Verstegen, Ute: Bildformationen und Bildanpassungen. Genese- und Hybridisierungsprozesse der...

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Ute Verstegen Bildformationen und Bildanpassungen. Genese- und Hybridisierungsprozesse der frühchristlichen Bildkultur im Kontakt zu anderen Religionen Schlagwörter: Nomina sacra, Orans, Staurogramm, Bilderfeindlichkeit, Frühchristen- tum, Spätantike, Hybridisierung, Visuelle Kultur Keywords: Nomina sacra, orant, staurogram, iconoclasm, early Christianity, late antiquity, hybridization, visual culture Im Rahmen des Tagungsthemas „Religionen des Wechsels – Wechsel der Re- ligion“ beschäftigt sich dieser Beitrag mit der Frage, wie die visuelle Kultur einer Religionsgemeinschaft, ihre Zeichen- und Symbolsysteme durch den Kontakt zu anderen Religionen beeinflusst werden können. Vor dem Hinter- grund dieser Fragestellung wurden aus dem Repertoire der frühchristlichen Bildkunst drei Fallbeispiele ausgewählt, die interessante Einblicke bieten: zwei beschäftigen sich mit der Genese einer visuellen Kultur der frühen Christen im 3. Jahrhundert in Auseinandersetzung mit jüdischen und po- lytheistischen Bildvorstellungen, ein weiteres mit der christlichen Reaktion auf die bildkritische Haltung des Islam in den Kontaktzonen der musli- misch eroberten Gebiete, speziell mit dem syrisch-palästinischen Raum des frühen 8. Jahrhunderts. Ausgehend von der Prämisse, dass Religion als eine Besonderheit von Kultur aufzufassen ist, wird die Frage unter dem Aspekt von Hybridisie- rungsphänomenen in der visuellen Kultur untersucht, ein Ansatz, der – aus- gelöst durch die so genannten Postcolonial Studies – seit einigen Jahren im

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Ute Verstegen

Bildformationen und Bildanpassungen. Genese- und Hybridisierungsprozesse der frühchristlichen Bildkultur

im Kontakt zu anderen Religionen

Schlagwörter: Nomina sacra, Orans, Staurogramm, Bilderfeindlichkeit, Frühchristen-tum, Spätantike, Hybridisierung, Visuelle Kultur

Keywords: Nomina sacra, orant, staurogram, iconoclasm, early Christianity, late antiquity, hybridization, visual culture

Im Rahmen des Tagungsthemas „Religionen des Wechsels – Wechsel der Re-ligion“ beschäftigt sich dieser Beitrag mit der Frage, wie die visuelle Kultur einer Religionsgemeinschaft, ihre Zeichen- und Symbolsysteme durch den Kontakt zu anderen Religionen beeinflusst werden können. Vor dem Hinter-grund dieser Fragestellung wurden aus dem Repertoire der frühchristlichen Bildkunst drei Fallbeispiele ausgewählt, die interessante Einblicke bieten: zwei beschäftigen sich mit der Genese einer visuellen Kultur der frühen Christen im 3. Jahrhundert in Auseinandersetzung mit jüdischen und po-lytheistischen Bildvorstellungen, ein weiteres mit der christlichen Reaktion auf die bildkritische Haltung des Islam in den Kontaktzonen der musli-misch eroberten Gebiete, speziell mit dem syrisch-palästinischen Raum des frühen 8. Jahrhunderts.

Ausgehend von der Prämisse, dass Religion als eine Besonderheit von Kultur aufzufassen ist, wird die Frage unter dem Aspekt von Hybridisie-rungsphänomenen in der visuellen Kultur untersucht, ein Ansatz, der – aus-gelöst durch die so genannten Postcolonial Studies – seit einigen Jahren im

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kulturwissenschaftlichen Diskurs eine immer stärkere Beachtung findet1. Im archäologischen Bereich steht die Debatte zu diesem Punkt noch relativ am Anfang2. Unter dem Begriff der ‚Hybridisierung‘ werden Prozesse be-schrieben, die eine Verbindung und Verschmelzung vormals unabhängiger sozialer und kultureller Phänomene vollziehen, ohne dabei Differenzen zu negieren. Produkte und Ergebnisse solcher Adaptionsprozesse sind durch ‚Hybridität‘ gekennzeichnet und werden als ‚hybrid‘ charakterisiert, wobei der Begriff sowohl für Texte, künstlerische und handwerkliche Artefakte und deren Bildinhalte, als auch für Personen(-gruppen) und Praktiken An-wendung finden kann3. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Aneignungen und Inkulturationen intentional oder unbewusst im Rahmen von Austauschpro-zessen zwischen kulturellen Einheiten erfolgen.

Die Analysen des indischen Literaturtheoretikers Homi Bhabha – dem spiritus rector der Hybriditätsforschung – belegen, dass Hybridisierungspro-zesse und Hybriditätsphänomene vor allem in Zeiten besonderer histori-scher Umbrüche zu beobachten sind und in instabilen Gesellschaftsformen mit ungleichen Machtstrukturen auftreten4. Ein Paradebeispiel dafür sind Entwicklungen in kolonialen Strukturen mit inegalen Machtverhältnissen zwischen lokal ansässiger Mehrheitsbevölkerung und Minderheitenregi-

1 Vgl. v. a. die Publikationen von Peter Burke und Susan Stanford Friedman: S. Stan-ford Friedman, Mappings. Feminism and the cultural geographies of encounter (Princeton, NJ 1998); dies., Das Sprechen über Grenzen, Hybridität und Performati-vität. Kulturtheorie und Identität in den Zwischenräumen der Differenz. Mittelweg 36, 5, 2003, 34–52; P. Burke, Translating Knowledge, translating Culture. In: M. North (Hrsg.), Kultureller Austausch. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung (Köln 2009) 69–77; ders., Cultural Hybridity (Cambridge 2009). – In der Mediävistik jüngst: M. Borgolte/B. Schneidmüller (Hrsg.), Hybride Kulturen im mittelalterlichen Europa. Vorträge und Workshops einer internationalen Frühlingsschule. Europa im Mittelalter 16 (Berlin 2009); S. Burkhardt u. a., Hybridisierung von Zeichen und For-men durch mediterrane Eliten. In: M. Borgolte u. a. (Hrsg.), Integration und Desinteg-ration der Kulturen im europäischen Mittelalter. Europa im Mittelalter 18 (Berlin 2011) 477–568.

2 Vgl. D. J. Mattingly, Cultural crossovers. Global and local identities in the classical world. In: S. Hales/T. Hodos (Hrsg.), Material culture and social identities in the an-cient world (Cambridge, N.Y. 2010) 283–295; Ph. W. Stockhammer (Hrsg.), Conceptual-izing Cultural Hybridization. A Transdisciplinary Approach. Papers of the Confer-ence, Heidelberg, 21–22. September 2009. Transcultural Research. Heidelberg Stud. on Asia and Europe in a Global Context 2 (Berlin 2011).

3 Burke 2009 (Anm. 1) 13–33.4 H. K. Bhabha, The Location of Culture (London 1994).

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men von Kolonialbesatzern. Bhabha hat festgestellt, dass in solchen Kolo-nialsituationen die aufeinandertreffenden Kulturen gewissermaßen nicht koexistieren, sondern sich in einer Art Zwischenraum befinden, den Bhabha „a Culture’s In-Between” nennt, und der ungleiche „cultural times” enthält, die durch die verschiedenen Vergangenheiten der beteiligten sozialen Grup-pen geprägt sind, welche unterschiedliche Zukunftsansichten und -erwar-tungen implizieren5. Das Traditionsbewusstsein einer Bevölkerungsgruppe kann z. B. der Aufbruchsstimmung einer anderen entgegenstehen. Außer-dem lassen sich Hybriditätsphänomene eher in Randzonen als in den Kern-gebieten einer Kultur verorten6.

Hinsichtlich der Analyse historischer kultureller Prozesse und Erzeug-nisse steht vor dem Hintergrund von Hybriditätsphänomenen die Frage im Fokus, wie sich eine Kultureinheit ‚fremde‘ Elemente aneignet und in ihren bekannten Formen- und Motivschatz inkorporiert, sie mit Elementen der ei-genen Kultur vermischt und auf diese Weise vielleicht zu innovativen Neu-schöpfungen gelangt7. Dafür ist es notwendig, die einzelnen Komponenten der Neuschöpfungen genau auf eigene und vormals fremde Elemente hin zu untersuchen. Ein methodologisches Problem stellt hierbei der Umstand dar, dass in Kulturen bzw. Kultureinheiten, die einen regen Austausch mit anderen Kulturen praktizieren, manchmal nicht klar zu entscheiden ist, ob bestimmte Elemente zu einer bestimmten Zeit von den Nutzern oder Be-trachtern überhaupt als fremd empfunden wurden8. Erfolgt eine Formen-übernahme von einer Kultureinheit in eine andere, können gemeinsame Vorprägungen oder verwandte Assoziationsmuster als Katalysatoren wir-

5 H. K. Bhabha, Culture’s In-Between. In: S. Hall/P. du Gay (Hrsg.), Questions of Cultu-ral Identity (London 1998) 53–60 hier 56. – Vgl. J. Bonz/K. Struve, Homi K. Bhabha: Auf der Innenseite kultureller Differenz: „in the middle of differences“. In: S. Moebius/ D. Quadflieg (Hrsg.), Kultur. Theorien der Gegenwart (Wiesbaden 2006) 140–153 hier 143 beschreiben dieses Phänomen als „Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeiten ver-schiedener Kulturen“.

6 D. Bachmann-Medick, Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwiss. 2 (Rein-bek bei Hamburg 2007) 198 f.

7 Stanford Friedman 1998 (Anm. 1) 85–87; Stanford Friedman 2003 (Anm. 1) 38–40 spricht sowohl dann von Hybridisierung, wenn vormals unabhängige Elemente zu vollständig neuen Formen verbunden werden, als auch dann, wenn die verschiede-nen Formen zwar weiterhin voneinander getrennt bleiben, ihr ursprünglicher Kon-text aber verändert wird.

8 Stanford Friedman 1998 (Anm. 1) 84.

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ken9. So hat Gudrun Bühl anhand spätantiker Bildinventionen eindrücklich nachgewiesen, dass Innovationen vor allem dann Akzeptanz finden, wenn die Neuschöpfungen ein stratum Bekanntes enthalten, das sich in ein tradier-tes Wahrnehmungs- bzw. Assoziationsmuster eingliedern lässt10.

Wie aber verliefen solche Prozesse im Rahmen der Entstehung der visuel-len Kultur einer Religionsgemeinschaft, die in ihren Anfängen eine radikale Ablehnung von Bildern praktizierte? Die christliche Religionsgemeinschaft blieb nach dem Aufkommen des neuen Glaubens nämlich zunächst für etwa zwei Jahrhunderte lang bilderlos. Grundlage dieser Haltung war das aus dem Judentum entlehnte, alttestamentliche Bilderverbot (nach Ex 20,4–5 und Dtn 5,8–9), das eine Herstellung und vor allem Verehrung von Bildwerken explizit untersagte. Die bilderfeindliche Haltung der frühen Christen war in jüdischem Ambiente nichts Besonderes, in der mehrheitlich polytheistisch geprägten und in einer reichen und vitalen Bildkultur lebenden Gesellschaft des Römischen Reichs jedoch eine Ausnahme. Es verwundert daher nicht, dass in diesem Umfeld die strikte Ablehnung von bildlichen Darstellungen Gottes oder durch ihn belebter Wesen durch die Christen, aber vor allem ihre Weigerung, Götterbildnisse durch die üblichen Weihrauch-, Trank- und Speiseopfer zu verehren, ein enormes Konfliktpotential entfaltete, weshalb den Christen von staatlicher Seite zunehmend subversives Verhalten und die Bedrohung des Gemeinwohls vorgeworfen wurden11. Auf der anderen Seite bedeutete diese Haltung auch für die Christen selbst eine besondere Her-ausforderung, manchmal erkennbar an ganz praktischen Fragen in Alltags-dingen. So beschäftigte den ägyptischen Bischof Clemens von Alexandria um 200 die Frage, welche Siegelbilder Christen denn überhaupt ver wenden könnten, wenn eigentlich keinerlei Bilddarstellungen erlaubt seien. Clemens

9 Vgl. die Beispiele in Burkhardt u. a. 2011 (Anm. 1). 10 G. Bühl, Constantinopolis. Das Neue im Gewand des Alten. In: B. Brenk (Hrsg.), In-

novation in der Spätantike. Kolloquium Basel 6. und 7. Mai 1994, Spätantike, frühes Christentum, Byzanz: Reihe B, Stud. u. Perspektiven 1 (Wiesbaden 1996) 115–136.

11 So wurde v. a. die Weigerung der Christen, vor dem Standbild des Kaisers oder seines Genius die von allen Bürgern erwarteten Weihrauch- und Weinopfer darzubringen, als Beleg gewertet, dass die Christen kaiser- und damit reichsfeindlich eingestellt sei-en: L. F. Janssen, ‚Superstitio‘ and the Persecution of the Christians. Vigiliae Christia-nae 33, 1979, 131–159; D. Lührmann, Superstitio – Die Beurteilung der frühen Christen durch die Römer. Theol. Zeitschr. 42, 1986, 193–213; S. Hausammann, Alte Kirche 2. Verfolgungs- und Wendezeit der Kirche. Gemeindeleben in der Zeit der Christenver-folgungen und Konstantinische Wende (Neukirchen-Vluyn 2001) 9–14.

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riet pragmatisch dazu, für den alltäglichen Gebrauch aus dem reichen Bild-repertoire der Umwelt theologisch unproblematische Motive auszuwählen, etwa symbolhafte maritime Bilder wie Fisch oder Anker. Diese seien un-bedenklich, da bei ihnen kein Verdacht der Bilderverehrung gegeben sei12.

Etwa zur selben Zeit, als Clemens seine Überlegungen anstellte – an der Wende des 2. zum 3. Jahrhundert – begann die ehemals strikte bilderfeindli-che Haltung der Christen auch in anderen Bereichen aufzuweichen. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, ist die Genese dieser christlichen Bildkultur von der Auseinandersetzung mit jüdischen Auffassungen und polytheisti-schen Bildtraditionen und Wahrnehmungsmustern geprägt und führte zu neuen, hybriden Formen.

1. Nomina Sacra und Staurogram

Die ältesten Zeugnisse für die Genese einer genuin christlichen Symbol-sprache finden sich im 2. und beginnenden 3. Jahrhundert in der Textkultur. In frühchristlichen Manuskripten griechischer Sprache lässt sich ein Phä-nomen beobachten, das den Weg für die spätere frühchristliche Symbolik ebnet. Die Texte weisen das Charakteristikum auf, dass bestimmte Wörter in Abkürzungen erscheinen. Diese Abkürzungen setzen sich meist aus dem ersten und letzten Buchstaben des vollständigen Wortes zusammen, die ge-legentlich um weitere Buchstaben aus der Wortmitte bereichert werden13. Über der Abkürzung ist ein horizontaler Strich angebracht, um diese deut-lich zu kennzeichnen.

Die vier häufigsten und ältesten dieser Abkürzungen betreffen die Worte: Gott – ΘEOC (ΘC, ΘY etc.)Herr – KYPIOC (KC, KY etc.)Jesus – IHCOUC (IC, IY, manchmal IHC, IH etc.) und Christus – XPICTOC (XC, XY, manchmal XPC).

12 Clem. paed. 3, 59, 2 (SC 158, 124). – Vgl. H.-D. Altendorf, Die Siegelbildvorschläge des Clemens von Alexandrien. Zeitschr. für die Neutestamentliche Wiss. 58, 1967, 129–138; E. Zwierlein-Diehl, Antike Gemmen und ihr Nachleben (Berlin 2007) 232 f. 463 (Lit.).

13 In der Paläografie wird dieses Vorgehen als Kontraktion (Abkürzung durch Zusam-menziehung) bezeichnet.

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Augenfällig ist, dass es sich bei all diesen Worten um Gottesnamen bzw. -be-zeichnungen handelt. Dies wird noch dadurch bestätigt, dass die Schreiber diese Konvention nur dann verwendeten, wenn tatsächlich die von Christen verehrten Personen gemeint waren. So wird in einem Fall, in dem eine an-dere Person mit dem Eigennamen Jesus auftritt (Kol 4,11), der Name ausge-schrieben; desgleichen geschieht bei ΘEOC, wenn eine andere Gottheit als der christliche Gott gemeint ist14. Etwas später lassen sich in den Manuskrip-ten dann weitere Abkürzungen feststellen, z. B. für die Namen Moses und Jesaia sowie den Begriff ‚Propheten‘15.

Seit der 1907 erschienenen Publikation des Philologen Ludwig Traube, der sich als erster mit diesen Abbreviaturen auseinandersetzte, sind diese unter dem Begriff ‚nomina sacra‘ bekannt16. Wenn entsprechende Abkürzungen in Texten vorkommen, werden sie von der Forschung mittlerweile als Beleg für den christlichen Ursprung des Textes angesehen17.

Wie kam es dazu, dass die Christen diese Wortkontraktionen verwende-ten?

Abkürzungen waren auch im antik-paganen Schriftwesen nicht unüblich; so wurden z. B. im lateinischsprachigen Bereich generell Abkürzungen für Amtsbezeichnungen wie IMP für Imperator, gelegentlich auch für Götterna-men wie IOM für Iuppiter Optimus Maximus verwendet. Diese Abkürzungen fanden jedoch besonders dann Anwendung, wenn auf der begrenzten Flä-che eines Inschriftenfelds oder einer Münze kein ausreichender Platz für die Aneinanderreihung von Ehrentiteln vorhanden war, was bei den nomina sacra nicht ausschlaggebend gewesen sein kann, da sie ohne Platzmangel

14 L. W. Hurtado, The earliest Christian artifacts. Manuscripts and Christian origins (Grand Rapids 2006) 129 f. P 46 (P. Chester Beatty II, ca. 200).

15 Zusammenstellung der Formen bei Hurtado 2006 (Anm. 14) 234.16 L. Traube, Nomina sacra. Versuch einer Geschichte der christlichen Kürzung. Quellen

und Unters. zur lat. Philol. des Mittelalters 2 (München 1907). – Vgl. A. H. R. E. Paap, Nomina sacra in the Greek papyri of the first five centuries A.D. The sources and some deductions. Papyrologica Lugduno-Batava 8 (Leiden 1959); E. Dinkler, Älteste Christ-liche Denkmäler. Bestand und Chronologie. In: Ders., Signum crucis. Aufsätze zum Neuen Testament und zur Christlichen Archäologie (Tübingen 1967) 134–178 bes. 177; J. O‘Callaghan Martínez, „Nomina sacra” in papyris graecis saeculi III neotestamen-tariis. Analecta biblica 46 (Rom 1970).

17 E. Tov, Scribal practices and approaches reflected in the texts found in the Judean des-ert. Studies on the texts of the desert of Judah (Leiden 2004) 314 f.; Hurtado 2006 (Anm. 14) 96.

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im normalen Textfluss erscheinen. Ludwig Traube schlug vor, das Aufkom-men der nomina sacra gehe auf die Schreibpraxis griechischsprachiger Juden zurück, die angelehnt an die hebräische Schreibweise ohne Vokale auch im Griechischen die Vokale bei ΘEOC (Gott) weggelassen hätten, und zwar um sich an das hebräische Tetragramm יהוה (JHWH) des Gottesnamens anzuleh-nen, wie es als Eigenname Gottes in der hebräischen Bibel verwendet wird18. Auch wenn diese Ansicht mittlerweile als überholt gelten kann, da in der Forschung herausgearbeitet wurde, dass es sich beim Phänomen der nomina sacra um eine christliche Innovation gehandelt hat19, spielt die Bezugnahme auf die hebräische Vorstellung des Gottesnamens eine wichtige Rolle bei der Genese dieser frühchristlichen Schreibkonvention.

Etwa ab dem 1. Jahrhundert n. Chr. hatten sich im Judentum die Bedenken gegenüber einer blasphemischen mündlichen oder schriftlichen Verwen-dung des Gottesnamens durchgesetzt, die darin gipfelten, dass der Got-tesname Jahwe z. B. bei Lesungen in der Synagoge nicht mehr ausgespro-chen, sondern durch die Anrede אדני (Adonai, ‚Herr‘) oder אדני אלהים (Adonai Elohīm, ‚Herr Gott‘) ersetzt wurde20. In hebräischen und aramäischen, aber auch in griechischsprachigen jüdischen Texten wurde versucht, den Gottes-namen vom übrigen Textfluss durch farbliche oder orthographische Mittel abzusetzen oder ganz auszulassen, was wohl auch Leser des Textes dazu veranlassen sollte, den Namen aus Ehrfurcht nicht auszusprechen21.

Die vier ältesten christlichen nomina sacra belegen eine ähnliche Vereh-rung der Christen für Gott und Jesus22, auch wenn die Umsetzung im Text eine völlig neue war – im jüdischen Bereich waren weder die Kontraktion noch die Nutzung des horizontalen Strichs gebräuchlich23. Durch die Ab-breviatur erlangten die Gottesnamen im Text einen auffallenden Sonder-

18 Traube 1907 (Anm. 16) 33–37.19 Hurtado 2006 (Anm. 14) 111.20 Die Septuagintaübersetzung der Stelle Lev 24,16 deutet eine Bestrafung beim Aus-

sprechen des Gottesnamens an. Der masoretische Text des Tanach verbietet die Aus-sprache, antike jüdische Autoren wie Philo von Alexandria (vit. Mos. 2,114; 2,205) und Josephus (Ant. 2,276) weisen auf das Problem hin, den Gottesnamen unangemessen auszusprechen. – Im Neuen Testament wird Gott durchgängig als κύριος (Herr) ange-sprochen, was den hebräischen Begriff Adonai übersetzt.

21 Traube 1907 (Anm. 16) 21–24; Tov 2004 (Anm. 17) 242 f. Taf. 1.22 In der Literatur schon häufig vermutet, z. B. Paap 1959 (Anm. 16) 123–126; Hurtado

2006 (Anm. 14) 105.23 Hurtado 2006 (Anm. 14) 105.

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status24. Larry W. Hurtado, der sich zuletzt ausführlich mit dem Phänomen der nomina sacra beschäftigt hat, nimmt an, dass die visuelle Hervorhebung der Gottesnamen auch illiterate Personen ansprechen sollte, denen die Texte und Gottesnamen darin möglicherweise gezeigt wurden25. Da sie textliche und visuelle Aspekte in hybrider Form in sich vereinen, wertet er das Phä-nomen der nomina sacra als frühestes Indiz für eine aufkeimende christliche Bildkultur26.

Diese These lässt sich dadurch unterstützen, dass in der Zeit um 175–225 als Sonderform der nomina sacra eine weitere Kontraktionsform in den grie-chischen Manuskripten auftaucht (Abb. 1), nämlich die Kombination von Tau und Rho als Abkürzung für das Wort σταυρός (Kreuz)27. Die senkrech-ten Striche von Tau und Rho fallen hier zusammen28, sodass in dem sich er-gebenden Schriftbild tatsächlich auch eine visuelle Assoziation an ein Kreuz

24 So Tov 2004 (Anm. 17) 245 für die jüdische Schreibpraxis.25 Hurtado 2006 (Anm. 14) 133.26 L. W. Hurtado, The Earliest Evidence of an Emerging Christian Materi-

al and Visual Culture. The Codex, the Nomina Sacra and the Staurogram. In: S. G. Wilson/M. R. Desjardins/M. Robert (Hrsg.), Text and artifact in the religions of Mediterranean antiquity. Essays in honour of Peter Richardson. Stud. in Christianity and Judaism 9 (Toronto 2000) 271–288 bes. 271; Hurtado 2006 (Anm. 14) 121.

27 Paap 1959 (Anm. 16) 13, 98, 112 f.; K. Aland, Neue neutestamentliche Papyri II. New Testament Stud. 10, 1963, 62–79 bes. 75–79; ebd. 11, 1964, 1–21; Dinkler 1967 (Anm. 16) 177; O‘Callaghan Martínez 1970 (Anm. 16) 63–65; Hurtado 2006 (Anm. 14) 136. – Ab-kürzungen (evtl. mit Ausnahme des IH) waren bereits in vorchristlichen Kontexten bekannt und wurden von Christen mit neuer Semantik versehen. So wurde z. B. XP in Ligatur in älteren Papyri als Abkürzung für χρ(όνος), TP z. B. für τρ(όπος) verwendet: F. J. Dölger, IXΘYC. Das Fischsymbol in frühchristlicher Zeit 1. Religionsgeschichtli-che und epigraphische Untersuchungen (Rom 1910) 367–372; Dinkler 1967 (Anm. 16) 141 f.; Hurtado 2006 (Anm. 14) 138.

28 In der Paläografie als Ligatur bezeichnet.

1 Darstellung eines Staurogramms im Papyrus Bodmer XIV (P 75) (Ausschnitt). Rom, Bibliotheca Apostolica Vaticana; um 200. – Nach: Hurtado 2006 (Anm. 14) Taf. 4.

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bzw. einen Gekreuzigten mitschwingt29. Dieses ‚Staurogramm‘ genannte Symbol löste sich ab dem 4. Jahrhundert aus dem Textzusammenhang und entwickelte sich neben anderen zu einem der bedeutendsten Christussym-bole der frühchristlichen Bildkultur30.

Insgesamt zeigt sich an diesem Beispiel, dass unter innovativer Nutzung und Kombination bekannter Elemente der griechischen (aber auch lateini-schen) Schriftpraxis vor dem Hintergrund aus dem Judentum kommender Gottesvorstellungen neue, zwischen Text und Bild oszillierende Zeichen entstanden, die einen wesentlichen identitätsstiftenden Bestandteil des kol-lektiven Zeichenvorrats der frühchristlichen Glaubensgemeinschaft bilden sollten31.

2. Orans

Nach diesen ersten Entwicklungen im frühchristlichen Textwesen lässt sich am Übergang vom 2. zum 3. Jahrhundert auch eine Wendung im Bildwe-sen beobachten. So existieren für das 3. Jahrhundert zwar nur vereinzelt Hinweise darauf, dass nun die Zusammenkunftsräume der christlichen Ge-meinden mit Bildern ausgestattet werden konnten. Besonders reich aber ist die Überlieferung im Sepulkralbereich, wobei der Denkmälerbestand der römischen Katakomben mit Wandmalereien, Sarkophagen und Inschriften-tafeln von loculi eine besonders breite Forschungsbasis bietet32.

29 Im 2./3. Jh. wurden der Buchstabe T und T-förmige Gegenstände von den Christen als Zeichen für das Kreuz interpretiert: Just. 1 apol. 55, vgl. M. Marcovich (ed.), Iustini Martyris Apologiae pro Christianis. Patristische Texte und Stud. 38 (Berlin 1994) 110 f.; Min. Fel. 29, vgl. B Kytzler (Hrsg.), M. Minuci Felicis Octavius (Stuttgart 1992) 28. – Vgl. St. Heid, Kreuz. In: RAC XXI (Stuttgart 2006) Sp. 1099–1148 bes. 1116 f.; Hurtado 2006 (Anm. 14) 147.

30 W. Wischmeyer, Christogramm und Staurogramm in den lateinischen Inschriften altkirchlicher Zeit. In: C. Andresen/G.Klein (Hrsg.), Theologia crucis, signum crucis. Festschr. E. Dinkler zum 70. Geburtstag (Tübingen 1979) 539–550; E. Dinkler/E. Dink-ler-von Schubert, Kreuz. In: Reallex. byzant. Kunst V (Stuttgart 1995) Sp. 1–219 bes. 34–39.

31 Hurtado 2000 (Anm. 26) 279.32 Umfassend hierzu jüngst: J. Dresken-Weiland, Bild, Grab und Wort. Untersuchungen

zu Jenseitsvorstellungen von Christen des 3. und 4. Jahrhunderts (Regensburg 2010).

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Untersucht man das ikonografische Repertoire der ältesten frühchristli-chen Sepulkralkunst, so ist festzustellen, dass aus der biblischen Überlie-ferung alt- und neutestamentliche Szenen ausgewählt wurden, denen die christlichen Auftraggeber und Betrachter hinsichtlich der eigenen Jenseits-hoffnungen und -erwartungen eine paradigmatische Bedeutung zuschrie-ben: So wie etwa Jona aus dem Bauch des Ketos und Daniel aus der Lö-wengrube errettet worden waren, erhofften auch sie sich eine Errettung aus dem Tod durch ihren Glauben und damit ein Weiterleben nach Tod und Auferstehung33.

Die einzelnen Bildmotive betreffend, bediente man sich aus dem Motiv-schatz der römischen Bildkultur, wobei bestimmte motivische Elemente oder auch inhaltliche Aspekte einzelner mythologischer Figuren den Aus-schlag für ihre Übernahme in den christlichen Kontext geben konnten. Auf diese Weise lieferte der mit überkreuzten Beinen und über den Kopf geleg-tem Arm in entspannter Position schlafende Endymion ein formales Vorbild

33 Ebd. 15–22 (mit kritischer Diskussion der Interpretation von Rettungsparadigmen), 96–311, 328 f.

2 Motivübernahme Endymion – Jona. Links: Endymionsarkophag (Ausschnitt). Rom, Vatikanische Museen, Museo Greg. Profano; 2. Jahrhundert. – Bild: For-schungsarchiv für Antike Plastik, Köln. – Rechts: Frühchristlicher Sarkophag mit Darstellung des Jona unter der Kürbislaube (Ausschnitt). Rom, S. Maria Antiqua; Ende 3. Jahrhundert. – Nach: Zanker/Ewald 2004 (Anm. 34) Abb. 232.

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für das beliebte frühchristliche Motiv des unter der Kürbislaube ruhenden Jona (Abb. 2)34. Die neue Bildformation des ruhenden Jona wies jedoch si-gnifikante Differenzen zur alttestamentlichen Erzählung (Jona 4,5–6) auf: Dass die Laube von einer Kürbispflanze umrankt wird, und nicht, wie im hebräischen Text, von einem Rizinusstrauch, lässt sich noch leicht dadurch erklären, dass der hebräische Begriff קיקיון (qīqayōn, Rizinus) bei der Septu-aginta-Übersetzung ins Griechische mit dem griechischen κολοκύνθῃ (Kür-bis) übersetzt worden und in dieser Übertragung griechisch- und lateinisch-sprachigen Christen geläufig war35. Im Text ist darüber hinaus aber weder vom Zustand des sorglosen Ausruhens unter der Laube der Rede, noch von Jugendlichkeit und Nacktheit des Jona. Die in den Bilddarstellungen die Laube häufig umgebenden bukolischen Elemente (Hirten, Schafe)36 fehlen ebenfalls. Gerade diese Motive sind jedoch auch nicht von den traditionellen Endymion-Darstellungen auf mythologischen Sarkophagen übernommen, sondern greifen andere antike Bildtraditionen auf, die auch schon die An-hänger der polytheistischen Kulte mit idealisierenden Jenseitsvorstellungen verbunden hatten37. Von einer Textgrundlage abweichende und eigene in-haltliche Akzente setzende Bilderzählungen und -argumentationen sind

34 H. Sichtermann, Der Jonaszyklus. In: H. Beck/P. C. Bol (Hrsg.), Spätantike und frühes Christentum Ausstellungskat. (Frankfurt a. M. 1983) 241–248; J. Engemann, Jonas. In: RAC XVIII (Stuttgart 1998) 690–699 bes. 694; P. Zanker/B. C. Ewald, Mit Mythen leben. Die Bilderwelt der römischen Sarkophage (München 2004) 102–109, 204–207; J. Enge-mann, Nichtchristliche und christliche Ikonographie. In: A. Demandt/J. Engemann (Hrsg.), Konstantin der Grosse. Imperator Caesar Flavius Constantinus. Ausstellungs-kat. Trier (Mainz 2007) 281–294 hier 285; Dresken-Weiland 2010 (Anm. 32) 98–119.

35 Anfang des 5. Jhs. entspann sich zwischen Augustinus und Hieronymus, der den Be-griff in seiner Neuübertragung des hebräischen Texts ins Lateinische mit hedera (Efeu) übersetzt hatte, sogar ein Briefwechsel über diese Textstelle, da es bei Verlesung der neuen Übersetzung während des Gottesdiensts im nordafrikanischen Oea zu solchen Tumulten gekommen war, dass Augustinus‘ Nachbarbischof beinahe hätte zurücktre-ten müssen: Aug. ep. 71,5; 82,35 (CSEL 34,2, 253, 386 f.); Hier. ep. 104,5, 112,21–22 (CSEL 55, 241, 391–393); Hier. in Ionam 4,6 (CCL 76, 414–416). – Vgl. Y.-M. Duval, Saint Augus-tin et le Commentaire sur Ionas de saint Jérôme. Rev. des études augustiniennes 12, 1966, 9–40 bes. 10–14 , 31 f.

36 Dresken-Weiland 2010 (Anm. 32) 108 f.37 Engemann 2007 (Anm. 34) 284 f.

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ohnehin ein in der griechisch-römischen Kunst verbreiteter Darstellungs-modus für die Umsetzung eines bestimmten Stoffes38.

Neben den alt- und neutestamentlichen Rettungs- und Erlösungsbildern bestimmten vor allem zwei Figurentypen die Bilderwelt der frühchristli-chen Grabmonumente: der Schafträger und die Orans39. Die Orans (Abb. 3 re.) ist eine stehende, meist weibliche Figur mit erhobenen Armen und zum Himmel gerichteten Blick. Ihre Handflächen sind geöffnet und nach außen gekehrt. Diese Haltung entspricht der antiken Gebetshaltung, wie sie bei

38 Sichtermann 1983 (Anm. 34) 244. – Eine grundlegende Untersuchung bietet J. P. Small, The Parallel Worlds of Classical Art and Text (Cambridge 2003).

39 G. Seib, Orans, Orante. In: Lexion d. christlichen Ikonographie III (Rom 1971) 352–354; G. Otranto, Tra letteratura e iconografia. Note sul Buon Pastore e sull’Orante nell’ar-te cristiana antica (II–III secolo). Vetera Christianorum 26, 1989, 69–87; M. Pardyová, L’orante. Quelques réflexions sur le plus spécifique symbole de l’art paléochrétien. Sborník prací Filozofické fakulty Brnĕnské univerzity E 38, 1993, 169–182; F. Bisconti, Orante, in: Ders. (Hrsg.), Temi di iconografia paleocristiana, Sussidi allo stud. del-le ant. cristiane 13 (Città del Vaticano 2000) 235 f.; Engemann 2007 (Anm. 33) 286; Dresken-Weiland 2010 (Anm. 32) 38–94.

3 Verschiedene Darstellungsmodi von pietas auf stadtrömischen Sarkophagen. Links: Feldherrn/Hochzeits-Sarkophag (Ausschnitt). St. Petersburg, Eremitage, Inv. A 433; Ende 2. Jahrhundert. – Nach: K. Zimmermannn (Hrsg), Römische Sarkophage 1. Römische Sarkophage in der Eremitage (Berlin 1979) Taf. 28. – Rechts: Frühchrist-licher Sarkophag mit Oransdarstellung (Ausschnitt). Rom, S. Maria Antiqua; Ende 3. Jahrhundert. – Nach: Zanker/Ewald 2004 (Anm. 34) Abb. 232.

Genese- und Hybridisierungsprozesse der frühchristlichen Bildkultur 89

den frühen Christen, aber auch in jüdischem und polytheistischem Am-biente üblich war40. Orans-Darstellungen tauchen bereits in den frühesten als christlich zu definierenden Grakontexten des 3. Jahrhunderts auf, sind dann bis in die 1. Hälfte des 4. Jahrhunderts häufig dort anzutreffen und verlieren ab der 2. Hälfte des 4. Jahrhunderts an Beliebtheit41. Wie sich durch die Ausarbeitung von Porträtköpfen oder durch andere individualisierende Charakteristika belegen lässt, erscheinen die Verstorbenen oftmals selbst als Betende im Bildtypus der Orans42, mitunter scheint es sich jedoch um eine Figur zu handeln, die nicht den Verstorbenen bzw. die Verstorbene, aber auch keine biblische Figur darstellt43. Was also ist damit gemeint?

In der Forschung werden verschiedene Thesen vertreten, die zusammen-genommen darauf hindeuten, dass die Orans als ein polyvalentes Bildmotiv in die frühchristliche Bildkunst Eingang fand, das je nach situativem Kon-text unterschiedliche semantische Ebenen zum Ausdruck bringen konnte44. Jutta Dresken-Weiland sprach sich jüngst wieder für die bereits von Josef Wilpert geäußerte These aus, mit den meist weiblichen Orans-Darstellungen sei die Seele des oder der Verstorbenen gemeint, die sich betend im Paradies befinde45. Angesichts der Tatsache, dass nichtindividualisierte Oransfiguren

40 Otranto 1989 (Anm. 39) 75 (unter Verweis auf die alttestamentlichen Textstellen); V. Fyntikoglou/E. Voutiras, Das römische Gebet. IV. Gebetspraxis: Bräuche und Ri-ten. In: Thesaurus cultus et rituum antiquorum 3 (Los Angeles 2005) 162–168; St. Heid, Gebetshaltung und Ostung in frühchristlicher Zeit. Riv. arch. cristiana 82, 2006, 347–404. – Schon G. Wilpert, I sarcofagi cristiani antichi 1. Testo. Mon. di ant. cristiana 1 (Rom 1929) 74 schrieb: „Il gesto poi non è nè cristiano nè pagano, bensì umano.“

41 Pardyová 1993 (Anm. 39) 169; Dresken-Weiland 2010 (Anm. 32) 38.42 J. G. Deckers, Vom Denker zum Diener. Bemerkungen zu den Folgen der konstanti-

nischen Wende im Spiegel der Sarkophagplastik. In: Brenk 1996 (Anm. 10) 137–184 hier 140–144; N. Zimmermann, Verstorbene im Bild. Zur Intention römischer Katakom-benmalerei. Jahrb. Ant. u. Christentum 50, 2007 (2009), 154–179 hier 157 f. 168–170; Dresken-Weiland 2010 (Anm. 32) 39.

43 Der Gestus wurde auch für die Darstellung biblischer Personen verwendet, z. B. für die alttestamentlichen Figuren des Noe in der Arche, Daniel in der Löwengrube, drei Jünglinge im Feuerofen oder Susanna, Abraham und Isaak: vgl. etwa Deckers 1996 (Anm. 42) 145.

44 Hierzu auch Pardyová 1993 (Anm. 39).45 Dresken-Weiland 2010 (Anm. 32) 39 f. – Vgl. G. Wilpert, I sarcofagi cristiani antichi

2. Testo. Mon. di ant. cristiana 1 (Rom 1932) 332: „le oranti rappresentano le anime dei difunti supposte alla felicità eterna, dove pregano per i superstiti“.

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innerhalb von allegorisch-symbolischen Szenerien auch multipliziert wer-den konnten, befriedigt dieses Erklärungsmodell allein allerdings nicht46.

Wie vornehmlich durch Theodor Klauser herausgearbeitet wurde, ist die Orans der christlichen Bildwelt in den beschriebenen Kontexten als Personi-fikation der pietas, also der Frömmigkeit, aufzufassen47. Sowohl das Konzept der Personifikation allgemein, als auch der Bildtypus der Orans als Perso-nifikation der pietas waren in der römischen Kunst geläufig48. Besonders au-genfällig ist dies in der Münzprägung, wo die Figur zwischen trajanischer Zeit und dem ausgehenden 3. Jahrhundert die Rückseite von Münzen zierte, meistens erweitert um die Inschrift pietas oder pietas aug(usta/ae/i/orum)49. Mit der pietas war eine Frömmigkeit im Sinne familiärer Loyalität gegenüber der eigenen gens gemeint, die sowohl die Sorge um die lebenden Famili-enmitglieder als auch die kultische Verehrung der verstorbenen Vorfahren umfasste. Diese Auffassung eines ordnungsgemäßen Verhaltens der Familie gegenüber war ein zentrales ethisches Ideal der römischen Gesellschaft und konnte erweitert werden um die pietas gegenüber dem gesamten römischen

46 Vgl. auch Zimmermann 2009 (Anm. 42) 157, 168 f., der für die Katakombenmalerei zwi-schen symbolischen Darstellungen von Oranten in Deckensystemen und individuel-len Verstorbenenbildern in Oranshaltung differenziert.

47 Th. Klauser, Studien zur Entstehungsgeschichte der christlichen Kunst 2. Jahrb. Ant. u. Christentum 2, 1959, 115–145; ders., Studien zur Entstehungsgeschichte der christ-lichen Kunst 3. Schafträger und Orans als Vergegenwärtigung einer populären Zwei-tugendethik auf Sarkophagen der Kaiserzeit. Ebd. 1960, 112–133.

48 R. Vollkommer, Pietas. In: LIMC VIII,1 et Suppl. (Zürich 1997) 998–1003; Fyntikoglou/Voutiras 2005 (Anm. 40) 164 Taf. 34,42–44.

49 Klauser 1959 (Anm. 46) 116–123, 131–144; F. Bisconti, Il gesto dell’orante tra atteg-giamento e personificazione. In: Aurea Roma. Dalla città pagana alla citta cristiana. Ausstellungskat. (Rom 2000) 368–372 bes. 369. – Schon Wilpert 1929 (Anm. 40) 74; 75 Abb. 38 verglich die frühchristlichen Oransdarstellungen mit den Pietas-Bildern hadrianischer Münzprägungen, zog aber keine Konsequenzen daraus für den seman-tischen Gehalt der Oransdarstellung.

Genese- und Hybridisierungsprozesse der frühchristlichen Bildkultur 91

Gemeinwesen (pietas erga patria), gegenüber dem Kaiser (der als pater patriae verstanden wurde) und gegenüber den Göttern (pietas adversos deos)50.

Wollte ein Römer aber seine besondere Religiosität im Bild zum Ausdruck bringen, so ließ er sich nicht beim Gebet, sondern beim ordnungsgemäßen Vollziehen eines Opfers darstellen. Da Frauen im antiken Kult bis auf we-nige Ausnahmen nur ein marginaler Status zukam51, und sie demgemäß nur selten als Akteurinnen bei Kultausübungen wiedergegeben wurden52, begleitete eine besonders fromme Römerin im Bild bestenfalls ihren Gatten bei einer solchen Handlung, ohne selbst durch besondere Attribute oder Haltungen als maßgebliche Akteurin gekennzeichnet zu sein (Abb. 3 li.)53. Ehrenmonumente, aber auch Weihe- und Grabdenkmäler zeigen Personen in entsprechenden Opfersituationen, die häufig wohl als symbolische Dar-stellungen und nicht als Wiedergabe realer Ereignisse zu interpretieren

50 T. Ulrich, Pietas (pius) als politischer Begriff im römischen Staate bis zum Tode des Kaisers Commodus. Hist. Unters. 6 (Breslau 1939); Klauser 1959 (Anm. 47) 117; Biscon-ti 2000 (Anm. 49) 369; G. E. Snyder, Ante Pacem. Archaeological Evidence of Church Life Before Constantine (Rev. ed. Macon 2003) 37. – Der Ausdruck pietas adversos deos stammt von Cicero (Cic. fin. 3,73), der allerdings betont, dass sich die pietas vorran-gig auf das Vaterland und die Familie beziehe, während die den Göttern entgegenge-brachte Ehrfurcht und kultische Verehrung als religio zu bezeichnen sei (Cic. inv. 2,66). Im 4. Jh. verstand man unter pietas laut Klauser 1959 (Anm. 47) 118 dann weniger die familiäre Beziehung als vielmehr allgemein Frömmigkeit und Unschuld.

51 J. Scheid, D’indispensables ‚étrangères‘. Les rôles religieux des femmes à Rome. In: P. Schmitt Pantel (Hrsg.), Histoire des femmes en occident 1. L’antiquité (Paris 1991) 405–437; R. Stepper, Zur Rolle der römischen Kaiserin im Kultleben. In: C. Kunst (Hrsg.), Grenzen der Macht. Zur Rolle der römischen Kaiserfrauen. Potsdamer Alter-tumswiss. Beitr. 3 (Stuttgart 2000) 61–72; S. Böhm, Gottesdienst im antiken Rom. Reine Männersache? In: E. Klinger/S. Böhm/Th. Franz (Hrsg.), Geschlechterdifferenz, Ritual und Religion (Würzburg 2003) 79–103.

52 A. Alexandridis, Die Frauen des römischen Kaiserhauses. Eine Untersuchung ihrer bildlichen Darstellung von Livia bis Iulia Domna (Mainz 2004) 74–87. – Zur Darstel-lung von Frauen bei öffentlichen Kulthandlungen in augusteischer Zeit: T. Hölscher, Fromme Frauen um Augustus. Konvergenzen und Divergenzen zwischen Bilderwelt und Lebenswelt. In: F. Hölscher (Hrsg.), Römische Bilderwelten. Von der Wirklichkeit zum Bild und zurück. Kolloquium der Gerda-Henkel-Stiftung am DAI Rom 15.–17. März 2004 (Heidelberg 2007) 111–131. – Ich danke Günther Schörner (Wien) herzlich für zahlreiche Hinweise zu diesem Thema.

53 Eine Hand kann im Gebetsgestus erhoben oder auch Weihrauch streuend dargestellt sein.

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sind54. Im Verhältnis dazu kommen im polytheistischen Bereich nur selten Darstellungen vor, die Individuen in Oranshaltung zeigen55.

In der römischen Grabkunst fanden Oransdarstellungen seit etwa spät-antoninischer Zeit Eingang in die Bildschemata von Sarkophagen der sena-torischen Elite, zunächst (um 180–190) auf so genannten Feldherrn/Hoch-zeits-Sarkophagen, wenig später (um 190–200) auf so genannten Magistrats/Orans-Sarkophagen56. Wie sich auf diesen Sarkophagen durch die deutli-che Trennung idealisierender oder porträthafter Bildniszüge der jeweiligen Oransfigur erkennen lässt, konnte das Motiv sowohl als idealgestaltige Personifikation der pietas des beim Opfer dargestellten Grabherrn als auch als Repräsentationsbild der Grabinhaberin beim Akt des Betens eingesetzt werden57. Im zweiten Fall wurde der Oransgestus attributiv eingesetzt und verwies auf die besondere persönliche, tugendhafte Frömmigkeit der dar-gestellten Grabinhaberin58. In Ergänzung zur pietas männlicher Akteure,

54 Alexandridis 2004 (Anm. 52) 80, 202–204 Taf. 50,3, 51,1; C. Reinsberg, Die Sarkophage mit Darstellungen aus dem Menschenleben 3. Vita romana. Ant. Sarkophagreliefs 1,3 (Berlin 2006) 116–123. – Alexandridis 2004 (Anm. 52) 75 Anm. 710 nimmt an, dass es römisch-kaiserzeitliche Darstellungen weiblicher Angehöriger des Kaiserhauses mit patera gegeben hat, die jedoch aufgrund der Erhaltungssituation der Bildwerke nur in Einzelfällen noch vorhanden ist.

55 Anders als in der frühchristlichen Bildkunst ist das Motiv mit wenigen Ausnahmen auf weibliche Beterinnen beschränkt. – Zu Darstellungen v. a. weiblicher Angehöri-ger des julisch-claudischen Kaiserhauses im Orans-Typus: Alexandridis 2004 (Anm. 52) 79–81, 258 f. – Frauen treten dabei meist als Gruppe von Beterinnen auf, z. B. im Rahmen einer supplicatio: Hölscher 2007 (Anm. 52) 117 Abb. 5. - Zur Darstellung von Frauen als Gruppe beim Gebet auf Münzdarstellungen der ludi saeculares: J. Scheid, Déchiffrer des monnaies. Réflexion sur la représentation figurée des Jeux séculaires. In: F. Dupont/C. Auvray-Assayas (Hrsg.), Images romaines. Actes de la table ronde or-ganisée à l‘École normale supérieure (24–26 octobre 1996). Études de littérature ancienne 9 (Paris 1998) 13–35. – Zur Entstehung der christlichen Orans in paganem Ambiente zwischen 250 und 320: A. Provost, Il Significato delle scene pastorali del terzo secolo d.C. In: Atti del IX congresso internazionale di archeologia cristiana Roma 21–27 set-tembre 1975 (Città del Vaticano 1978) Bd. 1, 407–431 hier 417.

56 F. Matz, Das Problem der Orans und ein Sarkophag in Córdoba. Madrider Mitt. 9, 1968, 300–310; Reinsberg 2006 (Anm. 54) 70–75, 129–169.

57 Es ist zu beachten, dass nach Reinsberg 2006 (Anm. 53) 75 auch typisierende Figuren ohne Porträtzüge, wie sie z. B. auf den Nebenseiten der Sarkophage vorkommen, als Darstellungen der Grabinhaberin aufzufassen seien.

58 Reinsberg 2006 (Anm. 54) 72 Anm. 518; 73 Anm. 522 weist gegen Klauser 1959 (Anm. 47) darauf hin, dass männliche Figuren im Oransgestus nur im östlichen Raum bzw. erst in der Spätantike auftreten.

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wie sie im Opfer zum Ausdruck kam, wurde dabei mit der Oranshaltung die spezifische Möglichkeit weiblicher pietas und Kultausübung ins Bild ge-setzt, die über einen Status als Assistenzfigur hinausging59. Mit den beiden Formen der Kultausübung waren auch zwei unterschiedliche Aspekte der pietas angesprochen: Während der Opferakt des Ehemannes als Frömmig-keit gegenüber den Göttern aufzufassen war, verwies der Gebetsgestus der Frau vornehmlich auf die pietas gegenüber den Menschen. Innerhalb des Paarbilds verschränkten und ergänzten sich somit in idealtypischer Weise zwei durch die Ehepartner verkörperte Aspekte von pietas60.

Warum wählten die Christen den Bildtypus der Orans, um Frömmigkeit auszudrücken?

Da sich die Christen – wie oben erwähnt – jedweder Opferhandlung ver-weigerten, die auch nur einen Anklang kultischer Verehrung in sich trug, war ihnen zum Ausdruck besonderer Religiosität eine Übernahme der gän-gigen polytheistischen Motivik in diesem Fall nicht möglich. In Abgren-zung zum römisch-polytheistischen Bildrepertoire adaptierten sie ein in der dortigen Ikonografie bekanntes, aber wenig verbreitetes Motiv, das einen Aspekt von Frömmigkeit visualisierte, der nicht mit ihren eigenen religi-ösen Vorstellungen kollidierte. So konnte die pietas von den Christen z. B. nicht nur auf Gott bzw. Christus, sondern auch auf ihre neue Familie, die christliche Gemeinde, bezogen werden61. In Form einer Tugendpersonifika-tion konnte die Figur, wie schon auf den wenig älteren Sarkophagen poly-theistischer Bevölkerungsgruppen, auf die Frömmigkeit von Grabinhabern verweisen. Diese hatten aber auch die Möglichkeit, sich mittels Selbstreprä-sentation aktiv im Gebet darstellen zu lassen. Dabei griff die Darstellung des Verstorbenenbilds in christlichem Ambiente nun über die Wiedergabe der Person im diesseitigen Leben hinaus und konnte den Verstorbenen bzw.

59 Der Akt des Betens der Ehefrau wurde hierbei aber ebenso als Bestandteil des voll-zogenen Opferrituals aufgefasst wie die Libation des Ehemannes, vgl. Reinsberg 2006 (Anm. 54) 72.

60 Reinsberg 2006 (Anm. 54) 73 weist darauf hin, dass es sich bei den gemeinsamen Op-ferdarstellungen von Mann und Frau auf Feldherrnsarkophagen um symbolische Darstellungen gehandelt haben dürfte, da es als unwahrscheinlich anzusehen sei, dass die Ehefrau tatsächlich an den dargestellten Feldherrnopfern teilgenommen habe.

61 So auch Snyder 2003 (Anm. 50) 38.

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dessen Seele im erhofften jenseitigen Zustand im Angesicht und in Gemein-schaft mit Gott vor Augen führen.

In der Art, wie sich die frühen Christen das Bildmotiv der Orans aneig-neten, zeigt sich exemplarisch ihre gleichzeitige Einbettung, aber auch ihre Abwendung von der römischen Gesellschaft. Die Übernahme des Motivs erfolgte zwar in einem vergleichbaren Verwendungskontext (Sepulkralbe-reich) wie bei den Bevölkerungsgruppen polytheistischen Glaubens, forma-le Darstellung und Assoziationsmuster bzw. semantischer Gehalt (pietas) schlossen sich den Traditionslinien der römischen Bildkultur an. Durch De- und Rekontextualisierung in neue Bildkompositionen kam es jedoch zu einer bewussten Änderung und Umdeutung der Bildinhalte des Orans-Mo-tivs (Seele, Bittgestus im Jenseits), die nur für Angehörige der christlichen Bevölkerungsgruppe dechiffrierbar gewesen sein dürften. Schon allein die Analyse dieses Beispiels aus den Anfängen der frühchristlichen Bildkultur in Rom wirft ein Schlaglicht auf die komplexe Identität, die den Angehöri-gen dieser Bevölkerungsgruppe in dieser Zeit zu eigen gewesen sein dürfte (Römer und Christen – Römer oder Christen – Römer, aber Christen).

3. Ikonofobische Handlungen: St. Stephan in Umm er-Rasas

Während das Christentum im Rom des 3. Jahrhunderts. eine Minderheiten-religion gewesen war, hatte es sich im Laufe des 4. Jahrhunderts im Römi-schen Reich bis zur Staatsreligion durchgesetzt, bei der politische und reli-giöse Machtstrukturen miteinander verwoben waren. Dies änderte sich erst im Zuge des 7. Jahrhunderts, als zunächst große Teile der östliche Reichs-hälfte durch die muslimische Eroberung verloren gingen und unter eine neue politische Herrschaft gerieten. In Religionsfragen verhielten sich die neuen Machthaber anfangs tolerant gegenüber der ansässigen Bevölkerung, deren überwiegender Teil zumindest bis zum Ende des umayyadischen Ka-lifats in der Mitte des 8. Jahrhunderts weiterhin den christlichen Glauben beibehielt62. Zahlreiche archäologisch nachgewiesene Kirchenbauten auf den Gebieten des heutigen Jordanien und Israel/Palästina belegen, dass die

62 A. Shboul/A. Walmsley, Identity and Self-Image in Syria-Palestine in the Transition from Byzantine to Early Islamic Rule. Arab Christians and Muslims. Mediterranean Arch. 11, 1998, 255–287.

Genese- und Hybridisierungsprozesse der frühchristlichen Bildkultur 95

Christen in dieser Zeit weiterhin Kirchen errichteten, reparierten und mit neuen Ausstattungselementen versahen63. Für das 8. Jahrhundert konnten archäologische Untersuchungen einen auffälligen Bruch in der visuellen Kultur belegen, der sich vor allem in den Mosaikfußböden der Kirchenbau-ten manifestierte, die in diesem Gebiet ein Standardelement der Bauausstat-tung waren64. Wurden neue Pavimente ausgelegt, zeigten diese nun einen Trend zu rein geometrischen Mustern und symbolischen Motiven65. In den meisten Fällen lässt sich allerdings eine bewusste Zerstörung älterer figu-rativer Bilddarstellungen beobachten. Zu diesem Zweck wurden die Mosa-iksteinchen an denjenigen Stellen aus den Pavimenten ausgebrochen, die figürliche Darstellungen aufwiesen, und unmittelbar anschließend durch-mischt und in neuer, abstrakter Anordnung wieder in die entstandene Lücke eingesetzt. Die umgebenden Mosaikpartien blieben unangetastet. Gelegent-lich folgten die Entfernungen so genau den Figuren oder Figurenpartien, dass deren ehemalige Umrisslinien weiterhin erkennbar sind66.

Die Kirchenbauten von Umm er-Rasas, dem antiken Kastron Mefa’a in der Provinz Arabia, heute in Jordanien etwa 70 km südlich von Amman gelegen,

63 R. Schick, The Christian Communities of Palestine from Byzantine to Islamic Rule. A Historical and Archaeological Study. Stud. in Late Ant. and Early Islam 2 (Princeton, NJ 1995); M. Piccirillo, Les mosaïques d’époque omeyyade des églises de la Jordanie. Syria 75, 1998, 263–278; ders., L’ Arabia cristiana. Dalla provincia imperiale al primo periodo Islamico (Mailand 2002); A. Shiyyab, Der Islam und der Bilderstreit in Jorda-nien und Palästina. Archäologische und kunstgeschichtliche Untersuchungen unter Berücksichtigung der „Kirche von Ya‘mun“. Kunstwiss. 14 (München 2006).

64 M. Avi-Yonah, Mosaic Pavements in Palestine. Quart. Dep. Ant. Palestine 2, 1932, 136–181; ders., Mosaic Pavements in Palestine. Quart. Dep. Ant. Palestine 3, 1933, 26–47, 49–73; A. Ovadiah/R. Ovadiah, Hellenistic, Roman and Early Byzantine Mosaic Pave-ments in Israel. Bibl. Arch. 6 (Rom 1987); M. Piccirillo, The Mosaics of Jordan (Am-man 1993).

65 Schick 1995 (Anm. 63) 181−183; Piccirillo 1998 (Anm. 63) 269; L. Brubaker/J. Haldon, Byzantium in the Iconoclast Era (ca. 680 – 850). The Sources. An Annotated Survey. Birmingham Byzantine and Ottoman Monogr. 7 (Aldershot 2001) 35; Piccirillo 2002 (Anm. 63) 243.

66 Schick 1995 (Anm. 63) dokumentierte über 50 Kirchen mit zerstörten Bodenmosaiken, Shiyyab 2006 (Anm. 63) 60 Kirchen auf den Gebieten des heutigen Jordanien und Is-rael/Palästina. – Eliya Ribak errechnete für das Gebiet der palästinischen Provinzen “iconoclasm appears in 21 % of synagogues where human figures have been recog-nised and in 25 % of churches with human figures“: E. Ribak, Religious Communities in Byzantine Palestina. The Relationship between Judaism, Christianity and Islam, AD 400–700. BAR Int. Ser. 1646 (Oxford 2007) 33.

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liefern ein in der Forschung bekanntes Paradebeispiel für die eben beschrie-benen Vorgänge. Exemplarisch sei hier die außerhalb der Mauern gelegene Kirche St. Stephan vorgestellt, die im 6. oder 7. Jahrhundert errichtet und im 8. Jahrhundert neu ausgestattet wurde. Der Bau wurde 1986 ergraben und durch Susanna Ognibene in einer Publikation von 2002 auf die Bildzerstö-rungen hin untersucht67.

Die Kirche enthält zwei inschriftlich datierte Mosaikböden (Abb. 4)68. In der Apsis wurde ein rein geometrisches Mosaik verlegt, das auf März 756 in die Zeit des Bischofs Hiob datiert ist. Im Langhaus befindet sich eine weitere Inschrift, deren Datumsangabe ursprünglich wohl in das Jahr 718 wies, nach

67 M. Piccirillo/E. Alliata, Umm al-Rasas Mayfa’ah 1. Gli scavi del complesso di Santo Stefano (Jerusalem 1994); S. Ognibene, Umm al-Rasas. La chiesa di Santo Stefano ed il “Problema iconofobico” (Rom 2002).

68 Piccirillo 1993 (Anm. 64) 36 f. 233, 238 f.; Piccirillo/Alliata 1994 (Anm. 67) 242–246; Schick 1995 (Anm. 63) 472–474; J. M. Blázquez Martínez, Arte bizantino antiguo de tradición clasica enl desierto jordano. Los mosaicos de Um er-Rasas. Goya H. 255, 1996, 130–143 bes. 138; Ognibene 2002 (Anm. 67) 144.

4 Umm er-Rasas (Jordanien), St. Stephan, Luftaufnahme. – Nach: Piccirillo/Alli-ata 1994 (Anm. 67) 135 Abb. 23.

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Ausbesserung des Paviments allerdings die Jahreszahl 785 zeigte69. Die bei der Ausgrabung zutage getretene Keramik und die Münzfunde machen es wahrscheinlich, dass das Gebäude bis in das 9. oder 10. Jahrhundert bestand und dann aufgegeben wurde und einstürzte70.

Das Langhausmosaik ist eines der größten und qualitätvollsten in der Re-gion. Sein rechteckiges Mittelpaneel zeigt eine Weinranke, deren Äste runde Medaillonfelder bilden, in denen ehemals Bilder von Menschen und Tieren zu sehen waren. Um das Mittelfeld herum verläuft ein schwarzgrundiger Fries mit einer nilotischen Szenerie, an den zu den Seitenschiffen hin zwei Felder angrenzen, die Vignetten wichtiger Städte der Region in einer ty-pischen Form spätantiker Architekturdarstellung zeigen. Am Ostende des Langhauses befand sich vor der Altarzone ein breites Band, das eine lange Dedikationsinschrift enthielt. Ursprünglich waren unter dieser Inschrift sie-ben Donatoren dargestellt, deren Bildnisse durch Früchte tragende Bäume voneinander getrennt waren.

Während die architektonischen und vegetabilen Motive intakt gelassen wurden, wurden bis auf geringe Ausnahmen sämtliche figürliche Darstel-lungen von Menschen und Tieren in diesem Fußboden im Nachhinein ent-weder vollständig oder partiell getilgt. Bei einer detaillierten Betrachtung sieht man, dass ein besonderer Wert auf die Zerstörung der Köpfe und Ext-remitäten der Figuren gelegt wurde, wohingegen die Torsi meist unversehrt blieben (Abb. 5). In einigen Fällen, wie bei den Donatoren, wurden die ur-sprünglichen Bilder durch florale oder geometrische Motive ersetzt.

Fragt man nach der Motivation und den Akteuren dieser Bildzerstörun-gen, würde man zunächst die neuen muslimischen Machthaber als Initiato-ren bzw. Ausführende dieser Handlungen vermuten. Dagegen spricht aller-dings, dass bei einigen Felderreparaturen Kreuzsymbole eingefügt wurden, die darauf hindeuten, dass es die Christen selbst waren, die diese Verände-

69 Durch eine detaillierte Analyse der Zerstörungen und Reparaturen im Schriftbild dieser Inschrift konnte Robert Schick wahrscheinlich machen, dass das Datum ur-sprünglich 718, nicht 785, lautete: Schick 1995 (Anm. 63) 472 Taf. X. – Dieser Argumen-tation folgen auch Piccirillo/Alliata 1994 (Anm. 67) 244–246; Ognibene 2002 (Anm. 67) 79. – Es bleibt zu überlegen, ob der Austausch der Jahresangabe von 718 zu 785 als bewusste Umdatierung erfolgte, die sich auf die Bildtilgungen im Fußboden beziehen sollte.

70 Schick 1995 (Anm. 63) 474; Ognibene 2002 (Anm. 67) 145.

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rungen in ihren Kirchenausstattungen vornahmen (Abb. 6)71. Wahrschein-lich lässt sich dieses Phänomen durch eine gesteigerte Skepsis gegenüber figürlichen Darstellungen erklären, die sowohl im muslimischen als auch im christlichen theologischen Diskurs der Zeit eine zentrale Rolle spielte. Auch wenn die genaue historische Situation heute nicht mehr rekonstru-ierbar ist, überliefern die Schriftquellen für die Dekade zwischen 720 und 730 zwei umfassende Bilderverbote, einerseits durch den umayyadischen Kalifen Yazīd II. (reg. 720–724), der für eine kurze Zeit jedwede figürliche Darstellung in Kirchen und auf öffentlichen Plätzen verboten haben soll, andererseits durch den byzantinischen Kaiser Leo III. (reg. 717–741), der die Darstellung von Jesus, Maria und den Heiligen auf Ikonen und deren Ver-

71 Dieses Phänomen lässt sich auch in einigen anderen Kirchenbauten der Region bele-gen, vgl. etwa Schick 1995 (Anm. 63) Taf. 21 (Kirche von Masuh).

5 Umm er-Rasas, St. Stephan, Fries mit nilotischer Szenerie. Bodenmosaik mit iko-nofobischer Zerstörung, ehemals mit Darstellung fischender Eroten (Ausschnitt). – Nach: Bowersock 2006 (Anm. 77) 79 Abb. 3,9.

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ehrung untersagte72. Dabei folgten die in den Kirchenmosaiken des syropa-lästinischen Raumes feststellbaren Zerstörungen nicht den ikonoklastischen byzantinischen Maximen, sondern der muslimischen Bildkritik, weshalb sie von Mosaikforschern wie Michele Piccirillo in Differenz zur byzantinischen

72 Die Forschungsliteratur zu diesen Themenkreisen ist äußerst umfangreich. Daher sei hier nur auf wenige Überblicksdarstellungen verwiesen. Zum byzantinischen Bilderstreit: A. Grabar, L‘ iconoclasme byzantin. Dossier archéologique (Paris 1957); E. J. Martin, A History of the Iconoclastic Controversy. Church Hist. Soc. publ. 2 (Repr. London 1980); J. Irmscher, Der byzantinische Bilderstreit. Sozialökonomische Voraussetzungen – ideologische Grundlagen – geschichtliche Wirkungen (Leipzig 1980); G. Lange, Der byzantinische Bilderstreit und das Bilderkonzil von Nikaia (787). In: R. Hoeps (Hrsg.), Handbuch der Bildtheologie 1. Bild-Konflikte (Paderborn 2007) 171–190. – Zur Bilderfeindlichkeit des Islam: O. Grabar, Islam and Iconoclasm. In: A. Bryer/J. Herrin (Hrsg.), Iconoclasm. Papers given at the ninth Spring Symposium of Byzantine Studies, University of Birmingham, March 1975 (Birmingham 1977) 45–52; Shiyyab 2006 (Anm. 63); S. Naef, Bilder und Bilderverbot im Islam. Vom Koran bis zum Karikaturenstreit (München 2007). – Vgl. die zusammenfassenden Hinweise bei U. Verstegen, Adjusting the Image – Processes of Hybridization in Visual Culture. A Perspective from Early Christian and Byzantine Archaeology. In: Stockhammer 2011 (Anm. 2) 67–93.

6 Umm er-Rasas, St. Stephan. Detail des zentralen Mosaikfelds mit Kreuz in Fli-ckung der ikonofobischen Zerstörung. – Ognibene 2002 (Anm. 67) 163 Foto 11 Taf. 3.

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Terminologie nicht als ikonoklastische, sondern als ikonofobische Handlun-gen bezeichnet werden73.

Der Koran selbst enthält kein Bilderverbot, es sei denn, es handele sich bei den Bildern um Kultidole. Bildkritische bis bilderfeindliche Auffassun-gen sind jedoch den ḥadīṯen zu entnehmen, welche die mündliche Überlie-ferung von Aussagen und Taten Mohammeds tradieren und im späten 8. und 9. Jahrhundert niedergeschrieben wurden. Die ḥadīṯe belegen eine Ab-lehnung allen bildlichen Darstellungen von Lebewesen gegenüber, die rūḥ besitzen, den göttlich eingehauchten Lebensatem, da sie als blasphemische Imitation der göttlichen Schöpfungsmacht gelten. Zu diesem Lebewesen zählen Menschen und Tiere, Pflanzen hingegen nicht74. Was den Umgang mit bereits existierenden figürlichen Darstellungen anbelangt, wird in den ḥadīṯen vorgeschlagen, bei diesen Figuren den Kopf sowie alle lebenswich-tigen Körperteile zu entfernen, um der dargestellten Figur symbolisch die Lebensmöglichkeit zu nehmen75. Diese Vorgabe entspricht sehr gut der in den Kirchenmosaiken festgestellten Vorgehensweise.

Ob die Christen mit den Bildertilgungen aber auf ein konkretes Bilderver-bot durch Yazīd II. oder vielmehr allgemein auf ein von muslimischen Vor-stellungen geprägtes, bilderfeindliches Ambiente reagierten, bleibt fraglich, zumal von der historischen Forschung bislang nicht geklärt werden konnte, ob das Edikt des muslimischen Machthabers als historische Tatsache oder als Fiktion aufzufassen ist76. Den Kirchen mit zerstörten Mosaiken stehen ohnehin zahlreiche Beispiele in der Region gegenüber, deren Ausstattung unzerstört überdauert hat, also kein Opfer ikonofobischer Handlungen wur-de. Interessant ist, dass die ikonofobischen Aktivitäten nicht das Ziel hatten, die Figuren restlos unkenntlich zu machen. Oftmals blieben charakteristi-sche Partien des Körpers sichtbar oder die Umrisse der ehemaligen Figur einwandfrei erkennbar, sodass Betrachter, denen das ikonografische Reper-toire christlicher Kirchenausstattungen geläufig war, die ehemaligen Dar-stellungen wie unter einem Schleier oder einer Tarnung immer noch erkannt

73 M. Piccirillo, Iconofobia o iconoclastia nelle chiese di Giordania? In: C. Barsanti/A. Acconci (Hrsg.), Bisanzio e l’Occidente. Arte, archeologia, storia. Stud. in onore di Fernanda de’ Maffei (Rom 1996) 173–191.

74 Shiyyab 2006 (Anm. 63) 2–18.75 Shiyyab 2006 (Anm. 63) 14 f.76 Shiyyab 2006 (Anm. 63) 34–37, 187.

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haben dürften. Ergebnis der Handlungen war eine palimpsestartige, hybri-de Bildgestalt, die traditionelle christliche Bildelemente enthielt, die man auf ein Motivrepertoire reduziert hatte, das auch in muslimischem Ambiente keinen Anstoß erregte. In gewissem Sinne lassen sich diese Handlungen ei-nerseits als Anpassungsprozess, andererseits als Widerstand interpretieren.

Eine Erklärung für die Vorgänge könnte sein, dass die christlichen Kir-chen in der Anfangszeit der Okkupation der Region auch von Muslimen zum Gebet aufgesucht wurden und deshalb hinsichtlich ihrer Ausstattung an die praktisch-theologischen Erfordernisse beider Religionen angepasst werden mussten77. Robert Schick hat auf der Basis einer Zusammenstellung aller datierten Mosaikfußböden mit Anzeichen ikonofobischer Rearrange-ments jüngst die These geäußert, dass letztere vielleicht erst in frühabbasidi-scher Zeit, etwa in den 760er–80er Jahren, ausgeführt worden sein könnten. Er sieht in den Bildanpassungen eine Parallele zum Wechsel der Jahresan-gaben in den Mosaiken, die in den 760er Jahren von der zuvor geläufigen Datierung nach Indiktionen und Provinz- bzw. Städtezählungen zu einer Datierung nach der Weltschöpfungsära wechselten, d.h. von einer auf oströ-mische Verwaltungszyklen und –regionaleinheiten rekurrierenden hin zu einer allgemeineren Jahreszählung umschwenkten.78 Sollte diese Ansicht zutreffen, ließen sich die Bildanpassungen als Versuche der Christen bewer-ten, in einem gewandelten politisch-sozialen Umfeld, in dem sie zunehmend unter Konversionsdruck gerieten, ihre Kompatibilität zum Islam unter Be-weis zu stellen. Sei es dass die Bildertilgungen in den 720er Jahren oder erst später in frühabbasidischer Zeit erfolgten, zum Ergebnis hatten sie eine Bild-gestalt, die der muslimischen Bevölkerung der Region auch aus den eigenen Gebetsstätten nicht unbekannt war. Um die Wende vom 7. zum 8. Jahrhun-dert hatten die umayyadischen Kalifen eine Kampagne forciert, mit der sie die eroberten Gebiete öffentlich, aber auch symbolisch als Besitztümer des Islam proklamiert hatten. In diesem Zusammenhang war unter Bezugnah-me auf byzantinische Vorbilder eine eigene muslimische architektonische

77 S. Bashear, Qibla Musharriqa and Early Muslim Prayer in Churches. The Muslim World 81, 1991, 267–282. <doi: 10.1111/j.1478-1913.1991.tb03531.x>; G. Bowersock, Mosa-ics as History. The Near East from Late Antiquity to Islam (Cambridge, Mass. 2006) 109 f.

78 Robert Schick im Vortrag “Contacts between Jerusalem and Constantinople During the Iconoclastic Period”, gehalten am 12.7.2011 in Heidelberg.

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und visuelle Kultur entwickelt worden, die bis heute durch herausragende Kunstschöpfungen wie die zwischen 705 und 715 errichtete Umayyaden-

7 Hybride muslimisch-christliche Bildkul-tur des 8. Jahrhunderts. Linke Seite: Damas-kus, Umayyadenmoschee, um 705–715.

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moschee in Damaskus bekannt ist79. Vergleicht man das Bildrepertoire der Umayyadenmoschee (Abb. 7) mit dem wenig später entstandenen Mosaik

79 Vgl. z. B. F. B. Flood, The Great Mosque of Damascus. Studies on the Makings of an Umayyad Visual Culture. Islamic hist. and civilization 33 (Leiden 2001).

Rechte Seite: Umm er-Rasas, St. Stephan, um 718. – Zusammenstellung: U. Verstegen.

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von Umm er-Rasas, lassen sich interessante Gemeinsamkeiten entdecken, so z. B. friesartige Kompositionen vegetabiler und architektonischer Szenerien sowie ornamentale Elemente wie Weinrankenfriese80. Nach den ikonofobi-schen Eingriffen in das Kirchenmosaik wurden die Übereinstimmungen durch den vollkommenen Verzicht auf figürliche Darstellungen noch grö-ßer. Durch die spezifische politische Situation und Sozialstruktur entstand für kurze Zeit in der Region im sakralen Bereich eine hybride Bildkultur, deren Elemente sowohl für muslimische als auch für christliche Betrachter Anknüpfungspunkte und Gemeinsamkeiten boten.

Schluss

Die erwähnten Beispiele der frühchristlichen Bildkultur mögen als Anre-gung dienen, den methodologischen Ansatz der Hybriditätsforschung auch im Zusammenhang christlich-archäologischer Fragestellungen weiterzu-führen. Sie zeigen, wie durch eine Auseinandersetzung mit und Aneignung von Bildmustern und Glaubensauffassungen anderer Religionen neue For-men und Symbole entstehen können, die zugleich eine Distanzierung von und eine Anlehnung an diejenigen Elemente zeigen, mit denen man sich auseinandersetzt. Dabei nutzten die frühen Christen z. B. das Potenzial von Bildmotiven und Symbolen, mehrere komplexe Sinnschichten in sich zu ver-einen, um aus diesen bestimmte Aspekte auszuwählen und sie um weitere, neue Assoziationen zu erweitern.

Es zeigt sich, dass die Begriffe der Hybridität/Hybridisierung gegenüber älteren methodischen Konzepten wie z. B. der Beschreibung von ‚Eklektizis-men‘ die Chance bieten, über die methodischen Instrumentarien geschlosse-ner Systeme wie der Form- und Stilanalyse hinaus zu gehen, sich von diesen zu lösen und den Fokus auf soziale Prozesse zu lenken. Bei der Analyse von Formgenesen, -selektionen und -übernahmen lassen sich auf diese Weise zusätzlich zur Frage nach der Motivation und Intention einzelner Auftrag-geber/Bauherren auch größere gesellschaftliche Strömungen in den Blick nehmen, möglicherweise sogar Spuren nicht-intentionaler, unbewusster Entscheidungen oder verschiedener Identitätsoptionen von Akteuren auf-

80 Verstegen 2011 (Anm. 72).

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decken. Wichtige Analysekriterien bilden dabei einerseits die Kontaktbedin-gungen, andererseits Status, gesellschaftliche Verankerung und Traditions-bewusstsein der einander begegnenden kulturellen Einheiten: Handelt es sich um ein Aufeinandertreffen von gleichwertigen oder von unterschied-lich mächtigen Akteursgruppen? Besitzen die betreffenden kulturellen Ein-heiten eine starke oder schwache Tradition der Aneignung und Inkulturati-on fremder Elemente in das eigene Zeichen- und Symbolsystem81?

Auch aus archäologischer Sicht scheinen Hybriditätsphänomene vor allem in Umbruchzeiten zu beobachten zu sein, sei es bei der Identitätsbildung sozialer Minoritäten innerhalb einer Gesellschaft wie bei den gezeigten Bei-spielen der Formierung einer frühchristlichen Bildkultur, sei es bei der Aus-einandersetzung einer lokalen Mehrheitsbevölkerung mit einer neuen herr-schenden Minderheit wie im Beispiel Syrien/Palästina des 8. Jahrhunderts.

Zusammenfassung

Seit dem Entstehen einer christlichen Bildkultur aus dem Substrat der antik-polytheistischen Bilderwelt im 2./3. Jahrhundert oszillierte im Christentum das Verhältnis zu Bildwerken zwischen bilderfreundlichen und -feindlichen Auffas-sungen. Grundlage der Bildkritik war das alttestamentliche Bilderverbot, das je nach exegetischer Strenge motivisch entweder als Verbot der Anfertigung von Abbildern Gottes oder aller Darstellungen belebter Wesen ausgelegt, ausfüh-rungstechnisch manchmal auch nur auf vollplastische Kultstatuen im Gegen-satz zu zweidimensionalen Darstellungen bezogen wurde. Im 8. Jahrhundert kulminierte die Auseinandersetzung zwischen den gegenteiligen innerchristli-chen Positionen im ‚byzantinischen Bilderstreit‘.Vor dem Hintergrund der Diskussionen zu Hybridisierungsphänomenen wer-den zwei Beispiele für die Auseinandersetzung der frühen Christen mit reli-giösen Vorstellungen des antiken Judentums und der polytheistischen Kultur im Rahmen der Entwicklung einer eigenen Bildkultur vorgestellt (‚nomina sac-ra‘, Oransmotiv). Parallel verlaufen die Prozesse beim Aufeinandertreffen der christlichen und der muslimisch-arabischen visuellen Kulturen im syrisch-pa-lästinischen Raum des 8. Jahrhunderts. Für diese Zeit lassen sich in den dortigen

81 Burke 2009 (Anm. 1) 66–72.

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Kirchenausstattungen einerseits Trends zu geometrischen und symbolischen Motiven, andererseits mitunter eine bewusste Zerstörung älterer figurativer Bilddarstellungen belegen.

Summary

Processes of genesis and hybridization of early Christian visual culture in con-tact with other religions

Since the formation of a culture of Christian imagery from the substratum of the classical-polytheistic iconography of the 2nd and 3rd centuries, the relati-onship to the pictorial representations within Christianity oscillated between image-friendly and image-unfriendly conceptions. The basis of the criticism to imagery was the Old Testament ban on pictures, which, according to the extent of exegetical severity, was construed in the motif either as a ban on making depictions of God or of all images of living things. However, sometimes it was only technically applied to cult-statues as sculptures in the round as opposed to two-dimensional depictions. In the 8th century the struggle between the op-posing internal Christian positions culminated in the “Byzantine Iconoclasm”.Against the background of the discussions on the phenomena of hybridization two examples of the early Christians’ altercation with religious ideas of anci-ent Judaism and the polytheistic culture within the development of a separate image-culture are forwarded (‘nomina sacra’, orant motif). The processes during the meeting of the Christian and Moslem-Arabic visual cultures in the Syro-Palestinian region in the 8th century run parallelly. For this period one can de-monstrate in the decoration of the churches there on the one hand trends to geometrical and symbolic motifs, on the other hand occasionally a conscious destruction of older figurative imagery.

Dr. Ute VerstegenLS Christliche Archäologie und Kunstgeschichte

Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nü[email protected]