrierten Ansatz gut – die oft missverstanden wird. Nicht nur, dass man oft liest, amystisch-magische Eigenschaften unterstellt, die alles zum „Guten“ wende.

„Aktualisierungstendenz“ hat aber, wie „attrahierende Dynamik“, für biologische und menschliche Entwicklungsphänomene den gleichen Stellenwert wie „Schwerkraft“ in der Physik: Die Bewegung zweier Körper auf Weltkurven in der Raumzeit im Rahmen von Einsteins Relativitätstheorie lässt sich auch anders beschreiben und benennen als mit „Schwerkraft“ – aber es handelt sich nicht um einer „Glaubens“frage oder eine „Annahme“, sondern um eine schlichte Beschreibung von Phänomenen unter bestimmten theoretischen Rahmenbedingungen.

Zu den Umgebungsbedingungen, an die ein System sich bei seiner Aktualisierung stets adaptiert, gehören ggf. auch bisherige Entwicklungsverläufe und deren Stabilität auf anderen Prozessebenen. Obwohl somit bei günstigen Umgebungsbedingungen für mechanistisch denkende Menschen erstaunliche Entwicklungen gefördert werden können, heißt dies somit nicht, dass alle leidvollen dass dann eigentlich alle Fehlentwicklungen reversibel (d.h. umkehrbar) wären, wenn man nur „gute Bedingungen“ schafft. Da dies ein typisches Missverständnis ist, dass sich sowohl bei Befürwortern als auch bei Gegnern des Prinzips der Aktualisierung hartnäckig hält, sei die korrekte Bedeutung an einem (drastischen und gottlob: fiktiven) Beispiel deutlich gemacht:

Ein 20-jähriger Mann, den man als 3-Jährigen in eine Holzkiste von 70x70x70cm eingesperrt (aber regelmäßig mit Nahrung versorgt) hatte, wird entdeckt und befreit. Da dieser Mann überlebt hat, wird er seine menschliche Gestalt entsprechend den sehr einschränkenden Bedingungen aktualisiert haben. Dabei werden z.B. seine Arme und Beine wegen der extremen Enge eine ungewöhnliche Form entwickelt haben und deren Muskeln und Sehnen werden nahezu ungeübt sein. Der nun befreite Mensch wird daher zunächst nicht gehen können, sondern merkwürdig zusammengekauert, mit verbogenen Gliedmaßen, am Boden sitzen.

Was dürfen wir nun von der weiteren Entwicklung dieses Menschen erwarten? Selbst wenn dieser Mensch keine spezifische Therapie erhält, wird er seinen neu gewonnenen Freiraum zur weiteren Aktualisierung nutzen. So wird er zunehmend von seiner Fähigkeit als Mensch -im Gegensatz zu einem Baum - Gebrauch machen, sich räumlich fortzubewegen und Dinge seiner engeren und weiteren Umgebung zu „ergreifen“. Er wird dies zunächst irgendwie kriechend und ungelenk tun, aber er wird nach und nach eine gewisse Fertigkeit darin entwickeln. Besonders wenn er in seiner weiteren Entwicklung nun durch andere Menschen unterstützt wird, wird er vielleicht sogar einen Gang auf zwei Beinen und einen hinreichend effizienten Gebrauch seiner Arme entwickeln. Andererseits können wir kaum erwarten, dass selbst bei bester und jahrelanger Therapie die körperlichen Entwicklungsschäden voll reversibel verschwinden. Dieser Mensch wird sich z.B. als 40-Jähriger nicht so bewegen können, als sei er nie in einer Kiste eingesperrt gewesen: Einiges an seinem Gang und an seinen Bewegungen wird im Vergleich zu seinen Mitmenschen, die eine weitgehend unbehinderte Entwicklung durchlaufen konnten, „merkwürdig“ und „fremdartig“ bleiben. Jemand, der viel Erfahrung mit Menschen „aus Kisten“ hat, wird daher auch Jahrzehnte später sagen können: „Ach, das wird vermutlich jemand sein, den man in eine Kiste eingesperrt hat“ – und sich mit einer solchen Diagnose die Fremdartigkeit der Bewegungen erklären.

Dieses drastische Beispiel sollte einerseits die Möglichkeiten, andererseits die Grenzen dessen verdeutlichen, was wir mit Aktualisierungstendenz meinen. Die menschliche Anlage, Arme und Beine mit bestimmter Form und Länge zu entwickeln, wird zunächst selbst an die extrem beschränkenden Bedingungen der Holzkiste adaptiv aktualisiert. Verändern sich diese Bedingungen wesentlich, so adaptiert sich der Organismus entsprechend seiner Möglichkeiten an diese neuen Bedingungen. Beispielsweise wird er sich, wenn möglich, mit Hilfe der Arme und Beine fortbewegen. Diese Neuadaptation geschieht allerdings nicht einfach plötzlich – so wie ein unter Druck verformter Gummiball ggf. in seine runde Form zurückspringt. Sondern dies geschieht ebenfalls im Rahmen der angelegten Entwicklungs-möglichkeiten: Knochen, Sehnen und Muskeln brauchen ihre Zeit, um sich umgestalten zu können. Und die Adaptation wird auch nicht so geschehen, als hätte es keine vergangene Entwicklung gegeben. Sondern die adaptive Weiterentwicklung geschieht natürlich immer vom Ausgangspunkt der jeweils veränderten Bedingungen.

Aktualisierung meint somit immer eine Adaptation an die Bedingungen im Rahmen der Möglichkeiten, und dazu gehört eben auch die bisherige Entwicklung. Verglichen mit einer Entwicklung unter guten Bedingungen wird somit eine „Schädigung“, als Adaptation an schlechte Bedingungen, oft nicht einfach völlig „reversibel“ sein. Weitere Adaptationen an nun gute Bedingungen werden also oft nicht so verlaufen, als hätte es diese schlechten nie gegeben. Schon die Anführungszeichen bei „reversibel“ machen aber deutlich, dass auch dies ein inadäquater Begriff ist. Denn es wird sogar niemals eine „Fehlentwicklung“ wieder „rückgängig“ gemacht. Sondern eine bestimmte Entwicklung, die wir von außen und verglichen mit anderen Entwicklungen als „Fehlentwicklung“ bezeichnen, schreitet weiter voran. Und entsprechend den dann günstigeren Bedingungen beschreiben wir diese neue Entwicklungsrichtung als weniger „fehlgehend“. Ggf. bemerken wir sogar keinen Unterschied mehr zu einer „normalen“ Entwicklung: Dann sieht es so aus, als sei dies „reversibel“.

In dieser Weise beschrieben, verliert die Aktualisierungstendenz jeden mystischen oder magischen Anstrich von einer „innewohnenden“ Kraft, welche aus sich heraus die Entwicklung von Lebewesen zur Vervollkommnung treibt. Sie ist, nochmals, eine schlichte Beschreibung der Adaptation von Prozessstrukturen an die Gesamtheit der Bedingungen. Menschen müssen sich zwar gottlob nicht in gezimmerten Holzkisten entwickeln. Aber genetische, pränatale, oder postnatale und traumatisierende Schädigungen des Organismus können solchen physischen Kisten gleichkommen. Und leider gibt es gerade auch für die psychische Entwicklung hin zu einem Bewusstsein des Menschen von sich selbst nicht selten beschränkende Bedingungen, die denen der Holzkiste nicht unähnlich sind.

Es sei auch bedacht, dass Teilprozesse auf den unterschiedlichen Ebenen trotz gegenseitiger Wechselwirkung dennoch unterschiedliche Eigendynamiken entfalten können und sich dabei an unterschiedliche Teilbedingungen adaptieren. Dies ist beispielsweise bei dem oben bereits diskutierten zentralen Konzept der Inkongruenz der Fall. Diese meint ja, dass die Aktualisierung der psychischen Strukturen (besonders des „Selbst“) mit der Aktualisierung der organismischen Strukturen (vor allem der organismischen Bedürfnisse) nicht übereinstimmt. Da manche Bedürfnisse dieses Klienten nicht beachtet und/oder missverstanden wurden, konnten sie nicht ins Selbst integriert werden. Der Mensch versteht dann manches seiner Bedürfnisse, Gefühle und Handlungen selbst nicht.

Beratung als Hilfe zu Ordnung-Ordnungs-Übergängen Mit dem Konzept des Sinn-Attraktors der Personzentrierten Systemtheorie lässt sich die dynamische Stabilität auf den unterschiedlichen Prozesseben nun gut fassen – wie die Beispiele und Diskussionen in den vorangegangen Abschnitten zeigen sollten. Mit der bottom-up- und top-down-Dynamik werden auf jeder Ebene selbstorganisiert Ordnungen ausgebildet, wobei die jeweils anderen Ebenen als Umgebungsbedingungen zu verstehen sind. Die Wechselseitigkeit ergibt eine komplexe Gesamtdynamik. Wegen der Selbstorganisation werden dabei zwar jeweils nur Möglichkeiten aktualisiert, welche als inhärente Potentiale im System bzw. auf der jeweiligen Systemebene selbst liegen – aber dies geschieht immer in Adaptation an die Umgebungsbedingungen. Und wenn sich diese bedeutsam ändern, wird das System auch einen Ordnungs-Ordnungs-Übergang (Phasenübergang) vollziehen und sich neu adaptieren.

Es sei darauf hingewiesen, dass diese Vorgänge für die Prozessebene der kognitiven Ordnungen in Passung zur „Welt“ schon von dem Schweizer Entwicklungspsychologen Jean Piaget mit seinen Konzepten der „Assimilation“ und „Akkommodation“ thematisiert wurde:Mit Assimilation ist gemeint, dass der Mensch versucht, sich die Welt entsprechend seiner kognitiven Ordnungen anzupassen. Ein solches Ordnungsmuster nannte Piaget in Übernahme des Konzeptes von Bartlett (1932) „Schema“. Die sinnbildende Kraft eines Schemas führt somit dazu, dass der Mensch seine Erfahrungen auf bekannte und vertraute Aspekte zurückführt und dem so Verstandenen entsprechende, bisher erfolgreiche, Handlungsweisen folgen lässt. Sofern dies dann irgendwann nicht mehr gelingt und der Misserfolg der Assimilation zu groß wird, folgt in der Regel die Akkommodation. Damit ist gemeint, dass der Mensch nun seine Schemata – also die kognitiven Ordnungen und Handlungsmuster - notwendig den Gegebenheiten der Welt anpassen muss. Assimilation beinhaltet somit ein Festhalten an und Anwenden von bisherigen Ordnungsprinzipien, Akkommodation meint einen Ordnungs-Ordnungs-Übergang (s.u.). Und dieses Wechselspiel zwischen „sich die Welt anpassen“ (Assimilation) und „sich der Welt anpassen“ (Akkommodation) ist typisch für Entwicklungsvorgänge, welche wiederum typisch für Leben sind (vgl. Piaget 1976).

Wenn man dem freilich folgt, ist die Überstabilität von Symptomen auf den ersten Blick noch weniger verständlich. Denn an etlichen Stellen hatten wir direkt und indirekt darauf hingewiesen, dass Symptome als (ehemals) hinreichend gute Lösungen unter sehr erschwerten Bedingungen zu verstehen sind, die vielleicht mühsam das psychische – ja vielleicht gar das physische – Überleben sichergestellt haben. Als Symptome werden diese Lösungen allerdings vor allem erst dann auffällig, wenn sich die Umgebungsbedingungen geändert haben und dennoch an den „alten Lösungen“ festgehalten wird – die nun also dysfunktional geworden sind. In dem obigen, extremen Beispiel der überstabilen Familienstruktur mag das „nörgelige Jammern“ des 3-Jähringen bei seinen sonst unsensiblen oder überlasteten Eltern noch etwas Zuwendung bescheren. Der 23-Jährige hingegen dürfte bei seinem Partner damit eher Schwierigkeiten haben. Wieso also hat sich die Struktur der Lebensprozesse dann nicht an die Umgebungsbedingungen des 23-Jährigen adaptiert, wenn doch oben behauptet wurde, dass Selbstorganisation immer eine Adaptation an die Umgebungsbedingungen meint?

Der scheinbare Widerspruch liegt in dem begründet, was wir eigentlich genau unter „Umgebungsbedingungen“ verstehen. Denn mit der letzten Beschreibung von den „Umgebungsbedingungen eines 23-Jährigen“ unterstellen wir implizit, dass unsere

Beschreibungen und die zugrunde liegenden Wahrnehmungen die Welt objektiv und einzig richtig wiedergeben. Aber – um es deutlich zu sagen – der 23-Jährige adaptiert sich in seiner Dynamik natürlich nicht an jene Umgebungsbedingungen, welche wir, als Beobachter,relevant finden, sondern an jene, die für ihn selbst als Gesamtsystem relevant sind. Und das muss nicht die Welt unserer Wahrnehmungen und Verstehensweisen sein, sondern die Welt seiner Wahrnehmungen und Verstehensweisen. Und dazu könnte z.B. gehören, dass er gar nicht „wahrnimmt“ (d.h. nicht auf die Idee kommt, Hinweise nicht sieht, etc.), dass es andere Möglichkeiten gibt, mindestens so viel Zuwendung zu erhalten, wie er durch sein Jammernerreicht. Stattdessen ist fester Bestandteil seiner Welt vielleicht die Furcht, Überzeugung (und von früher vielleicht auch begründete Erfahrung), dass er ohne Jammern eben sogar noch weniger Zuwendung erhalten würde. Wie auch immer: solange wir uns wundern, dass sich dieser Mensch nicht an die Umgebungsbedingungen adaptiert, heißt das eigentlich nur, dass wir noch zu sehr unsere Sicht der Welt unterstellen und noch zu wenig verstanden haben, was denn genau seine Umgebungsbedingungen für ihn sind.

Für die „Weise, wie wir in dieser Welt sind“ (Kriz 2010b) – d.h. für die Sinnstrukturen mit denen wir der Welt, anderen Menschen und uns selbst begegnen – spielen nun die Interaktionen zwischen den unterschiedlichen Ebenen, wie sie oben angesprochen wurden, eine wichtige Rolle. Manche Grundstrukturen sind bereits evolutionär erworben und somit angeboren (z.B. Figur-Grund-Unterscheidung). In anderen Bereichen sind evolutionäre Grundvoraussetzungen in Form von allgemeinen aber noch offenen Strukturen angeboren, deren offene Stellen dann mit den spezifischen Strukturen der Umgebung abgeglichen und so besetzt werden (z.B. Prägung, Spracherwerb oder Bindungsmuster).

Für weite Bereiche ist aber die Plastizität des menschlichen Organismus enorm, die Welt nach Regelmäßigkeiten abzusuchen und zur Reduktion von Komplexität solche Regeln, Muster und Ordnungen zu (er-)finden. Denn der Mensch muss die unfassbare Komplexität physikalischer und chemischer Reizwelten zu einer kognitiv fassbaren Lebenswelt zwar reduzieren. Doch kann er sich dabei nicht wie das Tier auf instinktmäßige Vorstrukturierungen verlassen. Vielmehr ist er als Spezies Mensch unglaublich frei, Strukturierungen vorzunehmen und Sinn und Ordnung zu (er)finden. Als konkreter Mensch allerdings ist diese Freiheit erheblich dadurch eingeschränkt, dass er eine Lebensbühne betritt, auf der schon seit sehr vielen Generationen soziale Spiele ablaufen, Rollen vorgeschrieben sind, und auch materielle Kulissen seinen Spielraum erheblich beschränken oder fördern. D.h. er strukturiert die Welt nicht nur, sondern sie tritt ihm immer schon von Kindesbeinen an als eine strukturierte und „sinnvolle“ gegenüber – wobei „sinnvoll“ zunächst durchaus weitgehend durch den Sinn der bereits vorhandenen Mitspieler definiert wird – etwas, was wir mit Kultur bezeichnen. Wobei es nicht nur mehrere Bühnen mit recht unterschiedlichen Spielen und Regeln gibt (wie er meist erst später erfahren wird), sondern es gibt auf den großen Bühnen viele kleine Spielbezirke in Form von Subkulturen.

Was Berater nun hilfreiches tun können, läuft letztlich darauf hinaus, Umgebungsbedingun-gen zu etablieren, unter denen ein Ordnungs-Ordnungs-Übergang möglich wird. Denn offensichtlich müssen die nicht mehr passenden Strukturierungsprinzipien aufgegeben und besser an die Realität angepasste entwickelt werden. In der hier vorgeschlagenen Terminologie werden dabei einige bisherige Sinnattraktoren durch neue ersetzt. Dies umfasst ggf. auch die Veränderung von Attraktoren in den Verhaltens- und interaktiven Prozessen – indem etwa im obigen Beispiel der 23-Jährige endlich nicht mehr wie ein 3-Jähriger handelt und sich so behandeln lässt.

Ein solcher Ordnungs-Ordnungs-Übergang ist nun allerdings kein gradliniger Weg in dem Sinne, wie man durch Essen von einem Zustand des Hungers in einen Zustand der Sättigung kommt, indem sich mit jeder aufgenommenen Volumeneinheit an Nahrung der Magen linear abhängig füllt. Wie schon die interdisziplinäre Systemtheorie für zahlreiche Systemprozesse in ganz unterschiedlichen Bereichen zeigt, kann ein neuer Attraktor nur in einem so genannten „Phasenübergang“ entstehen: Dabei wird die im Attraktor hergestellte Reduktion von Komplexität (als bisheriger Garant der dynamischen Stabilität) durch die Zufuhr von Komplexität zur Instabilität angeregt. Die Komplexität wächst rasant an.

Dieses notwendige Loslassen von einigen alten Prozessstrukturen, (vorübergehendes) Zulassen von mehr Komplexität und Chaos – und damit auch von bedrohlicher Instabilität der bisher so stabilen Deutungen und Lösungen – damit überhaupt neue Sicht-, Denk-, Lösungs-, Verhaltens- und letztlich Lebensweisen möglich werden, nennt man in der interdisziplinären Systemtheorie übrigens Phasenübergang: Dies entspricht dem „stirb und werde!“ von Übergängen zwischen unterschiedlichen Anforderungsstrukturen im individuellen wie auch interpersonellen Leben (z.B. Kleinkind – Schulkind – Berufstätiger –Rentner, oder Single- Partner – Eltern – Partner etc.). Deren Bedeutsamkeit wird oft mit Ritualen und Feierlichkeiten unterstrichen. Und dies entspricht übrigens auch dem Konzept des „Wachstums“ in der Humanistischen Psychologie (im Gegensatz zum pervertierten „immer mehr!“ vordergründigen Wirtschaftswachstums), das wiederum der Metapher des Laubbaums entlehnt ist, der im Herbst seine Strukturen deutlichen ändert in dem er viele Blätter sterben lässt, um dann im Frühjahr neue Blätter treiben zu können.

Letztlich aber dienen alle psychotherapeutischen Techniken der Offenlegung, Hinterfragung, Perspektiv-Änderung, Neubewertung, Reflexion etc. des bisher allzu „Selbstverständlichen“ – also einer Anreicherung mit Komplexität. Die bisherige, aber eben maligne, Sicherheit im Abspulen der immer gleichen kognitiven Schleifen wird somit instabil, die Anzahl an möglichen (Teil-)Weltdeutung und Bewertungen steigt. Und damit vergrößert sich auch der Raum an neuen Deutungen, Bewertungen und, damit verbunden, an Lösungsmöglichkeiten -auch wenn diese nicht gleich akzeptiert bzw. umgesetzt, sondern vorerst nur einmal wahrgenommen werden. Mit einer dann konkret erprobten und weiter verfolgten neuen Lösung wird der Raum der Möglichkeiten und Deutungen allerdings später wieder enger: Es entsteht ein neuer Sinnattraktor, d.h. eine neue dynamisch-stabile Ordnung in der Lebenswelt ist entstanden., die an die neuen Bedingungen besser adaptiert ist.

Die Relevanz der therapeutischen BeziehungAus dem hier vorgeschlagenen Verständnis von Problem und dem damit verbundenen Verständnis der Problem-Überwindung folgen genau so schlicht die Anforderungen an die Arbeitsbeziehung, wie sie von professionellen Helfern bereitgestellt werden sollte.

Denn auch wenn das „stirb und werde!“ sich nur auf einzelne, nicht passende und daher leidvolle Strukturen bezieht, und die Instabilität nicht die gesamte Lebenswelt des Menschen erfasst, sondern zumindest bei neurotischen Störungen sowie bei typischen Beratungs- und Coachingproblemen recht klar begrenzte Bereiche beschränkt bleibt, ist dies doch recht beunruhigend. Denn so leidvoll die Strukturen, mit denen die Lebenswelt geordnet wurde, im Einzelnen auch gewesen sein mögen: sie waren viele Jahre bzw. Jahrzehnte vertraut, Und man hat sich mehr oder weniger mit ihnen arrangiert. Nun aber muss partiell völliges

Neuland betreten und dazu Instabilität in Kauf genommen werden. So wie es auch beim üblichen Gehen der Fall ist: um einen Schritt zu machen, muss man den sicheren Stand verlassen und sich nach vorne fallen lassen - in dem Vertrauen, dass man dort festen Boden unter den Füßen hat und sich auffangen kann (und falls man strauchelt: aufgefangen wird). Ohne ein solches Vertrauen wird man keinen Schritt wagen.

Dies nun gilt genauso im übertragenen Sinne: Die bloße Vermutung oder auch rationale Einsicht, dass man nach einem deutlichen Schritt einen vielleicht besseren Stand hat als gegenwärtig, setzt sehr viel Vertrauen voraus. Daher ist eine vertrauensvolle und sichere therapeutische Beziehung in der Regel eine zentrale Voraussetzung. Therapeuten sollten sich dabei als Begleiter durch solche Phasen der Instabilität verstehen - die weder schubsen, noch ein Bein stellen, noch bremsen und eigene Interessen verfolgen, sondern sich den Möglichkeiten und dem Tempo derer anpassen, die sich ihnen anvertraut haben.

Das Bewusstsein für Veränderung als Ordnungs-Ordnungs-Übergang durch eine Phase der Instabilität (oder auch alles mehrfach – denn es sind meist mehrere solche Phasen zu durchlaufen), lässt den Blick aber auch auf missbräuchlichen Umgang richten. Denn je instabiler jemand ist, desto zugänglicher wird er für „Tipps“, „Strukturierungsvorschläge“ etc. die ihm seine unbehagliche Unsicherheit verringern helfen. Damit ist aber Beeinflussung Tor und Tür geöffnet – sei es aus Eigeninteressen oder aus unreflektierter „Hilfe“. Letzteres kann gut gemeint sein kann, aber zu Recht betont der Volksmund, dass „gut gemeint“ oft das Gegenteil von „gut gemacht“ ist. Denn solange die Sinnattraktoren stark wirken – z.B. zu Beginn der Therapie – können Therapeuten viele Vorschläge machen, und sie werden immer wieder hören; „will ich ja, aber..“ oder „hab` ich schon versucht, aber…“ oder „das geht nicht, weil …“. Je größer aber die Instabilität wird, je unsicherer und orientierungsloser sich der Patient fühlt, desto eher wird er nach Orientierung gebenden Hinweisen greifen, wie ein Ertrinkender nach einem Strohhalm. Nicht zufällig arbeitet auch „Gehirnwäsche“ mit der Destabilisierung zentraler Strukturierungsprinzipien um dann den erwünschten Inhalte und Ideologien einzupflanzen. Und gerade dann müssen sich Therapeuten ganz besonders zurücknehmen, keine inhaltlichen Vorschläge zu machen bzw. Richtungen vorzugeben, sondern eine feste, vertrauensvolle und sichere Beziehung anzubieten, die den Menschen den Raum lässt, heraus zu spüren und heraus zu finden, was sie selbst wollen und können.

Die gilt übrigens auch für den Umgang mit destabilisierenden Einflüssen in der aktuellen Biographie des Patienten. Petzold (2003) hat mit seinem Modell von fünf Säulen der Identität auf typische Segmente in der Lebenswelt des Menschen verwiesen, die Stabilität („Säulen“) verleihen können, oder eben zur Instabilität beitragen. Sollte also ein Patient kürzlich einen Autounfall erlitten und dabei seine leibliche Unversehrtheit bedeutsam eingebüßt haben, weshalb er seinen Arbeitsplatz verloren, seine Frau sich von ihm getrennt und er letztlich auch noch sein Haus und die materieller Sicherheit verloren hat, so dürfte natürlich in der Regel keine Förderung weiterer Instabilität angesagt sein. Allerdings ist das eben auch nicht der Normalfall: In all diesen Bereichen sind Menschen, die in die Therapie oder Beratung kommen, eher stabil (bisweilen sogar: überstabil), so dass dies in der Lebenswelt eine hinreichende Basis darstellt, die mit dem Phasenübergang verbundene Instabilität konstruktiv mit dem Beziehungssicherheit gebenden Begleiter, dem Therapeuten, zu durchschreiten.

Resümee Fragt man ebenso schlicht wie grundlegend danach, was Menschen in professionelle Beratungen führt und was für sie getan werden kann, so wird rasch deutlich, dass bei allen relevanten Phänomenen stets die folgenden Prozessebenen zusammenwirken: Im Zentrum der Fragestellung geht es zunächst um die beiden Ebenen psychischer und interpersoneller Prozesse. Diese sind aber einerseits in körperliche und andererseits in kulturelle Prozesse eingewoben. Alle vier Prozessebenen greifen in komplexer Weise ineinander (wobei man auf jeder Ebene weitere Teilprozesse differenzieren könnte – z.B. kulturell die Einflussnahmen von Medien, Sozialstruktur, Arbeitswelt, historischer Entwicklung usw.).

Auf allen diesen Ebenen bilden sich Ordnungen (Muster, Strukturen, Regelmäßigkeiten, Schemata) aus, welche die große Komplexität der Prozesse erheblich reduzieren und deren chaotische Dynamik sinnhaft stabilisieren. Neben Ordnungen der Körper- und denen der Interaktionsprozesse sind insbesondere solche Ordnungen in den psychischen, interpersonellen und kulturellen Prozessen von Bedeutung, welche die komplexen Dynamiken erfahrbarer Phänomene ordnen indem sie ihnen Sinn verleihen. Diese Sinnstrukturen werden von uns „Sinn-Attraktoren“ genannt: Die attrahierenden Kräfte reduzieren und stabilisieren die unfassbar chaotische Welt physischer Reize zur hinreichend fassbaren und sinnvollen Alltagswelt.

Aus Introspektion, Beobachtung und Theorie wissen wir, dass Entwicklungsverläufe meist nicht linear sind, sondern in sprunghaften Phasen (partieller) Neuordnung verlaufen –unterbrochen von stabilen Phasen der Konsolidierung und Ausdifferenzierung vorhandener Ordnungen bzw. Schemata. Menschen suchen nun dann professionelle Beratung auf, wenn Ordnungsmuster in bestimmten Bereichen nicht an neue Entwicklungsherausforderungen durch die veränderten Umgebungsbedingungen adaptiert sind – also eine (partielle) Überstabilität vorhanden ist, bei der neue Aufgaben aufgrund der Verwendung alter Lösungsprinzipien nicht oder nicht befriedigend gemeistert werden können. Wegen der wechselseitigen Verschränkungen der Prozessebenen stellen diese auch gegenseitig füreinander „Umgebungsbedingungen“ bereit: z.B. ist die körperliche Reife in Form der Pubertät eine bedeutsame Umgebungsbedingung für die Adaptation sowohl psychischer als auch interpersoneller Strukturen im Jugendalter. Und ein neuer Arbeitsplatz (kulturelle Ebene) stellt ggf. Herausforderungen an Prozesse im Körper, der Psyche und derinterpersonellen Kompetenz. Wenn und wo solche Ordnungs-Ordnungs-Übergänge nicht gelingen, ist Beratung angesagt. Wobei überstabile Prozessmuster in einer Beziehung zu einem empathischen, akzeptierenden und kongruenten Berater in ihren abstrakten Reduktionen destabilisiert und wieder an die Komplexität der Erlebensvorgänge rückgekoppelt werden.

Dieses Zusammenwirken der Prozessebenen genauer zu beschreiben, ist das Anliegen der „Personzentrierten Systemtheorie“. Sie verbindet das systemtheoretische Entwicklungsprinzip, das u.a. in Rogers „Aktualisierungstendenz“ thematisiert ist, und die zentralen Aspekte eines hilfreichen Beziehungsangebotes begründet, mit heutigen, interdisziplinären Erkenntnissen und Konzepten der Systemtheorie. Obwohl alle vier genannten Ebenen prinzipiell in ihren Verschränkungen gleichwertig sind, wurde der Fokus und das Attribut „personzentriert“ gewählt, weil nicht nur die Prinzipien humanistischer Psychotherapie, wie sie von Rogers begründet wurden, eine besondere Rolle spielen, sondern weil in dem Begriff „Person“ bereits die Verschränkung der Ebenen und ihren Herausforderungen durch Entwicklungsaufgaben impliziert ist: Person wird man nicht durch

Geburt, sondern indem der menschliche Organismus insbesondere seine Fähigkeit aktualisiert, ein Selbstbewusstsein zu entwickeln – und dies wiederum ist nur in Begegnungen mit anderen Menschen möglich, die im Rahmen von kulturellen Sinnkontexten handeln und gemeinsame Bedeutungsfelder erzeugen.

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