Medizin, Psychologie und Beratung im Islam

184
9 Vorwort

Transcript of Medizin, Psychologie und Beratung im Islam

9

Vorwort

10

11

Einleitung

Eine umfangreiche Psychotherapie- und Beratungsszene,

wie sie sich in Europa und auf der Grundlage christlich-

jüdisch-humanistischer Traditionen herausgebildet hat, kennt

die islamische religiöse Tradition bislang nicht. Ratschläge

aus der Überlieferung der Sunna und der Hadithe halfen in

der Vergangenheit. Sie bestimmten Denken, Gefühls- und

Handlungsnormen der Menschen in den Ländern, in denen

der Islam die vorherrschende Religion war, wenn schwierige

Situationen zu bewältigen waren.

Religiöse und therapeutische Lebensdeutungen sind im Is-

lam nicht so ausdifferenziert aufeinander bezogen wie im

Umfeld des Christentums. Es werden zunehmend von Musli-

men Wege gesucht, um eine therapeutisch fundierte Therapie-

und Beratungspraxis im islamischen Kontext zu entwickeln.

Sicherlich gibt es bereits praktische und theoretische Überle-

gungen zur Nutzung westlicher Therapiekonzepte für die

Arbeit mit Muslimen. Westliche Therapiekonzepte werden in

der Regel auf ihren Nutzen befragt, den sie in der Anwen-

dung haben. Die jeweilige weltanschauliche Fundierung sol-

cher Konzepte wird kritisch gesehen oder abgelehnt.

Christlich-muslimische Begegnungen zeigen Ansätze zur

inhaltlichen philosophischen und religiösen Verständigung

über Psychotherapie und Medizin, Seelsorge und Beratung im

Horizont der beiden Religionen. Einige solcher Begegnungen

haben mich bewogen, eine Annäherung zwischen der Bera-

tungspraxis in den Traditionen des Sufismus und den moder-

nen »westlichen« Psychotherapie- und Beratungskonzepten

zu suchen. Literarische Beispiele aus islamischer Religions-

12

wissenschaft, Religionsgeschichte und Medizingeschichte

ergänzen die Ergebnisse meiner persönlichen Gespräche zum

Thema.

Begegnungen zwischen europäisch- christlichen Beratern

und Muslimen zeigen, welcher Weg bisher gegangen wurde.

In der Durchführung und Leitung interkultureller Arbeits-

gruppen habe ich erfahren, inwieweit auf beiden Seiten – der

christlichen wie der muslimischen – langsame, aber zugleich

wichtige Schritte im Verstehen des jeweiligen Gegenübers

möglich waren. Dies hat mich ermutigt, aus praktischen Er-

fahrungen literarische Schlüsse zu ziehen. Diese Schlüsse be-

anspruchen lediglich, Anstöße zum Weiterdenken zu sein,

keine fertigen Konzepte.

Zugleich möchte ich einen Überblick geben über Ansätze

zur Gestaltung der multikulturellen Betreuung, wie sie in

einzelnen Altenheimen durchgeführt wird oder in der Pla-

nung ist, über Beratungskonzepte im bikulturellen Setting

und informieren zur Situation von Psychotherapie und hel-

fendem Handeln in verschiedenen islamischen Kontexten.

Mit dem vorliegenden Buch möchte ich einen informativen

Einstieg in die historischen und aktuellen Grundlagen von

Medizinverständnis, von Vorstellungen über Seelsorge und

Beratung im Islam anbieten und gleichzeitig die Diskussion

kulturell divergenter und religionsverschiedener Beratungsan-

sätze anregen, wie ich sie bis jetzt mit persönlichem Gewinn

»narrativ« führen konnte.

Ich danke Herrn Dr. Ismail Altintas, Beauftragter für inter-

religiösen Dialog bei der DITIB, Köln, für Gespräche und

Zusammenarbeit, Herrn Dr. Dr. Ilhan Ilikilic, Mainz, für

Gespräche und das Überlassen von Literatur.

Mein Dank gilt Herrn Dr. Hansjörg Schmid, Studienleiter

der Akademie der Diözese Rottenburg – Stuttgart, für die

Bereitstellung von Literatur. Die Teilnehmerinnen und Teil-

nehmer meines Seminars »Ethik des Helfens im Kontext ver-

13

schiedener Religionen« an der Johann Wolfgang Goethe-

Universität in Frankfurt/Main im WS 2005/6 haben mit For-

mulierungen und Anregungen zu meinem jetzt veröffentlich-

ten Text beigetragen. Dies möchte ich dankend erwähnen.

Königstein im Januar 2007 Ulrike Elsdörfer

14

15

Teil I

16

17

1 Gesundheit im Islam

In der auf dem Koran und den Lehren des Propheten Mo-

hammed fußenden Tradition rangiert an erster Stelle der

Leitsatz: Gesundheit und Wohlbefinden sind eine Gabe Got-

tes. Der Mensch muss verantwortlich mit ihnen umgehen.

Nach muslimischem Glauben ist der Körper und die Ge-

sundheit eine Gottesgabe, für die der Muslim gegenüber Gott

Verantwortung trägt. Der Mensch ist Inhaber und Nutznie-

ßer seines Körpers; Gott hingegen ist dessen Eigentümer. Es

ist eine islamische Pflicht, die Gesundheit zu bewahren und

gegebenenfalls für deren Wiederherstellung erforderliche

Maßnahmen zu treffen. Sowohl Krankheit als auch Heilung

finden für einen Muslim nicht ohne Kenntnis und Erlaubnis

Gottes statt. Die Krankheitserreger und die medizinischen

Maßnahmen sind Vermittler der Krankheit bzw. der Heilung,

deren erste Ursache Gott ist. Dem Muslim obliegt es jedoch,

sich erforderlicher und geeigneter Mittel zu bedienen, um von

Gott geheilt zu werden. Ein Krankheitszustand kann nach

islamischen Quellen als Prüfung Gottes oder als Gnadener-

weis und Sündenvergebung gedeutet werden. Obwohl das

Verständnis der Krankheit als Strafe Gottes nicht mit islami-

schen Quellen zu begründen ist, wird sie vom einen oder

anderen Muslim durchaus als solche wahrgenommen.1

1.2 Das Verständnis von Gesundheit im Islam

Ein gläubiger Muslim ist bereits durch die Befolgung der

18

grundlegenden Vorschriften seiner Religion auf dem Wege,

seine Gesundheit zu erhalten. Tägliche Gebete, die den gan-

zen Körper betreffen, und Fasten führen dazu, Leib und Seele

in ein Gleichgewicht zu bringen. Dieses Gleichgewicht ist nie

zweiseitig auf Körper und Seele und damit nur auf Vorgänge

im Menschen bezogen zu verstehen, als handele es sich hier

um ein besonders ausgewogenes, humanistisches Gesund-

heitskonzept. Sondern es geht um den Dreischritt: Körper-

Seele-Gott, der im Zusammenklang dieser drei verschiedenen

Komponenten gesehen werden muss, um das Gesundheits-

konzept des Islam wirklich zu verstehen. So konstatiert der

islamische Religionswissenschaftler und Mediziner Ilhan

Ilkilic:

»Der Heidelberger Medizinhistoriker Heinrich Schipper-

ges unterstreicht in seinem Buch ›Gesundheit und Gesell-

schaft‹ den philologischen Zusammenhang zwischen den

Begriffen Gesundheit und Islam: ›Wir haben zu berück-

sichtigen, dass der Islam die einzige Hochreligion ist, die

das Wort ›Gesundheit‹ bereits in ihrem Titel trägt und

damit diesen Zentralbegriff zum Fundament der Weltan-

schauung und Lebenshaltung gemacht hat. ›s,l,m = ›sa-

lam‹ bedeutet: ein rundum Wohlsein an Leib, Seele und

Geist, das Heile eben. Die Reflexivform von salam ist is-

lam, die Ganzhingabe an das Heile. Wer sich zu diesem

Heil bekennt, ist ein ›muslim‹«.2

Ausgehend von Quellen aus dem Koran, wird unterschieden

zwischen geistiger, seelischer und körperlicher Krankheit,

wobei der körperlichen Krankheit der weiter oben erwähnte

Wert einer Prüfung Gottes zukommen kann, während die

seelische Erkrankung vielfach als die Folge eines Abfalls vom

richtigen Glaubensweg gedeutet und damit tendenziell eher

verurteilt als behandelt wird. Ilkilic stellt fest:

19

»Auch wenn der Ausgangspunkt der lexikalischen und

metaphorischen Bedeutung des Begriffs Krankheit in die-

sen Versen ein nicht wünschenswerter Zustand ist, so ist

die koranische Beurteilung dieser beiden Zustände unter-

schiedlich, d.h. ein kranker Mensch und ein an Gottes

Existenz zweifelnder Mensch ( was synonym mit der Vor-

stellung von »seelischer Krankheit« gewertet wird, die

Verfasserin) sind nach koranischer Auffassung anders zu

bewerten. Während der erste Krankheitsbegriff, der des

Unglaubens und der Heuchelei, mit der göttlichen Er-

mahnung und Verdammnis in Zusammenhang steht, ist

der zweite Begriff Krankheit als solcher immer mit dem

Trost und der Barmherzigkeit Gottes verbunden. ›Er

weiß, dass es unter euch Kranke geben würde.‹ (Sure

73/20). Die Kranken sollen keine Gewissensnöte haben,

wenn sie ihren, von Gott auferlegten, religiösen und sozi-

alen Pflichten nicht nachkommen können ... ›Gott will

für euch Erleichterung. Er will für euch nicht Erschwer-

nis.‹« (Sure 2/185)3

Diese letztere Unterscheidung zwischen körperlicher und

seelischer Erkrankung und ihren Wertungen innerhalb des

religiösen Denkens wird auch noch weiterhin beschäftigen. In

der Geschichte des Christentums, und durchaus noch in sei-

ner gegenwärtigen Praxis, liegen ähnliche Wertungen vor.

In Bezug auf geistige Erkrankung wird innerhalb des Islam

die Auffassung vertreten, dass ein geistig erkrankter Mensch

nicht religionsmündig sei. Er müsse sich nicht vor Gott ver-

antworten und unterliege somit lediglich der Fürsorge seiner

Zeitgenossen, die im verständnisvollen Umgang mit ihm ihre

Religionspflichten erfüllen können.

Krankheit in ihrem Charakter als göttlich gegebenes

Schicksal muss von dem Gläubigen, wie alles, was Gott ihm

auferlegt, geduldig und annehmend ertragen werden. Es ist

Aufgabe der ganzen Gemeinde, besonders der Imame4, im

20

Rahmen von Seelsorge und Gebet dem Kranken auf diesem

Wege zu helfen. Sie sollen ihm jede Form der Auflehnung als

ein Unrecht gegen Gottes leitenden und gerechten Willen und

seine Fügungen vor Augen halten.

1.2 Geschichte der islamischen Medizin

In der antiken griechischen Medizin wird von einem

Grundkonzept über die Beschaffenheit des Menschen ausge-

gangen: Danach wird alle Nahrung, alle Flüssigkeit, die der

Mensch aufnimmt, durch einen Stoffwechselprozess in vier

Kardinalsäfte verwandelt: Blut, Schleim, gelbe und schwarze

Galle.

Wenn der Mensch krank ist, ist im Zusammenfluss dieser

Säfte eine Unordnung eingetreten. Je nachdem, wie der Fluss

und die Menge dieser Säfte beschaffen sind, entwickelt der

Mensch mit der Zeit ein spezielles Temperament: Diese jewei-

lige, in einer Person vorherrschende Gemütslage wird als

sanguinisch, phlegmatisch, cholerisch und melancholisch

bezeichnet. Bei der Entstehung von Krankheiten ist zu beach-

ten, von welcher Ausgangslage in der Mischung der Körper-

säfte der Behandelnde auszugehen hat, um die richtige Medi-

zin zu finden. In diesem Konzept wird in Ansätzen von einer

Vermischung von Körper- und Seelenzustand ausgegangen,

die als ein erster Ansatz zu einer psychosomatischen Medizin

betrachtet werden könnte. Diesem Ansatz wurde allerdings

nicht in allen Bereichen der islamischen Denktraditionen

weiter nachgegangen. Er wurde besonders in den im engeren

Sinne religiösen Betrachtungen islamischer Gelehrter nicht

wieder aufgenommen, bzw. bewusst ignoriert.

Die griechische Auffassung von einer Verbindung von leib-

lichem und seelischem Befinden durch die Beschaffenheit der

Körpersäfte fand weit mehr Eingang in die islamische Ge-

21

sundheitslehre als in das theologische Menschenbild. Ge-

sundheit wird verstanden als Ausfluss seelischen und geisti-

gen Wohlbefindens, also als Zusammenfluss aller positiven

Strömungen in den Körpersäften. Alles, was zur Erhaltung

dieses Zustandes seelischen und geistigen Wohlbefindens

beiträgt, ist als gut und nützlich zu werten.

»So heißt es, dass ein Mann nicht in einem Lande woh-

nen solle, in dem nicht folgende vier Dinge vorhanden

seien: ein gerechter König, fließendes Wasser, ein geeigne-

ter kundiger Arzt und Heilmittel«.5

Die Gesundheit ist in der Anschauung der islamischen Medi-

ziner ein natürliches Phänomen des Körpers und ein hohes

Gut für den Menschen. Hier ist zu unterscheiden zwischen

dem medizinischen und dem theologischen Menschenbild

und damit der Bedeutung der Gesundheit als oberstem Gut.

Für die islamischen Theologen ist Gesundheit immer ein

Ergebnis des guten Verhältnisses zu Gott. Damit steht Ge-

sundheit immer innerhalb der Triade Gott – Seele – Körper.

Sie ist nie nur ein Ergebnis immanenten Ausgleichs zwischen

Körper und Seele. Sie kann im Rahmen des zu entwickeln-

den Gottesverhältnisses als zweitrangig oder gar hinderlich

angesehen werden. Denn gerade der kranke Mensch sucht

mehr nach der Beziehung zu einem heilenden und helfenden

Gott.

Um das Jahr 1000 n. Chr. wurden die Zielsetzungen der

Medizin von islamischen Gelehrten unter zwei Gesichtspunk-

ten gesehen: Der Erhaltung der Gesundheit und der Heilung

der Krankheit. Diesen beiden Zielen ist das ethische Bestre-

ben des Arztes gewidmet, wobei der Arzt in religiöser Per-

spektive ein Instrument des Heilungswillens Gottes darstellt.

Wege der Erkenntnis für den Arzt liegen im eifrigen Studi-

um der Philosophie und auch der religiösen Quellen seiner

Religion. Weisheit, Gerechtigkeit, Großmut und Redlichkeit

22

gehören zur theoretischen und praktischen Qualität eines

guten Arztes. Es wird unterschieden zwischen dem Arzt, der

ein Studium der Philosophie, der Weisheit, hinter sich ge-

bracht hat, und dem, der zwar mit Kräutern und Methoden

heilen kann, aber keinen großen Fundus an Erkenntnis über

die Welt und den Menschen mit sich bringt. Der so genannte

»Philosophenarzt« nimmt in seiner theoretischen Begründung

Anleihen bei den griechischen Philosophen, der Heiler bei den

traditionellen Formen der Heilkunst in den Kulturen, in de-

nen der Islam heimisch wurde. Genuin islamisch ist in beiden

Vorstellungen nur der Verweis auf die Abhängigkeit aller

Heilkunst von dem ordnenden und leitenden Willen des einen

Gottes.

Zeitgleich mit den genannten Ansätzen, im 11. Jahrhun-

dert, tritt aber noch ein anderes Denken auf. Abu Said Ibn

Bahtisu kennt die griechische Philosophie und fordert, fußend

auf deren Annahmen, den weitergehenden Schritt der Tren-

nung von philosophischer Spekulation und empirischer Evi-

denz. Die Ärzte sollen am Krankenbett, in der sichtbaren,

fühlbaren und nachprüfbaren Welt der praktischen Erfah-

rung, ausgebildet werden, nicht in erster Linie aus den Bü-

chern der Philosophen.

»In seiner Gesundheitslehre (des Abu Said Ibn Bahtisu,

die Verfasserin) stehen Leib und Seele sehr eng zueinan-

der und sind durch psychosomatische Ansätze geprägt.

Ein Gesundheitszustand ist erst dann möglich, wenn so-

wohl der Körper und die Seele sich in ihrer ›natürlichen

Ordnung‹ befinden. Ein Abweichen vom natürlichen Zu-

stand bedeutet Krankheit. ›Der Mensch gehört in das

Reich der Lebewesen, besteht aus einer Seele und einem

Körper, wobei die Seele den Körper in ihre Dienste

nimmt, durch ihn wirkt und aus ihm heraus ihre Kräfte

enthüllt. Es ist offenbar, dass der Körper des Menschen

den Gegenstand aus verschiedenen Richtungen bemühen

23

muss und dass sie sich um die Erhaltung seiner Gesund-

heit und seines Wohls bemüht.‹

Abu Said Ibn Bahtisu widerspricht dem platonischen Du-

alismus und vertritt die Meinung, dass die Seelenheilkun-

de nicht zur Philosophie, sondern zum Tätigkeitsbereich

der Medizin gehört. Auch anders als Galen6 vertritt er die

Meinung, dass der menschliche Körper nicht gesund wer-

den kann, wenn die Seele von einer Krankheit befallen

wird ...

Mit seinem Gesundheitsbegriff ist Ibn Bahtisu ›viel weiter

als die griechische Medizin gegangen, indem er die seeli-

sche Ursache körperlicher Krankheiten feststellte, und

umgekehrt folgerte, dass jede seelische Krankheit auch

eine körperliche Krankheit sei. Ibn Bahtisu teilte daher

die Therapie in eine somatische und eine psychische auf,

die er beide zum Aufgabenbereich des Arztes rechne-

te‹.«7

200 Jahre später wird sogar innerhalb der islamischen Ge-

lehrten-Literatur von einem interkulturellen und interreligiö-

sen Konsens bezüglich der Wirklichkeit der Heilkunst gere-

det. Said Ibn Hassan schreibt:

»Immer waren die Völker sich einig, und es stimmen die

Zeugnisse durch richtige Analogie und fortdauernde Er-

fahrungen überein in den Vorzügen der Heilkunst, ihrer

Erhabenheit sowie dem (zwingenden) Bedürfnis der Men-

schen nach ihr. Dies beweisen die religiösen Gesetze, ver-

schieden wie sie sind, und die Glaubensrichtungen, fest-

stehend, wie sie sind.«8

Said Ibn Hassan bezieht sich auf den Propheten Mohammed,

von dem folgender Ausspruch tradiert wird:

»Die Wissenschaft besteht aus zwei Wissenschaften, näm-

24

lich der Wissenschaft von den Körpern (d.h. der Medizin)

und von den Religionen«.9

Für das Studium der Medizin wie auch der Religionswissen-

schaften ist für Said Ibn Hassan eine gesunde körperliche und

seelische Konstitution notwendig:

»Wenn es dem Arzt nicht gelungen ist, seine Gesundheit

zu bewahzren und seine Krankheit loszuwerden, so liegt

es nahe, dass er andere nicht heilen kann«.10

Bei der Wiederherstellung der Gesundheit arbeitet der Arzt

im Dienste der Natur, die Gott der Erhabene beauftragt hat,

die beseelten Körper gesund zu erhalten, ihre Zustände zu

verbessern und ihre Beschwerden zu heilen. Der Arzt ist im-

mer nur ein Diener der Natur.11

Hellenistische Auffassungen werden hier mit den Grundla-

gen des Islam verbunden. Natur ist die wesentliche Größe für

die Medizin, dennoch ist ursächlich die Wirkkraft Gottes

hinter der Anwendung und Einsicht in das Wirken der Natur

notwendig. Nur wenn er beides berücksichtigt, handelt der

islamische Arzt im Einklang mit seiner Religion.

In Bezug auf den Menschen, der gelegentlich zum Patien-

ten wird, gilt der von Medizinern und Theologen gleicherma-

ßen vertretene Ansatz: Gesundheit wird als Voraussetzung

betrachtet, um die Religion mit allen ihren Ansprüchen voll

leben zu können. Soziale, religiöse und familiäre Verpflich-

tungen können nur von dem Menschen entsprechend den

Grundforderungen des Islam erfüllt werden, der seiner Ge-

sundheit nicht durch falsche Lebensform schadet. Deshalb

gehört das richtige Verhalten zum Erhalt der Gesundheit

geradezu zum Katalog der religiösen Pflichten des Muslims,

steht ihnen allen voraus und wurzelt in dem Glauben an die

von Gott gegebene gute Schöpfung, die er verpflichtet ist, zu

bewahren.

25

1.3 Medizinische Gesundheitskonzepte im Islam

1.3.1 Hygiene

»Reinheit« ist einer der Zentralbegriffe des islamischen

Glaubens. Schon ein Hadith12 bezeugt, dass die Reinheit die

Hälfte des islamischen Glaubens ausmache. Sicher ist hier

sowohl an körperliche Vorgänge wie an seelisch-spirituelle

Vorgänge zu denken.

Leib und Seele gehören nach der gängigen islamischen

Anthropologie eng zusammen, und so ist es nicht verwunder-

lich, wenn in Texten des Korans ein religiöser Heilauftrag

und die dazugehörigen hygienischen Bestimmungen mit glei-

cher Bedeutung genannt werden. Im holistischen, streng mo-

notheistisch orientierten Menschenbild des Islam steht der

Mensch mit Leib und Seele, Handeln, Fühlen und Denken,

mit seiner Nahrung und seinen Gewohnheiten, Gott gegen-

über.

»Die Sauberkeit hat nämlich vier Stufen: Die erste Stufe

ist die Reinigung des Äußeren von Schmutz und Aus-

scheidungen, die zweite besteht darin, seine Glieder von

frevelhaftem und sündhaftem Tun fernzuhalten, die dritte

Stufe ist das Freiwerden des Herzens von Unsittlichkeit,

die vierte Stufe ist das Freiwerden des Herzens von allem

anderen außer Gott, dem Erhabenen. Diese vierte Stufe

ist die Reinigung nach Art der Propheten und der wahr-

haft Frommen«.13

Basierend auf klassischen Quellen unterscheidet man bis heu-

te im Alltag eines Muslims zwei Arten von Waschungen:

Ganz- oder Teilkörperwaschung.

Die Teilkörperwaschung findet vor den Gebeten statt, in-

26

dem Arme, Gesicht, Hände, Mund- und Nasenhöhlen sowie

die Füße gewaschen werden. Die Ganzkörperwaschung wird

nach dem Geschlechtsverkehr, nach der Menstruation und im

Wochenbett und öfter vor dem Freitagsgebet ausgeführt.

Waschungen stehen auch im Zusammenhang mit der Vorbe-

reitung und Durchführung der Pilgerfahrt, dem Hadsch.

Die Reinigungsvorschriften haben früh das Bild muslimi-

scher Städte geprägt. Ein Badezimmer oder ein Duschraum

gehört zu jedem Haus. Schon seit dem 7./8. Jahrhundert wa-

ren Badehäuser Bestandteile des muslimischen Stadtbildes. Sie

wurden oft unmittelbar in die Nähe der Moscheen gebaut.

Badehäuser dienten nicht nur der rituellen Reinigung, son-

dern auch der Gesundheitsvor- und fürsorge. Die feuchte

Wärme hatte einen lockernden und beruhigenden und ent-

spannenden Effekt, regte das Immunsystem an und bot auch

geistig-seelische Erholung. Badehäuser waren darüber hinaus

soziale Treffpunkte.

1.3.2 Diätetik

Ähnlich wie hygienische Vorschriften, finden sich auch

Hinweise zur Diät und zur Art der Ernährung bereits in den

Hauptquellen des Islam. Dabei ist gerade bei den Einschrän-

kungen der Nahrungsmittel interessant, dass der Prophet

Mohammed im Koran gegen die Sitten der arabischen Kultur

seiner Zeit vorgeht. Alkohol und Schweinefleisch gehörten

selbstverständlich zur arabischen Küche in der vorislamischen

Zeit. Somit bedeutete das Verbot dieser Nahrungsmittel einen

bewussten Einschnitt in das Erbe der Kultur, um sich von

dieser als neu entstandene Gemeinschaft zu distanzieren.

Der Opferkult war damals in Mekka eine gängige Praxis,

wobei die Opfertiere nicht verzehrt werden durften. Dies

entspricht den Handlungsanweisungen in den meisten Opfer-

ritualen der Religionen. Der Islam wendet sich gegen diese

27

Gewohnheit und erlaubt aus sozialen Gründen das Verteilen

des Fleisches von Opfertieren und dessen Verzehr.

Die Diätetik war nicht nur für die Gesundheitsvorsorge,

sondern auch für die Fürsorge wichtig. Die Behandlung be-

stimmter Krankheiten folgte nach den Qualitäten der Nah-

rung mit dem Ziel, Ausgleich und Harmonisierung der Kör-

persäfte zu schaffen. Für die Auswahl der Nahrungsmittel

und der Diäten, die im Rahmen von Therapien eingesetzt

werden konnten, lagen Vorgaben in der mündlichen Traditi-

on und in der Literatur bereit. Generell kann davon ausge-

gangen werden, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

von Krankheit und Heilmittel unter den immer kargen Be-

dingungen des Lebens beachtet werden musste.

»Wenn er (der Arzt) mit Nahrungsmitteln heilen kann, so

muss er Drogen meiden, und wenn er mit Drogen heilen

kann, so muss er das Operationsmesser meiden, es sei

denn, dass es unbedingt notwendig ist«.14

Ein zeitgenössischer islamischer Theologe äußert sich auf

türkischen Internet-Informationen über Gesundheit in der

Absicht, den Menschen auch heute aus dem Islam heraus zu

begründen, warum sie ihren Körper durch maßvolles und

gesundes Essen erhalten sollen: Sie erhalten damit die Gabe,

die Gott ihnen gegeben hat.

»Wir sollen unseren Umgang mit Essen, Trinken, körper-

lichen Aktivitäten und deren Entwicklung, Schlafen und

Ausruhen überprüfen und unsere Fehler hinsichtlich die-

ses Umgangs verbessern. Wir sollen reichlich Obst und

Gemüse zu uns nehmen und übermässiges Essen und ein-

seitige Ernährung vermeiden. Frische Luft und körperli-

che Aktivitäten sollen wir für wichtig halten und uns um

eine gesunde Entwicklung unserer Kinder kümmern ...«15

28

1.3.3 Ausgewogene Lebenshaltung

Im Koran wird darauf hingewiesen, dass der Mensch nach

einem bestimmten Maß geschaffen wurde und dass er des-

halb auch bestimmte Kriterien des Maßes einhalten soll.

»... und die, die, wenn sie spenden, weder verschwende-

risch noch zurückhaltend sind, sondern die Mitte dazwi-

schen halten. (Sure 25/67). Esst und trinkt und seid nicht

maßlos. Er liebt ja die Maßlosen nicht.« ( Sure 7/31).

Eine Lebensführung in Mitte und Maß wird in der islami-

schen Tradition als wichtigstes Prinzip angesehen. Ein gesun-

der Ausgleich der Körpersäfte macht seelisch und körperlich

gesund und ist die Voraussetzung für ein ausgeglichenes Got-

tesverhältnis. Die Lebensbedingungen in der Entstehungszeit

des Islam und der Umwelt zu dieser Zeit mögen mit zu sol-

chen Grundsätzen beigetragen haben. Allerdings lässt sich

auch auf den Einfluss des griechischen Denkens verweisen.

Ausgleich und Gleichgewicht verschiedener Kräfte im Zu-

sammenspiel für die Gesundheit von Körper und Seele sind

hier eine ebenso wichtige Voraussetzung.

1.3.4 Prophetenmedizin

Die Hadithe des Propheten in Bezug auf medizinische

Maßnahmen, Ernährung, Gesundheit und Krankheit sowie

Hygiene werden als so genannte »Prophetenmedizin« tra-

diert. Die Entscheidungen, Empfehlungen und Unterlassun-

gen des Propheten sind für einen Muslim bindend und haben

handlungsleitenden Charakter. Es existieren allerdings Debat-

ten darüber, inwieweit solche zeitbedingten Empfehlungen

und Meinungen späteren Deutungen und Auslegungen unter-

liegen. Da dem Propheten unterstellt wird, dass er nicht lügen

29

kann, haben auch seine Aussagen zur Medizin eine Wahr-

heitsbedeutung. Man überlegt, ob es Aufgabe der modernen

Naturwissenschaften sei, den wissenschaftlichen Wert der

Hadithe des Propheten zu untersuchen, um sie in den Dienst

der Menschheit zu stellen. Man meint aber auch durchaus,

alleine das Praktizieren der Empfehlungen, Verbote, Meinun-

gen des Propheten habe so etwas wie einen gottesdienstli-

chen, rituellen Wert.

»Die Argumentation der anderen Position, die den ver-

bindlichen Charakter der prophetischen Medizin bezwei-

felt, beinhaltet zwei Begründungsebenen. Zunächst er-

streckt sich der Zweck des Prophetentums nicht auf die

Vermittlung fachspezifischer Kenntnisse. Vielmehr liegt

die Aufgabe darin, den Menschen die Gottesbotschaft zu

verkünden und aus dieser Botschaft ableitbare Glaubens-

prinzipien und deren praktische Implikationen aufzuzei-

gen«.16

In seinen Anfängen bildete der Islam in vielen Bereichen eine

grundlegende Neuerung. Und so war man geneigt, auch in

Sachen Gesundheit von dem Propheten Mohammed Neues zu

erfahren. Er aber betonte, dass seine nicht überall perfekte

praktische Erfahrung dazu führen könne, dass seine Aussagen

in die Irre führen. Wo experimentelle Erfahrung oder wissen-

schaftliche Kenntnisse Voraussetzung seien, müssten seine

Aussagen nicht als geltende Gesetze betrachtet werden.

Bücher über Prophetenmedizin werden noch bis heute ge-

schrieben und erfreuen sich durchaus eines hohen Ansehens

unter den Laien in der Bevölkerung islamischer Länder. Dies

ist sicherlich der Popularität der Hildegard – Medizin inner-

halb des christlichen Kontextes vergleichbar. Allerdings ist

die Rolle des Propheten und der verhältnismäßigen Unan-

tastbarkeit seiner Meinungen in der populären Perspektive

nicht mit der von Hildegard von Bingen zu vergleichen. Die

30

Aussagen der Prophetenmedizin sind allerdings für die Fach-

welt im Sinne einer normativen Quelle weitgehend uninteres-

sant geworden, wenn auch moderne Mediziner in Publikatio-

nen immer wieder auf die Rolle der Religion und der

Meinung des Propheten rekurrieren, um medizin – wissen-

schaftliche Positionen gegenüber den Menschen plausibler zu

machen. Letztendlich aber orientiert sich die Fachwelt der

islamischen Mediziner an den Standards der internationalen

Diskurse in der Medizin. Für sie rangieren an erster Stelle die

empirisch gewonnenen Resultate der wissenschaftlichen,

experimentellen Medizin und deren Ergebnisse.

1.4 Islamische Mystik und Medizin

In der islamischen Mystik wird die Gesundheit nicht als

das höchste Gut und nicht als die wesentlich Voraussetzung

für den Menschen und seine ganzheitliche Existenz gewertet.

In der Mystik existiert eine strengere, religiös gebundene

Lebensform und Weltanschauung, für die ein intaktes Got-

tesverhältnis zumindest in der Geschichte einen größeren

Wert als die äußere Gesundheit des Leibes darstellte. Es wird

sogar innerhalb der Denkweisen der islamischen Mystik an-

genommen, dass ein gesunder Mensch oft eher die Neigung

habe, seine Gesundheit zu genießen und das Gottesverhältnis

dabei gerade aufgrund seiner Sorglosigkeit zu vernachlässi-

gen. Was in der strengen koranischen Auslegung nicht so

deutlich anklingt, wird hier vorausgesetzt: dass der Mensch

getrennt zu betrachten ist in der Differenz von Leib und See-

le. Beide haben eine unterschiedliche Wertigkeit für die reli-

giöse Existenz, und so kann die Krankheit des einen, des

Körpers, für die Gesundung der anderen, der Seele, durchaus

vorteilhaft sein.

Ein solches Denken resultiert aus einem dualistischen

31

Menschenbild, wie es in der antiken Welt verschiedentlich zu

finden war, nicht unbedingt aber den primären Quellen des

Islam, dem Koran und den Hadithen des Propheten, zugrun-

de liegt. Islamische Mystiker nahmen in ihrem Menschenbild

Anleihen bei den umgebenden kulturellen Einflüssen, nicht

zuletzt bei den Christen und deren mystischen Strömungen

und deren dualistischen Menschenbildern.

So kann im dualistischen Verständnis, in dem Körper und

Seele voneinander getrennt sind, in dem Heilung des Körpers

und Heil der Seele nicht unbedingt im Einklang stehen müs-

sen, Krankheit eine heilsame Konsequenz für den Menschen

haben; sie kann seine Seele wieder näher zu Gott zurück zu

bringen, sie kann ihn läutern und in einem spirituellen Sinne

reinigen. Ein solcher Gedankengang taucht bereits in antiken

Quellen, bei Heraklit, auf, der die Vorteile der Krankheit zu

nennen weiß: »Krankheitserfahrung macht Gesundheit ange-

nehm und gut, Hunger, Sättigung, Ermüdung das Ausru-

hen.«17

Al Ghazzali (gest.1111), einer der bedeutendsten Gelehrten

des islamischen Mittelalters, hält die Medizin für eine wesent-

liche Wissenschaft für den Menschen, um sein Wohlbefinden

zu befördern. Er stellt jedoch auch fest, dass die Gesundheit

beim Menschen das Gefühl der Bedürfnislosigkeit und damit

indirekt das Empfinden der Überheblichkeit gegenüber Gott

fördern könne. Der Mensch erlebt dagegen, wenn er krank

geworden ist, seine Schwäche, seine Machtlosigkeit und seine

Angewiesenheit auf Gott. So ist die Krankheit nach Al Ghaz-

zali für den Menschen eine wichtige Erfahrung, die ihn erst in

seiner inneren Konstitution reifen lässt. Für Al Ghazzali ist es

sogar mit dem islamischen Glauben und dem postulierten

guten Schöpferwillen Gottes vereinbar, wenn ein Mensch

unter Umständen eine Therapie ablehnt, die doch im klassi-

schen Verständnis eine Mitwirkung am Heilungswillen Got-

tes bedeutet und damit nicht vom Menschen zurückgewiesen

werden darf.

32

Eine Therapieverweigerung ist dann zu rechtfertigen, wenn

im Erleben der Krankheit für den Menschen ein geistlicher

Gewinn liegt, der ihn über das alltägliche reine Vegetieren

erhebt. In diesem Zusammenhang wird sogar von dem Be-

griff »Einstellung einer geistigen Elite« gesprochen, d.h. von

der geistigen Entwicklung von Menschen, die freiwillig, im

Sinne einer Läuterung, Leidenszustände auf sich nehmen und

absichtlich nicht den Arzt zu bemühen.

Es wird davon berichtet, dass auch Mohammed in man-

chen Fällen darauf verzichtete, einen Mediziner zuzuziehen,

weil er sich und seinen Zustand direkt dem Handeln Gottes

an ihm aussetzen wollte.

»Da nun die Krankheit viele Vorteile mit sich bringt, ver-

treten manche die Meinung, man sollte nichts unterneh-

men, wodurch diese aufgehoben wird, weil sie darin ei-

nen Gewinn für sich sehen, nicht, weil sie es als Verlust

erachten, wenn man sich einer Behandlung unterzieht.

Wie könnte es auch ein Verlust sein, wo doch der Pro-

phet es getan hat!«18

Ein »elitäres« geistliches Selbstverständnis, dem auf jeden

Fall die Beziehung der Seele zu Gott an erster Stelle steht,

überwiegt hier. Die körperliche Gesundheit des Menschen

scheint für das Gottesverhältnis zweitrangig zu sein. Ein sol-

ches Selbstverständnis wurzelt in einer vorausgesetzten philo-

sophischen und theologischen Grundannahme: In diesem

Denken werden Leib und Seele in einem Gegensatz gesehen.

Sie ergänzen sich nicht gegenseitig. Die Seele wird gegenüber

dem Körper als höherwertig betrachtet.

Im anderen Fall, aus dem eher medizinisch-

naturwissenschaftlichen Blickwinkel, werden Leib und Seele

als komplementär erachtet und können nicht so klar als ver-

schieden bedeutsam für Gott angesehen werden. Beide zu-

sammen – Körper und Seele – bilden in ihrer Einheit erst das

33

Gegenüber zu Gott, der auch beide zusammen als gut und

gesund geschaffen hat und erhalten will.

Es ist nicht ganz leicht, die zum Teil aus dem 8. und 9.

Jahrhundert nach Christus kommenden, ursprünglichen Leh-

ren der islamischen Mystiker einem Diskurs über heutige

Gesundheitsverständnisse im Islam gegenüberzustellen. Die

Anschauungen der Mystiker müssen auf ihrem historischen

Hintergrund, auf ihrem Erwachsen aus hellenistischen Men-

schenbildern, aus hellenistischer Medizin und Psychologie,

aber auch aus den Einflüssen der christlichen asketischen

Strömungen gesehen werden. Es ist sinnvoll, die kommunitä-

ren Lebensformen der Sufis mit einzubeziehen, wenn man ihr

Menschenbild und die Ausprägung dessen, was sie über Kör-

per und Seele des Menschen lehren, verstehen will. Dies er-

fordert eigentlich eine weitläufige, vor allem religiöse Einord-

nung, die hier nicht geschehen kann. Dennoch ist es

unerlässlich, die islamische Mystik in Kurzform zu erwähnen,

da sie gerade mit ihrem Interesse an der inneren, seelischen

Entwicklung des Menschen eine Grundlage für »Psychologie

im Islam« gelegt hat. In dieser Hinsicht sollen einige Gedan-

ken aus der Geschichte des Sufismus19 zum Tragen kommen.

Sufis, Menschen, die sich in grobe Gewänder (Wollgewän-

der, wie der Name im Arabischen am ehesten zu deuten ist)

hüllten, lebten unter einfachen Bedingungen hauptsächlich

ein Leben der Hingabe an Gott. Sie suchten im »Dhikr«, im

täglichen Gottesgedenken, in der Anbetung des Gottesna-

mens in Gesang und Gebet, und in religiösen Übungen auf

einem »mystischen Pfad« ihre Seele zu erziehen, zu vervoll-

kommnen und sie immer mehr mit Gott zu vereinigen. Reli-

giöse Führer, die Scheichs, begleiteten Novizen und Fortge-

schrittene mit spirituellen Übungen und asketischen Auflagen

als Seelenführer und Pägagogen. In ihren Übungen ging es

einigen Sufis auch um die Ausdrucksformen des Körpers, vor

allem durch den Tanz bis zur Ekstase, so etwa den wohl be-

rühmtesten Sufis, den tanzenden Derwischen. Allerdings wa-

34

ren solche extremen Ausdrucksformen der Seele in der Nähe

Gottes nie den Anfängern erlaubt, sondern nur denen vorbe-

halten, die schon einen gewissen Weg ihrer seelischen und

religiösen Reifung hinter sich hatten.

Die Sufis verrichteten, wie alle Muslime, ihre täglichen

Gebete und alle anderen Grundpflichten ihrer Religion. Dar-

über hinaus aber entdeckten und verfolgten sie spezielle Ziele

eines heiligen und geheiligten Lebens. Es ging ihnen in abge-

wandelter Form um einen Weg der Selbsterkenntnis, der Läu-

terung von individuellen Leidenschaften und der Reifung der

Seele, sodass sie sich dem Ziel, Gott im Rahmen der Selbster-

kenntnis immer näher zu kommen, im Laufe der Zeit besser

widmen konnten. Ihre Psychologie hatte also ein religiöses

Ziel. Dabei gingen sie davon aus, dass die Seele des Men-

schen in ihrem ursprünglichen Zustand in einem Gegensatz

zum Guten steht, dass die Seele ohne pädagogische Anleitung

und Übungen nur ihren triebhaften Neigungen folgt und dass

sie dazu angetan ist, zum Bösen aufzureizen. Wenn aber der

Mensch diesen triebhaften Zustand seiner Seele erkennt und

beginnt, sich dagegen zu erheben, entwickelt sich in seiner

Seele eine Phase der Selbstanklage. Schließlich führt die Ent-

wicklung der Seele im dritten Schritt, in der Überwindung

und Beherrschung der Leidenschaften dazu, dass sie ihren

Frieden findet.

Dieser Dreischritt der seelischen Entwicklung ist als die

Psychologie der Sufis zu betrachten. Sie wurzelt direkt in

deren theologischem Verständnis:

»Der Koran hatte dem Menschen einen sehr hohen Platz

angewiesen, ohne jedoch ins Detail zu gehen. Die Sufis

aber beschäftigten sich intensiv mit den verschiedenen

Aspekten des Menschen. Die Handlungen der göttlichen

Allmacht werden am Menschen durchgeführt; er ist, wie

Rumi20 so treffend sagt, ›das Astrolab der Eigenschaften

der Erhabenheit‹«.21

35

Die Mystiker haben viele Wege gefunden, um diesen hohen

Rang des Menschen zu beweisen. Einer ihrer Lieblingsverse

ist daher: »Und wir werden euch unsere Zeichen in den

Horizonten und in euch selbst zeigen – seht ihr denn nicht?«

(Sura 41/53) – ein Vers, den sie als Befehl Gottes auffassten,

in ihr eigenes Herz zu blicken, um dort die Quellen des Wis-

sens und schließlich den göttlichen Geliebten zu finden, der

dem Menschen ›näher als die Halsschlagader‹ ist ( Sura

50/16).

Bisher wurde hier die islamische Mystik vor allem aus his-

torischen Quellen betrachtet. Selbstverständlich ist die mysti-

sche Bewegung innerhalb des Islam nicht nur als vergangen

zu verstehen. Es ist bekannt, dass nach der Gründung der

modernen Türkei durch Atatürk im Jahre 1925 die Sufi-

Orden in diesem Land verboten wurden. Sufismus lebt aber

weiter in Ägypten und vielen Ländern Asiens, selbstverständ-

lich auch in der Türkei.

»So haben einige mystische Führer in der Türkei, die

schweigend, aber intensiv ihren Freunden die alles umfas-

sende Liebe predigen und danach leben, eine Anzahl von

Jüngern angezogen. Ähnlich ist es in anderen muslimi-

schen Ländern, obgleich in manchen der Einfluss des

›Dorfheiligen‹ oder des mystischen Führers groß genug

ist, selbst politische Entscheidungen zu beeinflussen. An-

dere geistige Meister, vor allem in Nordafrika, sind stark

genug, selbst hochgebildete Europäer anzuziehen. Martin

Lings Buch ›A Sufi Saint of the Twentieth Century‹ gibt

einen guten Eindruck von dieser geistigen Welt, ähnliche

Biographien könnten auch über andere Mystiker zwi-

schen Istanbul und Delhi geschrieben werden.«22

In Europa gibt es interessierte Interpreten der Lebensformen

des religiösen Anliegens des Sufismus; es existieren auch Sufi-

Gemeinschaften; eine sehr berührende Feier eines Dhikr er-

36

lebte die Verfasserin im Rahmen einer interreligiösen Tagung

in einer evangelischen Akademie.23

37

Islam und westliche Wissenschafts-Diskurse

Seit dem 18. Jahrhundert, als auf breiterer Basis von Euro-

pa Interesse an muslimischen Ländern gehegt wurde, gibt es

auch einen philosophischen und naturwissenschaftlichen

Austausch im Bereich der Medizin zwischen beiden Kulturen.

Nachdem im Mittelalter eine Blüte der islamischen Medi-

zin zu verzeichnen war, und diese damit Europa überflügelte,

geriet nun das Verhältnis zur Medizin als Naturwissenschaft,

wie sie in Europa entdeckt worden war, in eine andere Di-

mension für die Muslime. Vielfach war der »kulturelle Aus-

tausch« durch militärische Usurpation der europäischen

Mächte erzwungen worden. Menschen in muslimischen Län-

dern sahen ein, dass sie sich dem »Fortschritt« und dem

Denken des Westens und Europas nicht entziehen konnten.

Reformbewegungen entstanden, innerhalb derer die Gesell-

schaften den europäischen Einflüssen ausgesetzt wurden. Es

wurden Stimmen laut für die Emanzipation und schulische

Bildung der Frauen, gegen das Tragen des Schleiers24, der als

nicht zu den Inhalten des Islam genuin zugehörig entdeckt

wurde.

Der Islam und seine Interpretationsmöglichkeiten beschäf-

tigten auch die, die, auf dem Boden ihrer Religion, die »west-

liche Medizin« bedachten und begrüßten.

»Die allgemeine positive Einstellung des Islam zu den

Natur- und Geisteswissenschaften einerseits, die von der

islamischen Wissenschaftsgeschichte bezeugt wird, und

der unverkennbare säkulare Charakter der modernen

Wissenschaften und ihre Anwendungsformen anderer-

38

seits, die oft mit den Grundnormen des Islam kollidieren,

bestimmen bis heute die Hauptpositionen dieser Diskur-

se. Zweifelsohne haben diese Ansätze einen klaren Ein-

fluss auf die Argumente, die im Rahmen der bioethischen

Diskussion vertreten sind. Diese Positionen können grob

in zwei Hauptgruppen aufgeteilt werden.«25

Die Mehrheit derjenigen, die von islamischer Perspektive auf

die modernen Naturwissenschaften sehen, betrachten diese

als wertfrei. Sie sehen die in diesen Wissenschaften ange-

wandten Methoden als neutral und objektiv an, frei von vor-

gegebenen ideologischen Komponenten. Es wird auch nicht

unterstellt, dass die Anwendung naturwissenschaftlicher Me-

thoden genuin »westlich« sei und damit in der Vorgabe poli-

tisch festgelegt. Es gibt nur gute und schlechte Ziele und Er-

gebnisse, die man mit diesen Methoden erreichen kann.

Solange durch den Islam vertretene gute Ziele mit modernen

naturwissenschaftlichen Zwecken erreicht werden, sind sie

vertretbar.

Viele islamische Betrachter gehen davon aus, dass trotz

heutiger Wissenschaftserkenntnisse und Techniken zentrale

Probleme der Menschheit nicht auf diese Weise gelöst werden

können. Sie empfinden die modernen Naturwissenschaften

nur als eine Weiterentwicklung der von den Muslimen schon

im Mittelalter gefundenen Lösungen in der Medizin, die da-

mals von Europa übernommen wurden. Sie gehen davon aus,

dass die heutige Rückständigkeit der muslimischen Länder im

Bereich der Naturwissenschaften und Technik nur dadurch

entstanden ist, dass sich die Muslime zu sehr von der Religi-

on abgewandt haben. Eine neue Beschäftigung mit den Quel-

len des Glaubens würde demnach auch die Quellen zur Be-

wältigung der Welt neu sprudeln lassen.

Anders wurde in der Geschichte über den Islam als eine

wissenschaftsfeindliche Religion geurteilt, als es um die poli-

tische Abschaffung und Zurückdrängung der Religion in der

39

Türkei ging. Hier wurden nicht die Wissenschaften auf dem

Boden der Wahrheiten des Islam gesehen, sondern der Islam

wurde eher nach den Kriterien der Naturwissenschaften und

Gesellschaftswissenschaften zur Zeit Atatürks gewertet. Für

Atatürk galt:

»Für alles auf der Welt, ob für materielle Dinge, ob für

geistige Dinge, für das Leben oder für den Erfolg, ist die

Wissenschaft, die Naturwissenschaft, der wahre Wegfüh-

rer; außerhalb der Wissenschaft und der Naturwissen-

schaft nach einem Wegführer zu suchen, ist Gedankenlo-

sigkeit, Ignoranz und ein Abweg«.26

Insgesamt betrachtet kann, auf dem Hintergrund der einen

oder anderen Argumentation, davon ausgegangen werden,

dass sich die Menschen in islamischen Ländern nicht den

modernen Naturwissenschaften und damit der Nutzung der

modernen Medizin verschließen. Schon im Rahmen des Os-

manischen Reiches wurden Wissenschaftler und Studenten

zum Austausch und Studium nach Europa geschickt.

In Bezug auf heutige Debatten über Biomedizin und Gen-

technik lassen sich folgende religiöse Positionen finden: For-

schungstätigkeit an der Schöpfung Gottes ist nichts anderes

als ein Versuch, die Zeichen Gottes zu verstehen und dies

sogar als eine Tätigkeit im Rahmen der religiösen Pflicht zu

betrachten. Es gibt somit eine Forschungspflicht im Bereich

der Gentechnik, die der Menschheit neue Horizonte eröffnet

hat. Sich dieser Forschung zu verschließen, sie begrenzen zu

wollen, bedeute, die Schöpfungsgewohnheiten Gottes gerade-

zu zu verdunkeln.27

Ähnliches wie für die Forschung innerhalb der Gentechnik

gilt auch für die humangenetischen Forschungen mit Embry-

onen. »Für gute Zwecke« sind sie zu befürworten und beför-

dern das Schöpfungswerk Gottes, für das der Forscher dann

zum positiven Instrument werden kann.

40

Gegen die euphorische Vereinnahmung der Wissenschaften

für die Religion steht die kritische und distanzierte Betrach-

tung anderer Forscher, wenn es um die atheistischen oder

religions-neutralen Begründungen der Naturwissenschaften

und ihrer Methoden geht. Da diese Wissenschaften in Europa

auf weitgehend säkularem Boden gewachsen sind, ist schon

nach ihrer Fundierung im Rahmen eines Glaubenssystems,

bzw. ihrer Position in diesem kritisch zu fragen. Ihr Wissen-

schaftsverständnis, ihre Ziele und Inhalte müssen erst auf das

islamische Wissenschaftsverständnis, auf das islamische Men-

schenbild und seine Wertvorstellungen hin überprüft werden.

Danach müsse die Wissenschaft sich messen lassen an der

Ethik, die aus den Lehren der Religion resultieren. So gab es

hier auch kritische Stellungnahmen zu »Wissenschaft und

westlicher Technik«. Zwischen verschiedenen Versuchen, die

Offenbarungsqualitäten der Religion mit den Vorgaben und

Methoden der empirischen Wissenschaften zu »versöhnen«,

wird von den muslimischen Denkern hin und her manövriert

und gedanklich operiert.

Es gibt immer wieder gänzlich kritische Positionen, die den

Koran nicht als ein Lehr- und Empfehlungsbuch für Biowis-

senschaften umgedeutet haben möchten. Er sei eine Schrift

mit normativem ethischem Inhalt, und in dieser Hinsicht

kollidiere er mit Methoden und Möglichkeiten moderner

empirischer Humanwissenschaften. Dies sei als Dissonanz zu

respektieren. Ebenso werden gelegentlich die Sichtweisen der

Biologie als ideologisch angesehen, das Menschenbild der

Biologie als »despotisch«. Es gäbe einen Unterschied zwi-

schen islamischem und biologischem Menschenbild. Dies zu

betrachten, erfordere eine schnelle intellektuelle Auseinander-

setzung mit den jetzigen und in der Zukunft möglichen gen-

technischen Anwendungen.28

Die kasuistischen Entscheidungsformen der konventionel-

len Urteilsbildung und ihre klassische Bedeutung im prakti-

schen Leben der Muslime sowie die von der europäischen

41

postmodernen Philosophie nicht unberührten wissenschaftli-

chen Diskussionen in der islamischen Welt müssen als Ein-

flussfaktoren bei der Entstehung dieser unterschiedlichen

Positionen betrachtet werden.

»Aus der heutigen Perspektive ist es nicht leicht, die zu-

künftige Entwicklung und Wirkung dieser Ansichten auf

die bioethischen Debatten zu prognostizieren. Anderer-

seits ist es unschwer vorherzusagen, dass die modernen

bioethischen Problemfelder wie Stammzellenforschung,

Klonen des Menschen u. a., einen Diskurs über die nor-

mativen Begriffe wie Menschenwürde, Person, Leiblich-

keit, Integrität auch in der innerislamischen Diskussion

unverzichtbar machen werden. Diese Erfordernis scheint

jedoch ohne eine gewisse hermeneutische Sensibilisierung

für die islamischen Hauptquellen schwierig zu leisten zu

sein.«29

2.1 Medizin und Gesundheit innerhalb der modernen Kultur islamisch geprägter Länder

E-Health ist neben E-Medizin der Umschlagplatz des In-

ternets für international diskutierte Meinungen zu Gesund-

heit und Wellness.30 E-Medizin benutzt das Internet eher für

akademisch betriebene Biomedizin in Forschung und Lehre,

während für E-Health der medizinische Laie der Adressat ist.

Im Folgenden werden die Themen betrachtet, die in türki-

schen, arabischen und persischen Internet-Seiten von Fach-

personal für interessierte Laien rund um das Thema Gesund-

heit angeboten werden. Es fällt auf, dass, abgesehen von den

Publikationen im türkischen Bereich, auch von medizinischen

Fachleuten und Naturwissenschaftlern gerne auf religiöse

Bezüge, Vorschriften und Traditionen rekurriert wird, um die

42

eigene vorgestellte Meinung plausibel zu machen. Das Einbet-

ten eines naturwissenschaftlich begründeten Diskurses in

einen traditionellen, dem Leser geläufigen Kontext scheint die

Akzeptanz des Gesagten deutlich zu erhöhen.

E-Health umfasst Internetbereiche, die verständlich über

Gesundheitsvorsorge und -verbesserung, insbesondere in

medizinischen Aspekten, und über Behandlung von Krank-

heiten, informieren, ohne den Besuch des Arztes ersetzen zu

wollen.

Auf türkischen Internet-Seiten wird unterschieden zwi-

schen »Männergesundheit«, »Frauengesundheit« und »Kin-

dergesundheit«. Es gibt natürlich auch andere, etwa an den

zu behandelnden Symptomen orientierte Auflistungen. Diese

genannte Rubrik aber lässt erahnen, wie sehr hier eine an

tradierten gesellschaftlichen und familiären Vorstellungen

orientierte Gesellschaft angesprochen wird.

Chronische Erkrankungen wie Diabetes werden immer

wieder im Hinblick auf ihre Bedeutung und Behandlung im

Rahmen der Erfüllung religiöser Pflichten dargestellt. (Fasten

im Ramadan – mit Diabetes und entsprechender die Gesund-

heit erhaltender Diät?) In der Türkei spielt Sport im Rahmen

der Erhaltung der Gesundheit eine ähnliche Rolle wie in Eu-

ropa, in arabischen und persischen Gesundheits-Erklärungen

ist der Sport kein wesentlicher Faktor für die Gesundheit der

Menschen.

Im Bereich der türkischen Informationen wird stark mit

Werbung gearbeitet, der Informationswert dahinter muss

manchmal erst evaluiert werden. Es ist interessant, dass sich

keine türkische Internet-Seite über einen generellen Begriff

von Krankheit und Gesundheit äußert, schon gar nicht religi-

onsspezifische Aspekte behandelt. Dies heißt aber nicht, dass

es keinen derartigen Begriff gibt. Der den Gesundheitsinfor-

mationen zugrunde liegende Begriff ist von einem naturwis-

senschaftlichen Denkansatz geprägt. Krankheit wird dem-

nach als eine messbare Abweichung von einem

43

durchschnittlich definierten biologischen Funktionieren ver-

standen und hat für den Menschen einen Leid zufügenden

Charakter. Deshalb muss die Krankheit kuriert werden, unter

anderem auch, damit der Patient wieder zur durchschnittlich

von ihm geforderten Leistung fähig wird. Es wird weder der

Begriff von Leid problematisiert noch wird in Frage gestellt,

inwieweit gängige Leistungsvorstellungen kulturell oder für

den jeweiligen Menschen sinnvoll sind.

Es geht hier, ähnlich wie in Europa, nicht um eine norma-

tive Funktion von Krankheit, sondern um eine funktionale

Definition. Bei 90% der evaluierten türkischen Internet-

Seiten spielen die islamische Religion, das durch sie geprägte

Glaubens- und Krankheitsverständnis und die aus diesem

System sich ableitenden Handlungsnormen keine Rolle.

Von einem türkischen Professor für islamische Theologie

wird für den Umgang mit der Gesundheit ein Prophetenaus-

spruch zitiert: »Unser Körper ist ein erforderliches Mittel

für unser Leben. Er ist ein unsere Seele tragendes Reittier.

Unsere Verpflichtung besteht darin, dass wir unseren Kör-

per vor Krankheiten schützen, ihm sein Recht geben, ihn

sehr gut pflegen. Essen, Ausruhen, medizinische Fürsorge,

Vorsorgeuntersuchungen und therapeutische Maßnahmen

sind dafür erforderlich.«31 Die genannten Aussagen beinhal-

ten die zwei wichtigsten Definitionen der Gesundheit für

den muslimischen Glauben: Gesundheit als Voraussetzung

für die Erfüllung der religiösen Pflichten und Gesundheit als

einer Gabe Gottes. Muslimsein definiert sich dadurch, dass

eine religiöse Praxis möglich ist, die Gebets- und soziale

Aufgaben übernimmt. Daher muss der Mensch, der solchen

Anforderungen nachkommt, körperlich und seelisch gesund

sein. Bewahrung und Wiederherstellung der Gesundheit sind

also Mitarbeit am Aufbau der Religion und an der Schöp-

fung Gottes.

Basierend auf seinem theologischen Gesundheitsverständ-

nis gibt der Professor der islamischen Theologie seinen Lesern

44

Empfehlungen zum Umgang mit ihren Ärzten und mit sich

selbst:

»›Ich empfehle meinen sehr verehrten Lesern und sehr ge-

ehrten Geschwistern (im Islam), dass sie bitte sehr enge

Beziehungen zu den Ärzten pflegen mögen. Sie sollen die

Ärzte sowohl finanziell als auch emotional unterstützen

und dabei ihre Gesundheit sehr sorgsam bewahren. Me-

dizinische Vorsorge, Prävention und (richtige) Hand-

lungsweisen bezüglich der Krankheiten sind sehr wich-

tig.‹32 Der Autor schließt mit dem Appell: ›Liebe

Geschwister (im Islam), ich bitte Euch um Achtung Eurer

physischen und metaphysischen, seelischen sowie körper-

lichen Gesundheit‹«.33

Die Empfehlungen des Theologen erinnern an eine Auflistung

von sechs nicht natürlichen Dingen, die sowohl in der abend-

ländischen als auch in der morgenländischen Medizinge-

schichte zu finden sind. Zusätzlich werden hier medizinische

Kontrolluntersuchungen empfohlen. Dies verweist auf die

große Wertschätzung der empirischen Wissenschaft auch für

den Theologen, zeigt aber gleichzeitig die Gebundenheit der

Hinweise an die Tradition. In diesem Zusammenhang ist zu

beobachten, dass auch die Prophetenmedizin immer wieder in

die Internet-Seiten Eingang findet. Es werden da Hygiene-

maßnahmen und Hinweise auf Früchte und andere Nah-

rungsmittel aus den Fundus der Überlieferungen des Prophe-

ten gegeben.

Bioethische Fragestellungen, die differenzierte naturwissen-

schaftliche Vorkenntnisse voraussetzen, werden eher selten in

der Öffentlichkeit diesen Internet-Seiten vorgestellt. Im Hin-

blick auf die Debatte um Hirntod und Organtransplantation

ist zu beobachten, dass sich auf die ethische Befürwortung

der Organspende zurückgezogen wird. Organspende ist im

Sinne der sozialen Seite der islamischen Lehren eine geradezu

45

humanistische Verpflichtung des Muslims, wobei die Debatte

um die Definition des Hirntodes in den Hintergrund tritt.

Themen, die in Bezug zu Sexualität, Sexualhygiene, männ-

licher Beschneidung stehen, finden in vielen Internet-Seiten

Beachtung, zumal für diese in der traditionellen Gesellschaft

selten öffentlich diskutierten Fragestellungen ein noch nicht

wirklich befriedigtes Diskussions-Interesse zu existieren

scheint.

Auch die arabischen Empfehlungen unterscheiden zwi-

schen »Männer«-, »Frauen«- und »Kindergesundheit«, blei-

ben aber nicht in der laizistischen, naturwissenschaftlich fun-

dierten Debatte stehen. »Islamische Medizin« (die

Aussprüche und Empfehlungen des Propheten), »Arabische

Medizin und Naturheilmethoden« und »Heilung durch Ge-

bet« sind weitere Diskussionthemen dieses Forums. Auch in

diesen Veröffentlichungen wird ein Begriff von Gesundheit

vorgestellt. Gesundheit ist ein Zustand des mentalen, psychi-

schen und sozialen Wohlbefindens. Es liegt ein ganzheitliches

Menschenbild vor, das alle Bereiche des Menschen umfasst.

Lebensqualität wird durchaus als ein Schlüsselbegriff angese-

hen.

Religion wird generell als wichtig angesehen, Koran-Verse

unterstreichen das. Die Ärzte benutzen kulturell- religiöse

Argumente oder beschreiben Handhabungen als gesundheits-

fördernd, die in der Eigenverantwortung des Patienten liegen

und in der Regel ideell aus religiösen Vorschriften gespeist

sind. Ergebnisse der modernen Medizin werden von der mus-

limischen Leserschaft in diesem Rahmen der Einbettung in

religiös-kulturelles Erbe wahrgenommen, sie werden hier

nicht als fremd erlebt und werden im Kontext der religiösen

Vorstellungen des Alltags verstanden.

Geister und Dämonen sind noch lange nicht aus dem ge-

samten Krankheits- und Gesundheitskonzept dieser Empfeh-

lungen verschwunden. Der Einfluss des bösen Blicks und der

Dämonen auf die psychisch-körperlichen Zustände des Men-

46

schen ist ein weitgehend akzeptierter Glaube in der islami-

schen Kultur. Manchmal wird dieser Glaube als hinderlich

für eine angemessene Diagnose und Therapie diskutiert,

manchmal werden aber religiöse Heilmethoden wie das Ge-

bet zum Schutz vor Dämonen, die einige Krankheiten und

Anomalien am Menschen verursachen sollen, als ein zur Ge-

sundheit gehörendes Thema und als Behandlungsmethode

angesehen.

Neue und technisch-naturwissenschaftlich hergestellte

Therapiemethoden brauchen manchmal religiöse Legitimati-

on. In-vitro-Fertilität wird als nicht islamisch abgelehnt, aber

generell wird Unfruchtbarkeit als eine Krankheit angesehen,

die Gott und der Prophet nicht gewollt haben. Sie kann daher

mit einigen Methoden behandelt werden. So können Eingriffe

in körpereigene Prozesse und die Behandlung der Frau durch

einen männlichen Arzt mitunter als religiös unproblematisch

angesehen werden, wenn es dem legitimierten Ziel dient.

Handlungsbestimmend ist die Religion in der Gesellschaft,

was durch die arabische Sprache deutlich wird. Die religiöse

Sprache wird aber nicht unbedingt als ein Widerspruch zur

Wissenschaftlichkeit der Medizin empfunden.

Manche Krankheiten, wie AIDS, stehen noch immer unter

dem Bann religiöser Verurteilung. AIDS gilt als eine Strafe

Gottes, da diese Krankheit in Zusammenhang mit einem

Tabubereich der islamischen Gesellschaft, der Sexualität,

steht.

Persische Internet-Seiten bewegen sich im Verständnis von

Krankheit und Gesundheit, von Nutzung naturwissenschaft-

licher Erkenntnisse, in einem Zwischenbereich zwischen den

arabischen und den türkischen Veröffentlichungen.

Gesundheit aus dem Internet ist für islamische Gesellschaf-

ten noch eine Neuheit. Daher bleibt offen, welche Rolle die

dort vorgestellten Informationen im gesamten Kontext der

Gesellschaften spielen können, in denen sie gelesen werden.

Dennoch werden sie rezipiert, und es lässt sich mindestens

47

aus dem Texten ein Vorverständnis derer entnehmen, die

dort veröffentlichen. Da das Internet ein weitläufig genutztes

Medium in islamisch geprägten Gesellschaften ist, kann da-

von ausgegangen werden, dass Publikationen im Internet

»Meinung machen« werden, bzw. bereits auf einen erwarte-

ten und eruierten Konsens hin formuliert wurden.

Nutzen und Risiken dieser Form medizinischer und ge-

sundheitsmäßiger Aufklärung stehen nahe beieinander.

2.2 Islam und Psychologie

Vom neuzeitlichen naturwissenschaftlichen Medizinver-

ständnis innerhalb islamischer Kulturen soll nun noch einmal

ein Blick in die Geschichte geworfen werden. Nicht nur der

Körper, auch die Seele unterlag einem spezifischen Begriff

von Gesundheit (und Krankheit):

»In seiner Gesundheitslehre (des Abu Said Ibn Bahtisu,

die Verfasserin) stehen Leib und Seele sehr eng zueinan-

der und sind durch psychosomatische Ansätze geprägt.

Ein Gesundheitszustand ist erst dann möglich, wenn so-

wohl der Körper und die Seele sich in ihrer ›natürlichen

Ordnung‹ befinden. Ein Abweichen vom natürlichen Zu-

stand bedeutet Krankheit.

Mit seinem Gesundheitsbegriff ist Ibn Bahtisu »viel wei-

ter als die griechische Medizin gegangen, indem er die

seelische Ursache körperlicher Krankheiten feststellte,

und umgekehrt folgerte, dass jede seelische Krankheit

auch eine körperliche Krankheit sei. Ibn Bahtisu teilte

daher die Therapie in eine somatische und eine psychi-

sche auf, die er beide zum Aufgabenbereich des Arztes

rechnete.«34

48

Mit dieser fortschrittlichen, weitgehend empirischen Betrach-

tung des Menschen und seiner Gesundheit bzw. Krankheit ist

der islamische Mediziner des 11. Jahrhunderts richtungwei-

send für seine Kultur geworden. Seine Ansichten übertrafen

damals bei weitem das in Europa in dieser Hinsicht entwi-

ckelte Denken und Forschen.

Nerven- und Gemütsleiden wurden in vielen antiken Kul-

turen in die Nähe des Wirkens dämonischer Mächte angesie-

delt. Damit waren sie zugleich einem empirischen Zugriff

entzogen, und der betroffene Mensch war in seiner Verant-

wortung für seine Krankheit entlastet. Gleichzeitig waren

aber beide auch stigmatisiert, d.h. es konnte aus den genann-

ten Positionen heraus kaum eine Weiterentwicklung im Sinne

von Behandlung und Heilungsversuchen entstehen.

So blieben seelische Erkrankungen oft unbehandelt, die Pa-

tienten wurden weggesperrt und verwahrt. Das Leben wurde

ihnen so erträglich wie möglich gemacht, das Gemüt beru-

higt.

Annemarie Schimmel bemerkt:

»Man darf ja nicht vergessen, dass im islamischen Mittel-

alter Nerven- und Geisteskrankheiten oft durch Musik-

anwendung behandelt wurden, wie es schon Avicenna

empfiehlt. Das Bassin im Irrenhaus neben der großen

Moschee in Divrigi (Anatolien, erbaut 1228), wo das

Wasser eine süße, beruhigende Melodie hervorbrachte,

oder die Bayezid Külliyesi in Edirne (gebaut 1730) mit

ihrer Musikhalle im Irrenhaus sind gute Beispiele dafür,

wie Musik bei medizinischer Behandlung verwendet

wird.«35

Der Begriff der »Psychologie« beschränkt sich nicht auf die

medizinische oder philosophische Definition von seelischen

Anomalien. Es geht in erster Linie sogar um die Beschreibung

der Möglichkeiten und Funktionen der Seele, ihre Beschaf-

49

fenheit und mögliche Bezogenheit auf andere Faktoren au-

ßerhalb ihrer selbst.

Mehrmals ist bereits das islamische Konzept vom »Drei-

schritt der Seele« angeklungen. Die Seele, zunächst in ihrer

natürlichen, »animalischen« Beschaffenheit im Menschen

wirkend, braucht den äußeren Anstoß, die Herausforderung

aus Normen und geistigen Qualitäten, um sich ihrer Trieb-

haftigkeit bewusst zu werden. Ist das geschehen, so beginnt

ein Prozess der Selbstbeobachtung, der Selbst- oder Fremd-

Erziehung der Seele. Wenn sie diesen Prozess durchlaufen

hat, findet die Seele einen inneren Ausgleich, ihren Frieden.

Die Tätigkeiten und Qualitäten der menschlichen Seele

werden dabei nicht allein immanent gesehen, sondern im

Gegenüber zum transzendenten, herausfordernden Fragen

Gottes. Selbst der Ausgleich zwischen Körper und Seele, als

homöostatischer Zustand beschrieben, wurde in der Ge-

schichte der Kulturen nicht ohne die transzendente Einwir-

kung göttlicher Kräfte erreicht.

Ein ausgeglichener Gesundheitszustand zwischen Körper

und Seele als zu erreichendes, wünschenswertes Ziel ist si-

cherlich aus der griechischen und römischen Antike bekannt

(mens sana in corpore sano36). Aber auch dieser Zustand ist

in diesem Kontext nicht anders zu denken als auf dem Hin-

tergrund der Einwirkung göttlicher Eigenschaften. Dennoch

wurde bereits damals im griechisch-römischen Umfeld der

Sport, der Körper und Seele gleichermaßen trainiert und ver-

bindet, hoch angesehen.

Psychologie als eine »Lehre von der Seele« im Verhältnis

zum Körper als einzigem Gegenüber ist eine neuzeitliche Vor-

stellung. Die Annahme, es gehe in der Medizin und ihren

Anwendungen und Therapien um einen immanenten Aus-

gleich von Gegensätzen, im Idealfall um eine durch Medizin

hergestellte Gesundheit ohne das Einwirken übernatürlicher

Kräfte, geht nicht konform mit den Religionen. Dennoch

erwachsen aus dieser Annahme eines immanenten Ausgleichs

50

die meisten modernen Menschenbilder, die um die Belastbar-

keit und den Nutzen des Menschen für die jeweiligen Gesell-

schaften kreisen – um seine physische und psychische Kom-

patibilität zu geforderten Erwartungen an ihn.

»Psychologie im Islam«, also innerhalb des Kontextes der

Religion, ist nicht unbedingt vergleichbar mit dem Psycholo-

giebegriff westlicher Gesellschaften. Daher ist es auch vorei-

lig, eine Methodendebatte über mögliche Erfolge bestimmter

»Methoden« der Psychologie anzuregen. Dennoch werden

sich alle islamischen Gesellschaften nicht auf Dauer dem Sog

des globalisierten Lebens entziehen können und wollen, in

denen sich neue Fragestellungen, immer wieder neue Men-

schenbilder und methodische Zugänge zum Menschen mit

ihren speziellen ideologischen Vorgaben entwickeln. Diese

Menschenbilder werden als schweigende, faktische Realität

neben den alten religiösen Quellen bestehen, und es wird

sinnvoll sein, geistige Brücken zwischen beiden zu suchen.

»Methode ist ein Weg zur Wirklichkeit« – das ist eine der

Annahmen hinter den psychologischen Menschenbildern und

deren Praxis, wie sie in westlichen Gesellschaften bekannt

sind. Für das Christentum haben Theologen, Psychotherapeu-

ten und Psychologen in den vergangenen 50 Jahren Wege

gesucht, eine Vereinbarkeit von religiös fundiertem Denken

und den in der Regel agnostisch orientierten Humanwissen-

schaften herzustellen. So existieren, ausgehend von grundle-

genden deutschen und anderen europäischen Studien, variie-

rende Konzept zur intellektuellen und praktischen

Annäherung von Theologie und Tiefenpsychologie37. Dies

setzt sich fort in der theologischen Reflexion aller nachfol-

genden Methoden, die aus der Tiefenpsychologie hervorge-

gangen sind.

Es wird zu fragen sein, inwieweit dies auch für die »Psy-

chologie im Islam« gilt – sowohl für deren religiös motivierte,

tradierte Antworten wie für aktuelle Fragestellungen in isla-

misch orientierten Gesellschaften.

51

2.2.1 Psychologie in der islamischen Mystik

Unter der Überschrift »Der Mensch und sein Weg zur

Vollkommenheit«38 gibt Annemarie Schimmel Auskunft über

die Psychologie in der Geschichte des Islam, besonders seiner

mystischen Strömungen. Diese repräsentieren in Hinsicht auf

Menschenbild und Gedanken über individuelle Seelenführung

den Islam in breiter Hinsicht.

»Die Stellung des Menschen im Islam, und ganz beson-

ders im Sufismus, ist ein Kontroversthema für westliche

Gelehrte. Einige waren der Überzeugung, dass der

Mensch als Gottes ›Diener‹ oder ›Sklave‹ vor dem All-

mächtigen keinerlei Wert habe; er verschwindet fast, ver-

liert seine Persönlichkeit und ist nichts als das Instrument

eines unwandelbaren Geschicks. Der Begriff des Huma-

nismus, auf den die europäische Kultur so stolz ist, wäre

diesen Gelehrten zufolge dem islamischen Denken grund-

sätzlich fremd«.39

Vorherbestimmung und freie Wahl der eigenen, selbst ver-

antworteten Handlungen – eine Thematik, die auch die

christliche Theologie immer wieder bewegt hat, bestimmt die

Überlegungen der islamischen Theologen.

»... während der Mensch die Wahl zwischen Gehorsam

und Rebellion genießt – oder unter ihr leidet (obgleich

diese Wahl durch die Vorherbestimmung begrenzt sein

mag). Dem Menschen wurde die ›amana‹ gegeben (Sura

33/73), jenes anvertraute Gut, das zu tragen Himmel und

Erde sich weigerten. Dieses Gut ist verschiedenartig in-

terpretiert worden – als Verantwortlichkeit, Willensfrei-

heit, Liebe oder Kraft der Individuation«.40

So ist dieser Weg der Individuation der Weg nach innen,

52

der »mystische Pfad« der Sufis. Er ist die Reise in das eigene

Herz, wo der Suchende am Ende im »Meer der Seele« seinen

Frieden findet.41

In dem liebenden Herzen, in dem der Sufi Ruhe findet, lebt

Gott. Das Herz ist der Spiegel, in dem Gott sich anschauen

kann, aber es muss zu diesem Zwecke mit Übungen der As-

kese ständig »poliert« werden, sodass aller Staub und Rost

verschwinden und das ewige Licht sich klar reflektieren kann.

In anderen Quellen wird von einem »Zerbrechen des Her-

zens« angesichts der Nähe Gottes gesprochen:

»›Wo immer eine Ruine ist, ist Hoffnung auf einen

Schatz – warum suchst du nicht den Schatz ›Gott‹ in dem

verwüsteten Herzen?‹ Attar spricht auch oft davon, dass

Zerbrechen ein Mittel ist, Frieden und Einheit zu erlan-

gen – der zerbrochene Mühlstein dreht sich nicht länger,

und der Puppenspieler im Ushturname zerbricht alle Fi-

guren, die er benutzt hat, und legt sie in die Schachtel

›Einheit‹ zurück«.42

Eine Sufi-Geschichte mag verdeutlichen, welche Dimensionen

die Psychologie in den Traditionen der Mystiker annehmen

kann:

»Gott schuf die Herzen siebentausend Jahre vor den Lei-

bern und bewahrte sie in der Station der Nähe zu Sich;

und Er schuf die Geister siebentausend Jahre vor den

Herzen und bewahrte sie im Garten der Vertrautheit mit

Sich; und Er schuf die innersten Bewusstseinsteile sieben-

tausend Jahre vor den Geistern und bewahrte sie im Gra-

de der Vereinigung mit Sich. Dann setzte er das innerste

Bewusstsein im Geist gefangen, den Geist im Herzen und

das Herz wiederum im Leibe. Dann prüfte Er sie und

sandte Propheten, und so begann jedes von ihnen wieder

seine eigene Station zu suchen. Der Leib beschäftigte sich

53

mit dem Gebet, das Herz erlangte Liebe, der Geist gelang-

te zur Nähe des Herrn, und das innerste Bewusstsein

fand Ruhe in der Vereinigung mit Ihm«.43

54

55

3 Seelsorge im Islam

»Die gläubigen Männer und die gläubigen Frauen

sind untereinander Freunde.

Sie fordern zum Guten auf und verwehren Böses

und verwirklichen das Gebet und geben die Armen-

abgabe und gehorchen Gott und Seinem Gesandten.

Ihrer erbarmt sich Gott. Gott ist mächtig, weise.«

Koran, Sura 9,71

»Im Islam gibt es keine institutionalisierte Seelsorge«44 –

das ist – noch – eine gängige Auffassung unter den Muslimen.

Es wird auch in dieser Form von den Christen vertreten, die

sich der Seelsorge im Islam zuwenden.

Solange es diese institutionalisierte Seelsorge im Sinne der

Beschäftigung eines Imams, einer islamischen Seelsorgerin

oder Theologin zur Begleitung von Menschen in Kranken-

häusern, Altersheimen und Gefängnissen noch nicht oder nur

selten – zumindest in Europa – gibt, werden wenige Konzepte

für Beratung und Seelsorge auf der Basis psychologischer

oder psychotherapeutischer Theorien in islamischen Kreisen

diskutiert. Die Begleitung eines Menschen, der im Rahmen

einer speziellen Institution Rat sucht, gestaltet sich in ähnli-

cher Form wie jedes andere Seelsorge-Gespräch. Ein solches

Gespräch leitet sich her von der religiösen Motivation des

Beraters, der seine Sensibilität und Einfühlung selbstverständ-

lich in die Situation hinein geben muss.

Theoretisch gehört es im Islam im Rahmen der eigenen

Fähigkeiten dazu, »Gutes zu fördern und Böses zu unterbin-

den«, indem man den Mitmenschen zur Seite steht, füreinan-

56

der betet, Kranke besucht, sich um Gefangene kümmert,

Sterbende und Trauernde nicht allein lässt.

Dies alles ist ausgerichtet auf die theologische Annahme,

dass der recht geleitete Muslim, wenn er nach den Vorschrif-

ten seiner Religion lebt, zur der »Glückseligkeit in beiden

Wohnstätten«, in diesem und dem nächsten Leben, Zugang

erhält.45 Eine solche Annahme basiert auf der Lehre des Ko-

rans und der Auslegungsgeschichte von Hadithen (mündlich

überlieferten Aussprüchen) des Propheten.

In gewachsenen Dorfgemeinschaften oder in Großfamilien

war es bisher kein Problem, Menschen zu finden, auf die man

sich in Fällen von Krankheit, Konflikten und Problemen be-

rufen konnte. Spezielle Seelsorge und Beratung von Men-

schen auf der Basis der religiösen Tradition übten auch Sufis

in ihren Tekken (Kloster – ähnlichen Wohngemeinschaften)

aus oder in Karawansereien.46

Mit der zunehmenden Veränderung einiger islamischer Ge-

sellschaften wird aber eine ähnliche Entwicklung zur Speziali-

sierung der religiösen Hilfs-Angebote eintreten, wie sie sich

im Christentum entwickelt hat.

Eine besondere Rolle spielten traditionell die Lehrerinnen

und Lehrer der Religion, die Imame; daneben geht vor allem

von den Sufis mit ihren mystischen Traditionen, in denen

man sich mit der spirituellen Entwicklung des einzelnen be-

fasste, ein wichtiger Einfluss auf die Seelsorge aus.

»Der Grund, warum gerade der Imam, der als Vorbeter

und Religionsbeauftragter in der muslimischen Gemeinde

fungiert, diese Aufgaben übernimmt, ist, dass an mehre-

ren Stellen im Koran dieses als eine allgemeine Pflicht der

muslimischen Gemeinschaft und ihres Vorstehers, aufge-

zählt wird«.47

57

3.1 Seelsorge im Krankheitsfall

Wenn ihm bekannt wird, dass eine muslimische Schwester

oder ein muslimischer Bruder sich in stationärer Behandlung

befindet oder zu Hause erkrankt ist, nimmt man Kontakt zu

diesem Menschen auf und besucht ihn. Wenn es sich um eine

muslimische Schwester handelt, holt man sich vorher die

Erlaubnis der Verwandten ein. Im persönlichen Bericht wur-

de erwähnt, dass in solchen Fällen die Ehefrau des Imams

Besuche bei erkrankten Frauen übernimmt, wenn sie das

möchten. Die Inhalte eines Krankenbesuches sind neben dem

Gespräch über das persönliche Befinden die rituellen Gebete

bzw. die Durchführung oder Hilfestellung bei rituellen Wa-

schungen, wenn der Kranke dazu nicht selbst in der Lage ist.

Ersatzhandlungen für die rituellen Pflichten können bespro-

chen werden. Kranke dürfen während einer Krankheit nicht

fasten, sind also von einer rituellen Pflicht ausgenommen,

können diese aber nach der Genesung nachholen.

Trotz des Fastenmonats Ramadan sollen sich Kranke kei-

ner notwendigen Untersuchung entziehen. Es ist wichtig, dem

Kranken deutlich zu machen, dass Gott den Gläubigen die

Erfüllung religiöser Pflichten während ihrer Krankheit er-

leichtert. Wenn möglich, spricht der Imam mit dem Kranken

über die Inhalte des Glaubens, er rezitiert die 36. Sure des

Korans. Hier werden die Eigenschaften der Schöpfung geprie-

sen, das Leben im Jenseits beschrieben. Die Auflehnung ge-

genüber Gott wird verboten und Geduld mit der Krankheits-

zeit geboten.

Falls der Kranke die Suren des Korans aufsagen kann, soll

er das tun; denn man glaubt, dass die Rezitation der Suren

des Korans heilende Wirkung habe. Ein türkisches Sprich-

wort sagt: »Die Erde und der Himmel werden mit Gebeten

aufrechterhalten«.48 Wenn ein Moslem stirbt, ist es wichtig,

mit ihm und für ihn das muslimische Glaubensbekenntnis zu

rezitieren. Wenn der Sterbende selbst das Glaubensbekennt-

58

nis sagen kann, so ist das ein Beweis dafür, dass er ein guter

Mensch war und in ständiger Beziehung zu Allah steht. Die

Aufgabe des Imams ist es auch, die Angehörigen zu trösten,

den Toten zu waschen als Vorbereitung auf dem Weg zu

Gott.

Das irdische Leben ist eine Prüfung, deshalb ist das Ende

des irdischen Lebens der Anfang des Lebens im Jenseits. Lei-

den in der Welt verringert die Strafen im Jenseits nach der

Auffassung des Islam.

Die beschriebene, in der tradierten Religion verwurzelte

Seelsorge erfordert im Gegenüber einen gläubigen Moslem.

Wenn der Gesprächspartner nicht so religiös ist, erfolgt die

Annäherung in seelsorgerlicher Hinsicht eher neutral- über

sein Befinden oder ein ihn interessierendes Thema, sodass

nicht der Eindruck von Missionierung entsteht. Es geht dar-

um, Trost zu spenden, nicht eine Notlage religiös zu überhö-

hen.

3.2 Seelsorge in Gefängnissen

Seelsorge in der Strafanstalt versteht Altintas als eine reli-

giös wegweisende Tätigkeit. Es werden auch soziale Aufga-

ben übernommen.

Der Imam möchte durch seine Präsenz dem Häftling das

Gefühl nehmen, Außenseiter zu sein. Er möchte seine Schuld-

gefühle lindern durch Verweis auf die Güte Gottes. Er möch-

te erreichen, dass der Häftling seinen Aufenthalt im Gefäng-

nis als Chance zum Umdenken begreift, als einen

Lernprozess. Trotz seiner engen Zelle soll der Häftling einen

weiten Horizont erhalten. Der Imam soll den Häftling für die

Gesellschaft »wiedergewinnen«.

Dazu sieht der Imam eine Verpflichtung, sich um die Ver-

sorgung mit muslimischer Kost zu bemühen, Botengänge zu

59

erledigen oder sich der Angehörigen des Häftlings anzuneh-

men.

Außer dieser spezialisierten Seelsorge übernimmt der Imam

auch die »Alltags-Seelsorge.« Nach den Gebeten in der Mo-

schee kommen die Menschen zu ihm. Er ist telefonisch und

über Internet erreichbar.

Das vorgestellte Konzept von Ismail Altintas beschreibt die

Situation der derzeit in Deutschland ausgeübten Seelsorge

unter den Muslimen. Halima Krausen schildert in den ein-

gangs erwähnten Passagen die ursprüngliche Ausgangslage

für Seelsorge und Zuwendung zu Menschen in Krisen,

Krankheiten und Notlagen, wie sie in den traditionellen isla-

mischen Gesellschaften vorkommen.

3.3 Perspektiven für islamische Seelsorge in Europa

Auch Krausen rekurriert auf die gesellschaftliche Wand-

lung sowohl in orientalischen wie europäischen islamischen

Gemeinden:

»Während diese Strukturen auch im Orient immer mehr

in den Sog des Großstadtmilieus geraten, haben sie in

Deutschland, wo es erst seit der Zeit des Wirtschafts-

wunders Muslime in größerer Zahl gibt, noch gar nicht

wachsen können. Erst allmählich entsteht aus den zu-

nächst improvisierten, dann weitgehend auf die Bedürf-

nisse der unmittelbar eigenen Gemeinde zentrierten Mo-

scheen eine übergreifende religiöse Infrastruktur. Zu den

Kaufleuten, Studierenden und Arbeitsmigranten und ih-

ren Familien, die ursprünglich nicht auf einen dauerhaf-

ten Aufenthalt eingestellt waren, ist eine neue Generation

hinzugekommen, die in Deutschland aufgewachsen, in

60

verschiedenen Berufsgruppen tätig und in vielen gesell-

schaftlichen Bereichen aktiv ist. Es gibt Dachorganisatio-

nen, die nach außen Interessen vertreten. Es entstehen

Organisationen, an die man sich mit rechtlich-ethischen

und theologischen Fragen wenden kann, und für Bera-

tung und Seelsorge gibt es auch Menschen, die über ent-

sprechende Ausbildungen verfügen«.49

Ihre Aufgabe wird es immer mehr sein, das Leben zwischen

den Werten mehrerer Kulturen und Sichtweisen für die Mus-

lime zu erleichtern. Die Muslime können ihre eigene religiöse

Konzeption von Gemeinschaft nicht mehr wie im türkischen

Dorf und in der Großfamilie leben, mit allen Einbindungen

und Verpflichtungen, sondern sie müssen Wandlungen

standhalten, in denen ihre eigenen Komplexitäten und Wider-

sprüche enthalten sind. In diesem Spannungsfeld bekommen

soziale Probleme, Familienkonflikte und Veränderungen in-

nerer Überzeugungen eine andere Dimension. Fragen nach

erlebter Diskriminierung treten auf, Armut und Arbeitslosig-

keit belasten die Menschen, die nicht mehr in ihrem früheren

Umfeld aufgefangen sind.

Es gibt zunehmend bi-kulturelle Familien. Damit werden

Ehe- und Generationenkonflikte oft zum Kulturkampf, be-

kommen die Intensität eines Weltuntergangs, wenn das Kon-

kurrenzverhältnis zwischen Christentum und Islam eine Rolle

spielt. Vorurteile tragen zu diesem Szenario bei und bewirken

Abwehr, Flucht in Traumwelten, ungeduldige Suche nach

Wurzeln, Resignation und psychosomatische Krankheiten. Es

entwickelt sich die Frage nach dem geographischen und dem

religiösen Woher; damit wandelt sich das Verständnis des

Islam.

»Immer wieder begegne ich Menschen, in denen sozusa-

gen zwei Persönlichkeiten nebeneinander bestehen: eine

traditionelle, verbunden mit der Muttersprache, und eine

61

deutschsprachige mit Bildern und Erfahrungen vom Le-

ben als Muslim in diesem Land, und es geht darum, zwi-

schen beiden eine Brücke zu bauen, mit dem zentralen

Prinzip des Islam als Pfeiler«.50

Es stellt sich die Frage für die Muslime: Wohin gehe ich?

Die Berufswahl kann in Konflikt geraten mit wirtschafts-

ethischen Prinzipien des Islam. Die Wahl des Ehepartners

wird nicht mehr nach traditionellen Werten stattfinden (Mit-

sprache der Eltern), die Sorge für die alten Menschen be-

kommt eine andere als die traditionelle Dimension. Es gibt

wenige Hilfen für ethische Entscheidungen außerhalb des

Generationenkonfliktes in der Familie – keinen islamischen

Religionsunterricht.

»Eine ganze Generation junger Muslime muss sich so gut

wie allein und ohne Leitbilder durch einen regelrechten

Werte- und Normendschungel kämpfen, begleitet von

vielen traumatischen Erfahrungen und Ängsten.« 51

Die Ängste übertragen sich oft auch auf das Gottesbild ...

Befürchtungen und Hoffnungen sind ... direkt mit diesen

Orientierungsfragen verbunden. Es geht um die Frage, ob

Entscheidungen und Pläne richtig oder falsch sind in Bezug

auf eine religiöse Zukunft, und damit entstehen Gewissens-

ängste.

Im Islam gibt es keine Beichte. Es wird nur die Hinwen-

dung zur Barmherzigkeit Allahs erwartet, sodass der Gläubi-

ge auf seine Vergebung hoffen kann. Es gibt keine pastorale

Instanz, wenn auch der Imam eine stellvertretende Rolle ein-

nimmt. Er vertritt aber die Gemeinde der Gläubigen, nicht

Gott in irgendeiner sakralen Weise. Jeder einzelne Moslem

hat seine unmittelbare Beziehung zu Gott, in der es keine

religiösen Vermittler gibt.

Beide ReferentInnen, Krausen und Altintas, reflektieren zu-

62

letzt, ob ihre Form der Seelsorge auch in einem islamischen

Land möglich wäre bzw. ob ein nicht-islamischer Seelsorger

einem Moslem weiterhelfen könne:

»Krausen: ›Dazu muss ich sagen, dass ich mich in ver-

schiedenen Ländern aufgehalten habe und einen Teil von

dem, was ich zu meiner Arbeit brauche, dort gelernt ha-

be. Grundsätzliche Hindernisse habe ich nicht gesehen,

wenn ich die Sprache verstehe und mit den gesellschaftli-

chen Spielregeln vertraut bin‹. Altintas: ›Muslimische Kranke zweifeln daran, dass ein

nicht-muslimischer Seelsorger diese Aufgabe erfüllen

kann, da ein Anhänger einer anderen Religion keine aus-

reichende Unterstützung bieten kann ... Einige Kranke

denken, sie liefen Gefahr, der nicht-muslimische Seelsor-

ger könnte sie von seinem eigenen Glauben überzeu-

gen‹.«52

3.4 Konfliktfelder in der Begegnung mit muslimischen Patienten

Grundsätzliche Erwägungen zum Selbstverständnis als

Muslum beschäftigen den Mediziner Ilhan Ilkilic, wenn er

formuliert:

»Das Erleben von Schamgefühl und Intimitätsverständ-

nis beeinflusst bei einem Muslim die Wahrnehmung sei-

nes Körpers als Leib und impliziert zugleich im gesell-

schaftlichen Leben einige Handlungsformen ... Die

Bedeckung des Körpers und das Vermeiden von Körper-

kontakt mit Fremden gewinnen durch die islamischen

Wertvorstellungen einen normativen Charakter ... Bei ei-

nem Arztbesuch oder Klinikaufenthalt bleibt jedoch ein

63

körperlicher Kontakt während einer Untersuchung oder

Therapie unumgänglich. Ein Krankheitsfall wird in der is-

lamischen Rechtslehre als Ausnahmezustand verstanden,

in dem manche islamische Handlungsformen, die im All-

tagsleben Gültigkeit besitzen, diese verlieren oder durch

eine Lockerung teilweise und vorübergehend außer Kraft

gesetzt werden können.

So wird eine medizinische Untersuchung durch einen Arzt

oder eine Ärztin gleichen Geschlechts bevorzugt, ist aber

nicht unabdingbar, wenn dies nicht möglich ist. So kann

ein Händedruck, der für den Arzt und das Pflegepersonal

Ehrlichkeit, Vertrauenswürdigkeit und Hilfsbereitschaft

verkörpert, für eine muslimische Patientin peinlich und

unangenehm sein oder sogar aufdringlich wirken.

Um dieses Konfliktfeld zu konkretisieren, einige Beispiele:

Ein muslimischer Patient von 60 Jahren war eine Zeitlang

gelähmt und musste im Krankenhaus vom Pflegepersonal

gepflegt und gewaschen werden. Später erzählte er von seinem Krankenhausaufenthalt: ›Nicht die Krankheit war

mir das Schlimmste, sondern von einer fremden Frau ge-

pflegt und gewaschen zu werden.‹«53

Speisevorschriften beziehen sich auch auf die angewendete

Medizin. Sie sollte keinen Alkohol enthalten und nicht auf

der Anwendung von Gelatinepräparaten o. ä. basieren, die

aus Schweinen gewonnen worden sind. Eine Überlieferung

sagt:

»Gott hat gegen jede Krankheit ein Heilmittel herab ge-

sandt. Also behandelt diese, aber nicht mit etwas Verbo-

tenem. Es gibt allerdings auch den Grundsatz ›Notlagen

heben Verbote auf‹.«54

Um zu einer Entscheidungsfindung im Falle einer Behandlung

zu kommen, spielt es für Muslime eine wichtige Rolle, die

64

Familienangehörigen zu befragen. Ebenso ist der Besuch der

Familie ein bedeutender sozialer Ausdruck innerhalb des

islamischen Habitus.

Im Krankenhaus kommt oft die unzureichende sprachliche

Kommunikation erschwerend für Ärzte hinzu. Wenn sie die

Angehörigen zuziehen, um eventuell zu dolmetschen, müssen

sie das Beziehungsverhältnis innerhalb der Familie bei den

Antworten mit berücksichtigen. Traditioneller Weise ver-

schweigt die Familie in islamischen Ländern eine schwere

Diagnose, um den Patienten nicht zu belasten. Wenn ein

Fremder aus dem Umkreis des Klinikpersonals hinzu gezogen

wird, kann wiederum die Schamgrenze des Patienten verletzt

werden, da er oder sie sich nicht in seiner oder ihrer Gegen-

wart über intime körperliche Vorgänge unterhalten will.

3.5 Trauerverständnis und Trauerrituale

Neben den theologischen Ausführungen zum Themen-

komplex »Tod und Trauer« gibt Ilhan Ilkilic praktische

Hinweise, um Muslimen an der Grenze des Lebens angemes-

sen zu begegnen:

»Der Tod als existentielle allgemeinmenschliche Erfah-

rung betrifft im islamischen Glauben sowohl die Leib-

lichkeit als auch die Geistigkeit des Menschen. Der Koran

versteht den Tod nicht als das Ende des Menschen, son-

dern als Tor vom Diesseits zum Jenseits. Der Tod ist als

Heimkehr zum Schöpfer zu verstehen. Die Seele verlässt

im Sterbeprozess den Körper bis zum Tag der Auferste-

hung, an dem sich beide wieder vereinen werden. Nach-

dem der Todesengel die Seele des Verstorbenen vom Kör-

per getrennt hat, findet im Grab eine Befragung statt.

Danach harrt die Seele des Verstorbenen bis zum Jüngs-

65

ten Gericht entweder in gelassener oder angstvoller Er-

wartung aus«.55

Der letzte Besuch bei einem Sterbenden hat für den muslimi-

schen Glauben große Bedeutung. Hier kann in der Begegnung

und im Gespräch noch eine Versöhnung stattfinden, ein Streit

geklärt werden, Vergebung gewährt werden. Der letzte Be-

such ist auch ein Zeichen der Freundschaft und Solidarität.

Koranrezitation am Sterbebett gehört zu den Selbstverständ-

lichkeiten, zahlreiche Besucher sind erwünscht. Pflegeperso-

nal und Mitpatienten mögen darin eine Belastung und Be-

fremdung erleben, gelegentlich den Patienten vor der

Anstrengung bewahren wollen. Diese »Anstrengungen« ge-

hören aber genuin zu seinem Leben. »Die in islamischen

Quellen beschriebene Sinndeutung des Todes wird von Mus-

limen im Alltag durch Redewendungen folgendermaßen wie-

dergegeben: »›So wie wir auf die Welt gekommen sind, so

mögen wir auch von ihr scheiden. Möge Gott ein schönes

Ende ermöglichen.‹ Und: ›Gott möge uns am Ende Koran

(Koranrezitation) und Iman (Glaube, d.h. Aussprache des

Glaubensbekenntnisses) ermöglichen‹.«56

So übernehmen vorzugsweise die Angehörigen oder auch

ein Imam die Funktion der Sterbebegleitung durch Rezitation

des Korans mit dem Sterbenden. Die Sterbebegleitung inner-

halb der eigenen Religion ist wichtig und sollte nicht von

anderen übernommen werden.

Nach dem Tod werden dem Verstorbenen die Hände ge-

kreuzt oder beiseite gelegt, die Augenlider geschlossen und

das Kinn mit einem Stück Stoff festgebunden. Dann wird die

Kleidung ausgezogen und der Körper in ein Stück Stoff ge-

hüllt.57

Die Beisetzung soll möglichst am gleichen Tag stattfinden.

Die Waschung vor der Beisetzung soll mit warmem Wasser

stattfinden, wie bei einem lebendigen Menschen, der Verstor-

bene wird dann in weiße Tücher gehüllt – ein einfaches Tuch

66

wie das weiße Tuch der Pilger in Mekka. Der Verstorbene

wird nur für das Totengebet und die Überführung zum Grab

in einen Sarg gelegt. Im Grab wird er – nur mit dem Toten-

tuch bekleidet – auf die rechte Seite gelegt, mit dem Gesicht

nach Mekka. Die Verbrennung von Toten wird von den

Muslimen abgelehnt.

Für die Seelsorge im Krankenhaus heißt das: Wahrzuneh-

men, welche Rituale von den Muslimen begangen werden,

ihnen Raum und Zeit und entsprechende Würdigung zuteil

werden zu lassen, dezent begleitend und möglichst abstinent

mit eigenen Ritual- und Deutungsangeboten umzugehen.

Laute Trauer mit Schreien und Wehklagen ist durch den

Propheten verboten worden. Dennoch gibt es entsprechende

Szenen. Auch hier ist es angemessen, einen Raum für diese

Ausdrucksformen zu schaffen, der den Muslimen entgegen-

kommt und die anderen Patienten nicht belastet. Jedes Kran-

kenhaus wird dafür Wege finden können.

3.6 Offene Themen in der Begegnung mit Muslimen

Zunehmend bieten Altersheime in Deutschland multikultu-

relle Betreuung an, achten auf Speisevorschriften und religiö-

se Angebote für muslimische Bewohner. Vereinzelt entstehen

Heime, die auf einer Konzeption von Multikulturalität auf-

gebaut sind. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auch die

Migranten und Migrantinnen, sofern sie lange in Deutsch-

land gelebt haben und für ihren Lebensabend nicht in ihr

Heimatland zurückkehren wollen oder können, sich deutsche

Gewohnheiten zugelegt haben. Stereotypen in der Begegnung

sind also nicht angebracht. So wollte man in einem Senioren-

heim einer türkischen Bewohnerin etwas Gutes tun und ser-

vierte ihr Schafskäse und Oliven zum Frühstück. Nach eini-

67

ger Zeit bemerkte die Frau: »Nun lebe ich schon 35 Jahre in

Deutschland und liebe Marmeladebrötchen, aber hier be-

komme ich die nicht serviert.«

68

69

Teil II

70

71

4 Interreligiöse Begegnung

Für viele Menschen bedeutet interkulturelle Begegnung

hauptsächlich das Eine: Etwas nicht Verlässliches und nicht

Gewohntes, das immer Gefahren in sich birgt. Im Regelfall

wird angenommen, dass die Begegnung von Fremden oder

mit ihnen schwer wird, dass sie oft misslingt, sodass man

nachher sagen kann: »Ich wusste es ja, so etwas kann nicht

gehen!« Manche Menschen machen es sich umgekehrt eher

zu leicht im interkulturellen Verstehen.

Sie vereinnahmen alles innerhalb ihrer eigenen Denkge-

wohnheiten. Wenn alles Verschiedene »untergebuttert« wird,

weil unterstellt wird, dass »Fremde sich anpassen müssen«,

ist es nicht schwer, an der Oberfläche Verstehen zu arrangie-

ren. Dieses Verhalten trägt meistens nicht so weit, wie es

beansprucht wird.

Wie also geschehen Begegnungen zwischen Menschen ver-

schiedener Kulturen – gerade dann, wenn diese Personen von

beiden Seiten ihr »Ureigenes« in die Begegnung hinein geben?

Wenn sie sich verlieben, wenn sie heiraten und mit Kindern

in der einen oder anderen – oder beiden Kulturen – leben

müssen?

Wie also lebt man interkulturell am Rande des Lebens,

wenn Menschen krank werden, wenn sie den Tod fürchten,

wenn Gefahren drohen, die oft sehr unterschiedlich einge-

schätzt und bewältigt werden? Wie ist das Fremde auszuhal-

ten, wenn die Nähe gesucht wird? Wie lässt sich einem Frem-

den Nähe signalisieren, ohne dass es unecht wird?

Viele Fragen und wenige Antworten, vor allem stellen die

Antworten in der Theorie nur eine mögliche Annäherung dar

72

und müssen durch die konkrete Erfahrung korrigiert und ver-

lebendigt werden. An Beispielen aus dem Alltag, anhand von

einmaligen oder auch langen Begleitungen von Menschen soll

nun in der praktischen Perspektive von Erfahrungen das »un-

spektakuläre Umgehen mit dem Fremden« aufgezeigt werden;

Es gilt, eine unspektakuläre, aber nicht leichte Antwort auf

die Frage nach interkultureller Kommunikation zu suchen

und gegebenenfalls zu finden. Das folgende Beispiel einer

Begegnung eines christlichen Beraters mit einem Muslim mag

das illustrieren.

4.1 Die schwierigen Erfahrungen von Herrn Z

Herr Z., verheiratet, zwei Kinder, stammt aus Marokko

und ist Moslem. Ich kenne ihn durch seine regelmäßige Teil-

nahme am christlich-islamischen Gesprächskreis unserer Kir-

chengemeinde. Mich erstaunt, wie wichtig Herrn Z. die Teil-

nahme an unserem interreligiösen Dialogkreis ist.

Obwohl Herr Z. im Anschluss an unsere Treffen oft arbei-

ten muss, versäumt er kaum eine Zusammenkunft. Wenn er

wegen seiner Arbeit nicht kommen kann, entschuldigt er sich

vorher, was nur die Wenigsten tun. Er bereichert unsere Tref-

fen, weil er sich intensiv mit seiner Lebensgeschichte und

seinem Glauben einbringt. Er diskutiert gerne und agiert

auffallend emotional, was ich nicht immer verstehe. Seine

Emotionalität wird für mich verständlicher, als er eines

Abends davon berichtete, dass er hier in Deutschland bereits

im Gefängnis saß und vor einiger Zeit nach Marokko, in sein

Herkunftsland, gegen seinen Willen abgeschoben wurde. Wir

alle sind betroffen von seinen Schilderungen, fragen aber

nicht nach. Ich selbst fürchte, es könnte noch emotionaler

werden, was ich vermeiden möchte, weil ich noch am Thema

des Abends weiter arbeiten möchte.

73

Einige Monate später, im Anschluss an unser Treffen, fragt

mich Herr Z., ob ich ihm dabei behilflich sein könne, einen

deutschen Pass zu bekommen. Er hätte ihn schon seit langer

Zeit beantragt, doch seine Frau hätte es immer wieder zu

verhindern gewusst, dass er die deutsche Staatsbürgerschaft

bekommt. Beiläufig erwähnt er dann, er wolle auch gerne,

dass seine Frau mit zu unseren Treffen komme, aber die hätte

immer Ausreden.

Was seinen Einbürgerungswunsch anlangt, da sei ihm Frau

R. bisher bereits sehr behilflich gewesen. Frau R., osteuropäi-

scher Herkunft, arbeitet bei der Beratungsstelle unserer Kir-

che, würde sich schon lange um ihn und seine Familie bemü-

hen. Ich sage ihm zu, mich um sein Anliegen zu kümmern.

Am nächsten Tag setze ich mich mit Frau R. in Verbin-

dung, um zu erfahren, was ich für Herrn Z. über ihre Bemü-

hungen hinaus noch tun könne. Frau R. erzählt mir von der

Familiengeschichte Herrn Z.s. Dabei erfahre ich einiges, was

ich bisher noch nicht wusste. Herr Z. ist seit einigen Jahren

mit einer Deutschen marokkanischer Herkunft verheiratet.

Die beiden haben miteinander zwei Kinder. Herr Z., so sagte

mir Frau R., könne schon lange die deutsche Staatsbürger-

schaft besitzen, würde seine Frau nicht jedes Mal kurz vor

Ablauf der Wartefrist die Scheidung einreichen und ihren

Mann vor die Tür setzen. Das alles sei jedoch nur inszeniert,

um gegen ihren Mann ein Druckmittel zu haben, denn sie

fürchtet, er werde sie verlassen, sobald er die ersehnte Staats-

bürgerschaft habe. Sobald der Einbürgerungsbescheid ihres

Mannes dann abgelehnt sei, würde sie jedes Mal wieder mit

ihm zusammen ziehen.

Bei der ersten Trennung hätten sie es sogar so weit getrie-

ben, dass Herr Z. verhaftet und nach Marokko abgeschoben

worden ist. Danach zog seine Frau die Scheidung wieder

zurück, und so hätte ihr Mann nach einigen Monaten wieder

zurückkehren können. Natürlich lebe Herr Z. nun in ständi-

ger Panik, wieder abgeschoben zu werden. Das ganze Szena-

74

rio sei Frau R. mittlerweile schon sehr vertraut, denn es hätte

sich einige Male wiederholt.

Was sie besonders erstaunt hätte, selbst wenn Frau R. ih-

ren Mann vor die Tür gesetzt habe, würde sie ihn doch täg-

lich besuchen und die beiden würden auch regelmäßig sexuell

miteinander verkehren.

Im Augenblick sei es nun wieder soweit, dass Herr Z. kurz

vor der Einbürgerung steht. Sie, Frau R., hätte bereits mit der

zuständigen Behörde gesprochen, aber es könne nicht scha-

den, wenn ich mich dort auch noch einmal melden würde.

Das Gespräch mit Frau R. hat mich zunächst sprachlos

werden lassen. Ich denke, der arme Herr Z., was musste der

schon alles mit machen. Furchtbar, wenn man solche Erfah-

rungen mit den Ausländergesetzen unseres Staates machen

muss. Ist das in Ordnung?

Dann ärgere ich mich über die Frau von Herrn Z. Wie

kann man nur so ein Theater veranstalten, denkt die denn gar

nicht an die Kinder, die doch auch ihren Vater brauchen und

sehr unter dem ständigen Hin und Her leiden.

Ich setze mich noch am Nachmittag desselben Tages mit

Frau N. in Verbindung, die bei der Stadtverwaltung für die

Passerteilung zuständig ist. Sie kennt die persönlichen Um-

stände von Herrn Z. und will sich bemühen, mit der Passaus-

stellung etwas schneller zu sein als Frau Z. mit ihrem neuerli-

chen Scheidungsantrag, bzw. diesen nicht umgehend zur

Kenntnis nehmen. Auch sie ist der Meinung, das Verfahren

müsse jetzt endlich mal geregelt werden. Nur wegen der Frau

Z. wolle sie sich nicht noch ein paar Mal mit dem Fall be-

schäftigen. Ich stimme ihr zu und befürworte ihr geplantes

Vorgehen.

Einen Monat später. Beim nächsten Treffen unseres Ge-

sprächskreises kommt Herr Z. mir freudig entgegen. Er hat

endlich seinen deutschen Pass und bedankt sich für meine

Hilfe. Beim Ausflug unseres Gesprächskreises fahren diesmal

75

auch die Frau und die Kinder von Herrn Z. mit. Mir scheint

die Familie sehr harmonisch zu sein.

Nochmals einige Monate später. Herrn Z. habe ich schon

länger nicht mehr gesehen. Seine Freunde berichten mir, dass

er im Krankenhaus sei. Als ich ihn besuch, finde ich ihn auf

der Intensivstation vor. Zunächst fragt ein Pfleger, wer ich

sei. Herr Z. müsse gefragt werden, ob er mich sehen wolle, er

dürfe auf gar keinen Fall aufgeregt werden. Ich frage mich,

wie das gehen soll, wo doch viele Lebensbereiche von Herrn

Z. traumatisch besetzt sind. Nachdem Herr Z. eingewilligt

hat, mich zu empfangen, schildert mir der Pfleger noch kurz,

was mich erwartet. Herr Z. hatte Hirnbluten und ist notope-

riert worden. Er ist halbseitig gelähmt, und ein Schlauch leitet

Flüssigkeit aus seinem Kopf. Was Herr Z. erzählt, sei auch

nicht immer stimmig. Einiges gehe durcheinander.

Ich finde Herrn Z. wie vom Pfleger geschildert vor. Er sitzt

in einem Stuhl und begrüßt mich. Er erzählt von seiner

Krankheit und von seinen Sorgen um die Familie. Er hätte

schon seit Tagen nicht mehr geschlafen. Wir unterhalten uns

eine Stunde und reden noch über den Glauben. Herr Z. be-

richtet, dass ihn die Freunde aus der Moschee täglich besu-

chen und sich um ihn und seine Familie kümmern. Seine Frau

erwähnen wir nicht. Der Pfleger, den ich später frage, erzählt,

seine Frau würde Herrn Z. selten besuchen.

Der Besuch bei Herrn Z. hat mich erschüttert, und ich

merke, wie viel Energie ich in dem Gespräch gelassen habe.

Ständig überlegte ich, was darf ich sagen, was nicht und was

könnte ihn aufregen? Er, der früher nur so vor Energie spritz-

te, liegt nun so elend da. Dabei ist er gerade einmal so alt wie

ich. Und was wird aus den Kindern, die sind doch noch rela-

tiv klein? Ich habe das Gefühl, das könnte mein letzter Be-

such bei Herrn Z. gewesen sein.

Obwohl ich jede Woche in die Klinik gehe, um Menschen

aus meinem Altersheim zu besuchen, vermeide ich in den

folgenden vierzehn Tagen, bei Herrn Z. herein zu schauen.

76

Obwohl ich oft Schwerkranken und Sterbenden begegne, hat

mich der Fall von Herrn Z. doch selbst tief betroffen. Ich

nehme mir aber fest vor, ihn im nächsten Monat wieder zu

besuchen. Eher kann ich nicht.

Beim nächsten Treffen unseres Gesprächskreises berichten

Freunde, dass Herr Z. noch einmal operiert wurde und da-

nach verstorben ist. Wir beten gemeinsam für ihn und seine

Familie.

4.1.1 Fragen

In der Nachbetrachtung des Beraters rollt dieser noch ein-

mal – nach einem gewissen zeitlichen Abstand seine Erinne-

rung an die erlebte Problematik auf:

Nachdem nun ein Jahr seit dem Tod von Herrn Z. vergan-

gen ist, sehe ich viele Fragen noch offen. Damals war ich von

der Lebensgeschichte Herrn Z.s emotional sehr angerührt,

von seiner Krankheit und seinem Tod. Heute ist mir klar,

dass meine Emotionen die Sicht für die Komplexität seiner

Lebens – und seiner Familiengeschichte behindert haben.

In unserem Ungang miteinander schien es vordergründig

keine Rolle zu spielen, dass er Moslem ist und ich Christ. Wir

diskutierten miteinander über unseren Glauben, doch immer

so, dass es den anderen nicht verletzte. Intensiver nachzu-

fragen und auch manchmal mein Unverständnis zu äußern,

wäre hilfreicher für unser gegenseitiges Verständnis gewe-

sen, das merke ich heute. Mir fällt im Nachhinein auch auf,

dass ich Herrn Z. sehr isoliert wahrgenommen habe und

seine Lebens- und Familiengeschichte allein aus meiner

Sichtweise, einer christlich-deutschen-männlichen, betrach-

tet habe. Vieles, was noch ungeklärt war, schien mir klar zu

sein.

So habe ich mich bzw. Herrn Z. nie gefragt, wieso er ei-

gentlich die deutsche Staatsbürgerschaft haben wollte, und

77

weshalb sie ihm so wichtig war. Ich habe nicht gefragt, wa-

rum Frau Z. mit allen Mitteln zu verhindern suchte, dass ihr

Mann die deutsche Staatsbürgerschaft bekommt. Fürchtete

sie einen Machtverlust? Sicherlich hatte sie durch ihre deut-

sche Staatsbürgerschaft große Gewalt über ihren Mann und

konnte somit eine andere Rolle einnehmen, als es ihr nach

islamisch geprägter Tradition zugekommen wäre.

Überhaupt steht Frau Z. außerhalb des Blickfelds aller, die

sich um die Familie bemühen. Frau R., Frau N. und ich er-

greifen gleichermaßen Partei für Herrn Z. und betrachten

Frau Z. nur mit Unverständnis. Dabei wäre es sicher hilfrei-

cher gewesen, sich um beide gemeinsam zu kümmern. Hätte

sich dann der frühe Tod von Herrn Z. verhindern lassen?

Wichtig wäre es gewesen, mit den Ehepartnern ihre Ängste

und Vorbehalte gegeneinander zu besprechen. Wie haben sie

überhaupt zu einander gefunden? War es eine Liebesheirat

oder wurden sie einander versprochen? Ich weiß zwar von

solchen Eheversprechen im islamischen Kulturraum, aber was

bedeutet das für eine Beziehung?

Die größte Angst von Frau Z. war, von ihrem Mann ver-

lassen zu werden, und das versuchte sie mit allen Mitteln zu

verhindern. Was bedeutet das für eine muslimische Frau?

Würde sie jemals wieder ein anderer Mann heiraten?

Je mehr ich über Herrn Z. nachdenke, umso mehr unbe-

antwortete Fragen tauchen auf. Fragen, die sich nicht zuletzt

auch durch unsere Herkunft aus unterschiedlichen Kultur-

kreisen ergeben.

Ich lerne für mich aus diesem Fall, dass es gut ist, reichlich

Fragen zu stellen, Fragen zu den Brüchen, zum Glauben und

Denken, zu den Gefühlen, zu den Ängsten, zu den Freuden,

wenn ich mich um Menschen aus einem anderen Kulturkreis

sorge. Es ist gut zu fragen: »Wie ist es bei Euch?« Es hilft

auch zu sagen: »Das verstehe ich nicht.«

Denn auch wenn ich mich mit der fremden Kultur befasse,

so bin ich doch immer ein gänzlich Unwissender, weil ich

78

nicht in der anderen Kultur lebe und sie bestenfalls von au-

ßen kenne.

4.2.2 Grenzen des interkulturellen und interreligiösen

Verstehens

»Wie ist es bei Euch?« ist eine sinnvolle und hilfreiche Fra-

gestellung – vor allem dann, wenn wirklich den Erklärungen

zugehört wird. Natürlich ist es vor allem dann hilfreich,

wenn wirkliche und ehrliche Antworten gegeben werden.

Wie ist es für junge Menschen, von den Eltern einen Ehe-

partner ausgesucht zu bekommen? Die Antworten werden

vielfältig sein – je nachdem, ob eine 50 jährige Frau gefragt

wird, die mit dem Mann, den sie auf Wunsch der Eltern hei-

ratete, gut oder schlecht leben konnte – oder ob ein junges

Mädchen gefragt wird, das noch nicht heiraten möchte, das

aber von Eltern versorgt werden soll. Es kommt auch darauf

an, ob zu dieser Problematik alte oder junge Männer gefragt

werden. Die Fragestellung lässt sich akademisch bearbeiten

– über Befragungen und Statistiken, sie lässt sich spekulativ

aus den Grundsätzen und Traditionen einer Gesellschaft

lösen. Es kann behauptet werden, dass in traditionellen

Gesellschaften kaum ein Weg besteht, wie sich junge Men-

schen vor der Ehe treffen können – es sei denn, die Familien

arrangieren das Treffen. Anders ist es gesellschaftlich nicht

akzeptiert.

Die Rolle der Eltern für die generelle Auswahl des Le-

bensweges der Kinder ist in der Welt sehr verschieden defi-

niert. Die Dominanz der Eltern für den Lebensweg der Kin-

der ist auch in westlichen Gesellschaften durchaus

vorhanden, und sei es über die Auswahl der Schulen und

informellen Bildungsmöglichkeiten, die schon den Kindern

zur Verfügung stehen. Dies zeigt sich besonders dann, wenn

solche Bildungsmöglichkeiten von den einen Eltern ausgiebig

79

genutzt werden können, während sie anderen – oft aus finan-

ziellen Gründen, versagt bleiben.

Dieses eine Beispiel mit seiner breiten Ausfächerung soll il-

lustrieren, wie schwer es ist, die fremd wirkenden Verhal-

tensmuster einer anderen Kultur in ihren verschiedenen Zu-

sammenhängen zu verstehen. In Deutschland diskutiert man

eifrig pädagogische Fragen unter Eltern heranwachsender

Kinder, bedenkt Berufs – und Entwicklungschancen. Den

Muslimen, besonders in den nicht so »westlichen« Gesell-

schaften, wird allzu leicht unterstellt, dass sie wenig bis keine

Zukunftserwartungen – und hoffnungen für ihre Kinder he-

gen. Es wird schnell unter dem Gesichtspunkt »Zwangsmass-

nahme« gesehen, was sicherlich im Einzelfall mehr unter das

Stichwort »Tradition« gehören mag und eventuell durchaus

mit positiven Gefühlen für die Kinder verbunden ist.

Zeit, Gespräche mit Muslimen, Phantasie und die Bereit-

schaft, die eigene Tradition nicht als Selbstverständlichkeit

stehen zu lassen, während andere Traditionen kritisch gese-

hen werden, gehören hier zum Dialog.

Was bedeutet innerhalb eines bestimmten Kontextes ein

Ausweis-Dokument? Der deutsche Pass? Der Pass des Lan-

des, das verlassen wurde ? Was bedeutet eine »Rückführung«

für einen Asylbewerber, der seit 18 Jahren Duldung im Gast-

land erfahren hat, dort aufgewachsen ist, zur Schule ging und

das Herkunftsland, dessen Pass er wider Willen besitzt, nicht

kennt? Es hilft auf jeden Fall, zu sagen: »Das verstehe ich

nicht.« Es mag aber darüber hinaus im genannten Fall nur

sinnvoll sein, sich für den betroffenen Menschen über alle

Verstehens-Grenzen einzusetzen.

»Das verstehe ich nicht« – ist sicherlich auch dann eine

sinnvolle Auskunft, wenn an Lebensgrenzen etwa ein Seelsor-

ger, Begleiter gesucht wird. Alle Aufklärung über Ritualgebe-

te und Glaubensbekenntnisse der Muslime sollte nicht dazu

führen, als Nicht-Muslim eine Funktion zu übernehmen, die

nur Eingeweihten zugänglich ist. Die Wichtigkeit der Rituale

80

beim Sterben wurde bereits an anderer Stelle erwähnt. Sie

können oft sehr schwer ersetzt werden, bei aller Bereitschaft,

beizustehen, zu trösten und zu helfen – dies kann als Nicht-

Ernst-Nehmen des Menschen und des muslimischen Glau-

bens empfunden, als Kränkung gewertet werden. Verstehen

ist nie mit Vereinnahmen gleichzusetzen.

Reflexionen zu dieser Thematik haben Kurt Schmidt und

Gisela Egler58 veröffentlicht:

»Stellen wir uns nun vor, eine Krankenschwester macht

die protestantische Seelsorgerin auf eine schwerkranke

Muslimin aufmerksam, die im Krankenhaus keinen Bezug

zu muslimischen Verwandten hat. Es entwickelt sich ein

Vertrauensverhältnis zwischen beiden und die Frage steht

im Raum, ob ein gemeinsames Gebet für die Heilung der

Kranken möglich ist. Diese Situationsbeschreibung ver-

deutlicht bereits, dass das gemeinsame Gebet keine abs-

trakte Sache ist. Die Frage ist deshalb nicht nur, ›darf‹ die

Seelsorgerin dies (aus christlicher bzw. aus muslimischer

Sicht), sondern vielmehr, ›kann‹ sie dies.

Das gemeinsame Gebet unterstreicht die Nähe und die

Begleitung, die Hoffnung, die guten Wünsche, aber – und

das ist der entscheidende Punkt – es ist dadurch keine

Demonstration einer generellen Einheit zweier Religio-

nen.

Dies führt zu folgender Einschätzung: Grundsätzlich

kann aus protestantischer Sicht die interreligiöse Seelsor-

ge alles beinhalten, was im Respekt voreinander oder vor

Gott aus ganzem Herzen geschieht und heilsam ist.«59

Liegt ein Muslim im Sterben, sollen die Angehörigen verstän-

digt werden. Für gläubige Muslime beginnt und endet das

Leben mit dem Bezug zu Gott. Deshalb wird er, wenn er

irgend kann, noch das von klein auf gelernte Glaubensbe-

kenntnis sprechen. Wenn er das nicht mehr kann, mag ein

81

anderer Muslim das für ihn tun. Der/die christliche Seelsor-

ger/in wird den Sterbenden in verschiedenster Weise unter-

stützen, aber nicht mit ihm das Bekenntnis sprechen. Damit

wird er/sie automatisch zum/zur Muslim/in. Dieser Sprechakt

ist vergleichbar mit der Taufe als Eingangsritual in den christ-

lichen Glauben. Deshalb gibt es hier eine Grenze des Verste-

hens und der Begleitung, die zu respektieren ist.

82

5 Interkulturelle und innerislamische Beratungs- und Betreuungspraxis

Es wurde in ersten Kapiteln des Buches betrachtet, was

über viele Jahrhunderte, aber auch aktuell innerhalb der Me-

dizin im Bereich der islamischen Religion erkannt und be-

dacht wurde und wird. Es wurde versucht, zu erklären, wie

islamische Zugänge zu moderner, naturwissenschaftlich ge-

prägter Medizin aussehen können. Dies konnte nur in einem

Rahmen geschehen, in dem Aspekte beschrieben wurden.

Diese Aspekte gleichen Momentaufnahmen, sie sind Fokus-

sierungen auf bestimmte Phänomene, und sie sind gleichzeitig

nur ein Ausschnitt aus vielen Überlegungen.

Seelsorge im Islam, soweit sie an normativen Quellen aus

Koran und Sunna gebunden ist, kam in Eigen-Beschreibungen

zu Wort. Seelsorge im Islam, aber mit den Implikationen

modernen, westlich-psychologischen Denkens wurde als

Möglichkeit an den Horizont der Überlegungen gestellt. Seel-

sorge innerhalb der vielfältigen Tendenzen der islamischen

Mystik wurde aus Quellen referiert.

Erste Eindrücke aus Beispielen interkultureller Begeg-

nungspraxis wurden im vorhergehenden Kapitel vorgestellt

und in ihren Facetten und Rahmenbedingungen diskutiert.

Im Folgenden soll nun ein genauerer Blick auf die Praxis

von Beratung und Seelsorge im Kontext der islamisch-

christlichen Begegnung geworfen werden. Es geht um die

Beratung bi-religiöser und bi-kultureller Familien, es geht um

das Kennen lernen islamischer helfender Institutionen im

christlich geprägten Umfeld Deutschlands. Muslime, die in

deutschen Institutionen, mit und ohne Blick auf multikultu-

83

relle Betreuung leben, werden vorgestellt werden. Kranken-

häuser, vor allem solche, die Langzeitpatienten aufnehmen,

Psychiatrien, Altersheime werden auf ihre multikulturelle

Praxis hin untersucht werden. Letztlich wird die Frage ge-

stellt werden, inwieweit die »Fragmentierung des Lebens

einzelner Menschen in Institutionen«, wie sie in Deutschland

in sozialen Einrichtungen praktiziert wird, dem islamischen

Lebensgefühl entgegensteht, einem Menschenbild, das den

Menschen als Familienwesen anspricht, einer Vorstellung von

sozialem Verhalten, die aus Familientraditionen entwachsen

ist. Nicht zuletzt haben unterschiedliche soziale Konzepte

unterschiedliche Rechtsgrundlagen und Rechtsgrundsätze,

nach denen – oft erst durch Erfahrungen der Praxis – zu fra-

gen ist.

5.1 Beratung und Begleitung bi-kultureller Familien

Wenig in der Seelsorgeliteratur beachtet, aber schon lange

existent, sind bi-kulturelle Familien, in denen sowohl kultu-

relle als auch religiöse Traditionen von Christentum und

Islam miteinander gelebt werden. Christlich-muslimische

Vereinigungen und Beratungsstellen für bikulturelle Paare

und Familien bemühen sich, Wege für eine gelebte spirituelle

Begegnung beider Religionen innerhalb des kleinen Rahmens

von Familien und Partnerschaften zu finden.

Beziehungs- und Machtfragen und Genderprobleme mi-

schen sich hier mit religiösen und kulturellen Fragestellungen.

Vermischt werden durch Kleidung und Habitus hergestellte

religiöse Schablonenvorstellungen mit religiös und theolo-

gisch substantieller Auseinandersetzung.60

Eva Butt gibt Einblick in ihre Praxis der Eheberatung in bi-

kulturellen und bi-religiösen Partnerschaften.61 Sie geht da-

84

von aus, dass am Anfang der Klärung von Beziehungen ein

Bearbeiten des Begriffes von »Kultur« und von dessen Gren-

zen vorgenommen werden muss.

»Kultur umfasst alle Bereiche menschlichen Lebensvoll-

zugs; von der materiellen Lebenssicherung über die sozia-

le Lebensordnung bis zu einer ästhetischen und wertori-

entierten Umweltauseinandersetzung.«62

Butt nimmt an, dass viel zu viele Probleme einer bi-

nationalen und bi-kulturellen Partnerschaft auf kulturelle

Unterschiede zurückgeführt werden. Deshalb erfragt sie

daneben den Familienstatus beider Partner aus den Her-

kunftsfamilien (wie viele Geschwister?), soziale Bedingungen

des Aufwachsens in ihren jeweiligen Herkunftsländern und

andere Faktoren ihrer Sozialisation, die jeweils individuell

verschieden sind. Sie alle kommen zusammen, um Charakter-

eigenschaften von Menschen zu prägen.

»An einem Beispiel möchte ich versuchen, das aufzuzei-

gen: Nehmen wir ein christlich-muslimisches Paar, das

ein unterschiedliche Auffassung von Kindererziehung hat

und von allem, was mit diesem Thema zusammenhängt.

Die Ehefrau ist deutsche katholische Christin, 35 Jahre

alt, der Ehemann ein tunesischer Muslim, 39 Jahre. Die

beiden haben zwei Kinder: eine Tochter Amira (6 ½ Jah-

re) und einen Sohn Karim (2 Jahre).

Die beiden Eheleute verstehen sich durchschnittlich gut,

sie haben Höhen und Tiefen in ihrer Partnerschaft hinter

sich wie in den meisten Paarbeziehungen, und jetzt kom-

men die beiden mit zwei Fragen zu mir in die Beratung:

Erstens die unterschiedliche Auffassung zum Thema Reli-

gionsunterricht der Tochter. Sie kommt gerade in die

Schule, und es geht darum, welchen Religionsunterricht

sie besuchen darf, soll, will – und überhaupt.

85

Zweitens. Der Sohn ist mittlerweile zwei Jahre alt und

noch nicht beschnitten. Die Frau möchte gern, dass er ge-

tauft wird, und der Mann möchte natürlich, dass er be-

schnitten wird. Es stellt sich heraus, wie bei so vielen Paa-

ren, dass Religion bis zur Geburt der Kinder kein Thema

war. Sie haben sich über vieles – auch über die Zukunft –

Gedanken gemacht und sich auch mit den Herkunftskul-

turen und -familien beschäftigt. Das Thema Religion war

für beide nicht so wichtig und wurde daher nicht beson-

ders diskutiert. Da das erste Kind ein Mädchen war, ka-

men sie um das Thema Beschneidung herum. Die Taufe

wurde noch ein wenig aufgeschoben, aber jetzt, wo der

Schuleintritt bevorsteht, taucht ein großes Fragezeichen

auf. Genauso ist es mit der Beschneidung des Sohnes, weil

der Heimatbesuch bei der tunesischen Familie ansteht. Es

ist für den Vater unmöglich, mit dem unbeschnittenen

Sohn nach Tunesien zu reisen«.63

Nun versucht die Beraterin, herauszufinden, auf welcher

Ebene der Beziehung das Paar die Fragen behandelt, ob es

ausschließlich um religiöse Fragen geht. Es könnten hinter

den religiösen Auffassungen Fragen nach der Durchsetzungs-

fähigkeit des einen oder anderen Partners stehen, oder es

könnten Modalitäten der üblichen Kommunikation zwischen

beiden deutlich werden.

Es geht auch für das Paar darum, gemeinsame Wertvorstel-

lungen für die Erziehung der Kinder zu erarbeiten, die ihre

kulturellen Hintergründe umgreifen. Auf jeden Fall gibt es in

allen Problemen keine Patentrezepte, sondern die beiden

müssen mit ihren Vorgaben individuelle Lösungen finden.

»Bei unserem Paar war der Religionsunterschied bisher

kein zentrales Thema, da beide sich als tolerant und offen

erlebt hatten und keinen großen Wert auf äußere religiöse

Formen legten. Bei der Eheschließung war es möglich ge-

86

wesen, durch eine standesamtliche Heirat das Thema Re-

ligion zu umgehen. Möglicherweise gab es jedoch schon

zum damaligen Zeitpunkt Vorbehalte seitens der deut-

schen Herkunftsfamilie hinsichtlich der Eheschließung

der Tochter mit einem Muslim, wahrend die Familie des

tunesischen Partners – bedingt durch die räumliche Ent-

fernung – vermutlich nicht sehr stark involviert war.

Durch die Kinder, insbesondere das erste Kind, wird die

Meinung der Herkunftsfamilien und deren Einstellung zu

Religion wieder aktuell, auch wenn beispielsweise die

muslimische und die christliche Seite gar nicht religiös

sind; mit den Enkelkindern wird diese Frage wieder wich-

tig.

Bei vielen Paaren kommt es zu diesem Zeitpunkt zu einer

großen Beziehungskrise, da der Druck der Herkunftsfa-

milien erhebliche Loyalitätskonflikte auslöst. Beide Part-

ner haben den Wunsch, es ihrer Familie recht zu machen

und dem sozialen Umfeld gegenüber ihr Gesicht zu wah-

ren ...

Ich gebe dem Paar zu bedenken, dass wir als interreligiöse

Familien die Chance haben, für unsere Kinder und unser

Umfeld ein Modell für Toleranz und Verständigung zu

sein. Dabei ist es für die Entwicklung der Kinder sehr

wichtig, dass wir nicht über Nebensächlichkeiten streiten,

auch wenn es gerade im Moment sehr aktuell ist. Wir

sollten statt dessen den Kindern vorleben, dass es um viel

wichtigere Dinge geht, die die Religionen mitzuteilen ha-

ben, also um das Wesentliche, den Kern der Religion.

Zentral bleibt in jedem Fall, dass die Kinder beide Religi-

onen kennen lernen sollten und soviel wie möglich miter-

leben z.B. in Form von Festen, Gebeten und Ritualen.

Natürlich wird unser Umfeld dominiert von der christ-

lich-abendländischen Religion und Kultur.

Als Beraterin gebe ich Denkanstöße, die das Paar darin

unterstützen, Vereinbarungen auszuhandeln und zu er-

87

proben. Kompromissbereitschaft und Toleranz sind dabei

wichtige Faktoren.«64

Mit diesen Vorschlägen, Beispielen, Hinweisen aus einer Be-

ratungssituation ist umrissen, vor welchen Problemen bi-

kulturelles und bi-religiöses Familienleben stattfinden kann.

Taufe oder Beschneidung ? – eine Frage nach dem Ritual

und seiner Bedeutung in der Religion, eine Frage nach dem

Selbstverständnis des muslimischen Vaters – schließlich eine

Frage, die die »extended family« betrifft und die sie als

Großeltern, Onkel und Tanten nach einem neuen, bewussten

Selbstverständnis ihrer eigenen Religion fragen lässt.

Seelsorge wird hier als »kulturell sensible« Seelsorge dann

eine Chance haben, wenn es ihr gelingt, die unterschiedlichen

kulturellen Muster und Ausdrucksformen des Glaubens in

einen offenen Kommunikationszusammenhang zu bringen. Es

muss ermöglicht werden, dass alle bei ihren erlernten Tradi-

tionen verbleiben können, ohne deren Substanz preis zu ge-

ben, dass sie aber andererseits ohne Angst ȟber den Teller-

rand« schauen können.

Am Ende einer solchen Kommunikation zwischen Eltern,

Großeltern und Kindern, zwischen ihren verschiedenen kultu-

rellen und religiösen Vorstellungen und Zugängen mag in

einzelnen Fällen eine gelungene, originelle und theologisch

beiden Religionen angemessene rituelle Form entwickelt wer-

den. Regine Froese berichtet von einem deutsch-türkischen

Ehepaar, das im Beisein beider Familien ihr Kind von einem

evangelischen Pfarrer und einem Imam in einem eigens ent-

worfenen Ritual segnen ließ.65

Zunehmend geht es in Deutschland und Europa darum,

dass Menschen unterschiedlicher kultureller Tradition und

unterschiedlicher religiöser Herkunft bleibend miteinander

leben werden und die europäischen Gesellschaften gestalten

werden. Dies ist, wie derzeit erst langsam erkannt wird, eine

brennende soziale Frage, die politisch gelöst werden muss.

88

Daneben ist es eine Frage der Bewusstseinsveränderung auf

vielen Ebenen: In Bezug auf Familienstrukturen, Geschlech-

ter-Beziehungen, Einstellungen zur Religion, zu Freizeit und

Berufsleben geschehen ständige Wandlungen, meistens im

Rahmen praktischen Vollzugs. Muslime und Christen sehen

sich in Ausübung ihrer Religion vielen gemeinsamen Heraus-

forderungen gegenüber, die Gesellschaften mit weitgehender

säkularer Prägung jeder Religionsausübung entgegen bringen.

5.2 Islamische helfende Organisationen

Neben der medizinischen und psychologischen Beratung

stellt sich auch für Muslime die Frage nach der Notwendig-

keit von Betreuung und Versorgung Hilfsbedürftiger. Hierzu

gibt es traditionelle religiöse Vorstellungen im Umkreis des

islamischen Gedankens der »Wohlfahrt«:

»Das islamische Wohlfahrtswesen ist genauso breit ge-

fächert und hat im Laufe der Jahrhunderte ebenso unter-

schiedliche Ausprägungen erfahren wie sein christliches

Pendant. Allein die Untersuchung des islamischen Stif-

tungswesens könnte zu dem Schluss verleiten, diesem

käme eine universelle Bedeutung im Islam zu. Beispiels-

weise kann eine fromme Stiftung von Landbesitz zur dau-

erhaften Versorgung eines Krankenhauses dem Stifter

sowohl die Hoffnung auf jenseitige Vergeltung der Gabe

durch Allah vermitteln als auch sein soziales Prestige ge-

waltig erhöhen; das Stiftungswesen ist seit der Ausprä-

gung klassischer Institutionen der Scharia eine bedeutsa-

me Rechtsform; es beeinflusst die Wirtschaft ganzer

Landstriche; Stiftungen von Moscheen und sozialen Ein-

richtungen eröffnen gesellschaftliche Räume, sie bilden

für ihre Nutzer eine Möglichkeit sozialer Sicherung; Stif-

89

tungen besitzen eine klassische Form, die jedoch seit der

Kolonialzeit und der Entstehung von einzelnen National-

staaten je nach Rechtssystem Wandlungen unterworfen

ist«.66

Mit diesem Auftakt beginnt Bärbel Beinhauer-Köhler ihre

Studie zu »Formen islamischer Wohlfahrt in Deutschland«.

Im weiteren Verlauf ihrer Recherchen bemerkt sie:

»Auch der Gedanke eines Zusammenspiels von körper-

licher Heilung und geistlichem Heil von Patienten ist

angesichts der modernen Medizin in den Hintergrund

getreten ...«67

Dieses Zusammenspiel interessiert im weitesten Sinne, wenn

Fragen nach Beratung und Seelsorge im Kontext einer Religi-

on auftreten. Im Folgenden soll untersucht und referiert wer-

den, welche Hinweise Beinhauer – Köhler für diesen speziel-

len Aspekt der »Wohlfahrt« im Islam gibt.

Durch den Koran selbst ist festgelegt, dass der Mensch als

die Krone der Schöpfung Statthalter (Khalifa) Gottes ist. Der

Mensch ist ausgestattet mit äußerlicher Schönheit und der

Anlage zum Guten. Der Mensch besteht aus Körper und Geist/

Seele. Es wurde bereits erwähnt, dass in der Zuordnung der

beiden Teile bzw. deren Interdependenz im Laufe der Religi-

onsgeschichte und deren jeweiliger Ausprägung Unterschiede

gemacht wurden.68 Die Bedeutung der Seele in ihrem Verhält-

nis zu Gott wurde herausgehoben: dagegen war der gesunde

Ausgleich von Körper und Seele gelegentlich in den Hinter-

grund getreten. Hierzu bemerkt Beinhauer – Köhler:

»Auch andere Zeugnisse des islamischen Geisteslebens

illustrieren die herausragende Rolle der seelisch – geisti-

gen Komponente des menschlichen Wesens, so betont der

Verfasser einer berühmten Kosmologie, al – Qazwini ( ca.

90

1203 – 1283), der Mensch unterscheide sich vom Tier

durch seinen Verstand und die Fähigkeit, Verantwortung

zu übernehmen, und er schreibt: ›Diese Seele nun verhält

sich im Körper wie der Verwalter im Königreich, und die

Fähigkeiten und Organe sind ihre Dienerschaft ... Der

Körper also ist das Königreich der Seele, ihr Aufenthalts-

ort und ihre Stadt‹.«69

Über vorderorientalische Einflüsse, über den Hellenismus und

die Gnosis ist diese vergleichsweise »Ambivalenz«70 gegen-

über dem Körper spürbar, die sich in einer gewissen Abwer-

tung des Körpers im Sufismus ausdrückt.71

Beinhauer-Köhler bemerkt ebenso, dass die Prophetenme-

dizin um einen ausgewogenen Anteil des Körpers an der ge-

samten Existenz des Menschen bemüht ist:

»Demzufolge gebühre dem Körper grundsätzlich ein ent-

scheidender Anteil am Menschsein. Vermutlich liegt es

am alltagsorientierten Charakter der Gattung Hadith72,

dass Überlegungen zur menschlichen Seele dort weniger

Raum einnehmen. Stattdessen hat jedoch die Frage nach

dem persönlichen Glauben die frühen Muslime in hohem

Maße beschäftigt. Es gilt, den Glauben in jeder Hinsicht

zu stärken und zu praktizieren. In diesem Zusammen-

hang fällt das Stichwort des gihad, was zunächst einmal –

neutral – ›Einsatz für die Sache Gottes‹ bedeutet«.73

Im Rahmen seiner Grundverpflichtungen gegenüber der Reli-

gion, der Arkan, soll der Muslim Armensteuer, Zakat, abge-

ben. Entscheidend für die Ausübung der Frömmigkeit ist

nicht nur die Seelenqualität des Einzelnen, sondern auch das

angemessene soziale wie religiöse Leben der Gemeinschaft,

der Umma.

Über die Zakat hinaus ist es jedem Muslim freigestellt,

weitere Almosen (Sadaqa) zu geben.

91

»Die Scharia hat ... eigenständige Rechtsinstitutionen ent-

stehen lassen, die weiter unten gesondert betrachtet wer-

den: Aus dem Aufruf zur Armenspende erwuchs die re-

gelmäßige Abgabe der zakat, private Schenkungen

mündeten ins Stiftungswesen (waqf/hubs) ... Für die

Umma besteht das Ideal eines allgemeinen Wohlergehens,

wo das Wohl der Gemeinschaft (maslaha) vor das des

Einzelnen gestellt wird.«74

In der Wende zum 20. Jahrhundert wurden vielfach in islami-

schen Ländern europäische Gedanken rezipiert, darunter auch

der Sozialismus. Auf dem Hintergrund des koranischen »Um-

ma«-Gedankens wurden politische islamisch-sozialistische

Vorstellungen entwickelt, die in verschiedenen Ländern noch

heute zur herrschenden Staats-Ideologie zählen.

Beinhauer-Köhler untersucht in ihrer Studie die Aspekte

von Hilfeleistungen innerhalb ausgesuchter islamischer Ge-

meinden in Deutschland und islamischer internationaler

Hilfsorganisationen. Die Verteilung von Geldern aus der

Zakat, von Opferfest und Sadaqa, werden beschrieben. Es

werden Projekte genannt, in die diese Hilfe in aller Welt

fliesst. Besonders bei internationalen Hilfsorganisationen wie

»Humanity First« wird darauf Wert gelegt, dass keine Hilfe-

leistungen für einen militant verstandenen Gihad gegeben

werden.75

»Humanity First« ist eine von mehreren internationalen is-

lamischen Hilfsorganisationen.

»Insgesamt scheint ein quietistisches Verständnis von

Gihad zusammen mit dem fortwährenden missionari-

schen Bemühen um neue Mitglieder indirekt zu bewirken,

dass die Einsätze von Humanity First auch westlichen

Kriterien von humanitärer Hilfe genügen.«76

Yasar Colak gibt einen detaillierten Überblick über den der-

92

zeitigen Stand von religiösen Dienstleistungen in der Türkei.

Dies scheint hier besonders interessant, weil die gegenseitige

Verbundenheit zwischen Muslimen in der Türkei und den in

Deutschland lebenden Muslimen noch hoch ist. Im Rahmen

des praktizierten Entsende-Verfahrens für die in Deutschland

tätigen Imame ist es von Bedeutung, den Wissens- und Pra-

xisstand von Beratung im Rahmen religiöser Begleitung in

der Türkei zu kennen.

»Religiöse Dienste in der Türkei werden wie folgt geglie-

dert: die öffentlichen Dienste, die von freiwilligen Orga-

nisationen angebotenen Dienste sowie Universitäten und

Forschungsinstitute, die diese Dienstleistungen wissen-

schaftlich unterstützen. Da die Dienstleistungen der frei-

willigen Organisationen sowie der Akademien einen Un-

tersuchungsbereich für sich darstellen, wird sich dieser

Beitrag auf die praktischen Dienste des Amtes für Religi-

öse Angelegenheiten für die Gesellschaft beschränken ...

Wie allgemein bekannt ist, ist Religion ein Mittel, »das

notwendige Kommunikationssysteme bereitstellt, die da-

zu dienen, den Sinn des Lebens zu bereichern, das Leben

menschenwürdig zu gestalten sowie zur besseren gegen-

seitigen Verständigung der Menschen beizutragen.«77

Die letztgenannte Begründung des Kommunikationssystems

Religion soll aus den Ausführungen Colaks herausgearbeitet

werden. Er selbst stellt fest:

»Wenn die Gesellschaft in Bezug auf Religion nicht rich-

tig aufgeklärt wird oder die Aufklärung durch inkompe-

tente Personen erfolgt, so entsteht in der Gesellschaft statt

Harmonie und Frieden Chaos, statt Toleranz Fanatismus,

statt der Freiheit der Menschen der Verfall in Form des

Aberglaubens«.78

93

Unter dem Titel »Religiöse Führungs- und Beratungsdienste«

führt Colak aus, was im Bereich von Beratung und Seelsorge

vom Amt für Religiöse Angelegenheiten in Ankara angeboten

wird:

»Die Angehörigen des Amtes, egal welchen Titel sie ha-

ben oder in welcher Position sie arbeiten, haben ähnliche

Aufgaben wie die Sozialarbeiter in der westlichen Gesell-

schaft. Sie versuchen, die Probleme der Menschen unter

dem Gesichtspunkt des Islam zu lösen. Schwerpunktmä-

ßig bieten die Beauftragten Führungs- und Beratungs-

dienste zu den Themen Glauben, Gebetsverrichtung und

Moral. Des Weiteren leisten sie den Menschen bei famili-

ären Auseinandersetzungen, Krankheit und Tod Beistand,

beten bei Hochzeiten, Trauungen und Beschneidungen

oder vollziehen religiöse Trauungen.

Die Abteilungen, die religiöse Führungs- und Beratungs-

dienste anbieten, sind das Hohe Amt für Religiöse Ange-

legenheiten, das Amt für Muftis, Moscheen, Veranstalter

von Korankursen, Krankenhäuser, Gefängnisse, Waisen-

häuser, Heime für schwer erziehbare Kinder und Alten-

heime.

An das Hohe Amt für Religiöse Angelegenheiten wenden

sich täglich Hunderte von Personen per Telefon, Email,

Post und persönlich. Ihnen werden unter Berücksichti-

gung ihres Bildungsstandes sowie ihrer sozialen und psy-

chologischen Voraussetzungen religiöses Wissen, Rat-

schläge und psychologische Hilfe vermittelt. Täglich

erhält das Amt für Religiöse Angelegenheiten ca. 150 An-

rufe. Außerdem erhielt es von 1999 bis 2002 insgesamt

5.280 Emails. Darüber hinaus erhielt man ca. 2.000 reli-

gionsbezogene persönliche Fragen per Post. Wichtige

Themenbereiche sind Glaubensvorschriften (Gebet, Fas-

ten, Spenden, Pilgerfahrt, Fragen zum Opferfest), Koran-

übersetzungen und -interpretationen sowie finanzielle

94

und wirtschaftliche Themen (Kauf/Verkauf, Zinsen, Bör-

se, akkreditierte Verkäufe, Aktien, Gewinnanteile etc.),

familienrechtliche Themen (Ehe, Scheidung, innerfamiliä-

re Auseinandersetzungen und Lösungsvorschläge), religi-

öse Fragen mit medizinischem Schwerpunkt (Abtreibung,

Verhütung, Transplantation, künstliche Befruchtung,

Klonen) sowie religiöse Anschauungen, die zerstörende

Wirkung auf die Gesellschaft haben (Satanismus, Moon-

Sekte; Zeugen Yehovas u.a.), ferner Fragen nach Mission,

Häresie und Aberglauben. Auch die Ämter der Muftis

leisten in diesem Rahmen Dienste. Schriftliche Fragen, die

an diese Ämter gerichtet werden, sind oft problematischer

sozialer Natur und werden registriert.

Absolventinnen der Theologischen Fakultät, die in den

Bezirksämtern der Muftis als Fachberaterinnen für Glau-

bensangelegenheiten arbeiten, bieten hauptsächlich Füh-

rungs- und Beratungsdienste für Frauen an. Diese Dienst-

leistung ist für Frauen, die von den in den Moscheen

angebotenen Diensten nicht ausreichend profitieren kön-

nen, von lebenswichtiger Notwendigkeit. Derzeit sind in

55 Bezirken Fachberaterinnen tätig.«

Inhaltliche Vergleiche anzustellen zwischen dem aufgeführten

Katalog an Hilfs- und Beratungsangeboten islamischer Insti-

tutionen in der Türkei und deutschen diakonischen und cari-

tativen Bemühungen, wäre interessant und würde hervorhe-

ben, welche Vielfalt an Hilfsangeboten in beiden Religionen

bereitgestellt werden. Zum gegenwärtigen Stand der Informa-

tion ist es allerdings eher sinnvoll, sich auf den von Colak

dargestellten Rahmen von »islamischer Hilfe« zu beziehen

und ihn vor allen in seiner sozialen und geistigen Einbettung

in die derzeitige Situation der Türkei zu stellen.

Moscheen und die dort Beauftragten bieten dezentral sozial

unterstützende Dienste für die Muslime an; Moscheen sind

nicht nur Orte des Gebets, sondern sie sind auch Aufent-

95

haltsorte für alte Menschen, die dort ihren Tag verbringen

können; in 55 Bezirken wurde erkannt und umgesetzt, dass

Frauen in Notlagen spezielle Hilfen brauchen, die meistens

Moscheevereine mit kulturellen und Freizeitangeboten nicht

leisten können. Colak selbst bemerkt:

»Wir sind der Überzeugung, dass diese Aufzeichnungen

ein ergiebiges Feld für Forscher hinsichtlich der Probleme

unseres Landes darstellen«.79

Auch in Bezug auf »Gefängnisseelsorge« gibt es Vereinbarun-

gen zwischen dem Justizministerium und dem Amt für Religiö-

se Angelegenheiten. Männliche und weibliche Beauftragte

arbeiten seit 2001 für die Resozialisierung von Angeklagten

und Straftätern in verschiedenen Formen von Gefängnissen.

Moscheebeauftragte haben einen weiten Aufgabenkatalog

von sozialen Diensten über religiöse Begleitung an den Wen-

depunkten des Lebens. Sie sollen Schulen, Krankenhäuser,

Waisenhäuser und Altenheime besuchen, sie sollen helfen und

beraten bei der Vorbereitung und Durchführung der Pilger-

fahrten, sie sollen sich um Räume und Gebäude kümmern.

Colak schließt mit dem Hinweis:

»Es stellt sich grundsätzlich die Frage, ob die Beauftrag-

ten für religiöse Führung und Betreuung ihren Aufgaben

in der sich verändernden und entwickelnden Gesellschaft

auch wirklich gerecht werden. Es sollte erwähnt werden,

dass das Wissen und die Erfahrung unserer Mitarbeiter in

diesen Bereichen nicht ausreichend sind. Wir vertreten die

Ansicht, dass dieser Zustand in engem Zusammenhang

mit der Bildung und der bereits erwähnten sozialen Struk-

tur unseres Landes steht. Aus diesem Grunde wäre die

Aufnahme eines eigenständigen Faches ›Psychologische

Betreuung und Führung‹ in die theologische Ausbildung

gerechtfertigt«.80

96

5.3 Muslime und Altenheim

In Deutschland existieren einige wenige Altenheime, die

sich bewusst auf multikulturelle Betreuung ihrer Bewohner

einstellen. Ein kurzes Beispiel dieser Problematik wurde be-

reits weiter oben gegeben.81

Moscheegemeinden sorgen sich um die Beschäftigung und

Unterrichtung der Kinder, geben Frauen Möglichkeiten, sich

in der Moschee zu treffen. Sie sind auch, wie in ihren Hei-

matländern, dafür offen, alte Menschen tagsüber in der Mo-

schee und den dazugehörigen Einrichtungen zu begrüßen. Wo

aber eine solche Versorgung für einen alten Menschen nicht

ausreicht, weil er oder sie eine Behinderung hat oder sonst

nicht mehr zum Verlassen des Hauses in der Lage ist, verlas-

sen sich Muslime bisher auf den Zusammenhalt der Familien.

»Nach dem Thema professioneller Altenbetreuung für

Muslime in Deutschland gefragt, äußerten sich fast sämt-

liche Befragten ablehnend‹.82 Man erinnerte immer wie-

der daran, dass im Islam laut Koran die Versorgung alter

Menschen Aufgabe der jüngeren Familienmitglieder sei.

Allerdings ist man sich z.T. der wachsenden Notwendig-

keit für Seniorenheime angesichts sich vor allem in Städ-

ten wandelnder Familienstrukturen durchaus bewusst, so

führt z.B. die türkische, an die Religionsorganisation

Diyanet angeschlossene Vaqif-Stiftung in Istanbul ein Al-

tersheim.

Bisher ist jedoch keine Initiative von Muslimen erkenn-

bar, auch in Deutschland ein solches zu errichten. Gleich-

zeitig werden in Notfällen, wenn eine Familie die Betreu-

ung nicht leisten kann, jedoch durchaus deutsche

Einrichtungen angenommen ...«83

Beinhauer-Köhler stellt ein multikulturell ausgerichtetes Haus

in Duisburg vor, in dem derzeit zehn TürkInnen leben:

97

»Das Haus zeichnet sich durch zweisprachiges Pflegper-

sonal sowie durch zahlreiche Details der Einrichtung aus,

die unterschiedlichen kulturellen Prägungen Rechnung

tragen: Im Keller befindet sich ein kleiner Gebetsraum

mit eigener Waschgelegenheit für die rituellen Waschun-

gen. Dieser wird jedoch weniger von den stark pflegebe-

dürftigen oder sich u.U. nicht an Religion orientierenden

Bewohnern benutzt, umso mehr von den Besuchern, die

zu den Gebetszeiten dann eine gute Möglichkeit zum Ge-

bet finden. In der Küche wird selbstverständlich auf die

islamischen Speisevorgaben geachtet, ebenso wie Kochni-

schen auf den Fluren und dortige Sitzgelegenheiten er-

möglichen, dass größere Besuchergruppen sowie Besucher

auf Anfrage oder mit Betreuung auch selbst dort kochen

können, so dass auch umfangreichere Familien wie ge-

wohnt und in angenehmem Umfeld zusammenkommen

können«.84

Eine Bestandsaufnahme zur Situation von Muslimen am Ende

des Lebens, in Sterben und Tod zu geben, wird derzeit man-

cherorts versucht:

»Muslimische Gräberfelder sowie kultursensible Pflege in

Altenheimen und Krankenhäusern sind vielerorts noch immer

keine Selbstverständlichkeit.«85 So wurde auf der dritten

Fachtagung der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart

im Mai 2006 formuliert.

Migranten der ersten Generation hatten es sich zum Ziel

gesetzt, nach einigen Jahren Arbeit für den Lebensabend in

ihre alte Heimat zurück zu gehen. Aber ihre Lebensentwürfe

änderten sich, und es wurde daraus ein Daueraufenthalt in

der neuen Umgebung. Ältere Mitbürger sind oft auf Hilfen

angewiesen, andererseits engagieren sie sich oft noch im Ge-

meinwohl und in den Vereinen. Es stellt sich die Frage, ob die

Institutionen, die Unterstützung anbieten, kulturell sensibel

genug sind, um seit Jahrzehnten in Deutschland lebenden,

98

jedoch von Geburt einer anderen Kultur angehörenden Men-

schen eine »Heimat« zu bieten? Es stellt sich die Frage, in-

wieweit Vereine und gemeinnützige Einrichtungen das Poten-

tial kulturfremder Helfer annehmen können und wollen?

»›Wohnanlage für Ältere‹ ins Türkische übersetzt« – so

lautete eine Überschrift in einer überreligionalen deutschen

Tageszeitung. Darunter standen Angebote, die das Amt für

Soziale Angelegenheiten einer deutschen Großstadt ihren

über 60 Jahre alten Bürgern macht. Die Wohnanlagen der

Stadt sollen künftig auch nicht-deutschen älteren Mitbürgern

zur Verfügung stehen.86

Derzeit leben in Deutschland 800.000 MigrantInnen, die

älter als 60 Jahre alt sind. Der größte Teil davon sind ehema-

lige männliche Gastarbeiter. Diese sind noch immer nicht

gewohnt, mit deutschen Institutionen umzugehen oder scheu-

en davor aus verschiedenen Gründen zurück. Deshalb stellt

sich die Frage, wie mit beidseitigen Verunsicherungen umge-

gangen werden kann und inwieweit es interkulturelle Initiati-

ven für alt werdene MigrantInnen gibt, um ihre Isolation zu

verhindern?

Kultursensible Altenpflege will pflegebedürftige Menschen

entsprechend ihrer religiösen und kulturellen Identität wahr-

nehmen und ihnen eine gleichwertige Behandlung entgegen

bringen. Das Adam Müller – Guttenbrunn Haus in Stuttgart

– Rot hat für ein solches Programm erste Konzepte entwi-

ckelt und setzt sie bereits um. Es geht um die Kooperation

mit anderen Migrationsdiensten und um die interkulturelle

Schulung der Pflegedienste und der ehrenamtlichen Mitarbei-

terInnen. Mehrsprachiges Informationsmaterial erleichtert

den Zugang.

Familien müssen stärker in den Rhythmus des Heimes ein-

bezogen werden, Räume für familiäre Feiern zur Verfügung

gestellt werden. Kulturübergreifende Veranstaltungen und

Fernseh- und Radioangebote in verschiedenen Sprachen sind

genauso sinnvoll wie muttersprachliche Begleitung zu Ärzten

99

und anderen Einrichtungen. Die verschiedenen Religionsge-

meinschaften müssen Zugang zum Haus haben und ihre An-

gebote machen und die Menschen begleiten können; die

Lehrpläne der Pflegedienstschulen müssen »multikultureller«

werden.

Besonders wichtig sei, dass jeder einzelne Bewohner des

Heimes einen Biografiebogen ausfülle, aus dem seine Interes-

sen, sein Tagesrhythmus, seine Ernährungsgewohnheiten

hervorgehen.

Drei Projekte in Frankfurt wurden gemeinsam mit musli-

mischen MitarbeiterInnen innerhalb von Einrichtungen der

Diakonie entwickelt. So wurde die Eröffnungsfeier des multi-

kulturellen Altenpflegezentrums in Frankfurt-Höchst als ein

großes Fastenbrechen zusammen mit dem türkischen Koch

veranstaltet. Im gegenseitigen Begegnen entwickelte sich Ver-

trauen auf beiden Seiten.

Neben den stationären Einrichtungen sind aber auch in-

formelle Treffen von älteren MigrantInnen zu fördern. Die

Menschen können ihre Potentiale entdecken, sie können

Übersetzungshilfen leisten und ihre Lebenserfahrung für die

nächste Generation zur Verfügung stellen. Sie sind wichtige

Kulturvermittler für die jüngere Generation. Frauen müssen

ermutigt werden, sich stärker und auch außerhalb der Mo-

scheevereine öffentlich zu engagieren, deshalb ist alle inter-

kulturelle ehrenamtliche Arbeit zu fördern. Wichtig ist vor

allem die Vernetzung von Verbänden, Kommunen und Ein-

zelpersonen und deren entsprechende Einwirkungen auf die

Politik.

Mit diesem Fazit und den vorgestellten Anfängen und An-

regungen gab die Tagung einen Einblick in den Stand der

interkulturellen Begegnung unter den Senioren.

Bis Ende 2006 soll in Deutschland das erste türkische Al-

tersheim entstehen – ein gemeinsames Projekt der Türkischen

Gemeinde Berlin und eines deutschen Pflegeheimbetreibers.

Damit wird eine Lücke geschlossen werden unter den konfes-

100

sionellen Anbietern. Evangelische, katholische und jüdische

Altenheime gibt es bereits, hier wird nun ein islamisches

Haus errichtet. Es ist vor allem für die türkischen Rentner

gedacht, die auch im Alter noch nicht gut deutsch sprechen

und die sich noch sehr stark den Wertvorstellungen ihres

Heimatlandes verbunden wissen.

Es wird nach islamischen Speisevorschriften gekocht wer-

den, es soll ein Gebetsraum vorhanden sein und ein Raum, in

dem sich große Familien treffen können.

Die Errichtung dieses Hauses ist ein Pilotprojekt in

Deutschland. Wenn es Erfolg haben sollte, können weitere

Heime folgen. Allerdings ist noch unklar, wie hoch die Nach-

frage nach einer solchen Einrichtung ist, da immer noch vom

Koran her die innerfamiliäre Verantwortung für die alten

Menschen der gebotene Maßstab ist.

Derzeit leben in Berlin 40 TürkInnen in Altersheimen.

5.4 Muslime und Krankenhaus

Krankenhäuser der Regelversorgung oder Universitätskli-

niken sind in Deutschland meistens eingerichtet auf Multikul-

turalität. Unter dem Pflegepersonal findet man, sofern sie aus

islamischen Ländern kommen, insbesondere türkischstämmi-

ge Personen. Ärzte stammen aus vielen verschiedenen islami-

schen Ländern. Seitens der Krankenhausleitungen werden oft

multikulturelle religiöse Räume den Kapellen vorgezogen, die

nur den christlichen Konfessionen vorbehalten sind. Zumin-

dest ist das so zu beobachten, wenn es sich um Neu-

Errichtungen handelt. Ein multikulturelles Team unter den

Krankenhausseelsorgern, bestehend aus Vertretern verschie-

dener Religionen, ist allerdings eher selten. Andere europäi-

sche Länder – etwa Großbritannien, sind hier weiter. Luthfa

Meah, Muslimin aus London, schreibt dazu Folgendes:

101

»Als Zweites wurde mit der zunehmenden Zahl musli-

mischer Patientinnen und Patienten in den vergangenen

Jahren deutlich, dass es dringend notwendig ist, muslimi-

sche Krankenhausseelsorger einzustellen. Resultat dieser

Einsicht ist, dass zunehmend auch muslimische Kranken-

hausseelsorger sich um spirituelle Bedürfnisse der Patien-

ten kümmern. Diese jedoch sind vornehmlich Männer.

Man sollte bedenken, dass die Einstellung von mehr

weiblichen muslimischen Krankenhausseelsorgerinnen die

Therapien unterstützen würde und dem Heilungsprozess

der Klientinnen entgegen käme.«87

In Bezug auf die allgemeine Berücksichtigung der Lebensge-

wohnheiten der Muslime in britischen Krankenhäusern, gibt

sie diese Einschätzung:

»Muslime haben spezielle Ernährungsgewohnheiten. Der

Konsum von bestimmten Speisen und Getränken wie

Schweinefleisch und Alkohol ist Muslimen verboten. Tie-

re müssen in einer bestimmten Weise geschlachtet wer-

den, damit das Fleisch für den Verzehr zugelassen ist.

Wenn Muslime nicht streng nach ihren Vorschriften zu-

bereitetes Fleisch erhalten, ziehen sie es vor, vegetarische

Nahrung zu sich zu nehmen. Das Nationale Gesundheits-

system hat auf diesen Bedarf reagiert und bietet seit eini-

gen Jahren nach muslimischen Vorschriften zubereitete

Nahrung an. Darüber hinaus muss besondere Aufmerk-

samkeit auf den Monat Ramadan verwendet werden,

wenn Muslime von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang

fasten. Kurz vor Sonnenaufgang brauchen Muslime ein

gutes Frühstück, kurz nach Sonnenuntergang eine nahr-

hafte Mahlzeit. Fasten ist keine religiöse Verpflichtung

für Menschen, die unter psychischen Störungen leiden –

sie sind von der Fastenregel ausgeschlossen«.88

102

Auf Schwierigkeiten für die Diagnose und Therapie, wie sie

allein durch die Sprachbarrieren entstehen, wird weiter unten

noch einmal in einem Beispiel eingegangen werden89. Der

Mediziner Emil Zimmermann stellt in seiner Publikation

»Kulturelle Missverständnisse in der Medizin«90 ein Modell

vor, das in der Freiburger Universitätsklinik praktiziert wird.

Hier sind muttersprachliche Experten mit medizinischer oder

pflegerischer Vorbildung als »Sprachmittler« tätig, die in der

Begegnung von Arzt und Patienten mehr als nur Worte aus-

tauschen und übermitteln können. Es wird Wert darauf ge-

legt, dass die entsprechenden Sprachmittler eine umfassende-

re Kenntnis von Kultur und volksmedizinischem Verständnis

in ihrem Land haben. Sie müssen in der Lage sein, eine »Be-

schwerde über die kranke Leber« nicht nur als physische

Indikation zu betrachten, sondern die Klage des Patienten

und sein Schmerzerleben auch in ihrem psychischen Aus-

druckswert einzuschätzen.91 So seien auf deutschen Kranken-

stationen zwar die Schwierigkeiten und Missverständnisse

mit ausländischen Patienten Alltagsprobleme, ein spezielles

Eingehen auf ihre Vorstellungen und Bedürfnisse sei aber nur

vereinzelt gegeben. Dadurch würde nicht nur die Stationsar-

beit wesentlich erleichtert, sondern vor allem die affektiven

Beziehungen zwischen ihnen und dem pflegerischen und ärzt-

lichen Personal verbessert. Für ausländische Patienten sei es

jedoch besonders schwer, sich damit abzufinden. Sie seien in

einem noch viel stärkeren Maße als deutsche Patienten verun-

sichert. Es sei zu verstehen, wenn ausländische Patienten,

ganz unbewusst, sofort personale Beziehungen zum Stations-

personal aufzubauen versuchen. Es entspräche ihrer Prägung

und wirke gleichzeitig hilfreich, um ihre Ängste, Verunsiche-

rungen und sozialen Verluste zu verkraften.

»Finden sie unter den Ärzten der Station – vor allem aber

unter den Pflegenden – die eine oder andere Persönlich-

keit, die für ihr Fremdsein keine Barriere darstellt, um ei-

103

ne natürliche ungezwungene Beziehung aufzubauen, und

die vielleicht sogar noch bereit ist, gewisse Zugeständnis-

se zu machen und auf bestimmte Eigentümlichkeiten ihres

Verhaltens einzugehen, so legen sie bereitwillig ›ihr gan-

zes Herz in die Waagschale‹, um die geforderte Patienten-

rolle peinlichst genau zu erfüllen.«92

Zimmermann betrachtet zunächst das Patientenverhalten im

Allgemeinkrankenhaus, er erläutert hier das Verhältnis zu

verschiedenen Symptomen physischer Erkrankungen.

Die weitere Untersuchung bezieht sich auf das Zusammen-

spiel von seelischen, psychosozialen und religiösen Faktoren

für Gesundheit im multikulturellen Horizont. Und so liegt

der Fokus hier auf dem Kranksein in der Form der psychi-

schen Erkrankung. Beispiele aus Großbritannien und Infor-

mationen über die Geschichte und Gegenwart der christlich-

muslimischen, deutsch-türkischen Begegnungen im Bereich

der Psychiatrie und Psychotherapie werden vorgestellt. Dies

bedeutet nicht, dass Beratung, Seelsorge und psychosoziale

Betreuung für muslimische PatientInnen im Allgemeinkran-

kenhaus ebenfalls relevant sind.

5.4.1 Psychiatrie und Psychotherapie

5.4.1.1 Großbritannien

Luthfa Meah beschreibt die Situation der Muslime in

Großbritannien im Hinblick auf die Möglichkeit, psychothe-

rapeutische und psychiatrische Hilfe in Anspruch zu nehmen:

»Psychische Erkrankungen bei ethnischen Minderheiten

häufen sich merklich. Untersuchungen belegen, dass

schwarze Bevölkerungsgruppen schneller in stationäre

Behandlung eingewiesen werden als die ethnische Mehr-

104

heit. Gleichzeitig ist auffällig, dass bei ethnischen Min-

derheiten größerer Widerstand besteht, professionelle

medizinische Hilfe bei psychischen Erkrankungen in An-

spruch zu nehmen. Das betrifft sowohl das Aufsuchen

von allgemeinmedizinischen Praxen als auch von Fach-

kliniken. In Regierungskreisen in Großbritannien ist die

Tatsache bekannt, dass die Behandlung psychischer Er-

krankungen bei ethnischen Minderheiten verbessert wer-

den muss, und dass den kulturellen Bedürfnissen entspre-

chende, für diese Arbeit besonders qualifizierte

Einrichtungen zur Verfügung stehen müssen. Als Schlüs-

sel für eine bessere Versorgung psychischer Erkrankungen

dieser Bevölkerungsgruppen wird der Abbau von Kom-

munikationsbarrieren zwischen dem Personal in Kliniken

und den Patienten gesehen. Voraussetzung ist es, sich die

Themen genau anzuschauen, die im Umgang mit musli-

mischen Klienten eine Rolle spielen«.93

Luthfa Meah beschreibt dann die volksreligiösen Hinter-

gründe vieler Muslime, die eine Behandlung im Sinne westli-

cher Medizin – und Psychotherapiekonzepte erschweren.

Viele Krankheiten oder Verhaltensauffälligkeiten, Leidenszu-

stände und Ängste werden in der Religiosität des Volkes als

Folgen von Einwirkungen böser Geister angesehen.

Einen anderen Grund für die Zurückhaltung der Muslime

bei der Inanspruchnahme psychiatrischer und psychothera-

peutischer Dienste sieht Meah in der religiösen Tradition der

Muslime; hier gehört die Versorgung Kranker in den Aufga-

benbereich der Familienangehörigen und der Moscheege-

meinde. Psychisch Kranke werden nicht in »Pflegeheime«

gebracht.

»Die Moschee könnte zusätzlich als medizinisches Zent-

rum betrachtet werden (und das wird sie auch traditionell

in muslimischen Ländern), da man sich an den Imam

105

wendet, um gleichsam ›spirituelle Verschreibungen‹ zu

erhalten. Darüber hinaus gilt das Gebet als Therapie für

physische und psychische Leiden. Die Moschee hält

fruchtbare Ressourcen zur Heilung vor und hat in sich

das Potential, seelische Gesundheit zu stärken«.94

Diese letzten Gedanken werden an anderer Stelle95 eine weite-

re Erörterung finden.

5.4.1.2 Deutschland

Einen »Ratgeber für Muslime bei psychischen und psycho-

sozialen Krisen« stellen Malika Laabdallaoui und S. Ibrahim

Rüschoff vor.96

Ähnliche Phänomene, wie sie auch von Meah geschildert

werden, greifen auch sie auf. Volksreligiosität ist nicht immer

»kompatibel« zu effektiver psychologischer und psychiatri-

scher »westlicher« Hilfe. Muslime verweigern die Mitarbeit

an der Therapie, weil sie sie aus religiösen Gründen ablehnen.

Dies kann theologisch fundiert sein, aber auch im Bereich des

schwer zu überbrückenden Vorurteils angesiedelt sein. So

werden Jinn97 als Bestandteil des islamischen Glaubens angese-

hen, Magie und der Zauber des »bösen Blicks« in den Bereich

des Aberglaubens verwiesen. Für die psychiatrische Behand-

lung selbst wird aber auf diese religiösen Ursachen wenig

Rücksicht zu nehmen sein, insofern eine medikamentöse Ein-

stellung oder verhaltenstherapeutische Behandlungen in der

Regel vorrangig notwendig sind. Waschzwänge, Höhenangst,

Furcht vor Spinnen oder allgemeine innere Unruhe werden

medizinisch-therapeutisch weitgehend kulturell unabhängig

behandelt. Anders sehen beide VerfasserInnen den Zugang zu

Erkrankungen im Bereich der Depressionen und Suizidalität,

da hier ein enger Konnex zu den religiösen Vorstellungen der

Patienten besteht. Die Psychoanalyse wird als eine, wenn auch

selten angewandte Methode durchaus bejaht, obwohl sie in

ihren theoretischen Vorgaben die Religion ablehnt.

106

Wichtig ist beiden Verfassern die Frage nach der Kommu-

nikation zwischen TherapeutInnen und KlientInnen. Es geht

ihnen darum, dass eine Therapie nur gelingen kann, wenn die

Einstellung zum Islam geklärt ist, wenn der Therapeut nicht

eine religiöse Vorstellung entweder »überstülpen« oder »weg-

therapieren« möchte – und wenn die Patientin im Islam aus-

reichend bewandert ist, um mit ihren religiösen Gefühlen,

meistens Ängsten, angemessen umzugehen. Dass sich hier

Fehlformen aufgrund mangelnder Vorkenntnisse entwickeln,

ist bedauerlich (und stellt sich für den Umgang mit der christ-

lichen Religion im therapeutischen und beraterischen Setting

oft genauso dar).

Ob es sinnvoll und erfolgversprechender ist, eine/n musli-

mischen TherapeutIn mit muslimischen PatientInnen zu be-

fassen, lassen die Autoren offen. In der Praxis suchen ratsu-

chende muslimische KlientInnen selbstverständlich auch im

christlichen Umfeld geprägte TherapeutInnen auf. Somit be-

steht der Bedarf, sich über religiöse Vorstellungen und Ge-

wohnheiten individuell vor und während einer Therapie oder

Beratung auszutauschen.

Letztlich aber gibt es noch andere Faktoren zu berücksich-

tigen, wenn über Muslime und deren Versorgung innerhalb

der somatischen und psychosomatischen Medizin nachge-

dacht wird:

»Weiterhin werden Muslime in zunehmendem Maße

auch als Wirtschaftsfaktor wichtig. Das führt z.B. kon-

kret dazu, dass eine ostwestfälische Reha – Klinik ver-

mehrt muslimische Patienten gewinnen wollte. Es wurde

ein Konzept für diese Klinik erarbeitet, das sich inzwi-

schen seit mehreren Jahren bewährt und insbesondere

vielen praktizierenden muslimischen Frauen erstmals eine

Kur erlaubt, die bisher trotz dringender Indikationen we-

gen der fehlenden Umstände ( z.B. getrenntgeschlechtliche

Anwendungen ) nicht möglich war«.98

107

Über fragmentarische »Behandlung« hinaus sollen aber

Muslime ganzheitliche Wahrnehmung erfahren können:

»Für die Versorgungsstrukturen ergibt sich als wichtige

Konsequenz, muslimische Patienten und Klienten nicht

nur als Migranten und Ausländer wahrzunehmen, son-

dern in der Art und der Auswahl der therapeutischen An-

gebote auch die Religion als Leben gestaltendes Element

ausreichend zu würdigen. Hier sind vor allem in Kran-

kenhäusern islamisch unbedenkliche Speisen, Behandlun-

gen durch gleichgeschlechtliche Therapeuten, getrennt ge-

schlechtliche Anwendungen oder Hilfe und Unterstützung

bei der Möglichkeit, die Gebete zu verrichten, zu nennen.

Um das notwendige Vertrauen auf der Patientenseite zu

schaffen, ist der Einsatz praktizierender Muslime beim

Personal von großer Bedeutung, die sich in ihrer Religion

auskennen und Patienten entsprechend beraten kön-

nen«.99

5.4.1.3 Deutsch-Türkische Transkulturelle Psychiatrie

Ein historischer Überblick über die Situation der Transkul-

turellen Psychiatrie veranschaulicht den Stand der Diskussion

um die Betreuung psychisch kranker oder gefährdeter Men-

schen in Migrationskontexten, hier im Hinblick auf den Aus-

tausch Deutschland – Türkei.

Seit mehr als hundert Jahren bestehen Beziehungen zwi-

schen der Psychiatrie Deutschlands und der Türkei. Der erste

Lehrstuhlinhaber in der Türkei, Rasit Tehsin (1870–1936)

hat seine psychiatrische Ausbildung an der Universitätsklinik

Heidelberg absolviert...Auch sein Nachfolger, Mazhar Os-

man (1884–1951) war Schüler von Kraepelin100 und pflegte

eine sehr intensive Beziehung zur deutschen Psychiatrie mit

gegenseitigen Besuchen, regelmäßigen Kongressteilnahmen

und Studienaufenthalten von türkischen Ärzten in Deutsch-

108

land. Dieser ursprünglich sehr enge Kontakt zwischen der

Psychiatrie beider Länder veränderte sich nach dem 2. Welt-

krieg. Die Beziehungen zwischen der türkischen und ameri-

kanischen Psychiatrie gewannen zunehmend an Bedeutung,

Kontakte zur Psychiatrie in Deutschland verloren die ur-

sprüngliche Vorrangstellung. Trotz dieser Entwicklung waren

namhafte Vertreter der türkischen Psychiatrie ... über viele

Jahre hin an Universitätskliniken des deutschen Sprachraums

tätig und übernahmen später Lehrstühle in der Türkei.

Die wachsende Zahl türkischer Arbeitsmigranten in den

deutschsprachigen Ländern und deren psychische Probleme

hatten schon lange zu gemeinsamer fachlicher Kooperation

herausgefordert. Doch gab es bis 1994 keine institutionali-

sierten Kontakte zwischen psychiatrischen, psychologischen

und sozialpädagogischen Fachkräften beider Länder. Es wur-

den lediglich Vorträge türkischer Psychiater in Deutschland

aufgrund persönlicher Verbindungen organisiert. Fragen der

Migrationspsychiatrie fanden in der Türkei nur randständiges

Interesse. Aber auch in Deutschland fand diese Thematik

trotz ihrer Bedeutung für die psychiatrische Versorgung eines

wachsenden Bevölkerungsanteiles keine angemessene Auf-

merksamkeit. Weder in Forschung noch in Fragen psychiatri-

scher Versorgung wurde sie verankert. Vereinzelte Publika-

tionen erhellen den Eindruck etwas, aber insgesamt wurde im

Hinblick auf die psychische Gesundheit türkischer Migran-

tInnen wenig gearbeitet. Es handelt sich bei Forschungen

über die psychosoziale Situation türkischer Frauen und Ju-

gendlicher, über das Krankheitsverhalten türkischer Patienten

um Einzelaktivitäten, befristete Forschungsprojekte, die oft

nicht koordiniert waren und wenig Breitenwirkung hatten.

Angesichts zunehmender Fremdenfeindlichkeit und der

damit verbundenen Zuspitzung gesundheitlicher Probleme

der türkischen Arbeitsmigranten war eine Intensivierung und

Koordinierung der Kontakte türkischer und deutscher Fach-

kräfte aus dem Gesundheitswesen dringlich geworden.

109

Der erste Deutsch-Türkische Psychiatriekongress fand im

April 1994 in Antalya statt. Er stellte einen wesentlichen

Schritt zu regelmäßigem und interdisziplinärem Austausch

von Fachleuten beider Länder dar. Es waren Psychiater, Psy-

chologen, Pädagogen, Sozialarbeiter, Vertreter von Religi-

onswissenschaften, Sozialwissenschaften, Sprachwissenschaf-

ten und Wirtschaftswissenschaften anwesend. Politiker und

Journalisten begleiteten den Kongress. Das Thema lautete:

»Psychologie und Pathologie der Migration und des Kultur-

wandels«.

Der Kongress war erfolgreich. Es wurden Konzepte für die

psychosoziale Betreuung von Arbeitsmigranten im deutschen

Sprachraum entwickelt. Es begann eine Vernetzung von

Fachleuten.

Eine Deutsch-Türkische Gesellschaft für Psychiatrie, Psy-

chotherapie und psychosoziale Gesundheit e.V. (DTGPP)

wurde gegründet. Ein wesentliches Merkmal der Gesellschaft

ist die Möglichkeit der Mitgliedschaft von Personen aus ver-

schiedenen Ländern, insbesondere der Türkei und den

deutschsprachigen Staaten.

Mehr als 220 Experten aus der Türkei, der Schweiz, Öster-

reich und Deutschland, nahmen an dem Kongress teil; neben

Psychiatern und Psychologen auch zahlreiche Vertreter weite-

rer Fachrichtungen, die zur Förderung und Wiederherstellung

psychischer Gesundheit beitragen.

Seit den fünfziger Jahren sind Millionen von Arbeits-

migranten und Flüchtlingen nach Westeuropa gekommen.

Die vorhandenen präventiven und kurativen Strukturen er-

wiesen sich bislang in ihrer Funktion für die Bewältigung der

hieraus erwachsenden gesundheitlichen Probleme als unzurei-

chend. Dies führte zu bedrohlichen Entwicklungen, welche

die Veranstalter und Teilnehmer des Kongresses zu folgenden

Empfehlungen führten.

Das Leben in Flüchtlingslagern, Elendsquartieren und

Ghettos bedroht die gesunde Entwicklung und das friedliche

110

Zusammenleben innerhalb der Gesellschaft. Da heilkundliche

Maßnahmen allein nicht ausreichen, sind die Politiker gefor-

dert, sozialwissenschaftliche Erkenntnisse präventiv und kor-

rigierend umzusetzen und weitere Forschung zu fördern.

Zu der von Politikern und Arbeitsmigranten ursprünglich

erwarteten und auch vorgesehenen Remigration ist es nur bei

einem Teil der Migranten gekommen. Bei vielen kam es zu

langfristigen Aufenthalten, die zunehmend endgültigen Cha-

rakter tragen. Hieraus ergeben sich bei nicht wenigen indivi-

duelle, familiäre und gesellschaftliche Konflikte. Diese for-

dern auf heilkundlichem Gebiet nachstehend aufgeführte

Vorkehrungen, die nur mit politischer Flankierung durch-

führbar sind.

a. Bei Diagnostik, Behandlung und Betreuung psychisch

gestörter Migranten sind psychosoziale und kulturelle Fakto-

ren, die bisher weitgehend unbeachtet geblieben sind, zu be-

rücksichtigen. Einrichtungen der gemeindenahen psychiatri-

schen Versorgung müssen auch für Patienten dieser

Bevölkerungsgruppe zugänglich gemacht werden.

b. Umgehend sollten Modellmaßnahmen mit wissenschaft-

licher Begleitung begonnen und alsbald zu einem flächen-

deckenden Versorgungssystem entwickelt werden. Dabei

bedarf es muttersprachlicher Therapeuten und speziell ausge-

bildeter Dolmetscherdienste.

c. Die Bedürfnisse der allmählich aus dem Berufsleben aus-

scheidenden Arbeitsmigranten sind sicherzustellen, wobei

besondere Aufmerksamkeit einem Gutachtenwesen zu wid-

men ist, welches auch soziokulturelle Faktoren berücksich-

tigt.

d. Gesetzliche Maßnahmen, wie die Änderung des Staats-

bürgerschaftsrechtes und gesetzliche Verankerung der Wie-

derkehroption sind erforderlich. Bereits in Vorschul- und

Schulalter werden Weichen für eine körperlich und psychisch

gesunde Entwicklung und gesellschaftliche Integration ge-

111

stellt. Entsprechend ist hier eine intensive Öffentlichkeitsar-

beit und Erwachsenenbildung zu fördern. Jeglicher Form von

ethnischer und religiöser Diskriminierung ist entgegenzuwir-

ken. In diesem Zusammenhang wird die Dringlichkeit eines

Antidiskriminierungsgesetzes betont.

e. Auch die Reintegration der in ihr Herkunftsland zu-

rückgekehrten Migranten bedarf wirksamer Unterstützung.

Entsprechende Einrichtungen sind zu schaffen und zu för-

dern.

Folgende konkrete Schritte wurden auf dem Kongress ein-

geleitet:

– Gründung der Türkisch-Deutschen Gesellschaft für Psy-

chiatrie, Psychotherapie und psychosoziale Gesundheit.

– Fortsetzung der Kooperation in Arbeitskreisen, die bereits

während des Kongresses zu unterschiedlichen Themen ini-

tiiert wurden (u.a. muttersprachliche Therapeuten;

Migrantenversorgung im öffentlichen Dienst; Hilfe bei der

Remigration; psychologisch-psychiatrisches Wörterbuch;

Psychotherapie und Psychosomatik; Gutachtenfragen).

– Regelmäßige Folgekongresse mit interdisziplinärer Zu-

sammenarbeit.

Die Gründung der »Deutsch-Türkischen Gesellschaft für

Psychiatrie, Psychotherapie und psychosoziale Gesundheit«

am 28. Nov. 1994 in Marburg erfolgte als wesentliches Er-

gebnis des Kongresses in Antalya. Dabei wurden in der Sat-

zung als Ziele der Gesellschaft die Förderung der Zusam-

menarbeit von türkischen und deutschen Fachkräften aus

Psychiatrie, Psychologie, Sozialarbeit und anderen Fächern,

die zur psychischen Gesundheit beitragen, benannt. Regel-

mäßige binationale Tagungen, Austausch von Fachkräften

und Publikationen sollen angeregt werden. Dies betrifft auch

Forschung und Lehre, die sich mit der Verbesserung der psy-

112

chosozialen Lage von Migranten, Remigranten und deren

Angehörigen in der Türkei und den deutschsprachigen Län-

dern befasst. Nicht zuletzt soll eine angemessene Gesetzge-

bung für die Belange von Migranten und Remigranten geför-

dert werden.

Drei weitere Kongresse in Istanbul 1996, Berlin 1998 und

Antalya 2000 folgten. Themen waren »Integration und

Krankheit? Wege und Irrwege der Migration«, »Psychosozia-

le Versorgung in der Migrationsgesellschaft« und »Persön-

lichkeit und Migration«.Ein Symposium über »Begegnung

mit dem Fremden« wurde 1999 in Marburg organisiert sowie

ein weiteres Symposium in Aachen 2000 und in Berlin 2001

zum Thema »Transkulturelle Psychiatrie«. Es entstanden

Fachtagungen zum Gutachtenwesen mit Juristen, Medizinern

und Sozialwissenschaftlern. Auch in der Türkei gab es zahl-

reiche Aktivitäten der Gesellschaft, die im deutschsprachigen

Raum mehr als 160 Mitglieder zählt, von denen weniger als

die Hälfte türkischstämmig und bilingual ist. In der Türkei

sind ca. 60 Mitglieder aus verschiedenen Berufsgruppen re-

gistriert, meistens Wissenschaftler und Mitglieder von Uni-

versitäten.

Die Zusammenarbeit zwischen den Kollegen in Deutsch-

land und in der Türkei und die Entwicklung länderübergrei-

fender Projekte entsteht meistens aus dem Wunsch der bilin-

gualen Mitglieder heraus. Es besteht ein Unterschied in den

Vorstellungen der Mitglieder in der Türkei und in Deutsch-

land. Psychiatrische Versorgung für Minoritäten in Deutsch-

land und Konzepte der Transkulturellen Psychiatrie sind für

die deutschen Mitglieder wichtig. In der Türkei hingegen

besteht wenig Interesse an den Themen der Migration, mehr

aber an den generellen Themen der Psychiatrie.

Geplant ist schließlich der Aufbau von Partnerschaften

zwischen Institutionen in Deutschland und der Türkei. Dabei

ist an Kliniken, aber auch andere psychosoziale Versorgungs-

institutionen zu denken. Es könnten so neue Strukturen der

113

Kooperation entstehen. Die Verbesserung der psychosozialen

Versorgung von Migranten, Flüchtlingen und Asylbewerbern

in Deutschland ist darüber hinaus auch weiterhin ein zentra-

les Thema. Es ist zu hoffen, dass der Arbeitskreis »Transkul-

turelle Psychiatrie« bei der Bundesdirektorenkonferenz (Lei-

tungskonferenz psychiatrischer Krankenhäuser) die

Sensibilität für die Situation nichtdeutscher Patienten verbes-

sert.101

114

115

Teil III

116

117

6 Entwicklung einer kulturell sensiblen Kommunikation

Zwischen Arzt-Visite, Krankengymnastin, Gebäudereini-

gung und Austeilung des Mittagessens für die Patienten, sind

Psychologen und Seelsorger bei ihrer beratenden und beglei-

tenden Arbeit auf den Stationen im Krankenhaus tätig: Im-

mer wieder ergeben sich ähnliche Gesprächs-Situationen: Im

Krankenzimmer in der Frauenstation gibt es drei Betten.

Zwei Frauen lesen und scheinen sich zu langweilen oder sie

fühlen sich gestört. Im dritten Bett liegt eine alte Frau. Sie

trägt ein Kopftuch, eine dunkle Bluse, hochgeschlossen, die

Decke bis zur Mitte über den Körper gezogen. Um sie herum

stehen mehrere Menschen. Sie unterbrechen ihre Unterhal-

tung, sehen ebenfalls zur Besucherin hin, lächeln freundlich,

signalisieren, dass die Patientin nicht deutsch spricht ...

So stellt sich eine der nicht seltenen Erfahrungen im multi-

kulturellen Alltag eines Krankenhauses dar. Eine traditions-

gebundene Muslima, vermutlich gebürtig in der Türkei, zwei

deutsche Frauen, vermutlich christlich sozialisiert, Patientin-

nen im gleichen Zimmer.

Eine andere Situation: Im Dreier-Zimmer der Männersta-

tion nach dem Besuch der beiden ihrer Sprache nach deut-

schen, vermutlich im christlich-abendländischen Kulturkreis

aufgewachsenen Männer steht nun für die Krankenhausseel-

sorgerin das Gespräch mit dem muslimischen Patienten an.

Immerhin liegt er im selben Zimmer, und es wäre unhöflich,

einfach wieder zu gehen. Wenigstens »Guten Tag« sagen, auf

jeden Fall nicht einen Besuch oder ein Gespräch aufnötigen.

Der Patient aber freut sich, ist dankbar für ein Gespräch,

118

erzählt viel. Am Ende nimmt er zwei Rosen aus dem von

Freunden mitgebrachten Blumenstrauß und überreicht sie

seiner Gesprächspartnerin. »So begegnet man einer Frau und

einer Besucherin eines Kranken in meiner Kultur«.

Zwei völlig verschiedene Verhaltensweisen, die oft in Ste-

reotypen vorkommen – sie begegnen einer aufmerksamen

Betrachterin auf dem gleichen Gang durchs Krankenhaus.

Hinter den Türen der Behandlungszimmer gibt es andere

Beobachtungen: Immer wieder schleichen sich Missverständ-

nisse in die Kommunikation ein, weil der Arzt nicht türkisch

oder arabisch spricht. Der blumige Bericht der alten Türkin

lässt, wenn er übersetzt wird, nur schwer Rückschlüsse auf

ihre wirkliche Erkrankung zu.

Und wer übersetzt? Der Islamwissenschaftler und Medi-

zinethiker Ilhan Ilkilic bemerkt: »Wie kann ein Arzt sicher

sein, wenn er einer anderen Sprache nicht kundig ist, ob ein

Reinigungspersonal das Gesagte wirklich gut verstanden und

angemessen übersetzt hat? In der Praxis ist es nicht selten,

dass türkische Krankenschwestern und Schülerinnen nicht die

türkische Sprache beherrschen. Umso schwieriger wird es

dann, wenn eine alte türkische Frau ihre Beschwerden in

einem Dialekt mit metaphorischen Begriffen zum Ausdruck

bringt.102

Eine deutsche Patientin kommt ins Krankenhaus. Sie ist

hochschwanger und im Moment sichtlich unglücklich und

überfordert von ihrer Situation. »Wenn ich gewusst hätte,

was alles auf mich zukommt, hätte ich kein Kind gewollt. In

der Schwangerschaftsgymnastik wurde alles so leicht darge-

stellt, nun habe ich starke Schmerzen, und es geht nichts

vorwärts.« Medizinisches Personal ist bemüht, der Patientin

die Situation so erträglich wie möglich zu machen, gleichzei-

tig aber auch nichts zu dramatisieren, da derlei Klagen alltäg-

lich sind.

Anders ist es im Falle einer misslungenen Kommunikation

zwischen einem Arzt und einer türkischen schwangeren Frau:

119

»Am ... wird bei einer damals 23jährigen Frau türkischen

Frau ihre zweite Entbindung im Rahmen eines Kaiserschnitts

und eine Sterilisation durchgeführt. Vor der Entbindung äu-

ßerte die Frau dem Arzt gegenüber: »Nix Baby mehr«, was

als ein Wunsch nach Sterilisation ärztlicherseits verstanden

wurde. Der Arzt hat sie über die Bedeutung und Folgen sowie

Operationstechniken einer Sterilisation informiert. Nach der

Aufklärung nickte die Patientin, die rudimentäre deutsche

Sprachkenntnisse besaß, auf die Frage, ob sie alles verstanden

habe. Ein Tag später wurde der Eingriff durchgeführt. Später

verklagte die türkische Frau den Arzt auf Schmerzensgeld, er

habe sie ohne ihr Wissen sterilisiert.103

Was formal vielleicht durch die Anstellung eines Dolmet-

schers bis zu einem gewissen Grad zu lösen wäre, wirft eine

inhaltliche Problematik auf: Im Rahmen des eigenen Denk-

systems und Kulturkreises verstehen sich Menschen mit un-

terschiedlichen Signalen; da ist zum einen die gleiche Sprache,

aber auch Gefühle spielen eine große Rolle, selbst wenn sie

nur in Ansätzen gezeigt werden. Der Gesprächspartner ver-

steht sein kulturell nahes Gegenüber, den anderen Deutschen

oder die Schweizerin, oder er meint zu verstehen, und er

kommt wenigstens zu einer gewissen Annäherung an die

signalisierte Aussage.

Anders ist es, wenn die Sprache die einzige, dazu sehr un-

vollkommene Brücke zum gemeinsamen Erleben ist. Sicher

mag eine deutsche Ärztin, ein deutscher Krankenpfleger,

einfühlen, wie es der gebärenden fremdsprachigen Frau zu-

mute ist. Dennoch versteht er nicht jede Gefühlsregung. Ihre

eher hilflose sprachliche Aussage bedeutet hier ganz offen-

sichtlich den ersten gewählten Zugang zu ihr, der von ihm

genutzt wird.

Es mag sein, dass gerade da, wo »Fremdheit« vermutet

wird, auf die Worte besonders geachtet wird – und so wird

das gefühlsmäßige Verstehen verhindert und das eigentliche

Missverständnis hergestellt.

120

Ärzte und Ärztinnen aus islamischem Kulturkreis, Pfleger

und Krankenschwestern, die in islamischer Tradition auf-

wuchsen, befördern selbstverständlich den Gesundheitsauf-

trag des multikulturellen Krankenhauses, sie tun dies nicht

nur für die muslimischen Patienten. Krankenhäuser sind

Räume kulturellen Austauschs in der deutschen und in vielen

der europäischen Gesellschaften, die einen wesentlichen Bei-

trag zu der Integration kulturell verschiedener Menschen

leisten.

Im Regelfall werden dabei die Medizin und auch die Hu-

manwissenschaften, die als Konzepte hinter beratender Hilfe

stehen, als empirisch orientiert, wertneutral und kulturunab-

hängig angesehen. Ob dies so ist, und welchen Beitrag zur

Gesundheit eines Menschen sie in einer wertpluralen Gesell-

schaft leisten können, soll im Folgenden untersucht werden.

Es soll aus der Reflexion bestehender Beratungsansätze,

die innerhalb der christlichen, westlichen Kultur entwickelt

wurden, eine Perspektive für interkulturelle Bezüge in der

Begegnung in verschiedenen Institutionen eröffnet werden.

Zugleich soll ein Ausblick auf die Möglichkeiten kulturell

sensiblen gegenseitigen Verstehens im interreligiösen Aus-

tausch gegeben werden.

6.1 Wege zur interkulturellen und interreligiösen Begegnung

Ausgehend von den Veränderungen der Kommunikation

und des Zusammenlebens nicht nur in Deutschland, sondern

in der ganzen Welt, hat die Gesellschaft für Interkulturelle

Seelsorge und Beratung (SIPCC) sich folgende Ziele gesetzt:

Die »Gesellschaft für Interkulturelle Seelsorge und Bera-

tung« (SIPCC) widmet sich auf jährlichen Tagungen in ver-

schiedenen Ländern der Begegnung von Menschen aus unter-

121

schiedlichsten Ländern und Kulturen der Welt. SIPCC hat

mehr als 200 Mitglieder aus Ländern aller Erdteile und ver-

schiedenen Kulturen.

Im »Interkulturellen Forum« kann jede/ jeder zu Wort und

– was manchmal bedeutsamer ist – zu emotionaler und bildli-

cher Wahrnehmung durch andere gelangen.

Das Interkulturelle Forum dient der Reflexion der kulturel-

len Selbst- und Fremdwahrnehmung. Dabei geht es vor allem

auch um eigene Bilder und Vorurteile. Die Erfahrungen kul-

tureller Verschiedenheiten, Ähnlichkeiten und Gemeinsam-

keiten sollen nicht nur erlebt, sondern auch angesprochen, so

weit wie möglich öffentlich gemacht und in einen interkultu-

rellen Dialog eingebracht werden. Die Erweiterung der ge-

genseitigen Wahrnehmung hat folgende Lernziele:

– sich den Fragen in Bezug auf eigene und andere Kulturen

zu öffnen

– gegenseitige kulturelle Achtung und Würdigung zu stärken

– fremden Kulturen angstfreier zu begegnen und Toleranz zu

leben

– mit unterschiedlichen und gegensätzlichen Prägungen Ge-

meinschaft zu bilden

– im eigenen seelsorgerlichen und beraterischen Arbeitsfeld

mit unterschiedlichen kulturellen Mustern bewusster zu

arbeiten.

Diese Lernziele setzen diverse Einstellungen voraus:

– Bereitschaft zum aktiven Zuhören und zum offenen Spre-

chen

– Gegenseitige Wertschätzung

– Geduld miteinander und Mut, Spannungen auszuhalten

– Bereitschaft, sich auf Fremdes einzulassen

– die eigene persönliche, kulturelle und spirituelle Prägung

einzubringen

– gelungene Schritte der Verständigung zu würdigen

Im interkulturellen Dialog ist es wichtig, einander Geschich-

ten von sich zu erzählen und auch, wie man andere wahr-

122

nimmt. Diese Geschichten werden von guten und schmerzli-

chen Erfahrungen, von der Freude des Zusammentreffens

und der Angst, Fremdem zu begegnen, handeln. Ebenso ist es

wichtig, im interkulturellen Dialog Fragen zu stellen und

zuzuhören, um neue Einsichten zu gewinnen.

Es geht darum, sich von interkulturellen Erfahrungen zu

erzählen undzu fragen: Was habe ich in meinen Begegnungen

mit Menschen anderer Kulturen gelernt? Welches sind die

kulturellen Hintergründe für meine Erfahrung und mein Ler-

nen?

Die Frage nach der kulturellen Selbst- und Fremdwahr-

nehmung setzt sich in der Arbeit von SIPCC in Reflexions-

gruppen fort. Dort treffen sich Mitglieder verschiedener Kul-

turen zum Gespräch. Vor allen Dingen aber findet kulturelles

Lernen statt an der Anschauung und gemeinsamen Betrach-

tung der Beratungspraxis der Mitglieder von SIPCC.

In der Mehrzahl in beratenden Berufen tätig, bringen sie

ihre Begegnungen anhand von Beispielen ein, beraten sie mit

anderen und gehen mit einer neuen Sicht der eigenen Erfah-

rung und Praxis aus der kollegialen Begegnung hinaus.

SIPCC sieht sich dem Ziel verpflichtet,

– Austausch zwischen Kulturen zu fördern bei Bewahrung

der eigenen kulturellen Identität,

– würdigt die Vielfalt der Menschen, Gruppen und Völker

– erkennt, dass Menschen in vieler Hinsicht gleich sind

– begreift menschliche Verhaltensweisen, Einstellungen,

Überzeugungen und religiöse Glaubensaussagen von den

jeweiligen geschichtlichen und räumlichen Lebenszusam-

menhängen her ( Kontextualität)

– fordert heraus, Fremdheit zu erkennen und einen Dialog

mit Fremden zu führen

– deckt auf, wie sehr Menschen, Kulturen und Völker auf-

einander Einfluss nehmen – und zwingt, den eigenen Le-

bensstil kritisch zu hinterfragen

– regt an, den Menschen aus anderen Kulturen in der eige-

123

nen Nachbarschaft angstfreier, mit weniger Vorurteilen zu

begegnen

– sieht jeden einzelnen Menschen als unverwechselbare Per-

son mit seiner eigenen Würde.

Deshalb beinhaltet die konkrete Arbeit von SIPCC in den

Zusammenhängen von Beratung und Seelsorge

– Interkulturalität mit religiösen Wahrheiten zu verbinden

und mit psychosozialen Grundsätzen

– Einstellungen und Methoden zu entwickeln, die Menschen

aus verschiedenen Kulturen auf kompetente und professio-

nelle Weise Lebensbegleitung anbieten.

Im Sinne dieser programmatischen und in der Praxis bereits

erprobten Vorgabe sollen nun einzelne psychotherapeutische

Ansätze und deren Weiterentwicklung auf interkulturelle

Beratungs-Konzepte hin betrachtet werden.

6.2 Ethnopsychoanalyse

Die Psychoanalyse, wie sie in verschiedenen Formen und

aus verschiedenen Ansätzen heraus in Europa und Amerika

gelehrt und praktiziert wird, basiert auf europäisch-

amerikanischen kulturellen Vorgaben. Ihre Entdeckung des

Unbewussten beansprucht für sich eine universale Geltung,

die inhaltliche Füllung dieser Entdeckung kann aber nicht als

universal angesehen werden. Sie ist abhängig von lange tra-

dierten Inhalten der jeweiligen Kulturen, innerhalb deren

Beratung und Therapie stattfindet. Eine mögliche Universali-

tät mag – je nach Auffassung – nur in bestimmten, kultur-

übergreifenden Archetypen oder in bestimmten generellen

Konstrukten über die Beschaffenheit des menschlichen Psyche

(Es – Ich – Über-Ich) anzutreffen sein.

Nach der Auffassung Freuds ist der individuelle Werde-

gang einer Person, zumindest im Hinblick auf die Ausbildung

124

seiner Psyche, mit den Entwicklungsstadien ganzer gesell-

schaftlicher Gruppen vergleichbar. Die Forschungen Freuds

gingen dahin, neue Erkenntnisse auf dem Gebiet der Psycho-

analyse gewinnen zu können, indem er das Seelenleben

»westlicher«, »zivilisierter« Menschen mit dem der »primiti-

ven« Völker vergleicht. Dabei wurde davon ausgegangen,

dass der moderne Mensch und seine Psyche, sein Seelenleben

das Ergebnis einer langen Entwicklung der Menschheit dar-

stelle. So seien bestimmte Verhaltensweisen, Denkweisen und

Charakteristika dieser Vergangenheit der gesamten Mensch-

heit auch beim einzelnen »Exemplar« des modernen Men-

schen zu beobachten. Freud ging davon aus, dass eine Inter-

dependenz bestehe zwischen der Entwicklung des

Individuums, seiner Umgebung und seiner Geschichte. Die

Psychoanalyse könne also nicht nur aus dem aktuellen Um-

feld lernen, sondern auch aus der kollektiven Vergangenheit

vieler Völker, um Heilmethoden für seelische Störungen zu

entwickeln. Lernen konnte der Psychoanalytiker schon da-

mals von Anthropologen und Ethnologen, die mit gesammel-

ten Daten, mit Hilfe der Empirie, der Mythenforschung und

der Beschäftigung mit gesellschaftlichen Traditionen schon

vertraut gewesen sind.

Freud kommt durch das Studium des Unbewussten seiner

Zeitgenossen zu dem Schluss, dass die modernen Menschen

den »Primitiven« näher stehen als gemeinhin angenommen

wird.

Freuds Gedanken muten heute eurozentristisch an, und

obwohl Freud kein Rassist ist und obwohl er die Theorien

Darwins gekannt haben wird, nimmt er nicht dessen Er-

kenntnisse auf, sondern orientiert sich an einem Modell, das

die Evolution vom Einfachen zum Komplexen hin sieht, ohne

historisch bedingte Entwicklungen und Einflüsse der Umwelt

mit ein zu beziehen. Er hält sich an die »vergleichende Me-

thode«, mit der von einem äußerlich ähnlichen Verhalten auf

eine Ähnlichkeit in Ursprung und Zweck dieses Verhaltens-

125

merkmals geschlossen wird. Freud arbeitet im Hinblick auf

seine völkerkundlich-psychologischen Studien eher spekulativ

und wählt solches Material aus, das zu seinen »ethnopsycho-

analytischen« Theorien passt. Widersprüchliches wird dabei

ausgeklammert.

Karl Abraham gehörte zu den ersten Psychoanalytikern,

die sich mit der Ethnologie befassten. Schon 1909 schrieb er

eine Studie »Traum und Mythos«

»Der Umgang der Analytiker mit der Ethnologie war in

ihren frühen Beiträgen meist dilettantisch und methodisch

nicht gesichert. In der Regel war das Interesse der Psy-

choanalytiker kurzfristig; es beschränkte sich darauf, in

der ethnologischen Literatur Belege zu finden, die Paralle-

len zu ihren klinischen Beobachtungen von Träumen,

Symbolen, Phantasien, neurotischen Symptomatiken und

weiteren seelischen Mechanismen aufzuweisen schienen.

Mit der Anwendung und Bestätigung psychoanalytischer

Ideen auf dem Gebiet der Ethnologie konnte der Gültig-

keitsbereich der Psychoanalyse räumlich auf außereuro-

päische Kulturen und zeitlich auf die Ursprünge der kul-

turellen Entwicklung der Menschheit ausgedehnt

werden.«104

Weniger an der Ethnologie und der Erforschung fremder

Völker interessiert, hat Carl Gustav Jung mit der Entwick-

lung seiner Archetypenlehre in ähnliche Richtung gedacht.

Auch Jung postuliert eine kulturgeschichtliche Entwicklung

der Menschheit, die von frühen Stufen der Symbolbildung in

immer differenziertere Bereiche der Wahrnehmung und der

Entwicklung kultureller und geistiger Stufen hin führt. Wie

Kulturen Entwicklungsschritte gehen und dabei für die ge-

samte Kultur geltende Symbole herausarbeiten, so geht auch

die einzelne Seele jedes Menschen den Weg der Individuation,

der Ausprägung individueller Qualitäten der Psyche, basie-

126

rend auf dem, was ihr durch kulturelles Erbe und gelernte

Tradition zugewachsen ist. Jede einzelne Seele prägt ihre

Symbole aus, die ihr Orientierung vermitteln und die zugleich

wie ein »Anker«, ein Haltepunkt im sich wandelnden Seelen-

leben fungieren.

»Der Begriff des Archetypus ... wird aus der vielfach

wiederholten Beobachtung, dass zum Beispiel die Mythen

und Märchen der Weltliteratur bestimmte, immer und

überall wieder behandelte Motive enthalten, abgeleitet.

Diesen selben Motiven begegnen wir in Phantasien,

Träumen, Delirien und Wahnideen heutiger Individuen.

Diese typischen Bilder und Zusammenhänge werden als

archetypische Vorstellungen bezeichnet. Sie haben, je

deutlicher sie sind, die Eigenschaft, von besonders lebhaf-

ten Gefühlstönen begleitet zu sein. Sie sind eindrucksvoll,

einflussreich und faszinieren. Sie gehen hervor aus dem

an sich unanschaulichen Archetypus, einer unbewussten

Vorform, die zur vererbten Struktur der Psyche zu gehö-

ren scheint und sich infolgedessen überall auch als spon-

tane Erscheinung manifestieren kann«.105

Mit allen diesen grundsätzlichen Annahmen, wie sie von den

Gründern der Psychoanalyse formuliert wurden, arbeitet die

Ethnopsychoanalyse. Sie prüft deren empirisch evaluierten

Gehalt und erweitert deren Grundannahmen durch ethnolo-

gisch gefundene und gesicherte Daten: Es ist vor allem zu

bedenken, dass sowohl die Forschung innerhalb der Ethnolo-

gie wie auch innerhalb der psychoanalytischen Wissen-

schaftsbereiche ständigen Wandlungen und Interdependenzen

unterliegt.106

Die Grundsteine der Ethnopsychoanalyse wurden bereits

in den 1930er Jahren gelegt, als auch die Psychoanalyse eine

erste Blütezeit hatte. In beiden Bereichen wurde eine Zäsur

gesetzt durch den Zweiten Weltkrieg. So gelang die prakti-

127

sche Entdeckung der Ethnopsychoanalyse erst in den 1950er

Jahren. Innerhalb der Sozialwissenschaften hat sich die

Ethnopsychoanalyse als qualitative Methode bewährt und

kann somit als eine selbständige Weiterführung und Ergän-

zung der klassischen Psychoanalyse angesehen werden. Im

praktischen Bezugsrahmen gehören ihre Erkenntnisse zur

Basisausbildung in der Exil- und Migrationsforschung, in

Themen der Akkulturation, Fragen der Anpassung, sowie der

Psychotraumatologie. Berücksichtigt werden sollen dabei

Wechselwirkungen von Sozialstruktur, Sozialisationsmustern

und Persönlichkeitsorganisation. Auch heute noch wird der

zentralen Fragestellung, wie gegebene Institutionen den Cha-

rakter der Menschen formen, nachgegangen. Jede Kultur

erzeugt über primäre Institutionen (Familienorganisation,

Säuglings- und Kinderpflege, Gruppenbeziehungen) eine spe-

zifische Grundstruktur der Persönlichkeit, die über sekundäre

Institutionen (Religion, Ritual, Mythen) reguliert wird und

Äußerungsformen und Möglichkeiten findet, um Bedürfnisse

zu befriedigen.

Georges Devereux, der Vorreiter der Ethnopsychoanalyse,

nahm an, Geisteskrankheiten und das Funktionieren der Psy-

che seien universell. Nichtsdestotrotz spielen sich Krankhei-

ten und Psychotherapien jedoch immer in einem bestimmten

kulturellen Umfeld ab, ungeachtet der Tatsache, ob dieses

wahrgenommen wird oder nicht. Devereux unterschied zwi-

schen einem ethnischen Unbewussten, das aus kulturtypi-

schen Verdrängungsprozessen, die von ethno-typischen

Traumen ausgehen, resultiert und dem idiosynkratischen

Unbewussten, das die schicksalsmäßigen traumatischen Situa-

tionen eines jeden Einzelnen umfasst. Beide Typen des Unbe-

wussten sind nicht ersetzbar, sondern zwei Dimensionen

desselben Gegenstandes. So ist es zum Beispiel bei Migranten

möglich, dass sich ihre Probleme nicht auf den üblichen We-

gen der Medizin und Psychiatrie analysieren lassen, da sie

erst durch einen bestimmten religiösen oder kulturellen Ver-

128

lust bzw. Zwang entstanden sein können und oftmals mit

dem Verlorengehen der Gruppenidentität und -dynamik in

Verbindung stehen. So scheinen bei Migranten die Krank-

heitsbilder oft mit einem Identitätsproblem der Zugehörigkeit

zu zwei Welten in Verbindung zu stehen, betrachtet man zum

Beispiel die Stummheit von Migrantenkindern, sobald sie das

Haus der Eltern verlassen. Hier versucht die Ethnopsychoa-

nalyse das komplexe Zusammenspiel zwischen der kulturel-

len und psychischen Ebene zu berücksichtigen. Wie eingangs

erwähnt, widmet sich die Disziplin auch den Problemen des

Lebens im Exil. Oft muss ein therapeutischer Ansatz in einem

solchen Fall das politische, soziale und kulturelle Umfeld der

Kinder berücksichtigen. Eltern im Exil (oftmals übernimmt

die Kindererziehung jedoch die Mutter) wollen ihrem Kind

die Werte der Kultur ihrer Herkunft näher bringen, dürfen

aber trotzdem nicht vernachlässigen, dass dieses Kind in ei-

nem Land lebt und einer Kultur aufwächst, die ihrer oftmals

sehr fremd ist. Nicht selten »müssen« Migrantenkinder in

sich Elemente verschiedener Welten, Logiken und Zugehö-

rigkeiten vereinen. Hier stellt sich die Frage nach Besonder-

heit und Universalität eines bestimmten (Krankheits-)bildes.

Wo beginnt das individuelle Verhalten oder die rein subjekti-

ve Perzeption des Kindes, und wo geht es um in dieser Kultur

immanente problematische Aspekte (z.B. das sehr unter-

schiedliche Rollenverständnis von Jungen und Mädchen in

z.B. türkisch-muslimischen Elternhäusern).

In der Praxis versuchen Therapeuten, durch Traumanaly-

sen, einer Erforschung des Sexuallebens, durch Spielanalysen

der Kinder oder psychoanalytische Auswertungen von My-

then, Ritualen und Zeremonien, den Menschen zu einem

besseren Verständnis ihres Problems / ihrer Krankheit zu

verhelfen. Jedoch muss man sich bei einer jeden Psychoanaly-

se immer bewusst sein, dass die Wahrnehmung einer Situati-

on von der Persönlichkeit des Wahrnehmenden grundlegend

beeinflusst wird.

129

Bei der Migrationsforschung geht es darum, herauszufin-

den, wie eine Person die Gleiche bleiben kann / soll, wenn

sich um sie herum alles grundlegend ändert. Therapeuten

werden in einem solchen Fall versuchen, Mythen, Rituale und

Erzählungen aus der Heimat des jeweilig Betroffenen zu fin-

den, um kulturelle Elemente der Herkunft zu nutzen und eine

therapeutische Beziehung zu unterstützen.

Ethnopsychoanalyse zu betreiben heißt also: Die äußeren

Umstände anderer Kulturen sind nicht völlig fremd, und auf-

grund ihrer Kenntnis kann der Berater oder Therapeut even-

tuelle religiöse oder durch Kultur bedingte Schemata besser

erkennen und therapieren. Eine solche Kenntnis von kulturel-

len Divergenzen wird sich im zwischenmenschlichen Verhal-

ten und besonders bei therapeutischer Arbeit »bezahlt ma-

chen«. Es kann nur hilfreich sein, den kulturellen

Hintergrund eines Mitmenschen zu kennen und auf diesen

reagieren zu können.107

6.2.1 Ethnopsychoanalyse im islamischen Kontext

Jalil Bennani, Psychiater und Psychoanalytiker, absolvierte

seine psychoanalytische Ausbildung in Europa und hat an-

schließend in Rabat/ Marokko eine therapeutische Praxis

eröffnet und dort wissenschaftliche Schriften veröffentlicht,

Thema: Migration der Psychoanalyse.

»Die Fragestellung der wissenschaftlichen Migration und

des Exils wandte er auf die Psychoanalyse in seinem Land

an und untersuchte dieses Thema historisch in Bezug auf

die Etablierung der Psychoanalyse in seinem Land (Ben-

nani, 1996, 2000). Die Psychoanalyse hat ihre ersten

Spuren in Marokko im Zuge der Auswanderung des fran-

zösischen Psychoanalytikers René Laforgue in den 50er

Jahren des letzten Jahrhunderts hinterlassen. Bei der Un-

130

tersuchung der ›Migration der Psychoanalyse‹ in Marok-

ko berücksichtigt Bennani verschiedene historische Ab-

schnitte und kulturelle Kontexte, wobei Kolonialge-

schichte, arabisch-islamische Kultur, traditionelle Formen

der Psychotherapie, Zweisprachigkeit, Diaspora in

Frankreich und in Kanada, Liberalisierung und Öffnung

des Landes und anderes als Faktoren der Wissenschafts-

entwicklung wirksam sind.

Benanni ist durch seine wissenschaftliche und publizisti-

sche Tätigkeit stark am Aufbau und der Verbreitung der

Psychoanalyse und Psychotherapie und der Verbreitung

des Ansatzes der Ethnopsychoanalyse in Marokko betei-

ligt, die in den 1970er Jahren begannen.«108

Benanni wendet die ethnopsychoanalytischen Ansätze vor

allem heuristisch und interpretativ an. Dabei wird der Anteil

der Begegnungen des 19. Jahrhunderts zwischen europäischer

und islamisch- arabischer Kultur als fundamentales und auf-

rüttelndes Ereignis mit in Betracht gezogen. Zum damaligen

Zeitpunkt fanden entscheidende, oft später negativ empfun-

dene Einflüsse der Europäer auf die arabisch-islamische Kul-

tur statt. Sie waren (z.T. militärisch) beherrschend, heraus-

fordernd, zum Teil zerstörerisch. Auf jeden Fall haben sie

sich tief greifend bemerkbar gemacht. Nur im Betrachten

dieser Umbrüche kann die plausible Entwicklung eines neuen

Ansatzes für diese spezielle, daraus entstandene Situation zu

gewährleisten sein – so Bennani.

Als interpretativer Ansatz zum Verstehen des Seelenlebens

eines Menschen müsse die Psychoanalyse von jeder Kultur für

sich »neu entdeckt« werden, sonst könne sie keinen eigenen

Zugang zum Unbewussten der Kultur und der Menschen in

ihr finden. So könne sie sich damit auch nicht als kritisches

Instrumentarium für eine Kultur bewähren. Und nur im Neu

– Entdecken der alten europäischen Ansätze für den jeweili-

gen nicht-europäischen Kontext könne die Psychoanalyse im

131

ethnopsychoanalytischen Zusammenhang eine wissenschaft-

liche Eigenständigkeit und eine Tradition ausbilden.109Andere

arabische Psychoanalytiker haben schrittweise auf diesen

Gedanken und Konzepten Bennanis aufgebaut. Allerdings

liegt insgesamt die Verbreitung der Psychoanalyse im diesem

gesamten Kulturkreis eher in den Anfängen.

6.3 Ethnopsychoanalyse und interkulturelle psychoanalytische Therapie

1995 erschien das Buch Interkulturelle psychoanalytische

Therapie von Peter Möhring und Roland Apsel, in dem Fol-

gendes formuliert wurde:

»Die Psychoanalyse kann zu der Entwicklung interkul-

tureller Psychotherapie Wichtiges beitragen, denn sie ver-

fügt, besonders unter Einbeziehung der Ethnopsychoana-

lyse, über die theoretische Breite, die eine angemessene

Würdigung der Bedeutung der Kultur für die Persönlich-

keitsentwicklung in ihren bewussten und unbewussten

Phasen erlaubt. Auch über die psychische Repräsentanz

des Fremden, die für die interkulturelle Begegnung so

zentral ist, kann die Psychoanalyse grundlegende Aussa-

gen machen, indem die Erfahrung des Fremden zunächst

entwicklungspsychologisch als grundsätzliche Erfahrung

des befremdenden Anderen, des anderen Geschlechts, so-

dann auch des eigenen »Fremden«, des Unbewussten, de-

finiert wird, um dann auf die Erfahrung mit fremden Kul-

turen und deren Angehörigen bezogen zu werden. So kann

sie theoretische Einsichten für interkulturelle Begegnungen

formulieren, die Personen in ihrer aktuellen Situation, ih-

rem kulturellen Kontext und dem Verhältnis von bewuss-

ten und zu unbewussten psychischen Inhalten erfasst«.110

132

In der Folge bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist die Zahl

der Publikationen auf diesem Gebiet rasant gestiegen. Aber

nicht nur die Theorie und die in sich interessante Verbindung

von Psychoanalyse und Ethnologie wurden hier reflektiert. Es

ging auch zunehmend um die Darstellung und Reflexion

bereits erfolgter praktischer Ansätze. Zu einer Tagung unter

dem Titel »Ethnopsychoanalyse als gesellschaftliche Praxis:

Interkulturelle Therapie« wurde 2001 nach Zürich eingela-

den.111

In den evaluierten praktischen Erfahrungen ging es um die

Beratung von Menschen im Kontext der Migration und auch

um die Arbeit mit Asyl Suchenden, die an psychischen Beein-

trächtigungen leiden. Es wird konstatiert:

»Im psychosozialen Feld der Arbeit mit Exilanten und

Flüchtlingen gingen in den letzten Jahren deutliche Pro-

fessionalisierungs- und Spezialisierungsprozesse vor sich,

bei denen Ansätze aus ethnopsychoanalytischen Unter-

suchungen Beachtung fanden und aufgenommen wur-

den. Ähnliche Prozesse lassen sich an verschiedenen Or-

ten beobachten; ihre Protagonisten und Prota-

gonistinnen kämpfen auf vorgeschobenen auf psycho-

sozialem Neuland.«112

Nähere Erklärungen zu diesem Neuland gibt Peter Möhring,

indem er die ethnopsychoanalytische Forschungsmethode

beschreibt:

»Es wird versucht, das eigene Empfinden angesichts des-

sen, was es zu beobachten gibt, festzuhalten und bis in

seine unbewussten Dimensionen hinein zu verstehen. Dies

führt auch in der Regel zu einer veränderten Einstellung

gegenüber der eigenen Kultur und heutzutage ist das in

frage stellen des Eigenen, also der westlichen Industriege-

sellschaften, zu einem wichtigen Nebenprodukt der Eth-

133

nologie geworden. Der psychoanalytische Forscher ist ge-

genüber dem Emigranten meistens in einigen Punkten im

Vorteil. Er kann die Analyse seines Erlebens, soweit er es

– vielleicht auch noch mit Hilfe von Kollegen – vermag,

geduldig, aufwendig und sich zwischen dem Erleben, der

Deutung und der Abstraktion bewegend als Prozess der

Bewusstwerdung vorantreiben. So wird beispielsweise

analysierbar und verstehbar, warum eine Forscherin in

einer fremden Kultur der Südsee spontan keine Angst vor

sexuellen Übergriffen von Männern, stattdessen aber von

Frauen, entwickelt: Es stellt sich heraus, dass es dort ei-

nen Initiationsritus gibt, bei dem Mädchen von älteren

Frauen defloriert wurden ...«113

Ein vorurteilsloses und bedingungsloses Hineinversetzen in

die Erlebniswelt der fremden Kultur kann hier für den Analy-

tiker Anhalte und, wie er selbst zugesteht, Annäherungswerte

an das tatsächliche Erleben von Menschen bringen, die in

ihnen fremden Kulturen leben und sich emotional zurecht

finden müssen.

Dabei ist auch mit zu berücksichtigen, in welche Kultur

sich ein Mensch emotional hinein begeben muss. Manche

Kulturen erschließen sich durch ihren Selbstausdruck leicht

dem Zugang von außen, andere bieten eine verschlossene

Eigenwelt, mit der der Fremde nur schwer in Kontakt

kommt. So sind Schwierigkeiten bei der Anpassung an frem-

de Kulturen von vielen Faktoren abhängig und haben nicht

nur mit dem individuellen Zugang eines Menschen zu tun.

Toleranz und Gastlichkeit eines Gastlandes sind natürlich

enorm erleichternd. Sie sind geeignet, in der Kürze der Zeit,

die einem Fremden zur Gewöhnung bleibt, ›gute‹ Bilder der

Fremde zu schaffen. So können Vorurteile und Ängste leich-

ter abgebaut werden.

Im Falle von Migration werden also individuelle Schwachstel-

len der Psyche eines Menschen leicht zu Sollbruchstellen.

134

Deshalb sind sowohl präventive wie therapeutische Überle-

gungen und Maßnahmen besonders angezeigt.

6.4 Familien- und Systemische Therapie und Interkulturalität

Die Systemische Therapie wurde in den 80er Jahren des

letzten Jahrhunderts entwickelt und basiert auf der Familien-

therapie, die in den 50er Jahren entstanden ist. In dieser Zeit

begann man in den USA damit, bei Therapien nicht nur den

Klienten zu sehen, sondern das gesamte Umfeld, in dem er

sich bewegte. So wurde die Familie mit in die Therapie einbe-

zogen, so weit möglich, mit aktiver Präsenz oder wenigstens

in den Überlegungen zum seelischen Umfeld und Kommuni-

kationsrahmen des Patienten. Die Familientherapie fand un-

ter Paul Watzlawick Anerkennung als eine eigene Therapie-

form, die seelische Störungen als die Folge einer familiären

Kommunikationsstörung sieht und nicht nur als ein Problem

der individuellen Psyche. Durch Helm Stierling fand die Fa-

milientherapie auch Eingang in Deutschland, besonders an

der Universität Heidelberg. Aus vielen verschiedenen Konzep-

ten entwickelte sich dann, was seit 1980 »Systemische The-

rapie« genannt wird.

Verschiedene Schulen formen zusammen den Gesamtan-

satz der Familien- und Systemtherapie:

– Die strukturelle Familientherapie (Minuchin)

– Die psychoanalytische Familientherapie (Buchholz, Rich-

ter, Paul)

– Erlebniszentrierte und wachstumsorientierte Familienthe-

rapie ( Kempler, Papp und Satir)

– Strategische, systemisch-kybernetische Therapie ( Palazzo-

li, Sevini und Watzlawick)

135

– Narrative, systemisch-konstruktivistische Therapie und

Beratung

– ( Andersen, Ludewig und Stierling)

Systemisches Denken ist eine Methode, die Welt zu erfassen.

Es wird davon ausgegangen, dass alle Menschen in Systeme

von Denken und Handeln eingebunden sind, die jeweils ihre

eigenen Regeln und Verläufe haben. Sie grenzen sich in ihrer

Art von anderen Systemen ab. So verhält sich jeder Mensch

entsprechend dem Beziehungssystem, in dem er lebt und das

er kennt. Dieses System ist aber nicht feststehend, sondern in

ständiger Bewegung. Die Elemente des Systems stehen mit-

einander in Verbindung, und erst aus dem Zusammenspiel

einzelner Elemente des Systems kann etwas Neues erwachsen.

Das bedeutet: Wenn das System sich verändert, dann hat

das Auswirkungen auf die Umwelt dieses speziellen Systems

und der in ihm agierenden Menschen.

Für den Therapeuten ist es wichtig, das System einer Fami-

lie zu verstehen, wenn er mit seinem Klienten arbeitet. Er

muss wissen, aus welchem Hintergrund heraus der betreffen-

de Mensch denkt, fühlt und handelt. Denn um eine Änderung

zu erreichen, muss eine Wandlung von innen her möglich

sein.114

Ein Therapeut kann verschiedene Wege suchen, um das

System seines Klienten zu verstehen, sich in dieses System

hinein begeben – entweder, indem er die Familie zu sich ein-

lädt oder, indem er sie in ihren Räumen besucht. Diese Vor-

gehensweise nennt man Joining. Der Berater kann versuchen,

die Strukturen und die Sprache der Familie in der persönli-

chen Begegnung und im der Familie vertrauten Umfeld ken-

nen zu lernen. Dazu muss er Fragen stellen. Diese zirkulären,

die Thematik einkreisenden Fragen, betreffen das Muster der

Kommunikation, nicht in erster Linie deren formalen Inhalt.

Die Fragen tasten sich an das gefühlsmäßige Geschehen her-

an, umgehen es (zirkulär). Es sollen Selbst- und Fremdbilder

in der Kommunikation und Phantasien in und über den zwi-

136

schenmenschlichen Bereich genannt werden. Damit kann den

beteiligten Personen an einem systemischen Prozess bewusst

gemacht werden, wie sie miteinander umgehen, sich dabei

eventuell schaden oder die Kommunikation erschweren.

Es sollen Beziehungsmuster und Hintergründe für das Ver-

halten einzelner Menschen aufgedeckt werden, um daran zu

arbeiten. Der Perspektivenwechsel des Beraters spielt eine

wichtige Rolle, um in festgefahrener Kommunikation deut-

lich zu machen, wo es vielleicht gangbare Auswege geben

könnte. Es werden Möglichkeiten konstruiert. »Was wäre,

wenn?« Durch solche Fragen kann der Horizont für Wahr-

nehmungen erweitert werden. Es finden sich vielleicht neue,

bisher unbekannte Lösungsmöglichkeiten.

Mit diesen Schritten beschreibt Christoph Morgenthaler115

das Vorgehen innerhalb der Interventionen der Systemischen

Therapie sowie deren Ziele.

Wenn Berater und Hilfesuchender aufeinander treffen, ent-

steht ein drittes System jenseits der beiden, aus denen diese

Personen heraus kommen, denken und handeln. Dies ist de-

ren gemeinsames System. Es ist eine Art Arbeitsbündnis, das

als Metasystem für einen bestimmten Rahmen etabliert wur-

de.116

Den speziellen Fokus auf die »Interkulturaliät« legt Chris-

toph Schneider-Harpprecht, wenn er die Methoden der struk-

turellen Familientherapie sichtet.117

Schneider-Harpprecht spricht von der

»Einsicht, dass die Familie und ein je spezifisches Ver-

ständnis der Familie in den meisten Kulturen so zentral

ist, dass sie in die Arbeit von Beratung und Seelsorge un-

bedingt einbezogen werden muss«.118

Es ist zum einen hilfreich und sehr interessant, Schneider-

Harpprechts umfangreiches Werk zu Interkultureller Bera-

tung und Seelsorge zu zitieren und für den Kontext der Seel-

137

sorge und Beratung zu betrachten, wie sie im Islam in Europa

und in einigen islamischen Ländern in den Anfängen prakti-

ziert und reflektiert wird.

Zum anderen entsteht dabei die Problematik, dass Schnei-

der-Harpprecht seine Darstellungen, Überlegungen und Kon-

zepte zwar weitläufig angelegt hat, dabei aber von der Multi-

kulturalität im amerikanischen Raum – Nord- und Südamerika

– ausgeht. Es treten auch in der Reflexion der Multikulturalität

der USA selten Muslime als eine spezielle Bevölkerungsgruppe

auf. Schneider-Harpprecht übernimmt oder entwickelt selbst

ein Konzept von »Marginalisierung bestimmter Bevölkerungs-

gruppen in den USA«, das in dieser Weise auch im Ansatz

nicht auf Muslime in Europa übertragbar ist.

Die Situation der »Schwarzen« in den USA, der eingewan-

derten Spanisch und Portugiesisch sprechenden Bevölke-

rungsgruppen in den USA ist in sich sehr verschieden, dar-

über hinaus lassen sich wenige Verallgemeinerungen aus dem

allgemeinen Tatbestand der sozialen Benachteiligung oder

kultureller Divergenzen ableiten. Um dies sachgemäß tun zu

können und eventuell den einen oder anderen Gedanken auf

die Situation der verschiedenen Muslime in Europa zu über-

tragen, müsste eine sorgfältige Analyse der jeweiligen histori-

schen Gegebenheiten voraus gehen.

Dennoch sollen Aspekte der Untersuchung Schneider-

Harpprechts zu Wort kommen, die vielleicht eine vorsichtige,

umsichtig reflektierte Verallgemeinerung von Phänomenen

ermöglichen. Vielleicht können sie doch als erste Ansätze zu

Lösungsmöglichkeiten für die gesuchte Seelsorgepraxis der

Muslime beitragen.

»Es ging darum, Grundkenntnisse über den Einfluss der

Ethnizität auf den familiären Prozess, das heißt auf das

Verständnis von Familie, den familiären Lebenszyklus,

auf bedeutsame Sitten und Riten, Wertorientierungen und

charakteristische Probleme zu gewinnen. Damit sollten

138

den Familientherapeuten und -beratern Faustregeln an die

Hand gegeben werden, die ihnen helfen, einen kulturell

adäquaten Stil zu finden. Sie müssen beispielsweise wis-

sen, dass in der schwarzen Kultur »Familie« die weitere

Verwandtschaft, Nachbarschaft und Gemeinde umfasst,

dass die italienische Familie sich stets auf drei bis vier

Generationen erstreckt und bei den Chinesen alle Ahnen

und Nachkommen in die Familie eingeschlossen sind.

Ebenso müssen sie verstehen, dass in den kulturellen

Gruppen das Suchen äußerer Hilfe unterschiedlich bewer-

tet wird: Italiener halten sich an die Familie und nehmen

Fremde erst als letztes Mittel in Anspruch. Schwarze

misstrauen fremden Institutionen, abgesehen von der Kir-

che. Chinesen, Puerto Ricaner und auch Norweger soma-

tisieren psychischen Stress und bevorzugen ärztliche Hil-

fe, weil körperliche Symptome für sie akzeptabler sind als

psychische«.119

Es wird später zu überlegen sein, was dieses Beispiel für ver-

schiedene kulturelle Ausprägungen im Islam und unter den

Muslimen austragen kann.

Kritik an dem Ansatz der Familientherapie übt Schneider-

Harpprecht während der Darstellung der amerikanischen

Literatur zum Thema vor allem daran, dass in der Familien-

therapie zu wenig in politischen Dimensionen gedacht wird.

Es fehlt die Einordnung der jeweiligen Situation der Familien

in den größeren gesellschaftlichen Kontext, aus dem heraus

diese geformt wurden und in den hinein sie agieren. Die Zir-

kel der Interaktion innerhalb der Familie, ihre wie auch im-

mer geartete Hierarchie, ihr offenes System, das sich wandeln

kann, stehen aber in ständiger direkter Interdependenz zur

umgebenden Gesellschaft.

139

Narrative Therapie

Die Familientherapie hat sich im Laufe ihrer Geschichte

immer mehr vom Beobachten und Analysieren familiärer

Interaktionsprozesse nach einem eruierten therapeutischen

Muster weg bewegt. Es ging in der Folge mehr darum, nicht

einem vorgegebenen Schema zu folgen, sondern die sprachli-

chen Mitteilungen der jeweiligen Familien »ernst zu neh-

men«, zu hören, welche Wirklichkeit die Familien selbst kon-

struieren. Sprachliche Wahrnehmungen wurden ebenso

wichtig wie die Sensibilität für die emotionale Interaktion.

Auf dem Hintergrund dieser Entwicklung, die sich weniger

am vorgefertigten Struktur-Modell orientiert, sondern den

Lebens-Geschichten freien Raum gibt, entwickelten Michael

White, David Epston u.a. die Narrative Therapie.120

»Im Grunde genommen baut die gesamte systemische

Familientherapie auf konstruktivistischen Grundsätzen

auf. ... Je stärker sich die Familientherapie verbreitete,

desto mehr geriet jedoch in Vergessenheit, dass die Theo-

rien über die Familienstruktur und -dynamik in erster Li-

nie Metaphern sind. Die Kritik der neueren Vertreter ei-

ner konstruktivistischen Therapie wie Anderson,

Goolishian oder White an den strategischen und struktu-

rellen Modellen der Familientherapie erinnert diese an ih-

re eigenen Wurzeln. Sie haben eine Wende der struktura-

listisch-systemischen Sicht zu einer hermeneutisch-

narrativen Sicht der Therapie vollzogen, in der sie dem

Inhalt dessen, was die Familien erzählen, zumindest eben-

so große Bedeutung beimessen wie den Interaktionen ...

Den TherapeutInnen geht es darum, die Weltsicht der

Familie zu verstehen, sich von ihr leiten zu lassen und

nicht vorgefertigte Theoriemodelle überzustülpen. Ange-

sichts der Relativität der Wirklichkeitsperspektiven hat

die von den Familienmitgliedern vorgetragene Sicht ihre

140

eigene Berechtigung und ist aus ihrer Sicht verständlich.

Gemeinsames Verstehen der Probleme ist darum unum-

gänglich. Das führt zu Veränderungen im Therapeuten-

Verhalten. Die TherapeutInnen sind bereit, ihre eigene

Sichtweise zu relativieren. Sie lassen sich verstehend und

Fragen stellend auf die Familien ein. Die Klienten und

nicht die Therapeuten sind die Experten für die Lösung

der Probleme. Man kann dies als eine teilweise Rück-

wendung zur verstehenden und bedingungslos anneh-

menden Haltung der klientenzentrierten Gesprächspsy-

chotherapie von Carl Rogers121 werten, auf jeden Fall

jedoch als einen Versuch, die Machtposition des Thera-

peuten zu verlassen«.122

Es geht also in der narrativen Therapie um eine größere Sen-

sibilität gegenüber den Machtstrukturen, die durch vorgefer-

tigtes »Expertenwissen« aufgebaut werden. Es soll eine grö-

ßere Bescheidenheit im Hinblick auf die Geltung

theoretischer Modelle praktiziert werden. Politische Haltun-

gen, Werte hinter Erzählungen, dargestellte Sachverhalte

sollen als bedeutsam in ihrem Gehalt betrachtet werden,

nicht nur in ihrem Wert für die Interaktion. »Erzählungen«

sind lokalisiert in der Geschichte von Menschen, im Verlauf

der Zeit.123 Menschen präsentieren in der Therapie ihr Leben

in Geschichte und Zeitbezügen. Die Kommunikation inner-

halb dieser Erzählungen entwickelt eine »intertextuelle

Welt«. Diese Welt ist geprägt von den Einflüssen der sozialen

Einbindung der Menschen und den Machtverhältnissen in

ihnen. Dabei kommt es darauf an, zu erkennen, inwieweit

Menschen dominante Sichtweisen der Wirklichkeit verinner-

licht haben, die ihnen die eigene Entwicklung erschweren.

»Die Geschichten der Menschen sind also das Ergebnis

des Einsatzes der Techniken der Macht, die sich ausge-

hend vom lokalen Bereich in den Individuen einnistet, sie

141

unterwirft und sich ausbreitet. Was die narrative Thera-

pie versucht, könnte als eine Operationalisierung von

Foucaults Ziel der ›Ent- unterwerfung‹ als einer subjekti-

ven Befreiung von den Einflüssen der herrschenden

Machtkonstellationen verstanden werden. Sie arbeitet

problemorientiert, das heißt: sie will den Menschen hel-

fen, sich neu zu den Problemen, von denen sie erzählen,

zu verhalten, und die Techniken der Macht, denen diese

sich verdanken, zu identifizieren. Von zentraler Bedeu-

tung ist darum die ›Externalisierung des Problems‹, die

Suche nach alternativen Problemlösungen, ihre Verstär-

kung und Einübung. Menschen, die ihre Probleme nicht

lösen können, beginnen sich ohnmächtig zu fühlen und

meinen, zunehmend von dem Problem beherrscht zu

werden, statt es zu beherrschen. Die narrative Therapie

verhilft den Klienten durch ›Externalisierung‹ zur Distan-

zierung von ihrem Problem, die ihnen ins Gedächtnis

ruft, dass sie ein von dem Problem unabhängiges Leben

haben, ihr Selbstvertrauen und das Vertrauen in ihre Fä-

higkeiten, die Situation zu kontrollieren, stärkt«.124

Der Mensch, der sich so als unabhängig von einem bestimm-

ten Problemkomplex erlebt, wird freier, seine Situation zu

betrachten. Seine Problematik wird durch den inneren Ab-

stand »dekonstruiert«, und gleichzeitig wird der Weg frei für

die Konstruktion neuer Perspektiven. Besonders interessant

werden in diesem Zusammenhang alle Erzählungen, die einen

Lösungsansatz in sich tragen, von geglückten Erfahrungen

des Klienten berichten. Sie bilden den Ansatz für Neu-

Entwicklungen.

»Die Realität, welche die Ratsuchenden narrativ präsen-

tieren, wird umerzählt und erscheint in einer neuen Per-

spektive. Die Erzähler entwerfen zunehmend Versionen,

die sich von der dominanten Geschichte, in der das Pro-

142

blem über sie herrscht, unterscheiden. Sie schreiben einen

Teil ihrer Lebensgeschichte neu und erleben sich dadurch

in neuer Weise als Subjekte«.125

Narrative Therapie verbindet also, stärker als die vorausge-

gangene Familien- und systemische Therapie, individuelle

Problemlösungen mit der Analyse der Einbindung von Men-

schen in soziale Machtgefüge. Innerhalb der sozialen Einbin-

dungen können Individuen lernen, einen Handlungs- und

Freiheitsraum zu gewinnen.

Narrative Therapie beansprucht für sich, genau wie die

Familientherapie, eine Kurzzeitpsychotherapie zu sein. Mit

gezieltem Fokus auf bestimmten Fragestellungen möchte sie

Menschen befähigen, mit dem Gesamt-Rahmen ihres Lebens

konfliktloser umgehen zu können. Es geht um »lösungsorien-

tierte Beratung«, d.h. weniger um die Frage eines gesamten

Lebenskonzeptes und des inneren Zusammenhanges als um

die Ausrichtung auf jeweils mögliche Perspektiven. Realisti-

sche Zukunftspläne sollen angegangen werden, Lösungen

entworfen werden, die unter den jeweiligen politischen und

sozialen Bedingungen für die jeweilige Person gangbar sind.

Arbeitsphasen in der Beratung sind:

– »Zielfokussierung – Formulieren von wünschenswerten

Zielen«

– Suche nach Zeiten und Setting des Lebensgelingens

(Reframing)

– Stellvertretende Lebensdeutung und die Ko-Konstruktion

von Lösungswegen126

Diesen methodischen Ansätzen liegt eine narrative Orien-

tierung zugrunde. Es sollen Aspekte der Lebensgeschichte

als Fundament für eine mögliche Gestaltung der Zukunft

betrachtet werden. Dies dient dem Zweck, Menschen zu

ermutigen, ihre Lebensgeschichte selbst aktiv zu entwerfen

und eine Kompetenz im Rahmen von Empowerment zu

entwickeln. Schneider-Harpprecht definiert »Empower-

143

ment« als Ermutigung, Lebenswirklichkeit neu zu kon-

struieren.

»Kontextualisierung geschieht, wenn ›Selbstbilder und

Selbstpräsentationen‹ des Individuums ebenso kritisch re-

flektiert werden wie die sozialen und kulturellen Kontex-

te, die den Verlauf seiner individuellen Entwicklung und

den seiner Probleme beeinflusst haben. Weitere Schritte

sind der konkrete Vorgriff auf die Zukunft, der einlädt,

sich von der Überzeugung, die gegenwärtige problembe-

ladene Situation sei unveränderbar, zu verabschieden. Die

Gesprächspartner werden ermutigt, gemeinsam mit den

Beratern Zukunftsentwürfe zu konstruieren. Ein dritter

Schritt ist die ›Herstellung von Kollektivität‹, das Teilen

von Erfahrungen mit anderen Betroffenen und die ge-

meinsame Organisation der Vertretung der eigenen Inte-

ressen. Sie will den gemeinschaftlichen »Abschied aus ei-

ner Position der Abhängigkeit und Defizienz und die

gemeinsame Reise in eine Position der Stärke durch sozia-

le Teilhabe und Sich-Einmischen«.127

Abschließend bemerkt Schneider-Harpprecht:

»Nach White und Epston tragen die Menschen selbst

dazu bei, dass ihre Probleme ungelöst bleiben«.128

144

7. Erzählen in Religion und Therapie

Die Darstellung verschiedener, auf europäisch-

amerikanischen Denktraditionen fußender Therapie- und

Beratungsansätze führt zunächst nicht weiter in dem Versuch,

konkret existente Kommunikation zwischen Muslimen und

Nichtmuslimen in Deutschland oder auch zwischen Musli-

men und Muslimen in vielen islamischen Ländern zu erfas-

sen.

Es mutet wie ein theoretisches Spiel an, diese Ansätze zu

beschreiben, wenn sie im Kontext des Islam bislang wenig

Verortung gefunden haben. Sicherlich bedauert das Hohe

Amt für Religiöse Angelegenheiten in der Türkei, dass adä-

quate Hilfen oft fehlen, um die Beauftragten für religiöse

Führung und Betreuung zu befähigen, ihrer Aufgabe in einer

sich wandelnden Gesellschaft gerecht zu werden. Es wird

auch festgestellt, dass die Religion Kommunikationssysteme

bereitstellt, die dazu dienen, den Sinn des Lebens zu berei-

chern, das Leben menschenwürdig zu gestalten sowie zur

besseren gegenseitigen Verständigung der Menschen beizu-

tragen.129

Es stellt sich aber die Frage nach der Verknüpfung der be-

schriebenen therapeutischen und kommunikativen Ansätze

mit dem »Kommunikationssystem Religion«. Diese Verknüp-

fung ist im Islam ebenso vielfältig wie im Kontext der christ-

lichen Gesellschaften. Sie hängt ab von der Geschichte eines

Gebietes, eines Volkes, sie hängt ab von sozialen Strukturen

und Machtverhältnissen.

Die Debatte über die Menschenrechte und ihre Auslegung

findet hier Eingang in den Kontext von Religion, Psychologie

145

und Therapie. Die Frage nach kultureller Analyse unter dem

Gesichtspunkt der Macht muss gestellt werden, da die jewei-

lige dominante Auslegung von Religion von gesellschaftli-

chem Status quo abhängt.

Es ist auch zu überlegen, ob der Islam grundsätzlich mehr

gekennzeichnet ist von der Ausprägung bestimmter Archety-

pen religiösen Erlebens, die sich als Konstanten in vielen is-

lamisch geprägten Gesellschaften zeigen – oder ob er ein je

eigenes »System« darstellt, das nach Stand der Entwicklung

der umgebenden Gesellschaften Varianten aufweist.

Diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden. Es

sollen Reflexionen aus dem Kontext des Christentums, der

christlichen Kultur und Theologie herangezogen werden und

auf ihre Möglichkeit befragt werden, als Anstoß zu »Trans-

formationen« für den Islam nutzbar gemacht zu werden.

Nicht zuletzt besteht ein enger Bezugsrahmen zwischen Re-

ligion, Medizin und Psychologie, insoweit beide Religionen,

besonders der Islam, Körper und Seele des Menschen – und

deren Existenz gegenüber einer Transzendenz – im Blick ha-

ben.

7.1 Gemeinsame Werte in Medizin, Psychologie und Religion

Mit einem Zitat aus Überlegungen des Theologen und

Ethikers Dietrich Ritschl kann der Rahmen gesteckt werden

für die hier angeschnittenen Fragestellungen:

»Um aber Appellen ... Wirkung zu verleihen, bedürfe es

einer einheitlichen weltweiten ethischen Ausrichtung. Bei

der Mannigfaltigkeit der Kulturen und ethischer Grund-

entscheidungen sei das aber schwer möglich, da ja noch

nicht einmal Christen in der Lage seien, eine für alle ver-

146

bindliche Ethik zu formulieren (dies ist als eine selbstkri-

tische Reflexion zu verstehen, nicht als Kritik an anderen

Religionen, die Verfasserin).

›Der Gedanke der Menschenwürde‹, fuhr Ritschl fort,

›hatte sich aber über alle Grenzen hinweg gehalten.‹ Dif-

ferenzen würden einander angeglichen, so dass die Men-

schenrechte eine mögliche Basis für eine universale Ethik

werden könnten. Dennoch handele es sich bei dem Begriff

›Menschenwürde‹ um ein Ideal, einen Fluchtpunkt für

ethische Entscheidungen ...«130

»Ethische Entscheidungen« im Hinblick auf die Anwendung

der Ergebnisse moderner Humanwissenschaften werden von

Ritschl in Bezug gesetzt zu den Aussagen der christlichen

Religion – sie stehen aber auch auf dem Prüfstand vor den

Lehren und Traditionen des Islam. Wie Ilhan Ilkilic bemerkt,

bedarf es dazu auch wesentlicher Wandlungen in den Zugän-

gen zu den Quellen des islamischen Glaubens131 – sowohl in

der Interpretation der literarischen Quellen wie auch in deren

geistesgeschichtlicher und religionspsychologischer Interpre-

tation und Rezeption.

»Menschenrechte sind in Hoffnung antizipierte Definiti-

onen der Minimalbedingungen des gesellschaftlichen

menschlichen Zusammenlebens im Kleid juristischer Sät-

ze. Sie sind also einerseits Fluchtpunkte soziopolitischen

und anthropologischen Denkens und Handelns, anderer-

seits sind sie Versprechen an jetzt noch Entrechtete.132

In der Ethik geht es um Orientierung zum Handeln. Man

spricht von ›Handlungsorientierung‹ und den verschiede-

nen Schichten oder Ebenen, auf denen die Fixpunkte zu

finden sind, die solcher Orientierung dienen«.133

Theologie ist eine »Klarifikationsmaschine«, eine »Testappa-

ratur«, die Aussagen der Vergangenheit, Gegenwart und

147

Zukunft auf ihre Verstehbarkeit, Kohärenz und Flexibilität

überprüft ... Der Theologe stehe so in einem »Strom« der

Tradition. Diesen »Strom« aus Sprache, Handlungen und

Erinnerungen nennt Ritschl die »Story«.

»Was ist eine Story? Es scheint, dass das Wort auf zwei

Ebenen eine Bedeutung hat. Story ist, zunächst einmal,

eine literarische Form, eine Narration, eine Erzählung,

d.h. ein kurzer oder langer Komplex von Sätzen, die sich

mit einem Ereignis oder einer Sequenz von Ereignissen

oder auch Taten so befassen, dass diese Ereignisse, Taten

oder Gedanken mehr oder weniger kohärent erscheinen

... Daneben gibt es aber auch einen zweiten Gebrauch des

Begriffs Story, der vom ersten oft nur unscharf unter-

schieden werden kann. Wir sprechen von der Story Jesu,

oder von der Story der modernen Physik oder der westli-

chen Demokratie ...; und wir brauchen den Ausdruck

»Story of my life« oder Story meiner Ehe (und wir be-

haupten nicht, sie je vollständig erzählen zu können).

Die Beziehung zwischen beiden Arten von Story ist für

uns von besonderem Interesse. Die Frage entsteht

sogleich, ob einige der Stories des zweiten Typus die Ei-

genschaft haben, nicht erzählbar zu sein ...«134

Nicht erzählbare, tabuisierte Stories – Stories, die auch nicht

wandelbar sind. Was bewirken sie?

Was bewirken Stories, die erzählt werden zum Zwecke der

Wandlung?

Stories, die individuelle Lebensgeschichten von Arbeits-

migrantInnen zum Inhalt haben, die in einer ihnen fremden

Kultur alt werden? Stories, die einer sich verändernden

»westlichen« Gesellschaft erzählt werden?

»So sind für Hunderttausende die mit der Migration ver-

bundenen Pläne nicht in Erfüllung gegangen. Obwohl ihr

148

Ziel, den gravierenden ökonomischen Unzulänglichkeiten

in ihren Herkunftsgesellschaften und den damit verbun-

denen unerträglichen sozialen Zwängen zu entfliehen, um

die Lebensbedingungen ihrer Familien zu verbessern,

hartnäckig verfolgt wurde, konnte es doch von vielen

nicht erreicht werden oder musste aufgrund ungeplanter

familialer, soziokultureller oder wirtschaftlicher Konstel-

lationen entscheidende Änderungen erfahren. Die einst-

mals gesetzte Migrationsfrist wurde so immer wieder ver-

längert und die Rückkehr mehr und mehr hinausgezögert,

nie aber ganz aufgegeben, ja öfter sogar konkret ange-

gangen, ohne jedoch den Absprung wirklich zu schaffen.

Mit der fortschreitenden Änderung der sozialen und wirt-

schaftlichen Verhältnisse zu Hause, vor allem durch die

Migration der dynamischsten und arbeitsfähigsten Grup-

pen und dem damit verbundenen Strukturwandel, nahm

auch die Bindung an die Heimat immer mehr ab. Wurden

ursprünglich die Werte, Normen und Rollen, ja selbst die

einfachsten Formen der Lebensführung ihrer Herkunfts-

gesellschaft als richtig, besser, sogar als die eigentlich

menschlichen empfunden und im Gegensatz gesehen zu

denen der Residenzgesellschaft, so verwischten sich mit

der Zeit die scharfen Trennungslinien«.135

Und somit wächst die Notwendigkeit, neue individuelle Sto-

ries zwischen den erfahrenen Orientierungslinien zu erzählen.

Stories, die von den Brüchen und den durchgezogenen »Ro-

ten Fäden« einer Biographie berichten. Stories, die von ande-

ren gehört werden.

Stories schließlich, in denen sich Menschen Wesentliches

mitteilen über ihre Kultur und Religion, über ihre Herkunft

und ihre Sehnsucht, über die Verschiedenheiten und Gemein-

samkeiten – mit dem Ziel der von allen gesuchten Men-

schenwürde?

149

»Inzwischen sind auch die Autoren in der Philosophie

und in der Psychiatrie dem Phänomen der ›Story‹ nachge-

gangen. Freilich bietet es keinen Ersatz für saubere Begrif-

fe und klare Unterscheidungen. Es ist aber als eine Form

des Sprechens (und Hörens) erkannt worden, das noch

sozusagen »unterhalb« der Begriffe, an der Basis, seine

Funktion hat. Und wenn es stimmen sollte, dass nicht nur

die einzelnen Menschen, nicht nur einzelne Völker und

Kulturen, sondern die gesamte Menschheit eine erinner-

bare und antizipierbare ›story‹ hat, so wäre damit der äu-

ßere Rahmen der Ethik durchaus abgesteckt.

Wenn die umfassende Hoffnung Frieden und Gerechtig-

keit, also eine wirklich neue Welt zum Inhalt hat, so ist

auch jede Erneuerung, jede Therapie, jede Hilfe ... ein

Zeichen und ein Teil der antizipierten ›Gesamt-Story‹ mit

ihrem guten Ende«.136

Annemarie Schimmel beschreibt die kulturelle Differenz zwi-

schen traditioneller Anthropologie im Islam und den Grund-

annahmen »westlichen Denkens« mit folgenden Worten:

»Die Stellung des Menschen im Islam, und ganz beson-

ders im Sufismus, ist ein Kontroversthema für westliche

Gelehrte. Einige waren der Überzeugung, dass der

Mensch als Gottes »Diener« oder »Sklave« vor dem All-

mächtigen keinen Wert habe; er verschwindet fast, ver-

liert seine Persönlichkeit und ist nichts als das Instrument

eines unwandelbaren Geschicks. Der Begriff des Huma-

nismus, auf den die europäische Kultur so stolz ist, wäre

diesen Gelehrten zufolge dem islamischen Denken grund-

sätzlich fremd«.137

Wenn das denn für den Islam, zumindest in einer traditionel-

len Auslegung, zutrifft, dann steht eine wesentliche Begeg-

nung vieler Menschen aus dem islamischen Kulturkreis mit

150

ihrer eigenen Individualität an. Ein Weg der Individuation,

resultierend aus der noch neuen Erfahrung von fragmentier-

ten Lebensentwürfen, muss gefunden werden, eine »eigene

Story« erzählt werden.

7.2 Fragmentierung des Lebens und Familienkultur

»Familiensysteme erscheinen als sprachliche Systeme, die

ihre eigenen ›Sprachspiele‹ entwickeln. Die sprachliche In-

teraktion bestimmt das Selbst, die Weltsicht, Einstellun-

gen und Werte ihrer Mitglieder und verknüpft sie mit

Narrativen, mit Geschichten, mit denen sie kodiert sind

und überliefert werden. Auf diesem Hintergrund versteht

die von Michael White, David Epston, Tom Anderson,

Harold Goolishian, Hoffman und anderen vertretene

›narrative Therapie‹ den therapeutischen Prozess als De-

konstruktion und Umerzählung von Lebens-Geschichten

(re-authoring lives). Probleme und Konflikte, die Men-

schen erleben, sind verbunden mit symbolischen Wirk-

lichkeitskonstruktionen, mit Geschichten, die erzählt,

verzerrt oder unterdrückt werden können. Veränderun-

gen in Beziehungen sind möglich, wenn die Menschen die

Geschichten verändern, die ihre Sicht der Realität definie-

ren. Darum ermutigen narrative Therapeuten ihre Klien-

ten dazu, ihre Geschichten zu erzählen. Sie sind besonders

interessiert an Geschichten über alternative gelungenen

Problemlösungen (unic outcomes) und versuchen gemein-

sam mit den Klienten Geschichten zu finden, in denen

neue Formen, sich selbst und die anderen wahrzunehmen,

symbolisiert werden«.138

Hermeneutisches Prinzip ist auch hier, wie in der Bestim-

151

mung einer möglichen universalen Begründung für Ethik, die

Narrativität.

Individuelle oder auch für eine bestimmte ethnische oder

religiös fundierte Gruppe geltende Stories bilden die Grund-

lage für diskursives Verstehen. In dieser Annahme haben

Therapie, Medizinethik und Religion offenbar einen Konsens.

Zur Veranschaulichung des Hintergrundes für die »Narrative

Therapie« dienen noch weitere Differenzierungen:

»Die narrative Therapie zeichnet sich durch besondere

kulturelle Sensibilität aus. Beraterinnen und Berater steu-

ern den therapeutischen Prozess zwar aktiv. Sie sind je-

doch Teil eines Teams von teilnehmenden Beobachtern

(reflecting team)139, das in einen offenen Austausch mit

der Familie tritt und die Möglichkeit hat, Kulturunter-

schiede und kulturbedingte Schwierigkeiten im Bera-

tungsprozess aufzudecken und zu bearbeiten. Die narrati-

ve Therapie arbeitet mit den Symbolisierungen der

Klienten und ermutigt sie, Problemlösungen innerhalb des

symbolischen Rahmens ihrer regionalen und familiären

Kultur zu finden. Sie sucht Auswirkungen des ›kulturellen

Kolonialismus‹ in Psychotherapie und Sozialarbeit zu

überwinden und eignet sich gerade dadurch dazu, Identi-

täts- und Beziehungsprobleme anzugehen, die sich im

Kontext kultureller Konflikte entwickelt haben«.140

In Bezug auf die beobachtete Multikulturalität vieler Klienten

in der narrativen Therapie ist sicherlich Folgendes zu beden-

ken:

»José Szapocznik und William Kurtines haben darauf

hingewiesen, dass die Forschung generell mit der Vorstel-

lung eines ›idealisierten historischen und homogenen Kul-

tur-konzeptes‹141 gearbeitet hat, das der Realität der meis-

ten Familien in der modernen Gesellschaft (auch der

152

ethnischen Minderheiten) nicht gerecht wird. Sie leben in

einem multikulturellen Kontext, in dem sie dem Einfluss

verschiedener Kulturen ausgesetzt sind«.142

In »Multikulturelle systemische Praxis« stellen Arist von

Schlippe, Mohammed El Hachimi und Gesa Jürgens143 so-

wohl theoretische Zugänge wie auch darin eingebundene

Praxismodelle der systemischen Beratung besonders in der

Arbeit mit muslimischen Familien dar. In einer eindrucksvol-

len »Wanderung« durch die Welt der multikulturellen Zu-

gänge zu Menschen wird beschrieben, was dazu gebraucht

wird: Die Bereitschaft zum Suchen, die Einfühlung und Liebe,

die schließlich eine gewisse Erkenntnis ermöglichen. Nach der

Erkenntnis steht allerdings für den Berater die Selbstgenüg-

samkeit: »Auch das beste Pferd kann nicht zwei Sättel tra-

gen«.144

Es wird beschrieben, was beim Thema »Multikultur« die

Regel ist:

»Das ständige Wechseln zwischen verschiedenen Reali-

täten und Perspektiven. Unsere Hoffnung ist es, damit ein

konkretes Beispiel dafür zu geben, wie ›Fremdheit als

Chance gesehen werden kann und nicht nur als besonde-

res Problem in einem möglichst reibungslos zu organisie-

renden Versorgungssystem«.145

Im Gespräch mit der marokkanischen Familie von Mo-

hammed kommen wir auf das Thema ›Einsamkeit in

Deutschland‹. Spontan sagt einer unserer Gesprächspart-

ner: ›Einsamkeit ist für mich kein Problem, mein Problem

ist eher, dass ich nie einsam bin. Immer ist jemand um

mich herum!‹ So kann – je nach Kontext- Einsamkeit

oder Gemeinsamkeit gleichzeitig das Problem und die Lö-

sung sein.

›Aber wir sind in Afrika ... nicht die alte Klanstruktur

außer Acht lassen, deren oberstes Gesetz lautet: Teile al-

153

les, was du hast, mit deinen Brüdern, mit den anderen

Mitgliedern des Klans, oder wie man hier sagt, mit den

Cousins (in Europa ist die Bindung zwischen Cousins

ziemlich lose und schwach, in Afrika ist ein Cousin müt-

terlicherseits wichtiger als der eigene Ehepartner). D.h.

wenn du zwei Hemden hast, gib ihm eines ab, wenn Du

eine Schüssel Reis hast, gib ihm davon die Hälfte. Wer

gegen dieses Prinzip verstößt, verurteilt sich selbst zum

Außenseiter, dazu, aus dem Klan ausgestoßen zu werden,

zum Status des einsamen Individuums, ein Zustand, der

jeden mit Schrecken erfüllt. In Europa wird der Individu-

alismus hoch geschätzt, in Amerika sogar höher als alles

andere; in Afrika hingegen ist der Individualismus ein

Synonym für Unglück, ein Fluch oder eine Tragödie‹«.146

7.3 Der ganze Mensch – Leib und Seele

Es soll noch eine weitere spezielle Situation der »Multikul-

turalität« näher betrachtet werden. So wird klarer, welche

Unterschiede in der Vorstellung von emotionalem Zusam-

menhalten in Familien kulturell bestehen können:

»... zum anderen sind die Vorstellungen von pflegen und

gepflegt werden, wie sie auf unseren Krankenstationen

herrschen, denen, die unsere ausländischen Patienten

mitbringen, in weitem Umfange völlig entgegengesetzt.

Während hier die der Krankenpflege zugewiesene Aufga-

be sich mehr und mehr auf die Behandlung der Krankheit

richtet und dadurch immer weniger auf das Kranksein

des Patienten, ... ist es in all diesen Gesellschaften soziale

Verpflichtung (...), Kranken uneingeschränkt beizustehen.

So empfinden ausländische Patienten die in deutschen

Krankenhäusern geltenden Pflegeformen, die Stationsre-

154

geln und die ihnen zugewiesene Patientenrolle als fremd,

ja als unnatürlich.

Auch ihre Angehörigen, die gewohnt sind, einen Großteil

der pflegerischen Aufgaben zu übernehmen, fühlen sich

dadurch in die Distanz zu ihrem Angehörigen gedrängt

und ihrer sozialen Verpflichtung entzogen. Auch wenn sie

nicht in die Pflege einbezogen werden, so wird doch eine

dauernde Präsenz beim Kranken – auch nachts – ange-

strebt. Für Muslime ist es nicht nur soziale Verpflichtung,

sondern auch ein religiöses Gebot, das im Koran veran-

kert ist«.147

Für einen Nordeuropäer ist die Trennung des Kranken von

seiner Familie im Falle eines Krankenhausaufenthaltes selbst-

verständlich geworden. Wenn der Patient in einer Klinik sta-

tionär aufgenommen ist, reduziert sich die Anteilnahme, die

Bereitschaft zu Pflege und Unterstützung des Angehörigen auf

die Zeit des Besuches auf der Station – die in der Regel einge-

grenzt ist. Auch die Anteilnahme an der Erkrankung, an aku-

ten Schmerzen oder Schwächezuständen, ist naturgemäß

distanziert, wenn der Kontakt auf den Besuch reduziert ist.

Patienten, die Erfahrung mit einem solchen auf das Kranken-

hauspersonal delegierten Umgang mit Krankheit und Pflege

haben, werden sich darauf einstellen: Es kommt nicht ständig

Besuch, andere müssen arbeiten. Die Patienten werden ihre

Erwartungen vielleicht mehr auf das Fernsehen oder Lesen

richten als auf den mitfühlenden Besuch. Sie werden vielleicht

den erzwungenen Abstand vom Alltag als eine Chance zur

Ruhe und zum Rückzug nutzen. Sie werden ihre Erkrankung

als unabhängig von der sonstigen familiären Einbindung

erleben.

Wer aber gewöhnt ist, eine vertraute Gruppe um sich zu

haben, die vielleicht eine andere Sprache spricht als die der

Pflegenden und Ärzte, wird andere seelische Symptome ha-

ben. Er oder sie wird etwa mehr Angst bei Behandlungen

155

entwickeln und eventuell mehr unter der Einsamkeit leiden.

Daher mögen äußere Bedingungen in vielen Fällen auch di-

rekt auf das Befinden im Zusammenhang des Krankheits-

symptoms Einfluss haben; und so kann ein Magengeschwür

im einen Fall durch die Ruhe und die Medikamente heilen,

weil die Patientin nicht unter der Isolation vom Alltag leidet.

Im anderen Fall können Ruhe und Abgeschiedenheit von der

Außenwelt dazu beitragen, dass die Medikamente alleine

nicht erreichen, was die Mediziner versprechen.

Es liegen verschiedene Konstruktionen von dem vor, was

»Patientenwirklichkeit« sein kann und soll. Diese Konstruk-

tionen werden sowohl von Medizin und Krankenhaus her

vorgenommen, wie auch von den Patienten und ihrem famili-

ären Umfeld.

Es liegen darüber hinaus verschiedene Familienkonzepte

vor, von denen eines dem kulturellen Raum seit langer Zeit

angepasst ist, das andere sich aber erst an veränderte Um-

stände gewöhnen muss.

Fragmentarisierung wird im einen Falle als Selbstverständ-

lichkeit gelebt, im anderen Falle als Ausnahmezustand und

als Quelle von einer Mangelerfahrung.

Die ganzheitliche Auffassung von Leib und Seele und so-

mit die Vorstellung des ganzheitlichen Betroffenseins aller

Organe durch die Krankheit ist oft der Grund dafür, dass

Menschen aus traditionell geprägten Gesellschaften nicht

die Körperreaktion benennen wollen oder können, die

krank ist.

»Es ist für unsere ausländischen Patienten kaum vorstell-

bar, dass – wie im Denken unseres naturwissenschaftlich

orientierten Medizinsystems – ein Organ oder ein Körper-

teil krank sein soll und der Rest des Körpers gesund.

Aussagen wie ... ›alles krank‹, ›alles schmerzt‹, sind somit

nicht auf Sprachschwierigkeiten zurückzuführen oder gar

auf geringe Differenzierungsfähigkeit aufgrund mangeln-

156

der Intelligenz, sondern sind Ausdruck eines ganzheitlich

empfundenen Krankseins«.148

Ähnliches gilt im Hinblick auf die seelische Gesundheit. Sie

ist nur im ganzheitlichen System, das Körper und Seele um-

fasst, zu verstehen.

»Nicht die Leber hat sich pathologisch verändert, nicht

die Lunge ist ›geschrumpft‹, weder ›pumpt das Herz leer‹,

noch ist der ›Magen verschlossen‹, und genau so wenig

hat der Nabel seine Lage verändert, ist aus der Mitte ge-

wichen, sondern der Mensch hat ›seine Mitte verloren‹,

ist aus dem Gleichgewicht geraten, aus seiner Zentriert-

heit, und das will er uns durch diese Metapher sagen, in

der Hoffnung, dass wir ihn in seiner Ganzheitlichkeit, in

seiner leiblichen, seelischen und sozialen Befindlichkeit,

verstehen und ernst nehmen.

Können und wollen wir dies, werden wir vielen helfen

können, helfen können aus einer sehr bedrückten und

bedrückenden Situation herauszufinden«.149

Zimmermann beschreibt die »Narrativität« seiner Patienten

aus einer anderen Kultur im Hinblick auf deren »Organspra-

che«. Seelisches Leid wird im Körper lokalisiert und auf die-

sem Wege dem sprachlichen Ausdruck überhaupt erst zu-

gänglich.

Zimmermanns Bilder sind präzise, und sie vermitteln

nachvollziehbare Eindrücke aus der Sicht des Mediziners.

Leider differenziert Zimmermann unter den »ausländischen«

Kulturen nur sehr wenig. Er setzt südeuropäische und vor-

derasiatische Kulturen gleich, was sicherlich eine gewisse

Vereinfachung der Sichtweise ermöglicht. Dies mag Phäno-

mene, die der Mediziner beobachtet, ein Stück weit erklären.

Fragen nach sozialer Einordnung, nach den Auswirkungen

gesellschaftlicher Macht – und Verteilungsverhältnisse, klin-

157

gen an. Sicherlich spielen sie für die Beobachtbarkeit von

Krankheitsphänomenen unter MigrantInnen eine große Rol-

le. Denn über die gleiche ökonomische Situation, nicht so

sehr über gleiche kulturelle Vorgaben, ist das medizinische

Phänomen entstanden, das Zimmermann das »Gastarbeiter-

syndrom« nennt:

»So stellte ein Großteil der psychiatrischen und sozialpo-

litischen Untersuchungen ›außergewöhnliche Syndrome‹

heraus, die dann allgemein als ›Entwurzelungssyndrome‹,

als ›Heimwehkrankheit‹ oder ›nostalgisches Syndrom‹

klassifiziert wurden ... und schließlich dann als so ge-

nannte ›Gastarbeitersyndrome‹ in die medizinische Litera-

tur eingingen.« 150

Verhängnisvolle Missverständnisse in der Medizin und im

Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen entstehen na-

türlich vor allem dadurch, dass die Sprachen nicht ausrei-

chend beherrscht werden. Ein Beispiel des Nicht-Verstehens

der Sprache, das bis zur juristischen Konsequenz führte, hat

Ilhan Ilkilic gegeben, indem er das Missverständnis zwischen

türkischer Patientin und Arzt anlässlich einer Geburt und

anschließender Sterilisation schilderte.151 Ein anderes Beispiel

geben von Schlippe, El Hachimi und Jürgens. Es geht um die

Zustimmung zur Dialyse-Behandlung eines dreijährigen Kin-

des; Sprachprobleme wie auch die schwierige Vermittlung

inhaltlicher Sachverhalte machten es den Ärzten schwer, hier

zum für das Kind therapeutisch angemessenen Ziel zu kom-

men. Die Autoren resümieren: »Niemand ist nur für sich

allein krank.«152

Körperliche Krankheit liegt also auf der Schnittstelle bio-

logischer, psychologischer und sozialer Prozesse und ist

damit eingebunden in die jeweiligen kulturellen Zugänge.

Der ganze Mensch wird behandelt, nicht nur das jeweilige

Organ.

158

Zum Phänomen der kulturellen Divergenz gehören auch

religiöse Auffassungen:

»So wurde von den Eltern eines 15jährigen an Krebs er-

krankten türkischen Mädchens die Kommunikation mit

den Mitarbeitern des psychosozialen Dienstes gänzlich

abgebrochen und diejenige mit dem medizinischen Perso-

nal auf ein Minimum reduziert. ... Was war passiert? Den

Eltern war mitgeteilt worden, dass ihre Tochter die Be-

handlung nicht überleben werde und dass innerhalb der

nächsten Wochen mit ihrem Tod zu rechnen sei. Von ei-

nem anderen Vater türkischer Herkunft kam die Informa-

tion, dass der Grund des aktuellen Kontaktabbruchs dar-

in liege, dass die Eltern des Mädchens glaubten, nur der

Todesengel Ezrail könne Todesbotschaft überbringen.

Manchmal trete jedoch der Teufel in Menschengestalt auf

und bringe dadurch den Tod, dass er ihn voraussage. Für

solche Teufel wurden nun die Mitarbeiter und Mitarbei-

terinnen der Klinik gehalten: Ihre Vorhersage erst, so die

Sicht der Familie, habe den Tod herbeigerufen.«

7.4 Die universelle Methode des Erzählens

»Freundliche Rede lockt selbst

eine Schlange aus ihrem Loch«

(Arabisches Sprichwort)153

Zu Beginn des Kapitels 7 wurde die Frage aufgeworfen,

inwieweit eine Religion wie der Islam unter dem Begriff »Sys-

tem« zu fassen sei. Systeme sind wandelbar, und zwar durch

die bewusste und unbewusste Interaktion von Menschen.

Eine Religion fußt aber in ihrem Selbstverständnis auch

auf unwandelbaren Dokumenten, die als göttlichen Ur-

159

sprungs angesehen werden. Das gilt für die jeweiligen »heili-

gen Bücher«, aber auch für Erzählungen, Gesetze und Leh-

ren, die hohen normativen Wert haben.

Legenden aus dem Leben des Propheten, Lehren und Er-

zählungen von Sufi-Meistern, Hadithe des Propheten – sie

sind im guten Sinne Ausdruck der Phantasie und der Erzähl-

freudigkeit des Volkes. Sie werden aber sicher kaum als Zei-

chen von »Narrativität« von eben diesem Volk angesehen

werden. Dem Heiligen wohnt eine besondere, entrückte Di-

mension inne, die von normalen Erzählungen nicht eingeholt

werden kann. In jeder Volksreligiosität besteht die Tendenz,

aus Geschichten über heilige Personen Dogmen für das, was

diese Personen vermittelt haben, zu machen. An Dogmen

aber kann über die Jahrhunderte nichts mehr geändert wer-

den, sie garantieren unwandelbare Realität.

Wie unterschiedlich nimmt sich dazu der Begriff der »Nar-

rativität«, der Story aus, von der behauptet wird, sie sei in-

terpretierbar und wandelbar? Bei der es eine Umerzählung

und ein Reframing gibt.

7.4.1 Der Beitrag der Sprache

Sprache und alle Überlegungen zu deren Einsatz, ihrer

Formkraft, ihrer Schaffenskraft für die Ausbildung von Reali-

tät, stehen am Anfang der folgenden Ausführungen. Über

Sprache und Sprachen, eigene und fremde, wird jeder Zugang

zu Religion, Therapie und Medizin, zu Körper, Seele und

Geist, erst darstellbar und kommunizierbar. Beispiele erläu-

tern die Gefühlsimplikationen von Worten und Sachverhal-

ten:

»Auf einer Wanderreise durch den Atlas in Marokko sagt

der Bergführer zu dem begleitenden Dolmetscher: ›Bald

kommen wir an eine Stelle, wo wir schwimmen können!‹

160

Der Dolmetscher ermahnt die Reisegruppe, ihr Badezeug

bereitzuhalten. Als sie an den Ort kommen, findet sich

ein kleiner Bach, etwa knöcheltief mit Wasser gefüllt.

›Hey, du hast gesagt, wir können schwimmen!‹ sagt der

Dolmetscher. ›Können wir auch‹ ist die Antwort. Deut-

lich wird: Es gibt nur ein einziges Wort für Waschen und

Schwimmen – und in der Region ist es überhaupt nicht

üblich, zu schwimmen, so wie wir es in unserem Kultur-

kreis gewohnt sind. Wasser tritt dort, wenn überhaupt,

dann in Form von Rinnsalen und kleinen Bächen auf.

In den 30er Jahren prägten Sapir und Whorf die Hypo-

these von der linguistischen Relativität. Kurz gesagt, be-

deutet sie, dass äußerlich vergleichbare Begriffe in ver-

schiedenen Kulturen völlig unterschiedliche

Bedeutungsfelder besetzen können. Die Autoren gingen

bereits damals von der Überlegung aus, dass die Sprache

den Gedanken formt und dass in unterschiedlichen Kul-

turen durch unterschiedliche Sprachen ganz verschiedene

Bilder von Wirklichkeit erzeugt werden.«154

Nicht nur die objektive Wirklichkeit von »Baden« oder »Wa-

schen« ist hiervon berührt, sondern ebenfalls die Wirklich-

keit, die aus emotionaler Wahrnehmung entsteht:

»Auf einer Marokko-Reise hält ein Polizist uns wegen ei-

ner Verkehrsübertretung an. Nachdem er den (deutschen)

Ausweis des Fahrers (Mohammed) überprüft hat, lässt er

uns ohne Strafe weiterfahren. Auf erstaunte Nachfrage:

›Sie Armer, Sie müssen in der Fremde leben, sie sind ge-

straft genug!‹ In der ›Landkarte des Polizisten war ein

Aufenthalt in Deutschland nur als ›Strafe‹ vorstellbar, in

diesem Fall zu unserem Glück«.155

Emotionalität, die das »Eigene« als das Selbstverständliche

ansieht, belegt das »Fremde« mit Misstrauen. Begriffe, die

161

sprachlich verschieden ausgelegt werden können, verbinden

sich oft mit unterschiedlicher emotionaler Rezeption. Und so

entsteht ein neuer Sinn-Zusammenhang.

Neben der Formulierung dieser grundsätzlichen Fragen be-

schäftigt sich Theux-Bauer mit dem psychoanalytischen Wi-

derstand und der Übertragung auf eine nicht gleichsprachige

Therapeutin:

7.4.2 Sprache und Machtstrukturen

Sprache allein deckt aber nicht alle Wahrnehmungen der

Menschen in ihrem soziokulturellen Umfeld ab. Sprache ist

eingebettet in Strukturen, sie basiert auf Vorerfahrungen.

Eine Wahrnehmung kultureller Differenz unter dem Aspekt

der Machtfrage schlägt James Poling vor.156 Nicht jede Emp-

findung von Entwertung basiert allein auf frühkindlich-

familiären Erfahrungen, was natürlich auch ein Ausfluss von

Machtverhältnissen ist. Es kann aber ebenso eine reale, aktu-

elle Abwertung des erwachsenen Menschen aufgrund seiner

Rasse, seines Geschlechtes, seiner sozialen Situation vorlie-

gen. Er oder sie sieht sich vor einer Barriere, die weit weniger

zu überwinden zu sein scheint als es etwa in Erinnerung und

Aufarbeitung von Kindheits-Erlebnissen möglich ist.

»Nicht alle Unterschiede zwischen Personen und Grup-

pen können auf Sprache, Wissen, Einstellung, soziale und

materielle Erfahrung zurückgeführt werden. Manchmal

gibt es Unterschiede, die als Ungleichheiten oder als Un-

recht gekennzeichnet werden müssen ...

Wir müssen in der Lage sein, Einzelnen und Familien

Verständnis entgegenzubringen, deren Identität dadurch

beschädigt ist, dass ihre Kultur durch die Kultur der

Herrschenden beeinträchtigt und zerstört worden ist ...

162

Nach dieser Definition beruht kulturelle Vorherrschaft

a) auf einem System verkürzender Stereotypisierungen,

das b) die materiellen Lebensgrundlagen kontrolliert und

c) die eigene Kultur anderen als normativ aufzwingt.« 157

Es ist nicht zu übersehen, dass Poling für den amerikanischen

Kontext und seine speziellen Definitionen von Dominanz und

kultureller Subordination spricht. Dennoch verweist er auf

einen Gesamtzusammenhang, der auch für die Begegnung

zwischen Christentum und Islam, Okzident und Orient und

andere kulturelle Gegensätze zutrifft. Er erinnert an die

Grenzen der alles und alle verbindenden Sprache, die dann

gegeben ist, wenn Sprache zum Instrument wird – zum In-

strument der stärkeren Seite.

»Vorherrschaft erwächst aus einem System von Einstel-

lungen, Verhaltensweisen und Unterstellungen, das

Menschen nach sozial konstruierten Kategorien wie

Rasse, Geschlecht, Klasse etc. objektiviert und die

Macht hat, diesen Personen Autonomie, Zugang zu Res-

sourcen und das Recht auf Selbstbestimmung zu verwei-

gern, indem die Werte der vorherrschenden Gesellschaft

als die Norm gesetzt werden, an der alles andere gemes-

sen wird«.158

Sprache transportiert Einstellungen, nicht nur bewusste, son-

dern auch unbewusste Einstellungen. Was in Sprache ausge-

drückt wird, ist in der Psyche »vorsortiert« – in der Mutter-

sprache, in der fremden Sprache des Gastlandes. Liebe,

Angst, Abhängigkeit, Freude, Unterwerfung ... sie alle finden

ihren adäquaten Ausdruck – wenn der Mensch dazu fähig ist,

finden sie sich wieder in verschiedenen Sprachen, die unter-

schiedliche Nähe und Distanz zu dem jeweiligen eigenen Er-

leben des Sprechenden haben.

Eine machtgebundene Sprache wird immer auch psychi-

163

sche Repräsentanzen nutzen, die ihr helfen, Menschen zu

binden und zu unterjochen.

»Die Abwehrmechanismen, die aus dieser gewaltsamen

Konfrontation des Kolonisierten mit dem Kolonialsystem

entstehen, organisieren sich zu einer Struktur, in der sich

die kolonialisierte Persönlichkeit offenbart.«159

7.4.3 Religiöse Sprache und magisches Denken

Andere Konnotationen von Macht, Erzählen, Sprache als

Ausdruck von seelischen Bedingungen gehen von volksreligi-

ösen Vorstellungen aus. Luthfa Meah bestätigt mit ihren

Erkenntnissen die Wahrnehmung von Zimmermann, der das

Misstrauen eines Elternpaares gegenüber Diagnose und Me-

dizin westlicher Ärzte beschreibt. Diese Ärzte greifen mit

ihrer Diagnose in den Bereich der »Geister und Engel« der

islamischen Vorlksreligion ein, machen sich zu deren Kon-

kurrenz.

»Ein Grund dafür, dass Muslime zögern, die im engli-

schen Gesundheitssystem vorhandenen Einrichtungen zu

nutzen, liegt darin, dass sie misstrauisch gegenüber der

dort angewandten medizinischen Behandlung sind. Die

Patienten und ihre Familien erklären mentale und emoti-

onale Störungen von ihrem kulturellen Hintergrund her

und werden deshalb oft von dem medizinischen Personal

nicht verstanden. Zwei Phänomen werden immer wieder

als Ursache für Erkrankungen genannt: das eine ist die

Besessenheit von Geistern ( Jinn), das andere Schwarze

Magie (Jhado). Muslime glauben, dass neben den Men-

schen Geister als weitere Kreaturen existieren. Der Koran

sagt: ›Ich habe die Jinn und die Menschen nur darum ge-

164

schaffen, dass sie Mir dienen sollen‹ (Sure 51, 56). Die

Geister hält man für Geschöpfe, die für menschliche Au-

gen unsichtbar sind, sich jedoch im selben Luftraum auf-

halten und vornehmlich in »Wüsten, Ruinen und an un-

reinen Orten wie Dunghaufen, Badezimmern und

Friedhöfen« zu finden sind. Man geht davon aus, dass es

unter den Geistern Gläubige gibt, die nach den Regeln

des Korans leben. Daneben existieren unter den Geistern

Ungläubige, die Regeln übertreten und sich an Menschen

vergreifen. Wenn ein Geist in einen Menschen fährt, dann

geschieht dies aus verschiedenen Gründen, z.B. weil der

Geist diesen Menschen beneidet. Es kann aber auch sein,

dass ein Mensch die Privatsphäre eines Geistes stört und

dieser sich rächt.

Muslime glauben, dass Geistbesessenheit oder Schwarze

Magie Ursache für psychische Störungen sind, die an-

dernfalls als Schizophrenie, Angst oder Phobie, Depressi-

on, Zwangsvorstellungen, Hysterie oder Gedächtnisver-

lust diagnostiziert würden. Muslime gehen traditionell in

die Moschee zur Behandlung und bitten dem Imam um

Schutzgebete160, um Exorzismus von jeder Art der Geist-

besessenheit, um Amulette, die man trägt, um sich vor

der Wirkung Schwarzer Magie zu schützen. Weiteren

Schutz bietet das Trinken von Heiligem Wasser.« 161

So zieht Meah die Konsequenz, dass in vielen Fällen die

»westliche« Beratung und Psychotherapie von den Muslimen

emotional nicht verstanden wird, als zweitrangig und kultu-

rell unpassend betrachtet wird. Dies gilt – wie gesehen – auch

für andere Bereiche von medizinischer Diagnostik und The-

rapie. Gute psychische, auch physische Gesundheitsversor-

gung muss auf die speziellen spirituellen Bedürfnisse und

Vorstellungen kulturell divergierender Menschen eingehen.

Dies wiederum ist vorrangig eine Aufgabe der »Kommunika-

tion ohne Vorbehalte«, der Kommunikation, die die dargebo-

165

tenen Erzählungen als eine Form der Wirklichkeitskonstruk-

tion akzeptiert und mit ihnen wertschätzend umgeht.

Schlussfolgerung: Eine veränderte Story kann nur dann

überzeugt und überzeugend erzählt werden, wenn dafür ein

plausibler Grund eingetreten ist. Solange gilt die gewohnte

Interpretation.

7.4.4 Religiöse Sprache und therapeutische Sprache

Religiöse Sprache kann die psychischen Eigenschaften und

Auswirkungen von machtgebundener Sprache in sich tragen.

Magisches Denken fördert machtgebundene Sprache und

angstbesetzte Erzählungen. Für viele Verlautbarungen aus

islamischen Kulturen wird diese Behauptung gelten – zumin-

dest wird sie leicht aus der »westlichen Perspektive« unter-

stellt.

Religiöse Sprache steht daher vielfach im Gegensatz zu

therapeutischer Sprache, die alle Macht – Konnotationen

eher zu vermeiden versucht.

Um aber der »Narrativität« als universeller religiöser und

therapeutischer Qualität Ausdruck zu verleihen, ist es sinn-

voll, die verschiedenen Sprachebenen auf Ähnlichkeiten hin

zu befragen.

Jalaluddin Rakhmat, Mitglied eine zeitgenössischen indo-

nesischen Sufi – Ordens, erklärt therapeutisch- narrativ reli-

giöse Inhalte, indem er sie in die bekannten, volkstümlich

überlieferten Geschichten seiner islamischen Tradition einbet-

tet.

Abul Said Abul Khayr wird erinnert als der Sufi, der den

ersten Sufi-Orden gründete:

»Wenn einer seiner Schüler vor ihm einen Heiligen er-

wähnte, der über das Wasser gehen konnte, sagte er: ›Seit

unerdenklicher Vorzeit haben Frösche das schon immer

166

gekonnt!‹ Wenn er dann noch einen Heiligen erwähnte,

der fliegen konnte, gab er zurück: ›Mücken können das

besser!‹ Wenn der Schüler weiter nachfragte, was das bes-

te Zeichen zum Erweis von Heiligkeit sei, sagte er: ›Der

beste Weg, näher zu Gott zu kommen, ist, den besten

Dienst an der Menschheit zu tun, das Glück in ihre Her-

zen zu bringen‹.162«

Eine andere Geschichte wurde sehr berühmt:

»Die Kinder Israels sagten eines Tages zu Moses: ›Oh

Moses, wir wollen unseren Herrn zu einem Mahl einla-

den. Sprich mit Gott, damit er unsere Einladung an-

nimmt!‹ Moses gab wütend zurück: ›Wisst ihr denn nicht,

dass Gott jenseits dessen steht, dass er Nahrung nötig

hätte?‹ Aber als Moses auf den Berg Sinai stieg, sagte

Gott zu ihm: ›Warum hast Du mich von der Einladung

nicht unterrichtet? Meine Diener haben mich eingeladen.

Sag ihnen, dass ich zu ihrem Festessen am Freitagabend

kommen werde.‹

Moses sagte das seinen Leuten, und jeder begann, über

Tage hin große Vorbereitungen zu machen. Am Freitag-

abend kam ein alter Mann an, erschöpft von einer langen

Reise. ›Ich bin so hungrig, sagte er zu Moses. ›Bitte gib

mir irgendetwas zu essen!‹ Moses sagte: ›Hab Geduld.

Der Herr aller Welten kommt gerade. Nimm diesen Krug

und hol etwas Wasser. Du kannst auch noch bei der Be-

dienung helfen. Der alte Mann brachte Wasser und fragte

dann nochmals nach Essen. Aber es wollte ihm niemand

zu essen geben, bevor der Herr eingetroffen wäre. Es

wurde später und später, und schließlich begann jeder,

Mose zu kritisieren, weil er sie in die Irre geführt hätte.

Moses bestieg den Berg Sinai und sagte: ›Mein Herr, ich

muss mich jetzt vor jedermann schämen, weil Du noch

nicht gekommen bist, wie Du es versprochen hattest zu

167

tun.‹ Gott erwiderte: ›Ich bin doch gekommen: Ich bin ja

direkt auf Dich selbst zugegangen! Aber als ich Dir sagte,

ich sei hungrig, hast Du mich zum Wasserholen ge-

schickt. Ich habe Dich dann nochmals gefragt, wurde

aber zum Bedienen geschickt. Weder Du noch Deine Leu-

te waren in der Lage, mich in Ehren zu empfangen.‹

›Mein Herr, ein alter Mann kam und fragte mich nach

Essen. Aber er war nur ein Sterblicher.‹«

Nun schlägt die anschauliche Narrativität dieser Geschichte,

die therapeutischen Wert hat, um in die Zitation einer religi-

ösen Belehrung:

»Ich war mit jenem, meinem Diener zusammen. Ihn zu

ehren hätte bedeutet, mich zu ehren. Ihm zu dienen wäre

mir zu dienen gewesen. Alle Himmel sind zu klein, um

mich zu fassen, aber nicht die Herzen meiner Diener. Ich

esse nicht und trinke nicht – aber meine Diener zu ehren,

das ist, mich zu ehren. Für sie zu sorgen, das ist, für mich

zu sorgen«.163

Macht (Gottes) wird in diesem Kontext als höchstes vor-

bildliches Dienen angesehen, Lehre im Gewand der Erzäh-

lung vorgeführt. Sprache zielt auf Begegnung in vielen Ebe-

nen.

Eine »aufgeklärte« islamische Theologie bedient sich hier

der Erzählsprache.

Ein wenig erinnert diese Form der Erzählung an Jesu

Gleichnisse, deren Einfachheit im Setting und deren Facetten-

reichtum in der Bedeutung. Die Geschichte zielt darauf ab,

rationale und emotionale Einsicht zu erwirken, Angst, Ab-

hängigkeit und Magie zu reduzieren. Es kommt nicht darauf

an, sich Gott gewogen zu machen durch devote Haltung,

sondern ihn sich zum Freund zu machen durch Nachahmen

seiner Qualitäten. In dieser Sprache verbinden sich verschie-

168

dene theologische Strömungen, Lehrtradition und Erzähltra-

dition – zu einer überzeugenden Synthese.

7.5 Islamische Narrativität und kulturell sensibles Verstehen

Jalaluddin Rakhmat erzählt eine Geschichte aus seiner

Praxis als Sufi – berater in Indonesien:

»Frau Tommy ist eine Frau um die 40. Sie war fünfzehn

Jahre lang verheiratet. Jahrelang haben sie und ihr Mann

glücklich in einer ziemlich stabilen Familie gelebt. Sie hat

zwei Kinder. Ihr Ehemann hat ein gutes Geschäft, und sie

leitet ein Ausbildungsunternehmen. Eines Nachts wacht

sie schweißgebadet auf. Jemand flüsterte unaufhörlich:

›Töte deinen Mann!‹ ›Töte deine Kinder!‹

Ihr war bewusst, dass es ein Wahn war. Trotzdem fürch-

tete sie sich, dass sie eines Tages töten würde. Schrecken

und Furcht, mit Zweifel vermischt, waren die deutlichen

Zeichen eines Angstzustandes. Sie ging zu einem Psychia-

ter, der fragte, ob sie irgendeine Droge genommen habe.

Sie bestätigte das, aber sie habe Drogen lange Zeit vor ih-

rer Hochzeit genommen. Sie habe sehr wenig genommen,

einfach um in ihrer Gruppe ›dazu zu gehören‹. Der Arzt

verschrieb ihr ein bestimmtes Medikament, dessen Name

sie mir nicht mitteilte.

Der in der Stadt bekannte Psychiater hatte sehr wenig

Zeit für Gespräche. Sie war enttäuscht. Viele Freunde

empfahlen ihr, traditionelle Glaubensheiler aufzusuchen.

Sie ging von Glaubensheiler zu Glaubensheiler. Die Angst

blieb. Schließlich kam sie zu mir... Sie hatte auch von ei-

nigen Glaubensheilern erfahren, dass die Krankheit von

einem Jinn164 hervorgerufen sein könnte. Sie bat um mei-

169

ne Hilfe, um den verstörenden Jinn loszuwerden.«

Rakhmat schickt die Frau zu einem Exorzisten, der sie von

dem bösen Geist befreien soll:

»Sie rief mich später an und sagte, sie misstraue der Be-

handlung meines Freundes. ... Während sie medizinisch

behandelt wurde, wurde sie gelehrt, einen bestimmten

Gottesnamen in einer bestimmten Weise fortlaufend auf-

zusagen. Sie lernte, sich auf die Namen Allahs zu kon-

zentrieren und die bösen Gedanken loszuwerden. Sie hör-

te dem Verlesen des Korans zu und meditierte die

Übersetzung.

Es ist meine Gewohnheit, jede Sitzung mit einem Gebet

zu beschließen. Gerade als ich zu einer Konferenz abreis-

te, kam sie zu mir. Sie sage, sie fühle sich besser. Sie ver-

sprach, das zikr165, das ich ihr empfahl, zu verrichten und

während meiner Abwesenheit meinen Freund aufzusu-

chen. Wir beteten zusammen. Ich versprach ihr, sie in

meine Gebete einzuschließen. Die Geschichte ist jedoch

noch nicht abgeschlossen«.166

Ein »Reframing« dieser Story ist also möglich – dies sicher-

lich nicht in der Terminologie der Familientherapie, aber

vielleicht in deren Geist. »Unic outcomes« – »Ent-

unterwerfung« – mit diesen Begriffen arbeitet westliches the-

rapeutisches Denken. Es schafft zum Teil Externalisierungen,

es schafft erst eine eigene »therapeutische« Bildsprache aus

den Impulsen des Unbewussten, um zu fokussieren.

Islamische Volksreligiosität dagegen bietet die Fokussie-

rung der Impulse aus dem Unbewussten, nicht nur des einzel-

nen Menschen, sondern eines kollektiven Unbewussten be-

reits in den Jinn. Hier geht es darum, diese entstandene,

internalisierte Fokussierung eher zurück zu drängen, um in

den Bildern des mythologischen Rahmens, aber mit einem

170

gewissen interpretativen Spielraum einen neuen Lebensent-

wurf »nach vorne« zu wagen. Gebet und das rituelle Erin-

nern und Wiederholen der guten Namen Gottes binden die

Angst vor dem eigenen Unbewussten und seinen Konfigurati-

onen. Die Klientin bleibt »auf dem Punkt« und fällt nicht

zurück.

Offen bleibt die Frage nach Mühen, intellektuellem und

seelischem Aufwand einer tiefenpsychologischen Durcharbei-

tung dieses mythologischen Denkens und seiner Symbolisie-

rungen. In ihr dürfte sicherlich das langwierigste und kompli-

zierteste Unterfangen zu sehen sein. Zudem ist dies nicht

theoretisch möglich, sondern im Sinne des ethnopsychoanaly-

tischen Ansatzes im begegnenden Sich-Hinein-Begeben in die

Situation der muslimischen Menschen.

Offen bleibt ebenfalls, ob dieser »westliche« Denk-Zugang

für Muslime aus ihren theologischen und praktisch- volksre-

ligiösen Vorstellungen heraus in größerem Umfang und in

absehbarer Zeit akzeptabel werden kann. Laabdalloui/ Rü-

schoff sehen das für die deutsche Situation als möglich an:

»Ähnliches gilt für bestimmte Persönlichkeitsstörungen,

die mit extremen Stimmungsschwankungen, Selbstverlet-

zungen und Leistungsversagen einhergehen. Mit diesen

Patienten arbeiten einige muslimische Therapeuten seit

Jahren recht erfolgreich mit einem aus der Psychoanalyse

und verwandten Schulen abgeleiteten Therapieverfahren,

auch wenn Freud völlig inakzeptable Aussagen über die

Religion gemacht hat. Die Erfahrung mit den Patienten

zeigt es: Sie werden ausgeglichener, bestehen besser in

schwierigen Lebenssituationen, im Beruf und in ihrer Fa-

milie. Auch ihr Verhältnis zu Gott entspannt sich: Wo

vorher vielleicht nur Angst war, ist mehr Vertrauen ent-

standen, ist das Gebet nicht mehr nur ängstliche Pflicht,

die bei Verletzung mit Strafe bedroht wird, sondern ver-

mittelt Ruhe und Geborgenheit.

171

Das Problem der Verwendung ›westlicher‹ Therapie-

schulen sind weniger die Methoden selbst, sondern ihre

unterschiedliche Durchführbarkeit bei verschiedenen Pa-

tienten, ...«167

Da Beratung, Therapie und Seelsorge im Falle des Islams wie

des Christentums unterschiedliche kulturelle Zusammenhän-

ge umspannen und in rationaler und mythologischer Einbet-

tung geschehen, sind die Formen auch völlig verschieden.

Laabadallaoui / Rüschoff sprechen von der »Landkarte des

Menschen«:

»Alle zeichnen daher eine ›Landkarte« des Menschen, die

keinesfalls mit der ›Landschaft‹, also dem Menschen

selbst, verwechselt werden darf ... So wie sich eine Wan-

derkarte von einer Straßenkarte oder einer Seekarte un-

terscheidet, sind auch Psychotherapieverfahren für unter-

schiedliche Störungen unterschiedlich geeignet ...«168

Landkarten können auch Umstände darstellen, die historisch

gewachsen sind – eine Morphologie der Oberfläche, die sich

in vielen Jahrhunderten zu dem geformt hat, was sie ist und

die zudem vieles mit abbildet, was neuerlich wieder in ande-

rer Form entstanden ist.

Damit möchte ich schließen und überleiten von der mo-

dernen zur traditionellen Psychologie des Islam. In beiden

Kontexten werden sich Muslime zukünftig bewegen, in

Deutschland und in vielen anderen, sich wandelnden kultu-

rellen Kontexten. Für Deutschland zitiere ich noch einmal

Laabdalloui/ Rüschoff:

»Was Muslime anbieten können, ist die Bereitschaft zur

eigenverantwortlichen Mitgestaltung unserer Gesellschaft

auf der Grundlage der bereits erwähnten Anerkennung

und Respektierung der Verfassung und der bestehenden

172

Rechtsordnung. Dazu gehört gerade auch die islamische

Ethik als gottergebene Lebensweise. Diese Möglichkeit,

hier und dort auch anders sein zu dürfen, könnte eine Be-

reicherung für eine zunehmend vom Materiellen be-

stimmte Gesellschaft sein. Muslime sollten wählen, sich

politisch und sozial engagieren, Kindergärten und Schu-

len betreiben wie andere auch, unser Land verteidigen

oder Ersatzdienst leisten, als Frauen und Männer Berufe

lernen und studieren und ihre Kinder zu gottesfürchtigen

Menschen erziehen. Die Möglichkeiten und Grenzen die-

ser Teilhabe sind allerdings nicht fertig vorhanden und

können vor allem auch nicht aus den sog. ›islamischen‹

Ländern importiert werden, sondern müssen in Europa

von europäischen Muslimen auf den Grundlagen und im

Geiste ihrer Religion ohne Ratschläge von außen entwi-

ckelt werden. Dies ist ein Prozess, der viel Kompetenz

und auch viel Zeit benötigt.«169

Dies gilt für die speziellen Fragen nach Migration und Integ-

ration, die in Europa gestellt werden. Für den Islam im weit-

läufigen Kontext Asiens mögen andere Zugänge hilfreich

sein. Mit diesen, traditionelleren Aspekten möchte ich nun

schließen. Die psychologisch sensible, anthropologisch orien-

tierte Sprache im Sufismus kann beitragen zum religiös- the-

rapeutischen Diskurs im Islam. Sie ist poetisch: Und so gehört

sie ganz sicher mit zu den Wegbereitern therapeutischer Ge-

danken.

Ein Gedicht Rumis

Lasst uns uns neu verlieben

Und Goldstaub über die ganze Welt verstreuen.

Lasst uns zu einem neuen Frühling werden

Und fühlen, wie die Brise mit himmlischem Duft driftet.

Lasst uns die Erde mit Grün einkleiden

173

Und- wie der Saft eines jungen Baumes –

Lasst zu, wie die Gnade uns von innen stützt.

Lasst uns aus unseren versteinerten Herzen Edelsteine

schnitzen

sie sollen unseren Pfad zu der Liebe hin erleuchten.

Der Glanz der Liebe ist kristallkar

Und durch sein Licht sind wir gesegnet.170

und eine letzte Geschichte, die von der sensiblen Wahr-

nehmung spricht, können das verdeutlichen:

»Vor langer Zeit war einmal die Mutter eines der

ottomanischen Sultane sehr den caritativen Stiftungen zu-

getan. Sie baute Moscheen und große Hospitäler und ließ

öffentliche Brunnen graben in Teilen von Istanbul, die bis

dahin ohne Wasser waren. Eines Tages ging sie und beo-

bachtete den Bau des Hospitals, das sie gerade errichten

ließ. Da sah sie, wie eine Ameise in den nassen Beton des

Fundamentes fiel. Sie hob die Ameise aus dem Beton her-

aus und setzte sie auf den Boden.

Einige Jahre später verstarb sie. In der Nacht erschien sie

einer Reihe ihrer Freunde im Traum. Sie erstrahlte vor

Freude und innerer Schönheit. Ein Freund fragte sie, ob

sie ins Paradies gekommen sei wegen all ihrer wunderba-

ren mildtätigen Stiftungen. Aber sie antwortete: ›Ich bin

im Paradies, aber nicht wegen dieser Stiftungen. Es ist um

einer Ameise willen‹«.171

174

Anmerkungen

1 Ilhan Ilkilic: Begegnung und Umgang mit muslimischen Patienten, S. 17,

Bochum 2005

2 Heinrich Schipperges: Gesundheit und Gesellschaft, 2003, hier zitiert in:

Ilhan Ilkilic: Gesundheitsverständnis und Gesundheitsmündigkeit in der

islamischen Tradition, S. 1, Bochum 2005

3 Ilhan Ilkilic: Gesundheitsverständnis und Gesundheitsmündigkeit in der

islamischen Tradition ..., S. 2, Bochum 2005

4 Die hauptamtlichen Religionsbeauftragten und Führer der islamischen

Gemeinden

5 Zitat aus den Schriften eines frühen islamischen Mediziners, Ali b.Sahl

Rabban at-Tabari (gest.nach Chr. 855), hier in: Ilhan Ilkilic, Gesund-

heitsverständnis und Gesundheitsmündigkeit in der islamischen Traditi-

on ... S. 4

6

hellenistischer Mediziner

7 Ilhan Ilkilic: Gesundheitsverständnis und Gesundheitsmündigkeit in der

islamischen Tradition, S. 6

8 s.o., S. 6

9 s.o., S. 7

10

s.o., S. 7

11

s.o., S. 7

12

Hadithe sind Aussprüche des Propheten Mohammed, die von seinen

Anhängern gesammelt und aufgeschrieben wurden und die der korani-

schen Tradition beigegeben wurden. Sie dienen oft auch als Grundlage

für Rechtsfindungen

13

Ilhan Ilkilic: Gesundheitsverständnis und Gesundheitsmündigkeit in der

islamischen Tradition ..., S. 9

14

Ilhan Ilkilic: Gesundheitsverständnis und Gesundheitsmündigkeit in der

islamischen Tradition ..., Zitat von Said Ibn al Hassan, S. 16

15

Ilhan Ilkilic, Irfan Inse, Azra Porgholam-Ernst: E-Health in muslimi-

schen Kulturen, S. 10

16

Ilhan Ilkilic: Gesundheitsverständnis und Gesundheitsmündigkeit in der

islamischen Tradition, S. 20

175

17

Heinrich Schipperges, 1985, hier in: Ilhan Ilkilic: Gesundheitsverständ-

nis und Gesundheitsmündigkeit in der islamischen Tradtion ..., S. 7 18

Zitat Al Ghassali, in: Ilhan Ilkilic: Gesundheitsverständnis und Gesund-

heitsmündigkeit in der islamischen Tradition ..., S. 8 19

Sufismus ist hier der Sammelbegriff für die mystischen Strömungen des

Islams, hier dargestellt in: Annemarie Schimmel: Mystische Dimensio-

nen des Islam. Die Geschichte des Sufismus, Frankfurt /Main 1995 20

Anatolisch-persischer Mystiker, Begründer des Ordens der tanzenden

Derwische 21

Annemarie Schimmel: Mystische Dimensionen des Islam, S. 270 22

s.o., S. 572 23

Christlich-muslimisch-jüdische Pfingsttagung der Akademie Arnolds-

hain 2006, Thema: Gerechtigkeit hat viele Gesichter 24

Ich verweise auf die Darstellung Qasim Amins, Sozialreformer im 19.

Jahrhundert in Ägypten, in: Ulrike Elsdörfer, Frauen in Christentum

und Islam, S. 106 ff. 25

Ilhan Ilkilic: Modernisierungs- und Verwestlichungs-Diskussionen und

bioethische Fragen am Beispiel innerislamischer Diskurse, in: T. Eich

(Hg.): Instrumentalisierung des Kulturbegriffs, 2005 26

Ilhan Ilkilic: Modernisierungs- und Verwestlichungsdiskussionen ..., S. 3 27

s.o., S. 4 28

Ilhan Ilkilic: Modernisierungs ..., hier wird der pakistanische Biologe

und Islamwissenschftler Munawar Ahmad Anees zitiert, S. 7 29

Ilhan Ilkilic: Modernisierungs- und ..., S. 9 30

Im Folgenden werden Erhebungen und Fakten referiert, die unter dem

Titel »E-Health in muslimischen Kulturen« von Ilhan Ilkilic, Irfan Ince

und Azra Pourgholam-Ernst zusammengestellt wurden 31

Ilhan Ilkilic: E-Health in muslimischen Kulturen, S. 9 32

s.o., S. 10 33

s.o., S. 10 34

Ilhan Ilkilic: Gesundheitsverständnis und Gesundheitsmündigkeit in der

islamischen Tradition, S. 6 35

Annemarie Schimmel: Mystische Dimensionen des Islam, S. 256 ff. 36

lat: In einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist 37

Hier ist besonders auf die grundlegenden Ansätze von Dietrich Stoll-

berg: Therapeutische Seelsorge, 1969, von Joachim Scharfenberg: Reli-

gion zwischen Wahn und Wirklichkeit, 1972 und Klaus Winkler: Seel-

sorge, 2. Aufl. 2000 zu verweisen. Daneben geben Jürgen Ziemer:

Seelsorgelehre, 2000, Michael Klessmann: Pastoralpsychologie, 2004

und Susanne Heine: Grundlagen der Religionspsychologie, 2005, um-

fassende Auskünfte über den Stand der jeweiligen Diskussionen

176

38

Annemarie Schimmel: Mystische Dimensionen des Islam, S. 268 ff. 39

s.o. 40

s.o, S. 270 41

s.o., S. 271 42

s.o., S. 272 43

s.o., S. 274 44

S.S.Balic: Stichwort »Seelsorge«, Abschnitt »Islam«, in: A.T. Khoury,

Lexikon religiöser Grundbegriffe., Köln, Graz, Wien 1987 45

Halima Krausen: Seelsorge im Islam, in: U.Pohl-Patalong: Seelsorge im

Plural, S. 233 46

Ismail Altintas: Islamische Seelsorge in der Praxis, Aufsatz 2005 47

Ismail Altintas: Islamische Seelsorge in der Praxis 48

Ismail Altintas: Islamische Seelsorge in der Praxis 49

Halima Krausen: Seelsorge in Islam, S. 234 50

s.o., S. 237 51

s.o., S. 139 52

Ismail Altintas: Islamische Seelsorge in der Praxis 53

Ilhan Ilkilic: Gesundheits-und Krankheitsverständnis der Muslime als

Herausforderung für das deutsche Rechtswesen, S. 6 54

s. o ., S. 8 55

Ilhan Ilkilic: Begegnung und Umgang mit muslimischen Patienten,

Bochum 2005, S. 48 56

s.o., S. 49 57

s.o., S. 50 58

Kurt W. Schmidt, Gisela Egler: Den Christen ein Christ, den Muslimen

ein Muslim? Überlegungen zu einer protestantischen Sicht interreligiöser

Seelsorge im Krankenhaus, in: ( Klinik-) Seelsorge im multireligiösen

Kontext, 1999 59

s.o., S. 35 60

Näheres hierzu in: Ulrike Elsdörfer: Frauen in Christentum und Islam,

Königstein 2006 61

Eva Butt: Ehebegleitung, in: Handbuch interkulturelle Seelsorge, Neu-

kirchen 2002 62

s.o., S. 144 Greverus, Zitat aus : K. Jacobs (Hg.): Beratung im interkul-

turellen Kontext 63

s.o., S. 144/45 64

s.o., S. 146-149 65

Regine Froese: Christlich-muslimische Erziehung 2004, in :WzM, Heft

3, 2005, S. 229 ff 66

Bärbel Beinhauer-Köhler: Formen islamischer Wohlfahrt in Deutsch-

land, in: THEION, Diakonie der Religionen 2, 2005, S. 76

177

67

s.o., S. 77 68

Ich verweise auf meine Ausführungen unter dem Kapitel 1.4. 69

Al-Qazwini: Die Wunder des Himmels und der Erde, hier in: Beinhauer-

Köhler, S. 88 70

s.o., S. 88 71

Ich verweise auf mein Kap. 1.4 und 2.2.1 dieses Buches 72

Aussprüche und Lehrmeinungen des Propheten Mohammed 73

s.o., S. 86 74

s.o., S. 90 75

s.o., S. 152 76

s.o. 77

Yasar Colak: Religiöse Dienstleistungen in der Türkei, in: THEION;

Diakonie der Religionen 2, S. 11 78

s.o., S. 11/12 79

s.o., S. 17 80

s.o., S. 18/19 81

s. Kapitel 3.6 dieses Buches 82

Beinhauer-Köhler berichtet von einer von ihr durchgeführten Umfrage

unter Muslimen 83

Beinhauer-Köhler: Formen islamischer Wohlfahrt in Deutschland, in :

THEION, S. 159, 2005 84

s.o. 85

Arbeitsbericht der Tagung »Alt werden in der neuen Heimat« der

Diözese Rottenburg-Stuttgart, Mai 2006 86

Frankfurter Rundschau vom 18.7. 2006: Die Stadt Wiesbaden hat die

Broschüre »Wohnanlage für ältere Menschen« ins Türkische übersetzen

lassen. Damit sollen sich künftig auch türkisch sprechende Senioren in

Wiesbaden über das Angebot der Altenwohnanlagen informieren kön-

nen. 87

Luthfa Meah: Die muslimische Gemeinschaft und die Behandlung von

psychischen Erkrankungen, in: Weiß, Federschmidt, Temme: Ethik des

Helfens in verschiedenen Religionen, S. 159 88

s.o., S. 160 89

s. Kapitel 6, Einleitung 90

Emil Zimmermann: Kulturelle Missverständnisse in der Medizin. Aus-

ländische Patienten besser versorgen, Bern 2000 91

Für türkischstämmige Patienten ist die Leber der Sitz emotionaler Be-

findlichkeiten, sie gilt als ein sehr sensibles und anfälliges Organ. Wenn

sie als krank bezeichnet wird, betrachtet sich der Patient insgesamt als

sehr krank – so Zimmermann: Kulturelle Missverständnisse in der Me-

dizin, S. 48

178

92

s.o., S. 64 93

s.o., S. 156 94

s.o., S. 158 95

Kapitel 7 96

Laabdallaoui, Rüschoff: Ratgeber für Muslime bei psychischen und

psychosozialen Krisen, 2005 97

Geister, die im Bereich der islamischern Volksreligion bekannt sind. Ihre

Existenz ist im Koran begründet 98

Laabdalloui, Rüschoff: Ratgeber für Muslime ..., S. 17 99

s.o., S. 21 100

deutscher Psychiater, der grundlegende Forschungen in der Psychiatrie

betrieben hat 101

Passagen des Kapitels 5.4.1 sind entnommen aus: Eckhardt Koch, Kurt

Heilbronn, Meryam Schouler-Ocak: Deutsch-Türkische Gesellschaft für

Psychiatrie, Psychotherapie und psychosoziale Gesundheit ( DTGPP

e.V.). Entstehungsgeschichte, Entwicklung, Ziele und Ausblick, Internet

www.dtgpp.de, 2006 102

Ilhan Ilkilic: Gesundheits- und Krankheitsverständnis der Muslime als

Herausforderung für das deutsche Rechtswesen, in: Globalisierung in

der Medizin, Aufsatz Berlin 2005 103

s.o. 104

Johannes Reichmayr: Ethnopsychoanalyse, S. 32, 2003 105

Das Gewissen in psychologischer Sicht, in: Das Gewissen, Studien aus

dem C.G. Jung-Institut, S. 199ff., Zürich 1958 106

Passagen dieses Textes entstammen einer Seminararbeit von Jannis

Hissler, Goethe-Universität Frankfurt/M., 2006 (Seminar: Ethik des

Helfens im Kontext verschiedener Religionen, U. Elsdörfer) 107

Teilweise Zitate aus der religionswissenschaftlichen Seminararbeit von

Julia Scheller, Goethe-Universität Frankfurt/Main, 2006 ( Seminar : E-

thik des Helfens im Kontext verschiedener Religionen, U.Elsdörfer) 108

Johannes Reichmayr: Ethnopsychoanalyse, S. 258 109

s.o., S. 221, 225 und 258 110

Möhring/ Apsel: Interkulturelle psychoanalytische Therapie, 1995 111

Johannes Reichmayr: Ethnopsychoanalyse, S. 244 112

s.o., S. 244/245 113

Peter Möhring: Kultur, Krankheit und Migration, in: Peter Möhring,

Roland Apsel: Interkulturelle psychoanalytische Therapie, S. 100 114

Christoph Morgenthaler: Systemische Seelsorge, S. 60-62, 1999 115

s.o., S. 146-164 116

Passagen dieses Textes wurden entnommen aus der Seminararbeit von

Linda Smith, Goethe-Universität Frankfurt/Main, 2006 (Seminar: Ethik

179

des Helfens im Kontext verschiedener Religionen, U. Elsdörfer)

117 Christoph Schneider-Harpprecht: Interkulturelle Seelsorge, Habilitati-

onsschrift, 2001 118

s.o., S. 177 119

s.o., S. 178/179 120

Michael White, David Epston: Narrative means to therapeutic ends,

New York 1990 121

Der amerikanische Psychotherapeut Carl R. Rogers begründete in den

50er und 60er Jahren des 20.Jahrhunderts die klienten-zentrierte Ge-

sprächspsychotherapie. Im Mittelpunkt dieser Theorie steht die »bedin-

gungslose Annahme« des Klienten, seiner gefühlsmäßigen und sprachli-

chen Äußerungen – als Methode gilt das »Spiegeln« der Aussagen und

Emotionen; damit sollen Denk- und Verhaltensweisen bewusst gemacht

werden,damit sie anschließend reflektierend durchgearbeitet werden

können. 122

Christoph Schneider-Harpprecht: Interkulturelle Seelsorge, S. 194 ff. 123

Michael White, David Epston: Narrative means to therapeutic ends 124

s.o., S. 194 125

s.o., S. 196 126

s.o., S. 299 127

s.o., S. 299 128

s.o., S. 304 129

Ich verweise auf meine Ausführungen in Kap. 5.1. 130

Ingrid Genkel, Jens Müller-Kent: Leben werten? 1998, S. 49 131

Ich verweise auf meine Ausführungen in Kapitel 2 132

Dietrich Ritschl: Konzepte, Ökumene, Medizin, Ethik. Gesammelte

Aufsätze, 1986, S. 255 133

s.o., S. 51 134

Dietrich Ritschl, Hugh. O. Jones: »Story« als Rohmaterial der Theolo-

gie, 1976, S. 18 ff. 135

Emil Zimmermann: Kulturelle Missverständnisse in der Medizin, S. 140 136

Dietrich Ritschl, Hugh O. Jones: »Story« als Rohmaterial der Theolo-

gie, 1976, S. 209 ff. 137

Annemarie Schimmel: Mystische Dimensionen des Islam, S. 268 ff. 138

Schneider-Harpprecht, S. 183/184 139

Tom Anderson, (Hg.): The reflecting team, hier in: Schneider-

Harpprecht, S. 184 140

s.o., S. 184 141

José Szapocznik, William M. Kurtines: Family Psychology and cultural

diversity: Opportunities for theory, research, and application. In.

Schneider-Harpprecht: S. 182

180

142

s.o., S. 182 143

Arist von Schlippe, Mohammed El Hachimi, Gesa Jürgens: Multikultu-

relle systemische Praxis, Heidelberg 2004 144

s.o., S. 135 145

s.o., S. 73 146

Kapuscinski 1999, S. 39 ff.: In: s.o., S. 98 147

Emil Zimmermann: Kulturelle Missverständnisse in der Medizin. Aus-

ländische Patienten besser versorgen, S. 65 148

Emil Zimmermann: Kulturelle Missverständnisse in der Medizin, S. 50 149

s.o., S. 148 150

s.o., S. 31 151

s. die Einleitung zu Kapitel 6 152

Schlippe, El Hachimi, Jürgens: Multikulturelle systemische Praxis, S.

211/ 212. Im genauen Wortlaut heißt es hier: »Die dreijährige Halime

wurde wegen Niereninsuffizienz auf der Dialysestation einer Klinik be-

handelt. Eine Zwillingsschwester von Halime war im März des Jahres

kurz nach Dialysebeginn auf der Intensivstation in der Klinik verstor-

ben. Alle drei Kinder leiden bzw. litten an folgenden Störungen: Nieren-

insuffizienz, Sehfehlern, geistiger Behinderung. Die ältere Tochter wird

bereits dialysiert ... Die Gesprächsinhalte werden in dem folgenden be-

schriebenen Gespräch übersetzt, auch Herr B., – in Deutsch angespro-

chen – antwortet in seiner Muttersprache.

Der Gesprächsanlass: Dem überlebenden Zwillingsmädchen Halime

soll unter Narkose ein Katheter eingepflanzt werden, da sein Gesund-

heitszustand eine Narkose erfordert. Die Eltern verweigern den Eingriff.

Sie wollen die Tochter mit nach Hause nehmen. In einem gemeinsamen

Gespräch mit Ärzten, einer Krankenschwester, einer Mitarbeiterin des

psychosozialen Dienstes und einer türkisch sprechenden Familienthera-

peutin sollen einerseits die Eltern noch einmal – diesmal in ihrer Mut-

tersprache – über den Zustand ihrer Tochter und die Notwendigkeit der

Dialyse als lebenserhaltende Maßnahme aufgeklärt werden. Anderer-

seits sollen die Gründe für die Haltung der »einfach strukturierten« El-

tern eruiert werden.

Das Gespräch ergibt Folgendes: Die Eltern hatten weder verstanden, in

welchem gesundheitlichen Zustand ihre Tochter (Halimes Zwillings-

schwester) auf die Intensivstation verlegt worden ist, noch wie und wa-

rum sie dort behandelt wurde, und letztlich auch nicht, warum sie ge-

storben ist. Die Zustimmung zur Einpflanzung des Katheters

verweigerten sie aus zwei Gründen. Zum einen ging es ihrer Tochter ih-

rer Meinung nach so gut, dass eine Dialyse nicht notwendig war, zum

anderen befürchteten sie auch, dass das Mädchen genauso wie die kurz

181

vorher verstorbene Schwester aus der Narkose nicht mehr aufwachen

könnte. Im Gespräch konnten die Eltern überzeugt werden, dass der

Gesundheitszustand ihrer Tochter eine Dialyse notwendig machte. Ihre

Einschätzung, dass die ›falsche‹ Behandlung ihrer anderen Tochter de-

ren Tod verursacht hatte, konnte jedoch nur teilweise korrigiert wer-

den.« 153

von Schlippe, El Hachimi, Jürgens: Multikulturelle systemische Praxis,

S. 75 154

von Schlippe, El Hachimi, Jürgens: Multikulturelle systemische Thera-

pie, S. 54 155

s.o., S. 98 156

Wahrnehmung kultureller Differenz und die Machtfrage. In: Hau-

schildt, Schneider-Harpprecht, Temme, Weiß: Handbuch interkulturelle

Seelsorge, S. 63-78 157

Poling, Handbuch S. 70 158

s.o., S. 70 159

s.o., S. 71 160

Zwei der meist gesprochenen Gebete der Muslime lauten: »Ich nehme

meine Zuflucht beim Herrn des Frühlichts vor dem Übel dessen, was er

erschaffen hat, und vor dem Übel der Dunkelheit, wenn sie hereinbricht,

vor dem Übel der Knotenanbläserinnen und vor dem Übel eines Nei-

ders, wenn er neidet» ( Sure 113, 1-4) und: »Ich nehme meine Zuflucht

beim Herrn der Menschen, dem König der Menschen, dem Gott der

Menschen, vor dem Übel des Einflüsteres, der entweicht und wieder-

kehrt, der den Menschen in die Brust einflüstert, ( sei dieser ) von den

Jinn oder den Menschen» ( Sure 114, 1-5), zitiert aus: Luthfa Meah: Die

muslimische Gemeinschaft und die Behandlung von psychischen Er-

krankungen, S. 157 161

Luthfa Meah: Die muslimische Gemeinschaft und die Behandlung von

psychischen Erkrankungen, S. 157/158 162

Jalaluddin Rakhmat: Die Ethik des Helfens im Islam, Vortrag, gehalten

auf der Tagung »Ethik des Helfens im Kontext verschiedener Religio-

nen«, September 2002, Basel, S. 5. auch enthalten in: Weiß; Fe-

derschmidt, Temme: Ethik des Helfens in verschiedenen Religionen 163

s.o. 164

einem Geist 165

an anderer Stelle in diesem Buch auch »Dikr« genannt – phonetische

Veränderungen entstehen aus der Interpretation des zugrunde liegenden

arabischen Buchstabens 166

Jalaluddin Rakhmat: Aus meiner Praxis des Helfens und Beratens, in:

Weiß, Federschmidt, Temme. Ethik und Praxis des Helfens in verschie-

182

denen Religionen, S. 144/145

167 Laabdalloui/ Rüschoff: Ratgeber für Muslime ... S. 32

168 s.o.

169 s.o., S. 20

170 Zitat eines Gedichtes von Jalaluddin Rumi, in Jalaluddin Rakhmat: Die

Ethik des Helfens im Islam, Vortrag – gehalten in Basel 2002, auch in:

Weiß, Federschmidt, Temme. Ethik des Helfens in verschiedenen Reli-

gionen 171

s.o.

183

Literatur

Abdullah, Mohammed Salim ( Hg. Fitzgerald, M.,Khoury, A. Th., Wanzura,

W.): Geschichte des Islam in Deutschland, Köln 1981

Akgün, Lale: Psychokulturelle Hintergründe türkischer Jugendlicher der

zweiten und dritten Generation: In: Lajos, Konstantin (Hg.): Die psycho-

soziale Situation von Ausländern in der Bundesrepublik, Opladen 1993

Altintas, Ismail: Islamische Seelsorge in der Praxis, Aufsatz, Frankfurt/Main

2005

Altwerden in der neuen Heimat – Arbeitspapiere einer Tagung der Akademie

der Diözese Rottenburg – Stuttgart, 2006

Anderson, Tom (Hg.): The reflecting team. Dialogues and dialogues about

the dialogues, New York 1991

Antes, Peter: Ethik und Politik im Islam, Stuttgart 1982

Apsel, Roland, Möhring, Peter (Hg.): Interkulturelle psychoanalytische

Therapie, Frankfurt/Main 1995

Bakar, Osman: The History and Philosophy of Islamic Medicine, Cambridge

1999

Balic, Smail: Ruf vom Minarett. Weltislam heute – Renaissance oder Rück-

fall? Eine Selbstdarstellung, Hamburg 1984

Batzli, Stefan, Kissling, Fridolin, Zihlmann, Rudolf: Menschenbilder- Men-

schenrechte. Islam und Okzident: Kulturen im Konflikt, Zürich 2003

Becher, Werner, Campbell, Alastair V., Parker, G.Keith: Wagnis der Freiheit.

Ein internationaler Kongress für Seelsorge und Beratung, Göttingen 1981

Beinhauer-Köhler, Bärbel: Formen islamischer Wohlfahrt in Deutschland, in:

Beinhauer-Köhler, Bärbel, Benad, Matthias, Weber, Edmund(Hg):

THEION, Jahrbuch für Religionskultur: Diakonie der Religionen 2, Schwer-

punkt Islam, S. 75-166, Frankfurt/Main 2005

Bielefeldt, Heiner: Muslime im säkularen Rechtsstaat, Bielefeld 2003

Bielefeldt, Heiner, Heitmeyer; Wilhelm (Hg.): Politisierte Religion, Frank-

furt/Main 1998

Boos-Nünning, Ursula (Hg.): Die türkische Migration in deutschsprachigen

Büchern 1961-1984. Eine annotierte Bibliographie. Opladen 1990

Breuer, Rita : Familienleben im Islam. Traditionen – Konflikte – Vorurteile,

Freiburg 1998

Butt, Eva: Ehebegleitung. Gott hat viele Namen. Bireligiöse Beratung am

184

Beispiel eines deutsch- tunesischen Paares. In: Federschmidt, Karl, Hau-

schildt, Eberhard, Schneider-Harpprecht, Christoph, Temme, Klaus,

Weiß, Helmut: Handbuch Interkulturelle Seelsorge, S. 143-151, Neukir-

chen 2002

Clinebell, Howard J.: Modelle beratenden Seelsorge, München 1971

Colak, Yasar: Religiöse Dienstleistungen in der Türkei, in: THEION, Jahr-

buch für Religionskultur: Diakonie der Religionen 2, Schwerpunkt Islam,

S. 11-22 Frankfurt 2005

Cole, Juan R.I. and Keddie, Nickie R. (Ed.): Shi´ism and Social Protest, Yale

1986

David, Matthias und Borde, Theda: Kranksein in der Fremde. Türkische

Migrantinnen im Krankenhaus, Frankfurt/Main 2001

Devereux, Georges: Ethnopsychoanalyse: Die komplementaristische Metho-

de in den Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt/Main 1978

Devereux, Georges: Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften,

Frankfurt/ Main 1988

Der Koran arabisch-deutsch. Aus dem Arabischen von Max Henning. Über-

arbeitung und Einleitung von Murad Wilfried Hofmannn, Istanbul 2003

Domenig, Dagmar: Migration, Drogen, transkulturelle Kompetenz, Bern

2001

Drechsel, Wolfgang: Lebensgeschichte und Lebensgeschichten, Göttingen

2006

Dreesen, Thomas u.a. (Hg.): Christlich-muslimische Ehen und Familien,

Frankfurt/ Main 1998

Eckart, Wolfgang: Geschichte der Medizin, Berlin 1994

Eich, Thomas und Grundmann, Johannes: Muslimische Rechtsmeinungen zu

Hirntod, Organtransplantation und Leben, in: Zeitschrift für medizini-

sche Ethik, 49/3, 2003, S. 302-309

El Hachimi, Mohammed, Schlippe, Arist von, Jürgens, Gesa: Multikulturelle

systemische Praxis. Ein Reiseführer für Beratung, Therapie und Supervi-

sion, Heidelberg 2003

Elsdörfer, Ulrike: Vielfältige Gesichter der religiösen Begegnung. Reflexionen

und Praxisprotokolle, Frankfurt/Main 2004

Elsdörfer, Ulrike: Seelsorge im Islam, Aufsatz, Frankfurt/Main 2005

Elsdörfer, Ulrike: Frauen in Christentum und Islam. Dialoge – Traditionen –

Spiritualitäten, Königstein 2006

Elsdörfer, Ulrike: Die gläubigen Männer und die gläubigen Frauen sind

untereinander Freunde. Islamische Seelsorge und seelsorgerliche Begeg-

nung mit Muslimen, in: Wege zum Menschen. Zeitschrift für Seelsorge

und Beratung, heilendes und soziales Handeln, 59.Jahrgang, Heft 2, April

2007

Epston, David, White, Michael: Narrative means to therapeutic ends. New

York 1990

185

Erdheim, Mario: Die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit. Eine

Einführung in den ethnopsychologischen Prozess, Frankfurt/ Main 1982

Erikson, Erik H.: Kindheit und Gesellschaft, Stuttgart 1984

Ethnopsychoanalyse 6 (Jahrbuch): Forschen, erzählen und reflektieren,

Frankfurt/ Main 2005

Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern / Islam-Kommission (Hg).: Über

die Grenzen gehen. Ehen zwischen christlichen und muslimischen Part-

nern, Neuendettelsau 1996

Faber, Heije, van der Schoot, Ebel: Praktikum des seelsorgerlichen Ge-

sprächs, Göttingen 1980

Federschmidt, Karl, Hauschildt, Eberhard, Schneider-Harpprecht, Christoph

Temme, Klaus, Weiß Helmut: Handbuch Interkulturelle Seelsorge, S.

143-151, Neukirchen 2002

Foucault, Michel: Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und

Medizin, Berlin 1976

Freedman, J., Combs, G.: Narrative therapy. The social construction of

preferred realities, New York 1996

Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt 1968

Freud, Sigmund: Die Zukunft einer Illusion, Frankfurt 1968

Freud, Sigmund: Totem und Tabu, Frankfurt 1973

Freud, Sigmund: Der Mann Moses und die monotheistische Religion, Frank-

furt 1981

Froese, Regine: Christlich-muslimische Erziehung 2004, in: Wege zum Men-

schen. Zeitschrift für Seelsorge und Beratung, heilendes und soziales

Handeln, Heft 3, 57. Jahrgang 2005 – »Wandel der religiösen Familien-

erziehung«

Fürst, Walter, Wittrahm, Andreas, Feeser- Lichterfeld, Kläden, Tobias (Hg.):

»Selbst die Senioren sind nicht mehr die alten ...«, Münster 2003

Geiger, Ingeborg: Interkulturelle Gesundheitsförderung. Ein Leitfaden für

den öffentlichen Gesundheitsdienst zum Aufbau des Handlungsfeldes

Migration, Bielefeld 2000

Genkel, Ingrid, Müller-Kent, Jens: Leben werten? Göttingen 1998

Goldziher, Ignaz: Die Gottesliebe in der islamischen Theologie. Der Islam 9,

1919

Goldziher, Ignaz: Al-Ghazzalis Streitschrift gegen die Batiniya, Leiden 1916

Goody, Jack: Islam in Europe, Cambridge 2004

Grewendorf, Günther, Hamm, Fritz, Sternefeld, Wolfgang: Sprachliches

Wissen. Eine Einführung in moderne Theorien der grammatischen Be-

schreibung, Frankfurt/Main 1999

Haase, Helga (Hg.): Ethnopsychoanalyse. Wanderungen zwischen den Wel-

ten, Stuttgart 1996

Haasen, Christian und Yagdiran, Oktay (Hg.): Beurteilungen psychischer

Störungen in einer multikulturellen Gesellschaft, Freiburg/Br., 2000

186

Halm, Heinz: Die Schiiten, München 2005

Hegemann, Thomas, Salman, Ramazan: Transkulturelle Psychiatrie: Kon-

zepte für die Arbeit mit Menschen aus anderen Kulturen, Bonn 2001

Heine, Susanne: Grundlagen der Religionspsychologie, Göttingen 2005

Heise, Thomas (Hg.): Transkulturelle Psychotherapie. Hilfen im ärztlichen

und therapeutischen Umgang mit ausländischen Mitbürgern, Berlin 1998

Hissler, Jannis: Ethnopsychoanalyse, religionswissenschaftliche Seminarar-

beit, Frankfurt/Main 2006

Hofmann, Murad: Der Islam im 3.Jahrtausend, München 2000

Hofmann, Murad: Islam, München 2001

Hovannisian, Richard G. (Ed.): Ethics in Islam, Los Angeles, 1983

iaf Bremen: Homo migrans – Liebe ohne Grenzen. Zur Situation binationaler

lesbischer und schwuler Partnerschaften, Bremen iaf 1996

Ilkilic, Ilhan: Begegnung und Umgang mit muslimischen Patienten. Eine

Handreichung für Gesundheitsberufe, Bochum 2005

Ilkilic, Ilhan, Ince, Irfan, Pourgholam-Ernst, Azra: E-Health in muslimischen

Kulturen. Zentrum für Medizinische Ethik: Medizinische Materialien,

Bochum Dezember 2004

Ilkilic, Ilhan: Gesundheitsverständnis und Gesundheitsmündigkeit in der

islamischen Tradition, Zentrum für Medizinische Ethik. Medizinische

Materialien, Bochum Januar 2005

Ilkilic, Ilhan: Gesundheits- und Krankheitsverständnis der Muslime als

Herausforderung für das deutsche Rechtswesen, Aufsatz, Berlin 2005

Ilkilic, Ilhan: Das muslimische Glaubensverständnis von Tod, Gericht, Got-

tesgnade und deren Bedeutung für die Medizinethik, Bochum 2002

Ilkilic, Ilhan: Modernisierungs- und Verwestlichungs- Diskussionen und

bioethische Fragen am Beispiel innerislamischer Diskurse, Aufsatz, Bo-

chum 2004

Ilkilic, Ilhan: Die aktuelle Biomedizin aus der Sicht des Islam, in: Kulturelle

Aspekte der Biomedizin. Bioethik, Religionen und Alltagsperspektiven, in:

S. Schicktanz, Ch.Tannert und P .Wiedemann (Hg.),Frankfurt, New York

2003

Islamische Religionsgemeinschaft Hessen: Darstellung der Grundlagen des

Islam, Frankfurt/Main 1999

Jacobs, K. (Hg.): Beratung im interkulturellen Kontext. Dokumentation einer

Weiterbildung für Beraterinnen und Berater der Sozialen Dienste, Berlin,

iaf 2005, in: Butt, Eva: Ehebegleitung. Gott hat viele Namen. Bireligiöse

Beratung am Beispiel eines deutsch-tunesischen Paares. In: Karl Fe-

derschmidt, Eberhard Hauschildt, Christoph Schneider-Harpprecht,

Klaus Temme, Helmut Weiß: Handbuch Interkulturelle Seelsorge, S. 143-

151, Neukirchen 2002

Jaffé, Aniela: Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung, Olten 1981

Jonas, Hans: Technik, Medizin, Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwor-

187

tung, Frankfurt/Main 1987

Josuttis, Ursula: »Außen bin ich Deutsche, innen aber Südländerin«. Seelsor-

ge und Beratung bei Menschen mit einer multikulturellen Identität, in:

Karl Federschmidt, Karl, Hauschildt, Eberhard, Schneider-Harpprecht,

Christoph, Temme, Klaus, Weiß, Helmut (Hg.): Handbuch Interkulturelle

Seelsorge, S. 119-129, Neukirchen 2002

Jung, Carl Gustav : Gesammelte Schriften. Das Symbolische Leben, Band 18,

I und II, Olten 1981

Jung, Carl Gustav: Psychologie und Religion, Olten 1971

Jung, Carl Gustav: Antwort auf Hiob, Olten 1971

Jung, Carl Gustav: Über psychische Energetik und das Wesen der Träume,

Stuttgart 1980

Jung, Carl Gustav : Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewuss-

ten, Olten 1971

Jung, Carl Gustav: Typologie, Olten 1971

Jung, Carl Gustav: Über die Beziehung der Psychotherapie zur Seelsorge,

Olten 1971

Jung, Carl Gustav: Die Psychologie der Übertragung, Olten 1973

Jürgens, Gesa, El Hachimi, Mohammed, Schlippe, Arist von: Multikulturelle

systemische Praxis. Ein Reiseführer für Beratung, Therapie und Supervi-

sion, Heidelberg 2003

Karakasoglu, Yasemin: Islam und Moderne, Bildung und Integration, in:

Rumpf, Mechthild et al.: Facetten islamischer Welten, Bielefeld 2003

Kapuscinski, R.: Afrikanisches Fieber. Erfahrungen aus 40 Jahren. Frank-

furt/Main 1999

Kassel, Maria: Biblische Urbilder. Tiefenpsychologische Auslegung nach

C.G. Jung, Stuttgart 1980

Khoury, Adel: Der Koran – erschlossen und kommentiert v. A. K., Düssel-

dorf 2005

Khoury, Adel: Der Koran-, 2.Auflage, Gütersloh 1992

Kiesel, Doron, von Lüpke, Hans: Vom Wahn und vom Sinn. Krankheitskon-

zepte in der multikulturellen Gesellschaft, Frankfurt/Main 1998

Klessmann, Michael: Handbuch der Krankenhausseelsorge, Göttingen 1996

Koch, Eckhardt, Heilbronn, Kurt, Schouler-Ocak, Meryam: Deutsch-

Türkische Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und psychosoziale

Gesundheit: Entstehungsgeschichte, Entwicklung, Ziele und Ausblick, In-

ternet www.dtgpp.de, 2006

Krausen, Halima: Seelsorge im Islam, in: Pohl-Patalong, Uta, Muchlinsky,

Frank: Seelsorge im Plural, S. 233 - 242, Hamburg 1999

Krones, Tanja: Interkulturelle Depressionforschung in Deutschland, Mar-

burg 2001

Lemmen, Thomas: Islamische Organisationen in Deutschland, Bonn 2000

Luchtenberg, Sigrid: Interkulturelle kommunikative Kompetenz. Opladen

188

1999

Ludewig, Karl: Einführung in die theoretischen Grundlagen der systemischen

Therapie, Heidelberg 2005

Maletzke, Gerhard: Interkulturelle Kommunikation. Zur Interaktion zwi-

schen Menschen verschiedener Kulturen, Opladen 1996

Meah, Luthfa: Die muslimische Gemeinschaft und die Behandlung von

psychischen Erkrankungen. Anregungen aus dem britischen Gesundheits-

system, in: Weiß, Helmut, Federschmidt, Karl, Temme, Klaus: Ethik und

Praxis des Helfens in verschiedenen Religionen. Anregungen zum interre-

ligiösen Gespräch in Beratung und Seelsorge, S. 156-163, Neukirchen

2005

Menzel, Peter A.: Fremdverstehen und Angst. Fremdenangst als kulturelle

und psychische Disposition und die daraus entstehenden interkulturellen

Kommunikationsprobleme, Bonn 1993

Mernissi, Fatima: Islam und Demokratie, Freiburg 2002

Mihciyazgan, Ursula: Die Fremden als »die zu Entfremdenden« und die

Fremden als »die Anderen«. Fremdheit im Christentum und im Islam aus

religionssoziologischer Sicht. In: Gemeinsam 27(a), 24-34

Minuchin, Salvador: Familie und Familientherapie. Theorie und Praxis

struktureller Familientherapie, Freiburg 1992

Möhring, Peter, Apsel, Roland (Hg.): Interkulturelle psychoanalytische

Therapie, Frankfurt/Main 1995

Möhring, Peter: Kultur, Krankheit und Migration. In: Möhring, Peter, Apsel,

Roland (Hg.): Interkulturelle psychoanalytische Therapie, S. 74-93,

Frankfurt/Main 1995

Modena, Emilio: Das Fremde verstehen. Erfahrungen mit ArbeiterInnen aus

dem Mittelmeerraum in der psychoanalytischen Gruppen- und Einzelthe-

rapie. In: Möhring, Peter, Apsel, Roland (Hg.): Interkulturelle psychoana-

lytische Therapie, S. 20-46, Frankfurt/Main 1995

Molinari, Daniela: Dem Fremden begegnen – die Wiederinszenierung des

Kulturschocks. Möglichkeiten und Grenzen im Bereich der Beratung und

Therapie von Immigrantenfamilien, in: Peter Möhring, Roland Apsel: In-

terkulturelle psychoanalytische Therapie, S. 46-74, Frankfurt/Main 1995

Morgan, A.: What is narrative therapy? Adelaide 2000

Morgenthaler, Christoph: Fremdheit unter Brüdern. Die Ethik des Helfens

im Islam und was daraus in einem christlichen Kontext zu lernen ist, in:

Weiß, Helmut, Federschmidt, Karl, Temme, Klaus: Ethik und Praxis des

Helfens in verschiedenen Religionen. Anregungen zum interreligiösen Ge-

spräch in Beratung und Seelsorge, S. 146-156, Neukirchen 2005

Morgenthaler, Christoph: Systemische Seelsorge: Impulse der Familien- und

Systemtherapie für die kirchliche Praxis, Berlin 1999

Müller-Kent, Jens, Genkel, Ingrid: Leben werten? Göttingen 1998

Mujtaba, Sayid, Rukni, Musawi Lari: Westliche Zivilisation und Islam.

189

Muslimische Kritik und Selbstkritik, Ghom 1990

Nagel, Tilmann: Geschichte der islamischen Theologie. Von Mohammed bis

zur Gegenwart, München 1994

Oesterreich, Cornelia: Systemische Therapie an den Grenzen unterschiedli-

cher kultureller Wirklichkeiten. In: Heise, Thomas (Hg.): Transkulturelle

Psychotherapie. Hilfen im ärztlichen und therapeutischen Umgang mit

ausländischen Mitbürgern, Berlin 1998

Özdemir, Cem: Ich bin Inländer. Ein anatolischer Schwabe im Bundestag,

München 1999

Özelsel, Michaela: Gesundheit und Migration. Eine psychologisch –

empirische Untersuchung an Deutschen sowie Türken in Deutschland

und in der Türkei, München 1990

Palazzoli, Mara Selvini, Cirillo, Stefano, Selvini, Matteo, Sorrentino, Anna

Maria: Die psychotischen Spiele in der Familie, Stuttgart 1996

Parin, Paul: Der Widerspruch im Subjekt. Ethnopsychoanalytische Studien,

Hamburg 1992

Pfleiderer, Beatrix et. al.: Ritual und Heilung. Eine Einführung in die

Ethnomedizin, Berlin 1995

Poling, James N.: Wahrnehmung kultureller Differenz und die Machtfrage.

Drei Stufen kultureller Analyse, in: Federschmidt, Karl, Hauschildt, E-

berhard, Schneider-Harpprecht, Christoph, Temme, Klaus, Weiß, Helmut

(Hg.): Handbuch Interkulturelle Seelsorge, S. 63-71, Neukirchen 2002

Rahman, Fazlur: Health and Medicine in Islamic Tradition, New York 1987

Rakhmat, Jalalludin: Die Ethik des Helfens im Islam, in: Weiß, Helmut,

Federschmidt, Karl, Temme, Klaus: Ethik und Praxis des Helfens in ver-

schiedenen Religionen. Anregungen zum interreligiösen Gespräch in Bera-

tung und Seelsorge, S. 125-146, Neukirchen 2005

Reichmeir, Johannes: Ethnopsychoanalyse. Geschichte, Konzepte, Anwen-

dungen, Gießen 2003

Ritschl, Dietrich: Konzepte, Ökumene, Medizin, Ethik. Gesammelte Auf-

sätze, München 1986

Rogers, Carl R.: Carl Rogers on Encounter Groups, New York 1970

Rosenthal, Franz: Science and Medicine in Islam, Hampshire 1990

Salman, Ramazan, Hegemann, Thomas: Transkulturelle Psychiatrie: Kon-

zepte für die Arbeit mit Menschen aus anderen Kulturen, Bonn 2001

Salman, Ramazan u.a. (Hg.): Handbuch Interkulturelle Suchthilfe. Modelle,

Konzepte und Ansätze der Prävention, Beratung und Therapie, Gießen

1999

Saragih, Mercy Anna: Besuch bei muslimischen Nachbarn nach dem Unfall-

tod ihres Sohnes, in: Weiß, Helmut, Federschmidt, Karl, Temme,

Klaus(Hg.): Ethik und Praxis der Helfens in verschiedenen Religionen, S.

290-293, Neukirchen 2005

Sass, Hans-Martin (Hg.): Medizin und Ethik, Stuttgart 1989

190

Sass, Hans-Martin: Menschliche Ethik im Streit der Kulturen, Medizinethi-

sche Materialien, Bochum 2003

Scharfenberg, Joachim: Seelsorge als Gespräch, Göttingen 1980

Scharfenberg, Joachim: Religion zwischen Wahn und Wirklichkeit. Gesam-

melte Beiträge zur Korrelation von Psychoanalyse und Theologie, Ham-

burg 1972

Scheller, Julia: Ethnopsychoanalyse, Seminararbeit Universität Frank-

furt/Main, 2006

Schimmel, Annemarie: Der Islam. Eine Einführung, Stuttgart 1990

Schimmel, Annemarie: Rumi – Ich bin der Wind und du bist das Feuer,

Leben und Werk des großen Mystikers, München 2003

Schimmel, Annemarie: Mystische Dimensionen des Islam, München 1985

Schimmel, Annemarie: Der Sufismus, in: Burgmer, Christoph: Der Islam.

Eine Einführung durch Experten, S. 68-81 Mainz 1996

Schimmel, Annemarie: Sufismus. Eine Einführung in die islamische Mystik,

München 2000

Schimmel, Annemarie: Die Zeichen Gottes, München 1995

Schipperges, Heinrich: Gesundheit und Gesellschaft: ein historisch-kritisches

Panorama, Berlin 2003

Schlippe, Arist von, El Hachimi, Mohammed, Jürgens, Gesa.: Multikulturelle

systemische Praxis. Ein Reiseführer für Beratung, Therapie und Supervi-

sion, Heidelberg 2003

Schmidt, Kurt, Egler, Gisela: Den Christen ein Christ, den Muslimen ein

Muslim? Überlegungen zu einer protestantischen Sicht interreligiöser

Seelsorge im Krankenhaus, in: (Klinik) Seelsorge im multireligiösen Kon-

text, Frankfurt/Main 1999

Schneider-Harpprecht, Christoph: Interkulturelle Seelsorge, Göttingen 2001

Schulte-Herbrüggen, Odo: Die moralischen Emotionen. Neurobiologische

und neuropsychologische Beiträge zum Verständnis psychosozialen und

ethischen Verhaltens, in: Weiß, Helmut, Federschmidt, Karl, Temme,

Klaus: Ethik und Praxis des Helfens in verschiedenen Religionen. Anre-

gungen zum interreligiösen Gespräch in Beratung und Seelsorge, S. 25-35,

Neukirchen 2005

Sen, Faruk, Goldberg, Andreas: Türken in Deutschland. Leben zwischen

zwei Kulturen, München 1994

Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz(Hg.): Christen und Muslime in

Deutschland, Bonn 2003

Sich, Dorothea et. al.: Medizin und Kultur. Eine Propädeutik für Studierende

der Medizin und der Ethnologie, Frankfurt/Main 1995

Smith, Linda: Die Systemische Seelsorge, religionswissenschaftliche Seminar-

arbeit, Frankfurt/Main 2006

Southern, Richard W.: Das Islambild des Mittelalters, Mainz 1981

Spiegel, Yorick: Doppeldeutlich. Tiefendimensionen biblischer Texte, Mün-

191

chen 1978

Spuler-Stegemann, Ursula: Muslime in Deutschland. Nebeneinander oder

Miteinander, Freiburg 1998

Stauch, Karimah Katja: Die Entwicklung einer islamischen Kultur in

Deutschland. Berliner Beiträge zur Ethnologie, Bd.8, Berlin 2004

Steinkamp, Hermann: Seelsorge als Anstiftung zur Selbstsorge, Münster

2005

Stollberg, Dietrich: Therapeutische Seelsorge, Göttingen 1969

Stollberg, Dietrich: Seelsorge durch die Gruppe, Göttingen 1972

Stollberg, Dietrich: Wenn Gott menschlich wäre ... Auf dem Wege zu einer

seelsorgerlichen Theologie, Stuttgart 1978

Studien aus dem C.G. Jung-Institut, hier: Das Gewissen, S. 199, Zürich 1958

Szapocznik, José, Kurtines, William R.: Family Psychology and cultural

diversity: Opportunities for theory, research, and application. In: Nancy

Rule Goldberger/ Jody Bennet Veroff(Hg.): The culture and psychology

reader. In: Christoph Schneider-Harpprecht: Interkulturelle Seelsorge,

Göttingen 2001

Tan, Dursun: Das fremde Sterben. Sterben, Tod und Trauer unter Migrati-

onsbedingungen, Frankfurt/Main 1998

Taylor, Charles: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung,

Frankfurt/Main 1997

Tibi, Bassam: Der Islam und das Problem der kulturellen Bewältigung sozia-

len Wandels, Frankfurt/Main 1985

Topper, Uwe: Sufis und Heilige im Maghreb, München 1991

Varela, Maria del Mar Castro ( Hg.): Suchbewegungen. Interkulturelle

Beratung und Therapie, Tübingen 1998

Visser, Marijke et. al (Hg.): Kultursensitiv pflegen. Wege zu einer interkultu-

rellen Pflegepraxis, München 2002

Volkan, Vamik D.: Psychoanalyse der frühen Objektbeziehungen, Stuttgart

1978

Watzlawick, Paul u.a.: Menschliche Kommunikation, Bern, Stuttgart, Toron-

to, 1985

Weiß, Helmut: Ansätze einer Hermeneutik des helfenden Gesprächs in inter-

religiöser Hilfe und Seelsorge, in: Weiß, Helmut, Federschmidt, Karl,

Temme, Klaus: Ethik und Praxis des Helfens in verschiedenen Religionen.

Anregungen zum interreligiösen Gespräch in Beratung und Seelsorge, S.

241-247, Neukirchen 2005

Weiss, Regula: Macht Migration krank? Eine transdisziplinäre Übersicht zur

Gesundheit von Migrantinnen und Migranten, Zürich 2003

White, Michael, Epston,David: Narrative means to therapeutic ends. New

York 1990

Winkler, Klaus: Seelsorge, Berlin 2000

Ziemer, Jürgen: Seelsorgelehre, Göttingen, 2000

192

Zimmermann, Emil: Kulturelle Missverständnisse in der Medizin. Ausländi-

sche Patienten besser versorgen, Bern 2000