Medien, Code und Demokratie (unveröffentlichtes Manuskript, 2015)

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Daniel Kunzelmann (unveröffentlichtes Manuskript, 31.03.2015) Keywords: Soziale Medien, Demokratie, Code, Software, Wissen, Praxis, Politische Räume Zitiervorschlag: Kunzelmann, Daniel (2015): Liquid Democracy Revised. Wie soziale Medien und Code die Grenzen politischer Räume reorganisieren. Unveröffentlichtes Manuskript. Liquid Democracy Revised. Wie soziale Medien und Code die Grenzen politischer Räume reorganisieren. Berthold Brechts Radiotheorie scheint auf faszinierende Weise die heutige Realität sozialer Medien wie Facebook, Twitter oder Whatsapp vorwegzunehmen, in der jeder Nutzer, der eine Nachricht über ein solches Medium erhält, nur einen Klick vom sozialen Teilen eines Kommunikationsinhaltes entfernt ist. 1 „Der Rundfunk“, so formulierte es Brecht 1932, „wäre der denkbar grossartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, [...] wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen.“ 2 Für Brecht war diese Medientechnologie selbstverständlich mehr als eine nette Spielerei. Wenn sich der „Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat“ verwandle, werde dies „öffentlichen Angelegenheiten auch wirklich den Charakter der Öffentlichkeit verleihen“. 3 Denkt man Brechts Vision zu Ende, hätte ein solches Medium das Potential, auch politische Machtstrukturen zu revolutionieren: aus einem monolithischen, zentral gesteuerten und staatlich verordneten Kommunikations- und Propagandamonopol entstünde ein pluralistisches, dezentrales und demokratisches Netz konkurrierender Meinungen – aus fremdbestimmten Subjekten würden selbstbestimmte Bürger. Diese utopische Vorstellung eines öffentlichen Mediums, das Menschen politisch nicht mehr isoliert, sondern sie „in Beziehung setzt“, wie Brecht es schreibt, wurde knapp 30 Jahre später von einem der frühen Internetpioniere sogar noch übertroffen. Theodor Holm Nelson – einer der geistigen Erfinder des Hypertextes – wollte nicht nur einen dezentralen Kommunikationsapparat, er träumte gar von einem global vernetzten Wissensspeicher, in dem jede Information für jedes Individuum jederzeit nur einen Hyperlink entfernt läge. 4 Nelson nannte dieses 1 Im folgenden Artikel sind – wenn nicht explizit darauf hingewiesen wird – unabhängig von der weiblichen oder männlichen Form des bezeichnenden Wortes stets alle Geschlechter gemeint. 2 Bertolt Brecht. Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. In: Bertolt Brecht (Hg.): Gesammelte Werke. Bd. 18. Schriften zur Literatur und Kunst. Frankfurt a.M. 1967, S. 127-134, hier: S. 129. 3 Ebd., S. 129. Eigene Hervorhebung. 4 Vgl. Martin Warnke. Hypertext oder: Die Befreiung des Geistes durch die Maschine. In: Jahrbuch Deutsch als 1

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Daniel Kunzelmann (unveröffentlichtes Manuskript, 31.03.2015)

Keywords: Soziale Medien, Demokratie, Code, Software, Wissen, Praxis, Politische Räume

Zitiervorschlag: Kunzelmann, Daniel (2015): Liquid Democracy Revised. Wie soziale Medien und Code die Grenzen politischer Räume reorganisieren. Unveröffentlichtes Manuskript.

Liquid Democracy Revised. Wie soziale Medien und Code die Grenzen

politischer Räume reorganisieren.

Berthold Brechts Radiotheorie scheint auf faszinierende Weise die heutige Realität sozialer Medien

wie Facebook, Twitter oder Whatsapp vorwegzunehmen, in der jeder Nutzer, der eine Nachricht

über ein solches Medium erhält, nur einen Klick vom sozialen Teilen eines

Kommunikationsinhaltes entfernt ist.1

„Der Rundfunk“, so formulierte es Brecht 1932, „wäre der denkbar grossartigste

Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, [...] wenn er es verstünde, nicht nur

auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch

sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen.“2

Für Brecht war diese Medientechnologie selbstverständlich mehr als eine nette Spielerei. Wenn sich

der „Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat“ verwandle, werde dies „öffentlichen

Angelegenheiten auch wirklich den Charakter der Öffentlichkeit verleihen“.3 Denkt man Brechts

Vision zu Ende, hätte ein solches Medium das Potential, auch politische Machtstrukturen zu

revolutionieren: aus einem monolithischen, zentral gesteuerten und staatlich verordneten

Kommunikations- und Propagandamonopol entstünde ein pluralistisches, dezentrales und

demokratisches Netz konkurrierender Meinungen – aus fremdbestimmten Subjekten würden

selbstbestimmte Bürger. Diese utopische Vorstellung eines öffentlichen Mediums, das Menschen

politisch nicht mehr isoliert, sondern sie „in Beziehung setzt“, wie Brecht es schreibt, wurde knapp

30 Jahre später von einem der frühen Internetpioniere sogar noch übertroffen. Theodor Holm

Nelson – einer der geistigen Erfinder des Hypertextes – wollte nicht nur einen dezentralen

Kommunikationsapparat, er träumte gar von einem global vernetzten Wissensspeicher, in dem jede

Information für jedes Individuum jederzeit nur einen Hyperlink entfernt läge.4 Nelson nannte dieses1 Im folgenden Artikel sind – wenn nicht explizit darauf hingewiesen wird – unabhängig von der weiblichen oder

männlichen Form des bezeichnenden Wortes stets alle Geschlechter gemeint.2 Bertolt Brecht. Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. In: Bertolt Brecht (Hg.): Gesammelte Werke.

Bd. 18. Schriften zur Literatur und Kunst. Frankfurt a.M. 1967, S. 127-134, hier: S. 129.3 Ebd., S. 129. Eigene Hervorhebung.4 Vgl. Martin Warnke. Hypertext oder: Die Befreiung des Geistes durch die Maschine. In: Jahrbuch Deutsch als

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Netzwerk Xanadu und es hätte das Potential „[to bring] PERSONAL FREEDOM (...), to free our

minds and [to] unchain our work“.5

Brechts und Nelsons Narrative einer freien, demokratisch verfassten Wissensgesellschaft mit

grenzenlosen kommunikativen Möglichkeiten politischer Beteiligung für informierte Bürger sind

keineswegs nur blosse Fantasien zweier Utopisten geblieben. Das zeigt ein kurzer Blick in die

sozialwissenschaftliche Literatur. Ob jeweils von „Demokratie 3.0“, „E-Partizipation“ oder

„NETIZENS“ die Rede ist, immer wird mehr oder weniger explizit suggeriert, dass soziale Medien

und digitale Technologien bürgerschaftliches Engagement positiv verändern werden.6 Ist die knapp

20 Jahre alte Diagnose der Individualisierung der Gesellschaft und dem damit verbundenen

Niedergang politischer Gemeinschaft bereits wiederlegt?7

„A new form of socialized communication [has emerged]: mass self-communication. (...) It

is self-generated in content, self-directed in emission, and self-selected in reception by

many that communicate with many.“8

Allein – was steckt hinter den 2.802.478.934 global vernetzten Internetnutzern, die senden und

empfangen, was Tastatur, Smartphone und Webcam zulassen;9 den 703.000.000 Millionen mobilen

Facebook-Usern, die virtuell kommunizieren, während sie sich gleichzeitig physisch durch den

Raum bewegen (oder bewegt werden);10 und den über 5.000.000 Tweets, die auch heute wieder in

den digitalen Äther geschickt wurden?11,12 Wie lässt sich angesichts dieser Verhältnisse nun

epistemisch von „Grenze“, von „Grenzbeziehungen“ und „Grenzziehungen“ sprechen?

Ethnographie, Medialität und Demokratie: Drei Fallbeispiele mikropolitischer Praxis

Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, inwiefern die heutige, scheinbar uferlose soziale

Fremdsprache 35 (2009), S. 77-92, hier: S. 84-89.5 Vgl. Warnke: Hypertext, S. 84.6 Christoph Meisselbach. Web 2.0. Demokratie 3.0? Baden Baden 2009; Ulrich Sarcinelli: E-

Partizipation in der 'Web 2.0 Demokratie': Wege und Hindernisse demokratischer Teilhabe – ein Essay. In: Wolf Schünemann, Stefan Weiler (Hg.). E-Government und Netzpolitik im europäischen Vergleich. Baden Baden 2012, S. 435-448.; Claus Leggewie. Kultur im Konflikt: Claus Leggewie revisited. Bielefeld 2010.

7 Vgl. Ulrich Beck, Elisabeth Beck-Gernsheim (Hg.). Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften. Frankfurt a. M. 1994; Gerhard Schulze. Die Erlebnisgesellschaft. Frankfurt a. M. 1992; Robert D. Putnam. Bowling Alone: America's Declining Social Capital. In: Journal of Democracy 6 (1995, 1), S. 65-78.

8 Manuel Castells. Communication, power and counterpower in the network society. In: International Journal of Communication 1 (2007), S. 238-266, hier: S. 248.

9 URL: http://www.internetworldstats.com/stats.htm (Stand: 15. November 2014).10 URL: http://newsroom.fb.com/company-in fo/ (Stand: 15. November 2014).11 URL: http://www.sec.gov/Archives/edgar/data/1418091/000119312513390321/d564001ds1.htm (Stand: 15.

November 2014).12 Das der Begriff „Äther“ alles andere als fiktiv ist, zeigen Projekte wie Ethereum, in dem „ether“ so etwas wie einen

neuen digitalen Rohstoff darstellen soll. URL: https://www.ethereum.org/ (Stand: 15. November 2014).

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Kommunikation die Medienkultur verändert und somit letztlich die Grenzen politischer Praxis

selbst neu bestimmt. Unter Rückgriff auf eigene Feldforschungen in drei lokalen demokratischen

Kontexten liegt der Fokus der Analyse auf ethnographierbaren Mikrorealitäten politischer Praxis. In

Deutschland, Israel und Spanien wurde demokratisches Handeln auf lokaler Ebene jeweils anhand

von Netzwerkanalysen, Diskursauswertungen sozialer Medien sowie mehrwöchigen teilnehmenden

Beobachtungen on-line und on-site untersucht.

In München wurde das Aushandeln von Politik innerhalb einer traditionellen demokratischen

Institution erforscht: Parteipolitik am Beispiel der Piratenpartei München (PIRATEN). Die

Mitglieder der PIRATEN haben es sich zur Aufgabe gemacht, Demokratie „im Zuge der digitalen

Revolution aller Lebensbereiche“ neu zu denken.13 In Murcia wurden die politischen Praxen im

Netz und mit Hilfe von Netztechnologien innerhalb einer sozialen Bewegung analysiert: dem

lokalen Ableger der Plataforma de Afectados por la Hipoteca (PAH).14 Das politische Ziel der PAH

ist es, staatlich verordnete Zwangsenteignungen zu verhindern, dies sowohl physisch, durch das

gewaltlose Okkupieren von Häusern und Wohnungen, als auch juristisch, über die Bereitstellung

von rechtlichem Beistand. In Tel Aviv schliesslich lag der Fokus auf eine Parteiliste: City for All.

Die sich hier politisch engagierenden Bürger möchten den alles dominierenden nationalen Konflikt

mit den Palästinensern auf lokal-politischer Ebene ausblenden und sich über alle ethnischen,

religiösen und sozialen Grenzen hinweg für eine nachhaltige Stadtpolitik einsetzen.

Die genauen politischen Kontexte dieser drei Fallbeispiele sind für sich genommen zwar spannend

genug, deren Darstellung wird aber zum Zweck dieses Aufsatzes jeweils auf ein Minimum

reduziert. Mir geht es hier nicht um die detaillierte Analyse der einzelnen empirischen Fälle,

sondern um die beispielhafte Veranschaulichung heutiger sozial medialisierter politischer Praxis.

Auch erscheint es offensichtlich, dass die begrenzte Form dieses Aufsatzes selbstredend nur einen

ersten Blick ermöglichen kann – ein Sichten medienkultureller Phänomene. Daher soll es an dieser

Stelle zunächst um das konzeptionelle Verhältnis von Medienkultur und politischer Praxis gehen.

Medienkultur als Textur des Politischen: Die kommunikativen Grenzen der Demokratie

Wie sieht Kommunikation innerhalb politischer Räume aus, wenn wir uns ihren „blurred

boundaries“ ethnograhisch nähern?15 Zunächst ist auffällig, dass die Metapher des „steten Fliessens“

das (post-)moderne Zeitalter zu prägen scheint. In den grossen soziologischen Theorien dieser

Gesellschaften taucht sie in zahlreichen Schattierungen auf: ob in Manuell Castells Konzept der

13 URL: http://wiki.piratenpartei.de/Parteiprogramm (Stand: 15. November 2014).14 Übersetzt heisst dies soviel wie „Plattform für die Betroffenen der Hypotheken(krise)”.15 Nancy Baym. A call for grounding in the face of blurred boundaries. In: Journal of Computer-Mediated

Communication 14 (2009), S. 720-723.

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„spaces of flow“, Mimi Sheller und John Urrys Beschreibung globaler „fluids (...) of people,

information [and] objects“ oder Zygmunt Baumans berühmter Diagnose der „liquid modernity“.16

Alles fliesst? Als Arbeitshypothese erscheint es plausibel, anzunehmen, dass auch die sozial

medialisiertem Kommunikationsformen heutiger „Liquid Democracies“ Grenzen besitzen,

Begrenzungen setzen, mithin komplex, widerständig und vielschichtig sind und dadurch politische

Praxis in einer spezifischen Weise prägen. Es erscheint aus kulturwissenschaftlicher Perspektive nur

schwer vorstellbar, dass die unzähligen Informations-, Meinungs- und Kommunikationsakte, die

sich aus der Vogelperspektive makrostatistischer Analyse quantifizieren lassen, jegliche Struktur

innerhalb politischer Mikrorealitäten hinweggeschwemmt haben sollen. Wenn soziale Medien und

digitale Kommunikation mehr repräsentieren als ein endloses, pseudodemokratisches Rauschen, das

stumm ist und taub macht, wie lässt sich diese angebliche Strukturlosigkeit politischer Praxis

sichtbar machen: Wie können wir digitalisiertes demokratisches Handeln verstehen?

Um die kommunikativen Ordnungsprinzipien politischer Praxis offenzulegen, lohnt es sich

zunächst auf ein Konzept von Lutz Musner zurückzugreifen: „Kultur als Textur des Sozialen“.17 Im

gleichnamigen, stadtanthropologischen Aufsatz versteht Musner – im Anschluss an Max Weber –

Kultur „als einen Prozess, der das Soziale ins Symbolische 'übersetzt' (...), d.h. dem Gewebe des

Sozialen lebensweltliche Bedeutungen aufprägt.“18 Dieses Bild einer kulturellen „Textur“ dient

einem analytischen Zweck. Als „heuristische Metapher“, wie es der Autor selbst nennt, hilft es,

soziale Phänomene besser zu verstehen, sie überhaupt erst adäquat in den Blick nehmen zu

können.19 Den eigenen Forschungsfokus derart analytisch geschärft, schaut sich Musner

verschiedene Wiener Architektur- und Stadtplanungsprojekte an, die in den letzten 150 Jahren

realisiert wurden wie z.B. die Wiener Stadtbahn, die Grosswohnanlage im Karl-Marx-Hof oder die

Opernpassage. Er stellt fest, dass sich die zum Zeitpunkt der Erbauung wirkenden ökonomischen

Strukturen (Marktliberalismus, Fordismus, Postfordismus, etc.) und deren Ordnungsprinzipien

(munizipaler Sozialismus, horizontale, vertikale Umverteilung, etc.) symbolisch jeweils in einer

sehr spezifischen kulturellen Textur niederschlagen: sie bilden eine „kulturelle Formation“.20 Um

ein Beispiel zu geben: Die Wiener Stadtbahn wurde zwischen 1894 und 1900 errichtet. Sie sei, so

16 Vgl. Manuel Castells. The rise of the network society. The information age: economy, society and culture. Vol. I., Cambridge 1996; Vgl. Mimi Sheller, John Urry. Mobile Transformations of ‚Public’ and ‚Private’ Life. In: Theory, Culture & Society 20 (2003, 3), S. 107-125; Vgl. Zygmunt Bauman. Liquid modernity. Cambridge 2000. Jeweils eigene Hervorhebung.

17 Lutz Musner. Kultur als Textur des Sozialen. In: Lutz Musner (Hg.). Kultur als Textur des Sozialen. Essays zum Stand der Kulturwissenschaften. Wien 2004, S. 77-112.

18 Ebd., S. 82.19 Ebd., S. 89.20 Vgl. ebd. S. 85-90. Musner nennt die ökonomische Struktur „Akkumulationsregime“ und deren Ordnungsprinzipien

„Regulationsmodus“. Der Gedanke einer kulturellen Entsprechung des Sozialen ist dabei keineswegs neu. Er schliesst hier sowohl an das „Conjunctures” Konzept der Cultural Studies als auch an den Homologiebegriff von Pierre Bourdieu an.

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Musner, eine der entscheidenden „Infrastrukturleistungen des Munzipalsozialismus“. Dieses

Verkehrsplanungsprojekt stelle nicht nur eine „extensive Aneignung des Stadtraums, d. h. eine

möglichst umfassende und effiziente Integration der Menschen in den urbanen

Zirkulationskreislauf“ dar, sie symbolisiere mehr:

„Für ein Akkumulationsregime, das wesentlich von der raschen und kostengünstigen

Verfügbarkeit von menschlicher Arbeitskraft bestimmt wurde, schuf [es] die logistische

Grundlage, welche nicht nur die flächendeckende Bewegung und damit umfassende

Verwertung des Faktors 'Arbeit' revolutionierte, sondern auch den Austausch zwischen den

vielen, lokalen Subzentren der industriellen und gewerblichen Produktion und des Handels

beförderte, die für Wien um 1900 typisch waren.“21

Das Soziale, das Musner in seiner Arbeit vor allem als das Ökonomische identifiziert, lässt sich in

seiner spezifischen, kulturellen Architekturform lesen – besser: auslesen. In dieser konzeptionellen

Eigenschaft soll die heuristische Metapher einer „kulturellen Textur des Sozialen“ im Folgenden

verwendet werden. Definiert man politische Praxis als einen historisch-konkreten Modus des

Sozialen, über den letztlich unvermeidliche Wert-Widersprüche – man denke etwa an das Verhältnis

von „Transparenz vs. Anonymität“ oder von „Inklusion vs. Exklusion“ – auf eine je spezifische Art

und Weise symbolisch und materiell ausgehandelt werden , lässt sich Medienkultur heuristisch als

Teil des Transfervorgangs interpretieren, „durch den Artefakte (Texte, Diskurse, Medien),

Gegenstände und Vorrichtungen der alltäglichen bzw. materiellen Kultur sowie kulturelle Praktiken

(Kommunikations- und Konsumpraxen) mit Wertigkeit und Bedeutung aufgeladen“ und dadurch

politisiert werden.22 Ähnlich wie sich Architektur, z.B. die Wiener Stadtbahn, eben nicht in einer

zufälligen Form materialisiert, sondern das Soziale einer Zeit – den Zeitgeist – entsprechend

symbolisiert, so dürfte auch die heutige Medienkultur eine je spezifische Textur des Politischen

repräsentieren. Ebenso wie in Musners Beispiel eine neue Mobilitätskultur geradezu zwangsläufig

Arbeit und Ökonomie umwälzen musste, so liesse sich analog argumentieren, verändert auch die

Virtualität heutiger Medienkultur die Politik.23 Diese kulturellen Konturen politischer Praxis gilt es

21 Ebd., S. 92-93.22 Ebd., S. 89. Der Begriff „Medien” mag hier nur auf den ersten Blick verwundern, denn – das wird die folgende

ethnographische Analyse zeigen – selbstverständlich beziehen sich Medien nicht nur auf reale Ereignis (Beobachtung 1. Ordnung), sondern auch auf die mediale Darstellung dieser Ereignisse (Beobachtung 2. Ordnung). Vgl. Niklas Luhmann. Die Realität der Massenmedien. Wiesbaden 2004. Und auch die technologische Infrastruktur selbst sowie die konkrete Ausgestaltung sozialer Medien (AGBs, etc.) sind Teil medialisierter politischer Kämpfe.

23 Zum Verhältnis von physischer und virtueller Mobilität selbst vgl.: Adriana de Souza e Silva, Mimi Sheller. Mobilityand Locative Media: Mobile Communication in Hybrid Spaces. Changing Mobilities. Oxon 2015. Heike Weber spricht in diesem Zusammenhang gar von einem „Mobilitätsparadox”. Vgl.: Heike Weber. Das Versprechen mobiler Freiheit. Zur Kultur- und Technikgeschichte von Kofferradio, Walkman und Handy. Bielefeld 2008, S. 16.

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ethnographisch auszulesen.24

„This is public space!“ Horizontale (Poly-)Medialität und Hybride Räume

Das Beispiel einer politischen Auseinandersetzung im öffentlichen Raum von Tel Aviv soll helfen,

die horizontal verlaufende Gewebsfäden heutiger Medienkultur sichtbar zu machen. Schon bevor es

das Internet gab, kämpften dort Bürger gegen die Privatisierung des öffentlichen Raumes. Immer

wieder ging und geht es in diesen Auseinandersetzungen um Flächen in Strandnähe. Aufgrund ihrer

zentralen Lage am Meer erscheinen sie für viele Bürger besonders attraktiv. Rachel Gilad-Wallner,

eine der Aktivisten von City For All, die für die Parteiliste im Stadtrat sass, ist seit mehreren

Jahrzehnten politisch aktiv. Im Oktober 2013, so erzählt sie, spazierte sie am Hafen von Tel Aviv

entlang, „auf öffentlichem Raum“ wie sie mehrmals betont.25 Plötzlich entdeckte sie dort eine

private Veranstaltung: eine Hochzeit. Das gesamte Areal war abgesperrt. Sie wollte das „natürlich

nicht einfach hinnehmen“, schliesslich sei auch sie „eine Bürgerin von Tel Aviv“. Rachel

konfrontierte die Veranstalter. Physisch vor Ort unterwegs, digital ausgerüstet mit der Videokamera

ihres Tablets, filmte sie das folgende Gespräch – ziemlich entrüstet, wie man auch ohne

Hebräischkenntnisse feststellen kann:

Rachel [filmend]: „Bürger von Tel Aviv! Bitte seht alle her! Unsere Zugangsmöglichkeiten

werden von zwei riesigen Männern blockiert, weil hier eine Hochzeit der Reichen

stattfindet! Hier findet eine Hochzeit statt, dies ist gegen das Gesetz.“

Sicherheitsdienst: „Hey Lady, warum regen Sie sich so auf. In 10 Minuten ist alles vorbei.“

Rachel: „Nein! Ich möchte wissen, wessen Hochzeit das hier ist! Ich könnte hier nicht

heiraten. Dies ist öffentlicher Raum.“26

24 Dabei sei betont, dass es sich hierbei keineswegs um ein strukturalistisches Verständnis von Kultur handelt, in dem Kultur durch Struktur determiniert wird, Medientechnologien etwa politisches Handeln vorbestimmen. Vielmehr wird von einem praxeologischen Kulturbegriff im Sinne Pierre Bourdieus ausgegangen, bei dem Praxis innerhalb einer Struktur, erstens, immer Handlungsspielräume vorfindet und, zweitens, im-Handeln-selbst auf die Strukturen zurückwirkt wird. Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Nur weil eine Mailingliste technisch nicht für inhaltliche Gruppendiskussionen gemacht ist, hat dies eine lokale Gruppe der PIRATEN nicht davon abgehalten, sie genau hierfür zu „missbrauchen”. Die digitale Infrastruktur verbietet eine solche kommunikative Praxis natürlich nicht absolut. Allerdings macht das Beispiel auch deutlich, dass Kommunikationsräume zwar bis zu einem gewissen Grad„gekrümmt” werden können – nur eben nicht beliebig. Ab einem gewissen Zeitpunkt mussten die Diskussionen auf der Mailingliste wegen Informationsüberschuss zunächst moderiert und schliesslich um andere Kommunikationsformen ergänzt werden (Video- und Telefonkonferenzen, physische Treffen, etc.). Kommunikationsräume und deren (Infra-)Strukturen definieren Handlungskorridore, aber sie sind – wie alle Räume – stets sozial konstruiert und somit dynamisch-reflexiv.

25 Alle im Folgenden aufgeführten empirischen Fallbeispiele gehen auf Notizen aus Feldtagebüchern zurück. Soweit Hyperlinks zu medialen Inhalten vorhanden sind, werden diese jeweils angeführt. Zitate werden mit „“ als solche kenntlich gemacht und sind ebenfalls den Feldnotizen entnommen.

26 Eigene Übersetzung. Das Video findet sich bei YouTube. URL: http://youtu.be/yOivE2J232E (Stand 15. November 2014). Der Autor selbst hat von dieser Auseinandersetzung zum ersten Mal über Twitter erfahren, als er 2013 im Rahmen des Kommunalwahlkampfes zur Feldforschung in Tel Aviv war.

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Rachels Forderung nach der Einhaltung traditionell demokratischer Werte wie den freien Zugang zu

öffentlichen Räumen, die Transparenz von Veranstaltungen sowie die Einhaltung rechtsstaatlicher

Prinzipien (Gleichheitsgebot) sind gerade keine neuen politischen Themen. Das Neue an der

Situation ist die Textur der Medienkultur, deren Fäden den politischen Raum von Tel Aviv wie

parallel verlaufende Diskursstränge horizontal durchdringen. Denn die „on-site“ Konfrontation mit

den Sicherheitsbeamten wurde von City For All über eine Social-Media-Videoplattform ins Netz

geladen und anschliessend „on-line“ auf diversen Kanälen sozial verbreitet (Twitter, Facebook,

Email, etc.). Das stets verlinkte YouTube-Video war lediglich ein winziger Aspekt medialisierter

mikropolitischer Praxen, denn die sozialen Medien stellten nur einen Teil der Medienkultur von

City For All dar. Rachel bediente zunächst diese Medienform, da ihr internetfähiges Tablet alle

technischen Voraussetzungen mit sich brachte. Im Anschluss aber schalteten City For All auch

lokale Zeitungen und Fernsehsender ein. Klassische Massenmedien beteiligten sich am Diskurs. In

einem ihrer Tweets fand sich etwas ein Link zur Berichterstattung von Haaretz, die eine

bedeutenden israelischen Tageszeitung ist.27

Abb.1: Soziale Medien „in use“: Tweet von City For All in Tel Aviv28

27 URL: https://twitter.com/City4All/status/385641300789559296 (Stand: 15. November 2015).28 Abb. 1 ist ein Screenshot des Originaltweets von Twitter.

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Hilfreich für das massenmediale Entrüstungspotential war in dieser konkreten Situation, dass – wie

sich herausstellte – der Bräutigam eben nicht nur ein „normaler“ Bürger Tel Avivs war, sondern der

Sohn eines wohlhabenden Hotelbesitzers, der, so betont Rachel, „mit der lokalen politischen Elite

eng verbandelt“ sei. Dieser „wohlhabende Sohn“ feierte seine private Hochzeit am eigentlich

öffentlichen Strand von Tel Aviv. Rachel vermutete (zurecht), dass die Massenmedien in einem

solchen Fall hellhörig werden würden. Warum sollte sie im neuen politischen

Kommunikationsraum keine klassischen Medien(-strategien) nutzen? Doch auch damit nicht genug.

In ihrer Funktion als Abgeordnete brachte Rachel schliesslich eine Gesetzesinitiative in den Stadtrat

ein, in der sich City For All für ein striktes Verbot der Nutzung des öffentlichen Raumes für private

Zwecke aussprach. Dieser letzte Diskurskanal bahnte sich seinen Weg fernab jeglicher Virtualität:

auf Papier, eingespeist über einen Ausschuss, der – „on-site“ – in einem kleinen schlecht

beleuchteten Zimmer im Tel Aviver Rathaus tagte.

Wie lässt sich dieser neue Kommunikationsraum konzeptionell bestimmen? Daniel Miller und

Mirca Madianou weisen in Polymedia darauf hin, dass medienkulturelle Praktiken eben nicht

monomedial sind.29 Folglich ist auch die medienkulturelle Textur politischer Praxis polymedial

geprägt. Dabei verschwimmt das, was wir analytisch als „real“ und „virtuell“ bezeichnen, faktisch

zunehmend. Es entsteht eine Form medialer „Hybridität“, d.h. politische Praxis ist gleichzeitig on-

site und on-line.30 Es handelt sich um eine spezifische Grenzziehung: Beide Bereiche horizontaler

Medialität erscheinen nämlich zentral, um die Textur heutiger Medienkultur adäquat zu

ethnographieren und in ihrer politischen Dimension kulturwissenschaftlich verstehen zu können.

Der beschriebene Ausschnitt einer israelischen Mikrorealität veranschaulicht, wie politische

Kämpfe im digitalen Zeitalter eine neue horizontale Medientextur erhalten. Die Grenzen politischer

Praxis erscheinen tatsächlich insofern „fliessend“, dass sich ein politisierbarer

Kommunikationsinhalt über eine Vielzahl medialer Kanäle verbreitet. Dabei kann er – wie im

genannten Fall – massenmedial katalysiert werden und über die Einbindung klassischer

demokratischer „on-site“ Räume politische Synergien entfalten. Wie im nächsten Abschnitt gezeigt

wird, entstehen hier aber durchaus auch neue Grenzen und Widerstände.

„Mehr als ein Link!“ Vertikale Medialität und Glokale Informationsregime

Verschiebt man den Fokus von den horizontalen Webrichtungen politischer Medienkultur und blickt

auf das vertikale Ineinandergreifen ihrer Fäden, untersucht also das Verhältnis lokalen politischen

Handelns zu regionalen, nationalen oder globalen Formen politischer Praxis, lässt sich auch hier

29 Mirca Madianou, Daniel Miller. Migration and new media. Transnational families and polymedia, Abingdon 2012. 30 Marion Hamm beschreibt die Hybridität politischer Räume am Beispiel globaler Protestkultur ausgesprochen

anschaulich. Vgl.: Marion Hamm. Reclaiming virtual and physical spaces. In: Open 11 (2006), S. 96-111.

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eine spezifische Textur beschreiben. Dabei soll es weniger um die banale Tatsache gehen, dass

heutige digitale Infrastruktur globale Vernetzung an-sich ermöglicht. Vielmehr stellt sich die Frage

nach den besonderen Wissensformen, die sie hervorbringt. Welche Informationen können medial

wie politisch nutzbar gemacht werden? Und welche Art von technischem (Meta-)Wissen wird

benötigt, um diese Informationen apriori nutzbar machen zu können? Letzteres mag zunächst etwas

kryptisch klingen, bezieht sich aber auf eine einfache Feststellung: Fehlt das technologische Wissen,

um ein Medium zu bedienen, lassen sich die zu kommunizierenden Inhalte – mögen sie politisch

auch noch so brisant sein – nicht verbreiten. Es geht folglich um Wissen durch und Wissen über

Technologie.

Die vertikale Medienkultur demokratischer Praxis lässt sich als glokales Informationsregime

verstehen. Was ist mit „glokal“ gemeint? Barry Wellmans Konzept „Glokalisierter Netzwerke“

beschreibt, dass die sozialen Räume der heutigen Netzwerkgesellschaft weiterhin lokale

Verortungen besitzen und gleichzeitig globale Verbindungen aufweisen: „The Internet both provides

a ramp onto the global information highway and strengthens local links within neighborhoods and

households.“31 Der lokale Ort – „place“ – bleibe nach wie vor wichtig, nur bedeute soziale Nähe

eben nicht mehr zwangsläufig auch physische Nähe.

Abb. 2: Die Vertikalität glokalisierte Netzwerke32

31 Barry Wellman. Little boxes, glocalization, and networked individualism. In: Makato Tanabe, Peter van den Besselaar, Toru Ishida (Hg.). Digital cities II: Computational and sociological approaches. Berlin 2002, S. 10-25, hier: S. 4. Glokale Informationsregime können sicherlich auch die von ihm beschriebene Strukur eines „Vernetzten Individualismus” („Networked Individualism”) annehmen. Das folgende Fallbeispiel lässt sich allerdings besser verstehen, wenn man es als glokales Netzwerk begreift, da die lokale Gruppe der PAH als politische Gemeinschaft funktioniert und mehr ist, als ein temporärer Zusammenschluss von Individuen. Ihre lokale „Box” ist durchaus solide (siehe Abb. 2).

32 Ebd., S. 3. Auch wenn Vertikalität in einem zweidimensionalen Modell nur schwer darstellbar ist, hilft die Abbildung von Barry Wellman, um das Argument zu veranschaulichen.

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Was nun haben glokalisierte Netzwerke mit der vertikalen Dimension heutiger Medienkultur zu

tun? Es geht um die spezifische Form der Wissensvermittlung, die sie ermöglichen: „Knowing how

to network (on and offline) becomes a human capital resource, and having a supportive network

becomes a social resource“.33 Was Wellman hier als Netzwerken, Humankapital und Soziale

Ressource benennt, lässt sich über glokale Informationsregime auch politisch nutzbar machen.

Einen solchen Fall symbolisiert die Plataforma de Afectados por la Hipoteca (PAH) aus Spanien

geradezu beispielhaft.

Zur ersten Begegnung mit dem lokalen Ableger der PAH Murcia kam es 2013, in einem

Kellergebäude, dessen dicke Mauern jeglichen Internetempfang unmöglich machen. Aktivisten der

PAH gibt es in nahezu jeder spanischen Stadt. Sie setzen sich für die unzähligen von

Zwangsenteignungen betroffenen Menschen ein, die im Zuge der spanischen Immobilienkrise ihre

Hypotheken nicht mehr bedienen können und vom Verlust ihres Heimes bedroht sind.34 In Murcia

veranstalt die PAH jeden Dienstag eine Art vierstündige Selbsthilferunde, die im Keller des Roten

Kreuzes („La Cruz Roja“) stattfindet. Betroffene kommen nicht nur, um sich zu informieren,

sondern auch um – oft zum ersten Mal – ihre persönliche Leidensgeschichte zu erzählen, die fast

immer soziale und psychische Abgründe offenbart: eine junge, alleinerziehende Mutter, die mit

ihren beiden kleinen Kindern seit einem Jahr ohne Wasser und Strom lebt; ein Familienvater, der in

Tränen ausbricht als er erzählt, dass er soeben zwei Häuser verloren hat: zuerst das eigene und

anschliessend das seiner Eltern, deren Hypothek er aus Verzweiflung verwendet hatte, um die

eigenen Bankschulden doch noch irgendwie zu bedienen – erfolglos; oder ein älterer Mann, der vor

versammelter Runde damit droht, sich eine Pistole zu kaufen, „um dem ganzen Spuk ein Ende zu

machen“.35 Neben Schränken, Tischen und Stühlen stand in diesem spärlich eingerichteten Keller

nur eine Flipchart. Auf ihr befand sich eine Telefonnummer, eine handschriftlich ergänzte

Emailanschrift und eine Internetadresse, die auf etwas verweist, das sich „Documentos útiles“

nennt: nützliche Dokumente.

33 Ebd., S. 5.34 Ein Beispiel für eine solche Tragödie findet sich hier: http://transformations-blog.com/civil-disobedience/

(aufgerufen am 15.11.2014). Auch wenn die spanische Regierung bisher (Stand: November 2014) keine offiziellen Zahlen zu den Ausmassen dieser Tragödie bereitgestellt hat, gehen realistische Schätzungen von bis zu 400.000 Enteignungen aus, zu denen es im Schatten der Euro-Krise gekommen ist.

35 Immer wieder kommt es in Spanien nach einer „desahucio” (einer Zwangsenteignung) zu Selbstmorden, was sicherlich auch daran liegt, dass Enteignungen in Spanien besonders hart sind. Es gibt dort (Stand: November 2014) keine gesetzlich garantierte Form der Privatinsolvenz. Die Konsequenzen für die Betroffenen sind daher wirklich fatal: eine „desahucio“ bedeutet, dass man das eigene Heim juristisch und physisch verliert, die Hypothekenschulden aber behält. Man zahlt also – im schlimmsten Fall obdachlos – weiter an die Bank, während das Haus leer steht.

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Abb. 3: Die analoge „Tür“ zum glokalen Wissensregime: PAH Murcia

Kein Beamer. Keine Powerpoints. Nur ein einfacher Hyperlink, materialisiert auf einem Stück

Papier. Allerdings verbirgt sich hinter diesem amateurhaft wirkenden Poster eine mächtige

politische Waffe: juristisches Spezialwissen. Denn die Webadresse führt keineswegs zur lokalen

Internetseite der Murcianischen Aktivisten, sie vernetzt Individuen aus Murcia mit einem auf

Wordpress basierenden, nationalen Cyberraum, in dem das gesammelte Wissen einer sozialen

Bewegung jederzeit abgerufen werden kann. Dieses glokale Informationsregime beinhaltet das

Konzentrat der über die Jahre akkumulierten Erfahrungen aller lokalen Aktivisten von Barcelona bis

Santiago de Compostella. Sich in Spanien gegen eine drohenden Zwangsenteignung zu wehren, ist

enorm kompliziert. Gerät eine Familie in Schieflage und kann die Hypothekenzinsen nicht mehr

bedienen, erfordert dies die richtigen rechtlichen Schritte zur richtigen Zeit in der richtigen

Reihenfolge. Die PAH hat diesen sozialen Aushandlungsprozess zwischen Banken, Staat und Bürger

verstanden, bricht ihn über die Bereitstellung von konkreten und spezifischen Informationen

herunter und macht ihn so handhabbar für das einzelne Individuum. Betroffene finden auf der

Webseite tatsächlich ausgesprochen „nützliche“ Dokumente und Informationen, die sie während der

Zwangsenteignung unterstützen, diese im besten Fall gar verhindern. Es handelt sich etwa um

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juristisch korrekt formulierte Anschreiben an die Hausbank oder um praktische Hinweise für den

notwendigen Widerspruch gegen eine gerichtliche Verfügung, mit dem juristische Laien sich per

„Copy-and-Paste“ auf die aktuelle Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes berufen

können. Dieses Spezialwissen wird in Spanien nicht vom Staat bereitgestellt, sondern von einer

vernetzen sozialen Bewegung, deren Aktivisten in der Nachbarschaft aktiv sind (Häuser besetzen,

Flyer verteilen, etc.), auf regionaler und nationaler Ebene interne Koordinationsaufgaben

übernehmen oder sich mit Lobbyisten und Parteien in Brüssel austauschen.36 Wissen durch

(Medien-)Technologien hat hier tatsächlich neue Beteiligungs- und Ermächtigungsformen

geschaffen. Es bringt aber ebenso neuartige technologische Exklusionspotentiale mit sich, die es

ernst zu nehmen gilt. Denn das durch digitale Medien vertikal transportierte Wissen – von „lokal“

nach „global“ und zurück – benötigt immer auch ein entsprechendes Technologieverständnis über

Medien, das sozusagen „mitgeliefert“ werden muss. Solches Metawissen glokaler

Informationsregime ist notwendig, um bereitgestellte Informationen auch zur praktischen

Anwendung zu bringen. In Form von technologischem „Knowing-how“ waren diese Informationen

bei der PAH frei zugänglich und konnten ihre Wirkung entfalten, wenn man wusste, wo man sie

fand und wie man sie technisch verwendete. Es handelte sich um keine grossen Datenmengen, man

brauchte lediglich einen Internetzugang, und der Programmstandard, der zu öffnenden Dokumente,

war weitverbreitet. Dennoch gab es auch hier immer wieder technologiebezogene Probleme der

Betroffenen, weil sie etwa ein Dokumente nicht öffnen oder drucken konnten. Die Aktivisten der

PAH halfen ständig auch mit der Bereitstellung von technischem Wissen („Laden Sie dieses

Programm dort herunter“, „Warten Sie, ich drucke es Ihnen aus“, etc.). Schaut man weniger auf die

„Bürger als Nutzer“ und stattdessen auf die „Bürger als Produzenten“ dieses glokalen

Wissensregimes – viele Betroffene sind gleichzeitig auch Aktivisten der PAH –, dann wird dieses

Problem noch viel zentraler. Ob es darum ging Wordpress korrekt zu bedienen, um etwa neue

Vorlagen hochzuladen, ein Video für YouTube ansprechend zu schneiden oder die lokale Facebook-

Gruppe als Admin zu verwalten, mediale und medientechnische Arbeit war stets ein wesentlicher

Teil der politischen Praxis der Aktivisten.37

Die Vermittlung der für diese Arbeit notwendigen Medienkompetenzen ist in polymedialen

politischen Räumen unerlässlich! Indem das glokale Wissensregime eingebunden ist, möchte man

verhindern, dass eine neue Form politischer Exklusion entsteht – die virtuelle Immobilität. Diese

Gefahr ergibt sich dabei keineswegs deterministisch aus einer irgendwie komplizierten neuen

36 Das „global” ist bei der PAH auch faktisch angebracht, da zahlreiche Bürger aus Lateinamerika betroffen sind, die ebenfalls Hypotheken in Spanien haben. So wird in Murcia z.B. eng mit dem ecuadorianischen Konsulat zusammengearbeitet.

37 In gewisser Weise waren sie so etwas wie der Prototyp des politischen Medienunternehmers.

12

Technologie. Ebenso wie Sprache als Medium erlernt werden muss, so muss auch der Umgang mit

digitalen Medien erlernt (und gelehrt) werden. Um zur Veranschaulichung erneut auf das Beispiel

PAH zurückzukommen: Während einer Selbsthilferunde meldete sich eine ältere Frau zu Wort, die

kaum Spanisch sprach und einen so starken osteuropäischen Akzent hatte, dass sie von den

Teilnehmern nicht verstanden wurde – was die Lösung ihres Problems nicht leichter machte. Die

Frau, unfähig sich verständlich auszudrücken, brach schliesslich in Tränen aus. Erst als sich zufällig

ein weiterer, bulgarisch sprechender Betroffener fand, konnten die Aktivisten die Dame mit den

notwendigen Informationen versorgen.

Polymediale politische Räume generieren keine grenzenlose, demokratische Partizipation, im

Gegenteil, sie erzeugen zunächst einmal eine zusätzliche potentielle Grenze: eine neue techno-

ontologische Handlungsebene. Dort kann politisch erfolgreich gehandelt werden, wie das glokale

Wissensregime der PAH paradigmatisch zeigt, aber es entstehen ebenso neue Möglichkeiten

technologiebasierten Scheiterns – „Error 404: The requested URL was not found on this server.“

„Wir sind alle Cyborgs!“ Meta-Medialität und [die Strukturen hinter den] Infrastrukturen

Politische Praxis zeichnet sich durch eine dritte medienkulturelle Dimension aus: eine Code-

basierte Meta-Medialität, die lautlos und unsichtbar hinter all den Glasfaserkabeln, Touchscreens

und Rechenzentren wirkt. Das Konzept der „Software-like Situations“ von Adrian Mackenzie

veranschaulicht, was damit gemeint ist.38 Mackenzie bezieht sich auf eine sehr spezifische Art von

sozialen Konstellationen, die man als Mensch-Interface-Situationen beschreiben könnte. Er fragt

sich, welche Form von „Agency“ hinter der Hardware dieser Interfaces steckt und inwiefern dies so

etwas wie das technologische Betriebssystem sozialen Handelns darstellen könnte? „Software-like

Situations“ versteht Software und den sie strukturierenden Code nicht aus der formal abstrakten

Perspektive des Informatikers, sondern fragt nach ihrer sozialen Dimension.

„Software in its specificity is not a given. What software does is very intimately linked with

how code is read and by whom or what, that is, by person or machine. Sociologists and

anthropologists of technology have established that any formalization needs to be

understood ‚in use’“39

38 Adrian Mackenzie. Cutting code: software and sociality. New York 2006. Mackenzies Konzept lässt sich spezifischer auf digitale Technologien anwenden, als die häufig in diesem Zusammenhang verwendeten Actor-Network-Konzepte, die im Prinzip jegliche Mensch-nicht-Mensch-Akteuerskonstellation einschliessen. Vgl. etwa: Michel Callon, M. (1986). The Sociology of an Actor-Network: the Case of the Electric Vehicle. In: Michael Callon,John Law, Arie Rip (Hg.). Mapping the Dynamics of Science and Technology: Sociology of Science in the Real World. London 1986, S. 19-34.

39 Mackenzie: Cutting code, S. 6.

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Wann immer in menschlichen Interaktionen Software benutzt wird, so liesse sich das Konzept

zusammenfassen, werden Handlungen durch Code in gewisser Weise vor- bzw. co-strukturiert. Was

nun ist eine „software-like situation“ in der politischen Praxis und welche Art Handlungsräume

erschafft sie?

In diesem Codefragment der Demokratie-Software LiquidFeedback, die die Piratenpartei

(PIRATEN) zur parteipolitischen Meinungsbildung nutzt, geht es darum, wie die Software

Abstimmungen gewichtet.40

Line source

152 if (logging && candidates[i].score < 1.0 && !candidates[i].seat) log_candidate = 1;

153 if (log_candidate) printf("Score for suggestion #%s = %.4f+%.4f*%.4f",

candidates[i].key, candidates[i].score, scale, candidates[i].score_per_step);

154 if (candidates[i].score_per_step > 0.0) {

155 double max_scale;

156 max_scale = (1.0-candidates[i].score) / candidates[i].score_per_step;

157 if (max_scale == scale) {

158 // score of 1.0 should be reached, so we set score directly to avoid floating point

errors:

159 candidates[i].score = 1.0;

Mackenzie unterscheidet zwischen vier Elementen einer „software-like situation in use“: „Code“,

„Originators“, „Recipients“ und „Prototypes“.41 Code stellt für ihn mehr dar als die Semantik und

Syntax einer Programmiersprache, er sei eine „expression of human agency in relation to things“,

weil er eben nicht abstrakt bleibe, sondern tatsächlich dazu führe, dass etwas „startet“, „sich

bewegt“ oder „aufhört“. Dabei ist Code selbst immer eingebettet in ein umfassenderes Netz sozialer

Beziehungen. Gleichzeitig definiert er diese Beziehungen auf eine spezifische Weise und verändert

– indem er ausgeführt wird („exe“) – in letzter Konsequenz deren Zusammensetzung. Um auf das

Codefragment zurückzukommen: Es ist eben „if (logging && candidates[i].score < 1.0 && !

candidates[i].seat)“ und nicht „if (logging && candidates[i].score < 2.0 && !candidates[i].seat)“.

Die Zeichen „< 1.0“ oder „< 2.0“ mögen zwar formal-abstrakte Beziehungen darstellen, als soziale

Zeichen „in use“ verändern sie aber tatsächlich die Stimmgewichtung von Gruppen und damit deren

40 URL: http://www.public-software-group.org/mercurial/liquid_feedback_core/file/tip/lf_update_suggestion_order.c#l152 (Stand 15. November 2014).

41 Vgl.: Mackenzie: Cutting code, S. 11-16.

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Machtverhältnisse: „Code as a material has become a significant way of distributing agency“.42

„Originators“ – das zweite Element einer „software-like situation“ – beschreibt, dass Code immer

jemanden (Personen) oder etwas (Maschinen) benötigt, um ihn zu schreiben.

„Recipients“ bezieht sich – drittens – auf die Tatsache, dass es stets Personen (oder Maschinen)

gibt, die etwas durch Code erdulden (jemand wird gewählt) oder etwas mit ihm machen (jemand

wählt).

Und „Prototypes“ meint abschliessend, dass eine Software ein spezifisches „set of operations“

verkörpert und damit eine soziale Konstellation idealtypische repräsentiert, ob wie im gerade

erwähnten Codeausschnitt als Prototyp eines spezifischen Wahlverfahrens oder – um Mackenzies

Beispiel anzuführen – in der Form einer Fotosoftware „which presents a set of operations relating to

a photographic workshop equipped with instruments such as scissors, brushes, pencils and paint.“43

Für die wählenden Parteimitglieder der PIRATEN, die Recipients, ist das durch die Originators

programmierte Codefragement von LiquidFeedback bei der eigentlichen Abstimmung natürlich

„unsichtbar“ – in Mackenzies Worten:

„What is visible to a programmer working on a piece of software may be almost totally

invisible to users, who only see code mediated through an interface or some change in their

environment: the elevator arrives, the television changes channels, the telephone rings.“44

Man kann also nicht behaupten, dass Code nicht „wirkt“. Mit LiquidFeedback wird gewählt, damit

entschieden werden kann. Dabei wird eine spezifische Stimmgewichtung verwendet und eine

andere nicht. Der Code ist nicht die Wahl, aber er strukturiert sie. In genau diesem Sinne hat

Software eine Art „secondary agency […] supporting or extending the agency of some primar

agent“.45 Das was der Recipient als Infrastruktur oder Interface wahrnimmt, äussert sich sich für den

Originator als Code-basierte Meta-Medialität, die er politisch-kulturell spezifisch auflädt, je

nachdem welche Verfahren er in den stattzufindenden sozialen Prozess apriori einschreibt. Wenn

der Originator den Code programmiert – z.B. als Prototyp eines Abstimmungsprozederes –,

beschreibt er damit auch konkrete Handlungsanweisungen für die politische Praxis. Und diese Form

der „secondary agency“ existiert immer, wenn es zu einer Mensch-Interface-Situation kommt, wenn

also Software involviert ist. Der Zusammenhang zur vertikalen und horizontalen Medialität

erscheint fast banal, aber jedes soziale Medium (Twitter, Facebook, Whatsapp, etc.) und jede

42 Ebd., S. 8. Eigene Hervorhebung.43 Ebd., S. 16.44 Ebd., S. 13.45 Ebd., S. 8.

15

digitale Technologie ist Code-basiert, und damit wird jede politische Handlung, die auf ein solches

Medium zurückgreift, durch diese Meta-Medialität mitgeprägt und vorstrukturiert. Wir kommen

schlicht nicht umhin, „software-like situations“ in den Blick zu nehmen, wenn wir die heutige

Medienkultur politischer Praxis analysieren möchten. Und dennoch liegt die „Blackbox Code“ nach

wie vor kaum im Fokus der Kulturwissenschaften. Zu formal? Zu abstrakt? Zu kompliziert?

Öffnen wir die Augen und richten unseren Blick auf „Software in use“, erscheint jene techno-

ontologische Ebene, von der im vorherigen Abschnitt schon ansatzweise gesprochen wurde: Wir

sehen sozial medialisierte Mensch-Technik-Cyborgs, die ein Teil ihres Bewusstseins on-line

zuschalten und die ohnehin brüchige Grenze zwischen Organismus und Technologie weiter

verschwimmen lassen.46 Was bedeutet dies für die politische Praxis?

Landesparteitag der bayerischen PIRATEN. Unterhaching. 12.1.2013. 16:30 Uhr. Beschreibung des

Settings: Eine kleine Turnhalle. Schlechtes Licht. Vielleicht 100 Teilnehmer. Tische und Stühle

vollgestopft mit Technik. Kabel, Laptops, Lautsprecher, ein riesiger Screen über der provisorischen

Empore, auf den der aktuelle Tagungsordnungspunkt gebeamt wird. Das ganze Geschehen wird per

Live-Stream ins Internet übertragen, damit auch all die Mitglieder auf dem Laufenden bleiben

können, die es physisch nicht in die Halle geschafft haben. Ziel der Veranstaltung ist es, über das

Parteiprogramm abzustimmen und neue Parteipositionen festzulegen. Eines der am hitzigsten

diskutierten Positionspapiere ist ein Antrag mit dem Titel „Gamechanger: Neutrale

gesellschaftliche Plattform“, der – mit knapper Mehrheit von der Versammlung angenommen –

nunmehr die „Frauenquote“ mit der Begründung ablehnt, dass diese nicht die eigentliche Ursache

sozialer Ungleichheit beseitige, sondern lediglich an den Symptomen schraube.

„Solange autoritäre und von Wettbewerbsgedanken geprägte Diskurse, Arbeits- und

Verhaltensweisen das öffentliche Leben prägen, haben alle Menschen einen Nachteil, die

sich dieser Methoden und Verhaltensweisen nicht bedienen können oder wollen. Es ist

erklärtes Ziel der Piratenpartei Bayern, eine Gesellschaft zu bauen, die keinen normierten

Menschen benötigt.“47

Zusätzlich zu den an den Mikrofonen und quer über die Tische geführten, lautstarken Debatten, die

es im Vorfeld der Abstimmung des Gamechanger-Antrages gab, wurde zeitgleich auch noch auf

einer anderen Ebene diskutiert: auf Twitter:48 46 Donna J. Haraway. A Cyborg Manifesto: Science, Technology and Socialist Feminism in the 1980s. In: Donna J.

Haraway (Hg.). Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature. New York 1991, S. 149-181. 47 URL: https://wiki.piratenpartei.de/BY:Landesparteitag_2013.1/Antragsfabrik/Positionspapier_003 (Stand 15.

November 2014).48 Das Gespräch findet sich auf Twitter. URL: https://twitter.com/der_kunzelmann/status/290103402149601281 (Stand

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@der_kunzelmann: Bist du eigentlich für eine Frauenquote? Das würde mich schon mal

interessieren :-)

@cmr_cx: Bei sinnvollen Zielen, die damit auch wirklich erreicht werden können finde ich

Quoten ein mögliches Mittel.

@cmr_cx: Einfach nur mehr Frauen irgendwo ist z.B. kein sinnvolles Ziel.

@der_kunzelmann: Es geht mir bei der Quotenfrage weniger um ein ja/nein, sondern um

die Begründung.

@cmr_cx: Ich stelle mich gegen die übliche Begründung, dass Männer grundsätzlich Frauen

unterdrücken.

Um politische Praxis – im konkreten Beispiel: parteiinterne Meinungsbildungsprozesse – in all

ihren medialen Dimensionen zu verstehen, kann diese neue techno-ontologisch Ebene nicht

ausgeblendet werden. Sie erzeugte so etwas wie eine lokale Simultanität politischer Debatten. Der

Recipient @cmr_cx war gleichzeitig physisch und virtuell auf dem Parteitag anwesend, in der Halle

über die Tische hinweg diskutierend, und über den Hashtag „#lptby“ über Twitter ebenfalls

diskutierend.49 Ohne diese Frage genauer klären zu können: Was machen „software-like situations“

und die durch sie generierte, techno-ontologische Ebene mit lokalen politischen Praxen?

Und auch hier muss erneut auf das Phänomen virtueller Immobilität und der aus ihr potentiell

folgenden politischen Exklusion eingegangen werden. Wenn sich Mensch-Technik-Cyborgs

während lokaler politischer Diskussionen in einen simultan existierenden virtuellen Raum

zuschalten können und ihre medial artikulierten Wertvorstellungen politische Wirkung entfalten,

was passiert mit denjenigen, die dazu nicht fähig sind, sei es aufgrund fehlenden technischen

Wissens, weil die lokale Infrastruktur versagt oder aus politischen Gründen?50

15. November 2014).49 Es stellte sich plötzlich sogar heraus, dass wir gleichzeitig on-site und on-line miteinander diskutierten, da wir uns

weder persönlich noch unsere Twitterpseudonyme kannten. Die virtuellen Diskussionen wurde übrigens ab und an gestört, weil der Hashtag „#lptby“ gleichzeitig von leichtbekleideten Pornoavataren in den USA benutzt wurde – global-digitale Interferenzen.

50 Tarleton Gillespie zeigt am Beispiel des Twitter Trends Algorithmus wie diese Meta-Medialität wirkt und welche politische Diskursmacht sie entwickeln kann. Vgl.: Tarleton Gillespie. Can an algorithm be wrong? Twitter Trends, the specter of censorship, and our faith in the algorithms around us. In: Culture Digitally (Oct 19, 2011). URL: http://culturedigitally.org/2011/10/can-an-algorithm-be-wrong (Stand: 15. November 2014). Und was geschieht – um noch spekulativer, aber keineswegs unrealistisch zu werden –, wenn politische Bots diese neuen Diskursräume manipulieren?

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Plädoyer für eine zeitgenössische Medienethnographie politischer Praxis

Zurück auf Anfang. Zurück zu Brecht. Soziale Medien sind, das dürften die bisherigen

Ausführungen schon angedeutet haben, eben keine Radiotechnologie, die jeder gleichberechtigt

bedienen kann. Man stelle sich nur einmal vor, jeder der 2.802.478.934 Internetnutzer hätte seine

eigene Frequenz, auf der er senden könnte. Welchen Kanal würde ich hören?

Was wir als „soziale Medien“, „digitale Technologien“ oder „virtuelle Mobilität“ bezeichnen,

erzeugt eine spezifische Medialität politischer Praxis, die neue Formen demokratischer Partizipation

und Ermächtigung ermöglicht, gleichzeitig aber auch neue Felder des Scheitern definiert. Virtuelle

Immobilität und die damit potentiell verbundene, politische Exklusion sind in

hochtechnologisierten, hypermedialen Kontexten oft nur einen Klick weit entfernt.

Drei lokale Politikfelder in München, Murcia und Tel Aviv ethnographierend, wurde mit Hilfe von

Lutz Musners heuristischer Metapher einer „kulturellen Textur sozialer Phänomene“ versucht, diese

Zweischneidigkeit heutiger Medienwelten verstehbar zu machen. Medienkultur liesse sich so

analytisch in drei Stränge gliedern: in „horizontal“, „vertikal“ und „meta“ verlaufende Kanäle von

Medialität. Dadurch hat sich gezeigt, dass demokratische Mikrorealitäten tatsächlich „im Fluss“

sind, aber eben komplex, widerständig und vielschichtig. Grenzen politischer Praxis existieren auch

in unserer sozial medialisierten Welt, sie erhalten lediglich eine spezifische, cybertechnologische

und medienkulturelle Textur. Diese Grenzverschiebungen und Verdunkelungen gilt es

ethnographisch offenzulegen. Dabei ging es in der Analyse niemals um Technologie-an-sich,

sondern stets um die „Technizität“ politischer Praxis, die sich eben (auch) medial äussert: um den

Sitz der Medientechnologien im politischen Leben.51

Mit Blick auf die horizontale Dimension von Medialität ist festzustellen, dass wir heute ein breites

Spektrum an Medien nutzen und benutzen: dies komplementär52, simultan53, sozial vernetzt54 und

gemeinschaftlich ausgehandelt55. Das Beispiel einer lokal-politischen Auseinandersetzung um den

öffentlichen Raum von Tel Aviv hat diese Polymedialität auch für das Feld des Politischen

nachgewiesen. Politische Handlungen kanalisieren sich wie im Fall von City For All über eine

Vielzahl von Medien. Dies reicht von sozialen Medien über Massenmedien bis hin zu klassischen,

institutionalisierten Formen demokratischen Handelns. Polymediale Räume sind dabei keineswegs

51 Thomas Hengartner. „Technik – Kultur – Alltag“. Technikforschung als Alltagsforschung. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 106 (2012), S. 117-139, hier: S. 119.

52 Jan-Felix Schrape. Komplementarität statt Konkurrenz: Social Media und Massenmedien in der gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktion. In: Ulrich Dolata, Jan-Felix (Hg.): Internet, Mobile Devices und die Transformation der Medien. Berlin 2013, S. 277-302; Vgl. klassisch: Wolfgang Riepl. Das Nachrichtenwesen des Altertums mit besonderer Rücksicht auf die Römer. Leipzig 1913.

53 Alexander Knorr. Dichte Teilnahme Online. Unveröffentlichtes Manuskript 2011.54 Wellman: Little Boxes, glocalization, and networked individualism.55 Castells: Communication, power and counterpower in the network society.

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ausschliesslich digital oder virtuell. Politische Praxis ist hybrid, d.h. sie ist on-site und on-line

vielfach „verschränkt“. Eine medienethnographische Analyse des Politischen sollte beide Bereiche

in ihren wechselseitigen Bezügen berücksichtigen.

Das Beispiel der PAH Murcia veranschaulicht ja geradezu paradigmatisch, dass glokal

bereitgestelltes „Knowing-how“ politische Teilhabe und soziale Inklusion fördert, indem es

Individuen dazu ermächtigt, in ihren Wohnungen zu bleiben – bei ihren Nachbarn, ihren Freunden,

ihrer Familie. Die vertikale Medialität politischer Praxis wurde hier im Spannungsfeld von Wissen

durch und Wissen über Technologie untersucht. Politisches Handeln, so hat sich gezeigt, besteht

einerseits aus Arbeit mit Medien und anderseits in der Vermittlung von Technikwissen und

Medienkompetenz. Das von der Plataforma de Afectados por la Hipoteca (PAH) errichtete glokale

Wissensregime ermächtigt Bürger zum sozialen Handeln. Es ist eine zivilgesellschaftliche Form

von politischem Empowerment. Die digitale Infrastruktur (Internet, Wordpress, soziale Medien,

etc.) erzeugt den medialen Möglichkeitsraum hierfür. Allerdings entstehen gerade dadurch auch

neue Grenzen, die ihrerseits virtuelle Immobilität erzeugen können.

Ausblenden sollte man diese Gefahr virtueller Immobilität keineswegs, verweist sie doch auf die

dritte Dimension heutiger Medienkultur: Formen von Meta-Medialität, die eine neue techno-

ontologische Ebene erzeugen. Damit sind jene Strukturen hinter den physischen Infrastrukturen

gemeint, die sich im Anschluss an Adrian Mackenzie als „software-like situations“ verstehen lassen.

Code und in zunehmendem Masse auch Algorithmen prägen medial vermittelte Realitäten mit.

Dadurch – das hat das Fallbeispiel der PIRATEN gezeigt – strukturieren sie potentiell politische

Prozesse vor. Irgendjemand (oder irgendetwas) muss auch heute die „Synthesis des Mannigfaltigen“

erbringen und eine Auswahl aus der empirischen Unendlichkeit von Informationen treffen.56 Diese

„secondary agency“ von Software und Algorithmen gilt es in den Blick zu nehmen. Statt Code als

soziale Situation „in use“ zu begreifen, die neue Formen der Partizipation ermöglicht und neue

Ausgrenzungen produziert, werden diese mikropolitischen Betriebssysteme der Demokratie nach

wie vor viel zu oft von den qualitativen Sozial- und Kulturwissenschaften übersehen – obwohl sie

allgegenwärtig sind. An welchem Tag waren Sie das letzte mal in keiner „software like situation“?

Die Meta-Medialität politischer Praxis ist zwar wirkmächtig, aber eben auch unsichtbar, lautlos,

versteckt. Software codiert soziale Interaktionen immer spezifisch. Ihre techno-ontologische Ebene

lässt sich in konkreten Kontexten zuschalten – oder eben nicht. Das ist eine durchaus bewusste

Wahl des Mensch-Technik-Cyborgs – oder eben nicht! Eine demokratische Frage bleibt es in jedem

Fall. Und die Kulturwissenschaft bietet alle notwendigen Instrumente, um sie zu beantworten.

56 Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft. In: Kant, Immanuel (Hg.): Gesammelte Schriften. Band 3. Berlin 1904, AA III: S. 125.

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