"Une ébauche lente à venir". Bildwerdung des Eros und Formgebung der Lyrik bei Pierre de Ronsard...

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Bettina Füll „UNE EBAUCHE LENTE Ä VENIR" Bildwerdung des Eros und Formgebung der Lyrik bei Pierre de Ronsard und Charles Baudelaire /. Umleitung In Piatonismus und Neuplatonismus ist Eros als ordnungsstiftende Macht be- stimmt, die zwischen Sinnlich-Sichtbarem und Unsichtbarem vermittelt. Eros gibt dem Chaos Form und Gestalt; er hält das Universum zusammen, fügt Getrenntes zur Einheit und ist damit, wie Ficino in De amore schreibt, der alles durchwirkende ,Knoten und die Koppel der Welt', „nodus perpetuus et copula mundi"'. Das innere Prinzip, das das kosmische Gefüge stützt und dem Ungestalten Wohlgestalt verleiht, ist auch in erkenntnistheoretischer Perspektive relevant. Bezogen auf die Wel- twahrnehmung des Menschen und sein Verhältnis zur Transzendenz ermöglicht es Eros, sich dem Göttlichen anzunähern, indem er die Seele aus dem Trug der Sinne zur Schau der Ideen führt. Angestoßen und ermöglicht wird dieser Aufstieg durch den Anblick des Schönen, wie dies Piaton im Phaidros im Kontext der Anamnesis- lehre gefaßt und Ficino in der folgenden Definition weitergeführt hat^: „Appropin- quationem, amoris impetum. Formationem, amoris perfectionem. [...] Ideo amoris conditio est, ut ad pulchritudinem rapiat ac deformem formoso coniungat." Eros steht zwischen sinnlicher Anschauung und abstrakter Erkenntnis. In seiner Bindung an das Schöne, das auf der Ebene der Erscheinungen der aisthesis zugäng- lich ist, zugleich aber in Kombination mit dem Guten als oberstes Paradigma der Ideen fungiert, wird er zu einer doppelbödigen Reflexionsfigur, die ein dem Plato- nismus inhärentes Paradox aufgreift: Das Sinnlich-Sichtbare gilt in der von Piaton und Plotin ausgehenden Tradition auf der einen Seite als defizientes Abbild der Ide- en beziehungsweise als entseelte Materie. Auf der anderen Seite ist es, da es einen Eindruck des an sich Schönen vermittelt, überhaupt erst Ausgangspunkt für eine Annäherung an das Intelligible und so mit diesem intentional verknüpft. Der An- blick des Schönen, durch den Eros geweckt wird, leitet die Anamnesis der Seele ein, begründet die apriorische Verfaßtheit des Denkens und bindet das sinnliche Phä- nomen an die Idee zurück^: „Im Bilde als dem Anlaß der erotischen Bewegung wird Marsilio Ficino: Über die"Lieheoder Piatons Gastmahl, übers, von Karl Paul Hasse, hg. und eingel. von Paul Richard Blum, Lateinisch-Deutsch, Hamburg 1994, Oratio tertia III, S. 90. ^ Ebd., Oratio prima II, S. 22f.: „Die Annäherung an Gott ist der Liebesdrang des Eros, seine Ausgestaltung mit den Formen ist dessen Vollendung. [...] Dies ist nämlich die Eigenschaft des Eros, daß er zu der Schönheit hinreißt xmd das Ungestaltete dem Schönen zuführt." ' Die Diotima-Rede in Piatons Symposion xmi ihre Relation zur Anamnesis-Lehre des Phaidros beleuchtet Werner Beierwaltes: Marsilio Fiänos Theorie des Schönen im Kontext des Piatonismus, Heidelberg 1980, 10-16,

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Bettina Füll

„ U N E EBAUCHE L E N T E Ä V E N I R "

Bildwerdung des Eros und Formgebung der Lyrik bei Pierre de Ronsard und Charles Baudelaire

/. Umleitung

In Piatonismus und Neuplatonismus ist Eros als ordnungsstiftende Macht be­stimmt, die zwischen Sinnlich-Sichtbarem und Unsichtbarem vermittelt. Eros gibt dem Chaos Form und Gestalt; er hält das Universum zusammen, fügt Getrenntes zur Einheit und ist damit, wie Ficino in De amore schreibt, der alles durchwirkende ,Knoten und die Koppel der Welt', „nodus perpetuus et copula mundi"'. Das innere Prinzip, das das kosmische Gefüge stützt und dem Ungestalten Wohlgestalt verleiht, ist auch in erkenntnistheoretischer Perspektive relevant. Bezogen auf die Wel­twahrnehmung des Menschen und sein Verhältnis zur Transzendenz ermöglicht es Eros, sich dem Göttlichen anzunähern, indem er die Seele aus dem Trug der Sinne zur Schau der Ideen führt. Angestoßen und ermöglicht wird dieser Aufstieg durch den Anblick des Schönen, wie dies Piaton im Phaidros im Kontext der Anamnesis-lehre gefaßt und Ficino in der folgenden Definition weitergeführt hat : „Appropin-quationem, amoris impetum. Formationem, amoris perfectionem. [...] Ideo amoris conditio est, ut ad pulchritudinem rapiat ac deformem formoso coniungat."

Eros steht zwischen sinnlicher Anschauung und abstrakter Erkenntnis. In seiner Bindung an das Schöne, das auf der Ebene der Erscheinungen der aisthesis zugäng­lich ist, zugleich aber in Kombination mit dem Guten als oberstes Paradigma der Ideen fungiert, wird er zu einer doppelbödigen Reflexionsfigur, die ein dem Plato-nismus inhärentes Paradox aufgreift: Das Sinnlich-Sichtbare gilt in der von Piaton und Plotin ausgehenden Tradition auf der einen Seite als defizientes Abbild der Ide­en beziehungsweise als entseelte Materie. Auf der anderen Seite ist es, da es einen Eindruck des an sich Schönen vermittelt, überhaupt erst Ausgangspunkt für eine Annäherung an das Intelligible und so mit diesem intentional verknüpft. Der An­blick des Schönen, durch den Eros geweckt wird, leitet die Anamnesis der Seele ein, begründet die apriorische Verfaßtheit des Denkens und bindet das sinnliche Phä­nomen an die Idee zurück^: „Im Bilde als dem Anlaß der erotischen Bewegung wird

• Marsilio Ficino: Über die "Liehe oder Piatons Gastmahl, übers, von Karl Paul Hasse, hg. und eingel. von Paul Richard Blum, Lateinisch-Deutsch, Hamburg 1994, Oratio tertia III, S. 90.

^ Ebd., Oratio prima II, S. 22f.: „Die Annäherung an Gott ist der Liebesdrang des Eros, seine Ausgestaltung mit den Formen ist dessen Vollendung. [...] Dies ist nämlich die Eigenschaft des Eros, daß er zu der Schönheit hinreißt xmd das Ungestaltete dem Schönen zuführt."

' Die Diotima-Rede in Piatons Symposion xmi ihre Relation zur Anamnesis-Lehre des Phaidros beleuchtet Werner Beierwaltes: Marsilio Fiänos Theorie des Schönen im Kontext des Piatonismus, Heidelberg 1980, 10-16,

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das Ur-Bild zumindest analog oder spurhaft erkannt; das Schöne im Bild führt zum Urbild, weil dieses im Bild als der Grund von Schönheit bereits anwesend ist und ,anziehend' wirkt." Betrachtet man Eros ausgehend von der Annahme, daß dem Erscheinenden ein verallgemeinerndes, wahres Eidos zugrunde liegt, so ermöglicht er es, das Sinnliche auf die Ideen hin zu transzendieren. Ist das Sinnliche jedoch kategorial lediglich falscher Schein, so wirkt auch der ihm verbundene Eros als eine täuschend-bedrohliche Macht.

Die beiden gegenläufigen Eigenschaften des Eros, negative Potenz und mitteln-de Kraft, charakterisieren, folgt man der platonischen Konzeption, ebenfalls die Hervorbringungen der Dichtung und der Malerei. Diese werden abgewertet, gerade weil sie das nur Gesehene nachahmen oder innere, den Affekten verdankte Vorstel­lungsbilder evozieren.'* Weisen sie aber bestimmte Qualitäten, etwa Proportion, Maß, Symmetrie oder Rhythmus auf, ist ihre sinnliche Erscheinung also durch ein rationales Verhältnis bestimmt, so lassen sie sich aufgrund dieser in ihrer Form He­genden Schönheit als Verweis auf das Gute und Wahre interpretieren. Der durch Natur oder Kunst wohlgeformte Gegenstand korrespondiert in seiner Gestalt dem göttlichen Logos; seine Wahrnehmung löst in der Seele die Wiedererinnerung an das Intelligible aus. In der intrinsischen Referenzstruktur, die auf einen geistig-ewigen Bereich verweist, entspricht die These von der Formgebung der Materie dem mania-oder ror-Konzept: So wie der Mensch von einer höheren Macht, etwa dem vom Schönen geweckten, zum Sein strebenden Eros beseelt ist, vermag es der Künstier, ausgehend von der inneren Anschauung, der Materie eine ideale Form aufzuprägen, die dem zunächst Formlosen ontologische Dignität verleiht.'' Auf einer nachgeord-neten Ebene, der des Bildbetrachters oder Lesers, wiederholt sich abhängig vom Prozeß des Schaffens die aufgewiesene Relation: Entweder verfällt der Rezipient ei­nem trügerischen Büd, das nun nicht mehr von der sinnlichen Erscheinung der Dinge, sondern von der künstierischen Darstellung ausgeht, oder aber er gelangt zu einer höheren Erkenntnis, wenn das künsderisch Geschaffene als Medium für die Ideenschau fungiert.

Diese Grundspannung, die sich freilich nur durch eine Zuspitzung der differen­zierten Erosreflexion bei Piaton und ihrer Rezeptionsstufen rekonstruieren läßt, hat die Liebesdichtung vor allem seit den Stilnovisten aufgegriffen und dabei die Frage nach der Seinsvalenz des Eros in zwei Amortypen fokussiert. Amor spiritualis, ob christlich oder neuplatonisch geprägt, geht von wahren Bildern in der Seele aus. Ihm steht amor carnalis entgegen, der die kosmische Ordnung und den Seelenaufstieg

hier 15. Zu Piatons Mimesiskritik vgl. insbesondere Politeia X.

^ Die entsprechenden Stellen zu Maß, Symmetrie und Gestalt finden sich v.a. bei Piaton: Phikhos 64e-65a sowie, im Kontext der Frage nach der Natur des Schönen, bei Plotin: Bnneades 1,6. Vgl. Beierwaltes: Fiänos Theorie des Schönen [Anm. 3], 16f. sowie 18-28.

^ Zur gottgesandten mania des Eros vgl. Piaton; Phaidros 249d-250a, zu Plotins Theorie der Formgebimg der Materie mittels der Kunst vgl. Erwin Panofsky; iDEA — Ein Beitrag ^r hegriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie, Berlin 1960, 12-16.

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konterkariert.^ Der sinnliche Amor, der dem täuschenden Bereich der Affekte zuge­hört, tritt als Erzeuger falscher mentaler Bilder auf, die einen Bezug auf das Sein lediglich simulieren. Die unsichere Wertigkeit der von Amor vermittelten Vorstel­lungen wird in der Literatur des italienischen Duecento vor dem Hintergrund christ­licher Heilslehre reflektiert. Dies zeigt einprägsam Guido GuinizelHs Kanzone A.I cor gentil rempaira sempre Amore. Am Ende des Stücks, das in den ersten vier Strophen eine Identität zwischen Amor und „gentilezza", dem Seelenadel, konstruiert^, muß sich die Seele nach dem Tod vor dem Richterstuhl Gottes dafür verantworten, das Leben nicht der Transzendenz zugewandt, sondern durch die Dichmng lediglich einem täuschenden Idol gedient zu haben':

Donna, Deo mi dirä: „Che presomisti?", siando l'alma mia a lui davanti. „Lo ciel passasti e 'nfin a Me venisti, e desti in vano amor Me per sembianti; ch'a Me conven le laude e la reina del regname degno, per cui cessa onne fraude". Dir L i poro: „Tenne d'angel sembianza Che fosse del Tue regno; Non me fu fallo, s'in lei posi amanza."

Das Problem der Ununterscheidbarkeit wahrer und falscher Bilder wird bei Guini-zeUi am Beispiel der Liebesimagination vorgeführt. Die Geliebte, so das Argument, täuscht, eben weil sie dem Ewigen zum Verwechseln gleicht, „d'angel sembianza" hat. In der Verteidigungsrede der Seele wird die der „donna" gewidmete Dichtung mit dem Trug, dem „vano amor", den sie - diese preisend - zur Anschauung bringt, gleichgesetzt. Durch den zurückgewiesenen Vergleich des Vorstellungsbildes mit einer metaphysischen Schau definiert GuinizeUi nicht nur ein nicht-mimetisches Verhältnis von irdischer und himmlischer Liebe, sondern stellt implizit die Frage, ob und unter welcher Voraussetzung das Wahre im Irdischen überhaupt zu erkennen sei. Dabei überträgt er das erkenntnistheoretische Problem, das die Frauener­scheinung als ein Zeichen deutet, dessen Signifikat letztlich für den Menschen unbe­stimmt bleibt, auf das poetische Sprechen selbst. Dieses tritt in der Rede des Ich gleichberechtigt neben den Lobpreis Gottes und Mariens, die „laude", wobei in den Vergleichen und Metaphern der Dichtung zugleich die unsichere Referenz christli­cher Anschauungsformen überhaupt deutlich wird.

^ Das Spektrum einer Amorbildlichkeit, die zwischen spiritueller Erkermtnis und sinnhchem Begehren steht und den jeweüigen Amortypus über Attribute, z.B. die Augenbinde, kennzeichnet, verfolgt in Auseinandersetzung mit der mythographischen Tradition, der Dichtung und der bildenden Kunst Erwin Panofsky: Der blinde Amor, in: ders.: Studien t^r Ikonologie — Humanisäsche Themen in der Kunst der Renaissance, Köln 1980,153-202.

' Das platonische, plotinische und christlich-mystische Substrat der Kanzone unterstreicht die Inter­pretation von Hugo Friedrich: Epochen der italienischen Lyrik, Frankfurt a.M. 1964, 60-63.

^ Der Text folgt der kommentierten Ausgabe von Frank-Rutger Hausmann: Die Gedichte aus Dantes ,De vulgari eloquentia'— Eine Anthologieproven^lischer, frani^sischer und italienischer Gedächte des Mittelalters, München 1986, 302.

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Guinizellis Kanzone fragt über die ihr eingeschriebene Bildreflexion nach dem ontologischen Ort der Poesie. In ähnlicher Weise unternimmt dies Dante in der Vi­ta nuova, wenn er Beatrice, „la gloriosa donna della mia mente", als innere Bilder­scheinung, die dem Ich allgegenwärtig vor Augen steht und eine „baldanza d'Amo­re" ist, gleich am Anfang, im zweiten Kapitel seines Erinnerungsbuches aufruft.'^' Petrarca, der den im Can^oniere darzustellenden „giovenil errore" der Lauraiiebe als Sünde und vanitas deutet und ihn im Verlauf der Sammlung wiederholt mit Büdern des Todes assoziiert", greift die Ambivalenz der Amorfigur vor dem Hintergrund des philosophisch-theologischen Liebesdiskurses und der scholastischen Ratiolehre auf In der Kanzone Quel'antiquo mio dolce empio signore inszeniert er einen Kampf in der Seele, ein Streitgespräch zwischen Ich und Amor vor dem Richterstuhl der Ver­nunft, das jedoch weniger zu Erkenntrus und Läuterung denn zu einer „fortschrei­tenden Verstrickung in Ungewißheit" führt.^^

Die Bildwerdung und Bildgestaltung des Liebesobjekts, dessen Bezug zum lyri­schen Subjekt die Amorfigur bündelt und allegorisch repräsentiert, umgreift in ihrer Seinsvalenz, so läßt sich an dieser Stelle für die frühe italienische Dichtung fest­halten, auch die künsüerische Ausdrucksform, die die entsprechende Bildlichkeit zur Darstellung bringt. Diese Reflexionsfigur, das wechselseitige Verhältnis von Darzu-steUendem und Darstellung, von Inhalt und der ontologischen Wertigkeit der ihn ausbildenden, zugleich von ihm bestimmten Form, führen spätere Lyriker, Pierre de Ronsard in der französischen Renaissance, Charles Baudelaire in der Moderne, fort. Wie im folgenden gezeigt werden soll, tritt in ihren Texten allerdings eine weitere Vermittlungsebene hinzu. Beide beziehen sich in der Amor gewidmeten Lyrik zwar auch auf die Valenz eines inneren Bildes und dessen Konturierung in der Dichtung, ziehen darüber hinaus jedoch jeweüs ein Kunstgenre oder auch ein büdkünsderi-sches Verfahren heran, die - gleichsam als mise en abyme der lyrischen Konstruktion - die ontologische und erkenntnistheoretische SteUung des Eros und damit die­jenige des Mediums seiner Darstellung reflektieren. Ronsard schließt hierbei an eine zeitgenössisch beüebte Kunstform an, wenn er in den Amours de Cassandre der Büd-gattung des Porträts eine zentrale Stelle innerhalb der Liebesimagination zuweist. Baudelaire rekurriert in Ijes Fleurs du Mal ebenfalls auf ein in der aktueUen Diskus­sion des 19. Jahrhunderts besonders präsentes Büdverfahren, die Karikatur, um in seinem Gedicht Une Charogne zwei gegenläufige Erosfiguren miteinander zu kombi-tueren.

Dante Alighieri; }/ita nuova, introd. di Edoardo Sanguineti, note di Alfonse Berardinelh, Wilano 1977, 1-3. Francesco Petrarca; Can^onien, Sonett I, Vot ch'ascoltate in rime sparse ilsuono, Verse 3 und 6. Die Todes-bildlichkeit ist für die Sammlung insgesamt konstitutiv imd prägt besonders den Ubergang der Teile 1 und 2, also die Kanzonen und Sonette, die dem Tod Lauras gewidmet sind.

'2 Vgl. Andreas Kablitz: Petrarcas Lyrik des Selbstverlusts — Zur Kanxpne R K F Nr. 360 — mit einem Lixkurs ^ur Geschichte christlicher Semantik des Eros, in; Geschickte und Vorgeschichte modemer Subjektivität I-II, hg. von Reto Luzius Fetz u.a., Berlin/New York 1998,1 567-611, Zitat 609.

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//. Die Porträtgedichte Pierre de Ronsards

Die französische Renaissance greift das kategoriale Schema der philosophischen Eros-Konzeption sowie die damit verbundene Bild- und Erkenntnistheorie auf Der neuplatonische Liebesdiskurs bildet eine zentrale Referenz für die DarsteUungsgege-nstände der Lyrik und prägt in Verbindung mit der insbesondere von Ficino beein­flußten Bestimmung des Kunstschönen und des Künsders die ästhetische Reflexion um die Mitte des 16. Jahrhunderts. Das Sprechen von Eros und Amor gewinnt in Kombination mit der Rezeption Petrarcas, der römischen Elegiker und mit christ­lich-mystischen Anschauungsformen zudem weitere Facetten hinzu. Seit Beginn des Jahrhunderts waren im Gefolge der lateinischen Werkausgabe Ficinos Piatons Dia­loge in mehreren Editionen erschienen, zwischen 1544 und 1558 werden unter an­derem lj)isis, Ion, Timaios, Phaidros und Symposion ins Französische übersetzt.'^ In Poe­sie und Poetik entfaltet sich ein vielschichtiger Dialog mit philosophischen Denk­figuren. Sie gehen als solche in die Gedichte ein oder werden in einzelnen Versatz­stücken anzitiert und neu zueinander ins Verhältnis gesetzt. So erhebt beispielsweise Maurice Sceve in seinem 1544 veröffentlichten Gedichtzyklus Delie ohjet de plus baulte vertu die nicht aufzulösende Spannung zwischen erotisch-sinnlichem Begehren und der Ausrichtung des Liebenden hin auf die Ideen zum übergeordneten Gestaltungs­prinzip. Joachim du Beilay entwirft in der 1549 publizierten petrarkistischen Sonett-sammlung L'Olive Bilder des Seelenaufstiegs, die sich vordergründig einem neupla­tonischen Deutungshorizont integrieren.^'* Im selben Jahr erscheinen Pontus de Ty-ards Erreurs amoureuses, unter dem Titel Amours de Meline und Amours de Frandne Vxa-ze Zeit später zwei Bücher von Jean-Antoine de Baif sowie - in mehrfacher Ergän­zung - die ^«?o»rx-Zyklen Pierre de Ronsards." Um die Jahrhundertmitte werden auch die Hauptwerke des italienischen Neuplatonismus und die von ihm angeregten Liebestraktate übersetzt. 1537 Hegen CastigUones II Cortegiano, 1545 Pietro Bembos Asolani auf Französisch vor. Es folgen ein Jahr später MarsiHo Ficinos Symposion­kommentar De amore, 1551 Leone Ebreos Dialoghi d'amore. Von Piatons mania-Theorie im Phaidros und Ficinos De amore ausgehend, entwickelt Pontus de Tyard 1552 eine Theorie der Inspiration, der fureur poetique, die sich auf ein hierarchisch strukturiertes Aufstiegsmodell hin zum GöttHchen stützt.*''

Vgl. hierzu die Aufstellung in Andre J. Festugiere: Laphilosophie de l'amour de Marsile Fiän et son inßuence sur la litteraturefranfaise au XVT Steele, Paris 1980,141-144. Den Forschungsstand zu dem in neuplatonischem Zusammenhang wohl meistdiskutierten Sonett in L Vlive, Si mstre vie est moins qu 'une joumee, referiert Heidi Marek: Die Lyrik der ,Pleiade', in: Renaissance, hg. von Joachim Leeker, Tübmgen 2003, 82-87. Jean-Antoine de Baif: Amours de Meline (1552), Amours de Franäne (1555); Pierre de Ronsard: Amours (1552), Amours (erweiterte Neuausgabe, 1553), Continuation des Amours (1555), Nouvelle Continuation des Amours (1556). Genannt seien auch die Werkausgaben Ronsards von 1578 und 1584. Zu den verschiedenen Auflagen und neu hinzugekommenen Stücken vgl. die Übersicht in Pierre de Ronsard; Les Amours, introd., bibhographie, releve de variantes, notes et lexique par Henri et Catherine Weber, Paris 1963 ,LXVI-LXXIV.

"> Vgl. Pontus de Tyard: Solitaire premier, ou prose des Muses, et de la fureur Poetique (1552).

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Ronsards Gedichtsammlung ^«?öarx de Cassandre, die 1552 veröffentlicht, dann wiederholt neu ediert und überarbeitet wird, führt in verdichteter und vielschichtiger Form einen Dialog mit tradierten und zeitgenössischen Liebessprachen. Topische Begriffe, petrarkische Darstellungsmuster und philosophische Reflexionsmodelle werden miteinander kombiniert.'^ Stellt man die Sammlung in einen neupla­tonischen Interpretationsrahmen*^ und fragt nach dem Verhältnis von Liebes­passion, Bildvorstellung und geistig-rationaler Erkenntnis, so weist bereits das Ein­gangssonett auf deren enge Relation hin. Aufschlußreich ist in dieser Hinsicht zu­nächst die Wortwahl und die anaphorische Struktur des Gedichts: In den Quar­tetten findet man in viermaliger Wiederholung Verbformen von „voir", während das erste Terzett durch „il cognoistra", das zweite Terzett wiederum durch „voirra" eingeleitet wird' ' :

Qui voudra voyr comme un Dieu me surmonte, Comme il m'assaut, comme il se fait vainqueur, Comme il r'enflamme, & r'englace mon cuceur, Comme il re^oit un honneur de ma honte,

Qui voudra voir une jeunesse prompte A suyvre en vain Tobjet de son malheur, Me vienne voir: il voirra ma douleur. E t la rigueur de l'Archer qui me donte.

II cognoistra combien la raison peult Contre son arc, quand une foys il veult Que nostre cuceur son esclave demeure:

Et si voirra que je suis trop heureux, D'avoir au flanc Taiguülon amoureux, Plein du venin dont il faut que je meure.

Gleich das erste Sonett markiert einen wichtigen Unterschied zur platonistischen Kognitionsfigur: Der Prozeß des Sehens und Erkennens verschiebt sich von demje­nigen, der von Eros erfüllt ist, auf die Seite des distanzierten, beobachtenden Le­sers. Der Leser wird, so heißt es zu Beginn der Terzette, erkennen („il cognoistra"?), wobei dieses Erkennen paradoxerweise gerade darin besteht, die Ausschaltung des auf das Intelligible gerichteten Vermögens, nämlich die Ohnmacht der Vernunft vor der affektiven Macht Amors, zu erfassen. Im Verlauf des Gedichts ist der für die Lektüre in Anspruch genommene Erkenntnisprozeß an einen Zustand des Nicht-Erkennens gebunden, der den Sprecher charakterisiert und der durch die Amorfigur repräsentiert wird: Wenn der Leser im Text das Wirken Amors sehen wolle^o, d.h.

Zur „intertextuellen Kombinatorik" der ^^o»rj-Sammlungen vgl. Rainer Waming; Petrarkistische Diakgi-^tät am Beispiel Vj>nsards, in: Du Pluraktät der Welten - Aspekte der Renaissance in der Romania, hg. von Wolf-Dieter Stempel und Karlheinz Stierle, München 1987, 327-358. Ronsards Bezugnahmen auf die Philosophie des Neuplatonismus, der er innerhalb seines gesamten Werks Metaphern, Bilder und Denkfiguren entlehnt, zeigt A.H.T. Levi: The role oj neoplatonism in Rmsard's poetic imagnation,ai: RonsardthePoet, ed. by Terence Cave,London 1973,121-158.

" Pierre de Ronsard: CEuvres compHtes IV. Les Amours (1552), ed. critique avec introd. et commentaire par Paul Laumonier, Paris 1957, 5f

^ Zur voluntas als rationalem, vom Körper imabhängigem und zum Einen strebendem Seelenvermögen vgl. Paul Oskar Kristeller: Die Philosophie des Marsilio Ficino, Frankfurt a.M. 1972, 238-271, sowie, neben

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sich dieses aufgrund seiner Lektüre vorstelle, was gemäß rhetorischer enargeia unter anderem durch die AUegorisierung erleichtert wird, dann werde er erkennen, daß Amor ein Prinzip des Nichterkennens sei. Analysiert man die Gedichtstruktur ge­nauer, so fallen die wechselseitige Bedingtheit von VerbildUchung und Abstraktion sowie die Differenz zwischen Sprecher und Leser auf Der Appell, daß etwas gese­hen werden soll, geht von der Möglichkeit bildlicher Vergegenwärtigung der Amor­figur aus. Das erste Quartett stellt mit petrarkistischen Oxymora das Wirken Amors im Inneren vor, indem es deiktisch, durch die Rekurrenz von „comme", eine unmit­telbare Anschauung suggeriert. Die Aufforderung, sich eine allegorische Szene des Kampfes vorzustellen, wird im zweiten Quartett abstrakter und enthält bereits ein Erkenntnismoment: Das Liebesbegehren, das in Anspielung auf Petrarcas erstes Sonett Voi ch'ascoltate in rime sparse il suono dem jugendlichen Alter zugeschrieben ist, folgt seinem Objekt vergeblich, „en vain". Das vierte „voir", das nun von „vouloir" gelöst ist und noch einmal die Perspektive des Lesers verdeutlicht, hat schließlich di­rekte Objekte, Abstrakta, die das affektbesetzte Innere definieren, nämlich den Schmerz, dem die Gewalt Amors korrespondiert. In den Terzetten wird die Folge­rung aus dem Gelesenen, also aus der imaginativ vergegenwärtigten Passion des Ich gezogen: Amor, der sich der Seele bemächtigt hat *, schaltet den Verstand aus und verursacht letztlich den Tod.

In einer späteren Fassung des Gedichts, die in der Werkausgabe Ronsards von 1584 erscheint, werden die negativen Qualitäten Amors im ersten und zweiten Ter­zett und die auf Erkenntnis gerichtete Position des Lesers noch stärker unter­strichen, wenn es heißt^^:

II cognoistra qu'Amour est sans raison, Un doux abus, une belle prison, Un vain espoir qui de vent nous vient paistre.

E t cognoistra que rhomme se de9oit, Quand plein d'erreur un aveugle il re^oit Pour sa conduite, un enfant pour son maistre.

Amor selbst ist hier „sans raison", er ist, wie der Verweis auf die platonische soma-sema-Lehre verdeutlicht, „une belle prison" und - so die Anspielung auf das bibli­sche Buch des Predigers Salomo sowie auf Petrarca — lediglich „un vain espoir". 3

weiteren Passagen, Ficino: De amore, Oratio septima XlV, S. 357: „Zwei Flügel erkennt er [sc. Piaton] der Seele zu, mit welchen sie dem Überirdischen zufliegen soll. Von diesen ist nach unserer Meinung der eine die Forschtmg, mittels welcher sich der Geist ohne Unterlaß zur Wahrheit zu erheben sucht, der andere das Verlangen nach dem Guten, in welchem unaufliörlich unser Wille entbrennt."

2' Vgl. den der Ausgabe von 1553 beigegebenen Kommentar Marc-Antoine de Murets: „Au flanc.) Com­bien que le flanc, le coeur, le foie, les poumons, les moüeles sont parties, comme chacun sait, bien differentes: si est-ce que les Poetes usent presque indifferemment de ces mots la, pour dire l'ame, ou l'esprit." Pierre de Ronsard: lus Amours, Paris 1553, 2 (http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/ bpt6k53021p/fl5.item - 10.06.2006).

^ Die Textstadien sind aufgeführt in Ronsard: CEuvres compleles IV. Les Amours (1552) [Anm. 19], 6. ^ Prediger 1.2-3: vanitas vanitatum et omnia vanitas — „Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, es ist alles

ganz eitel. Was hat der Mensch für Gewinn von all seiner Mühe, die er hat unter der Soime?" (Übersetzung Martin Luther). Ronsards Sonett läßt sich insgesamt als imitatio des Eröffnungssonetts von

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Im zweiten Terzett ist die im Vergleich zum Sonettanfang wesentlich abstraktere erkenntnistheoreüsche Formulierung „plein d'erreur" mit dem Bild des blinden Amor kombiniert. Während die frühere Fassung den Akzent darauf legt, daß die Beobachterperspektive und die Selbstbeschreibung des Sprechers auseinanderklaf­fen („Et si voirra que je suis trop heureux"i2; Herv. B.F.), endet das Gedicht in der späteren Fassung wiederum mit einer Bildvorstellung, die im Kontext neuplatoni­schen Denkens eindeutig negativ konnotiert ist. '*

Die Verschränkung von Sehen und Erkennen, die das erste Sonett hervorhebt, konturiert Amor als täuschend-zerstörerische Potenz. Der Leser überschreitet ideali-ter die Ebene des Dargestellten und vermag es, die affektive Verblendung des lyri­schen Subjekts zu reflektieren. Das Bild, von dem diese Erkenntnis ausgehen soll, ist dabei nicht eine Figuration, in der die sinnliche Schönheit als ErmögU-chungsgrund für die geistige Schau des Wahren oder Guten wirkt, sondern eine al­legorische Szenerie des Kampfes, eine Psychomachie, in der Amor als Sieger über das Ich triumphiert. Der Leser wird aufgefordert, dieses Bild, das ein intelligibles Erkennen ex negativo enthält, im Gang durch die Sammlung im Geist zu komplettie­ren, um dann daraus wiederum jene Erkenntnis abzuleiten, die um die täuschend­trügerische Wirkkraft der Liebespassion weiß und auf die bereits das Anfangsbild, vorausschauend, referiert. Nimmt man die Amours de Cassandre insgesamt in den Blick, so ist festzuhalten, daß die Dimension der Täuschung keineswegs in jedem einzelnen Gedicht gleichermaßen ins Zentrum tritt. Sie generiert sich vielmehr in der Abfolge der Stücke und im Netz der vielfältigen Beziehungen, die zwischen den Gedichten durch Wiederholung von signifikanten Begriffen, durch ähnliche rhe­torische Figuren und Bildfelder, aber auch durch Übergänge und Kontraste ausge­spannt sind. 25

Vor dem Hintergrund der Frage nach der kognitiven Valenz des vom Text initi­ierten Vorstellungsbildes ist eine Serie von Gedichten von besonderem Interesse, in der Ronsard das Porträt der Geliebten entwirft oder es - in Vernetzung mit vorheri­gen Erwähnungen innerhalb der Sammlung - dem Rezipienten assoziativ in Erinne­rung ruft. Der Blick des Lesers auf das täuschende Bild, das von Amor gewirkt ist und dessen Qualitäten materialisiert, wird hier, so ließe sich zunächst hypothetisch formulieren, auf textimmanenter Ebene gespiegelt durch den Blick des lyrischen Ich auf einen Gegenstand, der die Liebespassion reflektiert, sie bündelt und damit

Petrarcas Canxpnien lesen und damit auch als Auseinandersetzung mit den zahlreichen Variationen dieses Prograinmgedichts in der Lyrik vor und neben Ronsard, z.B. mit Clement Marot oder Pontus de Tyard.

2< Vgl. Panofsky: Der blinde Amor [Anm. 7], 170f 5 Die kontrastive Verschräntung der Sonette zeigt am Beispiel der Stücke 167 und 168 Jänos Riesz: Pierre

de Ronsard — ^Amours de Cassandre', in: Die fran^sische Lyrik ~ Von Villon bis r Gegenwart, hg. von Hans Hinterhäuser, Düsseldorf 1975, 77-86, wo es zusammenfassend heißt: „[D]er Höhenflug des ,chaste Amour' des neuplatorüschen Sonetts ist nicht isohert zu sehen; er ist nur ein Moment in der Phänomenologie dieser Liebe, und zwar ein so extremer, wenig repräsentativer, daß Ronsard dem Gedicht sogleich ein entsprechendes Gegengedicht, eine Art Widerruf folgen läßt und nicht allein darauf vertraut, daß diese Extrem-Position von selbst durch den weiteren Kontext der Amours-Gedichte zurechtgerückt imd vielleicht neutralisiert wird" (ebd., 85).

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gleichsam eine mise en abyme der Sammlung Amour de Cassandre darstellt. Die Porträt­gedichte scheinen auf den ersten Bück ein bekanntes Schema zu reproduzieren, ist doch in der Liebeslyrik spätestens seit den Siziüanern das schöne Geschöpf be­schrieben, die „donna", welche den Eros weckt. Ronsard evoziert die Schönheit als Initialmoment der Liebe gleich im zweiten Sonett. Sie ist auch hier gebunden an die Erscheinung der Dame, die in drei Stufen gemäß der ontologischen Hierarchie von Schöpfung und göttüchem Ursprung eingeführt wird: Erstens ist sie von der Natur besonders geschmückt, welche ihr „douceur"2 verleiht. Dann verfügt sie — unter den Flügeln Amors unter dem schönsten Himmel ausgebrütet, wie es in Variation des Helenamythos heißt - über „les graces immortelles"?- In einer weiteren Steigerung ist sie himmüscher Herkunft, „du Ciel [...] descendue"9. Auf diese Attribuüonen als näherer Bestimmung der „beautez les plus belles"3 folgt in den Terzetten der erste Bück des Ich26;

Du ciel ä peine eile estoyt descendue, Quand je la vi, quand mon ame esperdue E n devint fblle: & d'un si poignant trait,

Amour coula ses beautez en mes veines, Qu'autres plaisirs je ne sens que mes peines, Ny autre bien qu'adorer son pourtrait.

Die Schönheit der Geliebten bewirkt eine heftige Erschütterung der Seele, wobei die hier vorgestellte Konstellation in den Grundzügen der topischen Begegnung mit der „donna" entspricht, deren Anbück und Gruß in Petrarcas Cant^oniere und in der Tradition vor ihm, etwa in Dantes Vita nuova, eine so starke Affizierung auslöst, daß das lyrische Ich den Bück senken muß, dann von einer die Seele läuternden Freude erfüllt wird.27 In Ronsards Sonett ist die Folge des Bücks auf die überirdische Schönheit in die Vermögenslehre übersetzt. Die Seele wird von Wahnsinn ergriffen, „mon ame esperdue/ en devient foUe"io.ii. Das Wort „foUe" ist allerdings doppel­deutig. Bezieht man es auf die platonische mania-hthte., so wäre hier die vierte Form des erotischen Wahnsinns zitiert^*; in anderer Lesart bedeutete „foüe" eine patholo­gische Störung der inneren Vermögen, was durch die Wirkkraft der Schönheit, die, von Amor geleitet, in den Körper einfüeßt („Amour coula ses beautez en mes vei-nes"i2), und die Betonung des lustvollen Schmerzes („plaisirs"; „peines"«) durchaus nahegelegt ist. Der Text spielt jedoch nicht einfach diese zweite Bedeutung gegen die erste aus, sondern blendet das Modell metaphysischer Schau raffiniert ein. Das Telos der durch die Schönheit angestoßenen Liebesbegeisterung ist dementsprech-

Ich folge hier dem Text der Werkausgabe von 1584. Die frühere Fassung hatte stärker die gewaltsame Einptägung in Seele und Herz betont, während die Bedeutung der admiratio, der Betrachtung des Porträts durch das Ich, erst seit 1578 ins Zentrtmi tritt. Vgl. z.B. Dante; Vita nuova Xxi, Ne H occhiporta la mia donna Amorer, Petrarca: La donna che '1 mio cor nel viso por-ta {Can^niere CXI). Auf die beträchtUchen Unterschiede zwischen Dante und Petrarca in der Gesamtkon­struktion der Liebeserschütterung kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Vgl. Ficino: De amore, Oratio septima Xiv, S. 352. „Quatuor ergo divini furoris sunt speties. Primus quidem poeticus furor, alter mysteriahs, tertius vaticiniimi, amatorius affectus est quartus."

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end nicht, wie dies Ficino schreibt, die Erhebung zum Einen, „welches über dem Wesen steht, d.h. zu Gott '" ' , sondern der Blick auf ein Abbild der irdischen Schön­heit, „son pourtrait"i4. Faßt man das Bildnis der Geliebten lediglich als ein solches Abbild auf, so entspräche dies der in De amore abgelehnten Kontrafaktiar des Auf­stiegsschemas, so daß die .verrückte' Seele in einer der „vier entarteten Leidenschaf­ten, welche schlechte Nachahmungen jener vier Arten der Begeisterung sind", ge­fangen bliebe, wird doch „die Begeisterung der Liebe von der sinnlichen Leiden­schaft nachgeahmt. Die wahre Liebe ist ein Aufwärtsstreben zur übersinnlichen Schönheit und wird in uns durch den Anblick der körperlichen Schönheit erweckt. Die entartete Liebe ist ein Absturz vom Anschauen zur Berührung"^". Ronsards Sonett mündet nicht in ein solches Begehren nach unmittelbarer sinnlich-erotischer Erfüllung; es bricht das einfache dualistische Schema. Im zweiten Terzett wird nicht etwa eine falsche Mimesis des göttlichen Eros in Form der voluptas inszeniert; viel­mehr verschiebt sich mittels des Porträts das Mimesisthema auf die Ebene eines Bildes, genauer eines bestimmten Kunstgenres. Der letzte Vers skizziert der pro­gressiven Umkehrung gemäß keine geistige Anschauung des Einen. An ihre Stelle tritt der verehrende Bück auf das Bild der Geliebten.

Das Sonett endet mit einem durch das Porträt initiierten Bann des Ich, der jede andere Orientierung der inneren Vermögen ausschließt. Zu fragen ist dabei, ob „adorer" in religiöser Bedeutung eine Verehrung meint, die die Materialität des Bil­des auf ein geistiges Erkennen hin überschreitet. Die Möglichkeit einer solchen Transzendierung bemißt sich allerdings danach, wie das Bild, sein Ursprung sowie seine Wahrnehmung und Wirkung in der Sammlung insgesamt bestimmt sind und ob sich die Büdevokation in eine Kategorisierung von Schönheit einordnen läßt, wie sie die neuplatonische Kunsttheorie im Sinne der ludda proportio grundgelegt hat.^' Bevor in dieser Hinsicht die Porträtgedichte, welche die Amours gleich einem Leit­motiv durchziehen, näher betrachtet werden sollen, sei kurz ein BLck auf Ronsards programmatische Einführung des künsderisch gestalteten Porträts geworfen. Der ersten Ausgabe von 1552 ist ein Holzschnitt mit dem Büd Cassandres vorangestellt (vgl. Abb. 1). Ihm geht, auf der gegenüberliegenden Seite, ein Bildnis des Autors voraus.

» Ebd., 357. ^ Ebd., 360f.: „Hos utique furores quatuor, totidem adulterini affectus falso imitari videntur. [...]

Amatorium libidinis Impetus. Verus enim amor nihil est aliud quam nixus quidam ad divinam pulch­ritudinem evolandi, ab aspectu corporalis pulchritudinis excitatus. Adulterinus autem ab aspectu in tactum precipitatio."

3' Vgl. Andre Chastel: Marsile Fiän et l'art, Geneve 1975, 87-91: „La beaute est une Sorte de violence faite ä la pesanteur de la matiere: eile est illumination et metamorphose spirimelle de Tobjet; chacun de ses Clements: nombte (numerus), relation (proportio) et clarte {lux), abolit tour ä tour Tun des aspects negaofs de l'etre corporel [...]" (ebd., 87).

Konsard und Baudelaire 143

Abb. 1: Medaillons von Ronsard und Cassandre, in: l^s ^Amours dt Pierre de Ronsard (1552).

Das Frontispiz gestaltet, so zumindest der erste Bildeindruck des Lesers, die „Ur-situation" schon der stilnovistischen Lyrik, den Blickkontakt zwischen Liebendem und Geliebter: Durch die Schönheit der „donna" wird Amor geweckt, der als Po­tenz im Herzen geschlummert hat und alle Vermögen ergreift und erleuchtet, wobei „das leibliche Sehen sich in das Denken wandelt, schließlich in ein inneres Erschaf­fen übergeht (pingere dentro, pingere nella mente, lauten die Wendungen dafür)"^^ j )g j Prozeß, in dem sich das Gesehene vom Augenblick der Begegnung löst und ein mentales Bild entsteht, das zuerst fast visionär überhöht, dann hin auf die reine ewige Schönheit überschritten wird, ist hier in einem konkreten Bildnis stillgestellt. Cassandre figuriert im Porträt, die Darstellung ist kommentiert und gedeutet durch die Umschrift des Rahmens, ein Ovidzitat, dem im Bildnis Ronsards ein Satz aus Theokrits Idyllen antwortet. Liest man, der Anordnung der beiden Bilder entspre­chend, zunächst die griechische Devise, so fällt auf, daß sie dem Text des zweiten Sonetts vorausgreift: „quand je la vi, quand mon ame esperdue en devient foUe" -' Q I "lAON ' O I ' E M A N H N , also: „Sobald ich (sie) sah, wurde ich von ,mania' erfaßt." Die Wortfügung ist dem zweiten Eidyllion Theokrits, der Pharmakeutria, ent­nommen, wo die liebeskranke Simaitha von ihrer Liebe zu Delphis, näherhin von der ersten Begegnung spricht^': „Wie ich sah — da wurde ich rasend, da wurde mir

Friedrich: Epochen der italienischen Lyrik [.\nm. 8], 60. Theokiit: Gedichte. Griechisch-Deutsch, hg. und übersetzt von Bernd Effe, Düsseldorf/Zürich 1999, 24f.; Eidyllion II, w. 82-86: „dx; i'öov &C, EndvTiv, iüc, \icn xaQi f>v\i6c, id(pOT|/ öeiXcäai;, xö 6e KdA.A.og

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von Feuer das Herz versengt, schlimm wie ich dran war, und mein schönes Ausse­hen schwand dahin. [...] Aber eine sengende Krankheit schüttelte mich, und ich lag im Bett zehn Tage und zehn Nächte." Das Sehen löst mania aus, Wahnsinn als schwere Krankheit, deren Symptomatik sich an den Reaktionen des Körpers ablesen läßt und der im Laufe des Theokritgedichts allein durch Magie und Zauber begegnet werden soll. Verfolgt man die spätere Aufnahme des Zitats in Vergils Bucolica, so leitet es, im Lied des Hirten Dämon der achten Ekloge, das ebenfalls von Liebes­klage und Liebeszauber handelt, eine Bildvorstellung des grausamen, todbringenden Amor ein.'''

Negativ konnotiert ist auch das Ovidzitat, das das Porträt Cassandres umrahmt. Im zweiten Buch der Metamorphosen schließt es die Allegorie der invidia ab, die, mit Bildern des Häßlich-Ekligen als destruktive Macht beschrieben, „carpitque et carpi-tur una/ suppMciumque suum est"' Jnvidia erscheint bei Ovid nicht nur als zu fürchtendes Laster und weist damit auf die christlichen Todsünden voraus; sie wird von Minerva zu dem Mädchen Aglaurus geschickt, deren Inneres sie mit Gifthauch erfüllt. Aglaurus erhält für den Neid auf ihre Schwester Herse am Ende die Strafe, sie versteinert, wird zum leblosen Bild'^: „saxum iam colla tenebat/ oraque durue-rant, signumque exsangue sedebat;/ nec lapis albus erat: sua mens infecerat illam." Zwar ließe sich das Ovidzitat auch, aus dem ursprünglichen Kontext gelöst, mit der horazischen Formel „carpe diem" verbinden und, in der Sprache der römischen Elegiker, als Hinweis auf eine intendierte erotische Erfüllung l e s e n . I m gelehrten Verfahren der Zitation klassischer Texte und deren kombinatorischer Verflechtung scheint es jedoch wichtiger, als Substrat der Devisen festzuhalten, daß dort patho­logische Liebessymptomatik und Lasterallegorie ineinander gespiegelt sind.

Die Bildumschriften gliedern sich nicht, wie dies gerade für die griechische De­vise im Horizont zeitgenössischer Piatonbegeisterung und Ficinorezeption nahe­läge, einer auf höhere Schau ausgerichteten Inspirationslehre ein. Die beiden anti-

ETdKETO. [...] ÖXKO. ne Tt? Kcwued vöao? e^eadXa^Ev/ KEinav 6' E V K^ivrfjQi 6EK' änuTa K O I

ÖEKa vvJKTa?." ^ Vgl. Bticolica Will, 41-45. Auf das Zitat „ut vidi, ut perü" folgt: „ut me malus abstulit ertor./ [...] Nunc

scio, quid sit Amor, duris in cotibus illum/ aut Tmaros aut Rhodope aut extremi Garamantes/ nec gene-ris nostri puerum nec sanguinis edunt." — „Wie ich dich sah, wie verging ich! Wie schlug mich heilloser Irrwahn! [...] Jetzt begreif ich, was Amor ist! Auf härtesten Klippen/ zeugen wohl Rhodope, Tmaros luid fern im Süden Garamanten/ solch ein Kind, nicht unserer Art, nicht unseren Blutes." Vergil: handleben - Catalepton — hucolica — Georgica, hg. von Johannes und Maria Götte, lat.-dt., Zürich 1995, 66f. Pubhus Ovidius Naso; Metamorphosen, in dt. Hexameter übertragen von Erich Rösch, mit einer Einfüh-nmg von Niklas Holzberg, München/Zürich ' 1990, II, 781f: „zernagt und zemagend in einem, ist [sie] ihre Marter sich selbst."

" Ebd., II, 830-832: „Den Hals hat der Fels schon umgeben,/ schon ist erstarrt das Gesicht, sie saß, ein Bild ohne Leben./ Und nicht weiß war der Stein: es gab ihr Gemüt ihr die Farbe." So die Deutung der Devise als „carpere gaudia/dehcias/basia/oscula" in dem die Präsentationsstrategien der Amours de Cassandre imtersuchenden, auch auf die Prätexte der Umschriften verweisenden Artikel von Wolf-Dietrich Lohr: Petrarcas neue Kleider - Epos und Eros im Frontispi!^ tji Pierre de Ronsards ,Amours' von 1552, in: Der stumme Diskurs der Bilder — Reflexionsformen des Ästhetischen in der Kunst der Frühen Neuheit, hg. von Valeska von Rosen, Klaus Krüger und Rudolf Preimesberger, München/Berlin 2003, 85-118, hier 96f

Ronsard und Baudelaire 145

ken Prätexte beschwören vielmehr eine negative, destruktive Folie für jene Liebes­passion herauf, die die Sammlung zur Darstellung bringen wird. Sie färben auch auf das dem ersten Eindruck nach schöne, bezaubernde Porträt der Cassandre ab und lassen damit bereits die täuschend-trügerische Potenz erahnen, die dem Bildnis im weiteren Verlauf der Amours zugeschrieben wird, wenn sich dessen Konturen nach und nach verdichten. Während das Frontispiz mit dem Satz 'QD "lAON 'DE ' E M A N H N das wahrnehmende Sehen als Initialmoment beibehält und den dem Wahrnehmungseindruck folgenden imaginären Bildentwurf nur über die Anspie­lung auf die von Fieber begleitete Liebeskrankheit indirekt evoziert^', erscheint das Bild der Geliebten in den Sonetten meist als Produkt des halluzinierenden, von Af­fekten heimgesuchten Ich.

Von Interesse ist hier insbesondere die Serie der Sonette XXVIII bis XXXTV.'' In Sonett XXVIII, Injuste amour, fu;^il de toute rage, herrschen die Sinne, durch die Wirkung Amors gestärkt, über die Vernunft. Der Bück nach außen, auf die Landschaft, auf Wiese, Blume, Wälder, Ufer und Fluß, ist verstellt, denn „peinte en euk, i l ne me semble voyr/ Ceste beaulte qui me tient en servage"8. Die im Inneren erfahrene Schönheit erscheint als flammender Blitz oder beutehungriger Tiger, sie wird von Amor des Nachts zur Vorstellung gebracht. Das erschreckende Traumbild schwin­det vor der Berührung, bevor das Gedicht mit der skeptizistischen Formel endet „Et pour le vray je ne pren que le vuide"i4. Im folgenden Sonett XXIX zeigt das Traumsehen überaus schöne paradiesische Landschaften, doch der von ihnen ange­regte und verheißene Aufstieg zum Himmel wird versagt durch das Porträt, das vor den Augen gaukelt, „ce portraict qui nage dans mes yeuIx"io. Sonett XXX kon­struiert schließlich eine scheinbare Antithese: Der vom Himmel gesandte Traum läßt, so die Anlage der Quartette, „l'idole de ma Dame"8 vor Augen stehen, bis dann in den Terzetten die Entzauberung des gottähnlichen Bildes einsetzt, wenn es heißt: „Demeure Songe, arreste encor un peu./ Trompeur, atten que je me sois re-peu/ Du vain portrait, dont l'appetit me ronge"9-n. Aus dieser Serie seien nur noch kurz zwei Stücke angesprochen. Sonett XXXI ist nach dem Dämonenmodell Fici­nos, den Geistern, die als Mitder zwischen den Seinssphären hin zu Gott wirken, gestaltet, worauf bereits der Gedichtanfang verweist: „Legers Daimons qui tenez de la terre,/ Et du hault ciel justement le milieu:/ Postes de l'air, divins postes de Dieu,/ Qui ses secrets nous apportez grand erre"i-4.''° Das zweite Quartett imagi-

'* Die wohl bekannteste tind meistzitierte antike Referenzstelle für den Fieberkranken, der illusionäre, groteske Bilder, nämHch die Chimära, vor dem inneren Auge sieht, ist Horaz; Ars poetica, 7. Zur Bedeutung, die Ronsard gerade dieser Passage im Ahhregi de l'art poetique franfoys und im Widmungstext der Franäade zumißt, sowie zu der für die Poetik Ronsards weitreichenden Aufwertung einer Imagi­nation, die trügerische und monströse Vorstellungen und substanzlose Traumbilder erzeugt, vgl. Karin Westerwelle: Montaigne — Die Imagination und die Kunst des Essays, München 2002, 352-363.

" Ronsard: (Euvres comp&tes IV. Ijes Amours (1552) [Anm. 19], 31-38. Zu dem Ronsards Amours-Sammlimgen prägenden Kompositionsmittel der Serie vgl. Michel DassonviUe: Pour une interpretalion nouvelle des Amours' de Ronsard, in: Bibliotheque dHumanisme et Renaissance 28 (1966), 241-270.

* Zu den „Geistern der mitüeren Region" vgl. Ficino: De amm, Oratio sexta IV, S. 195: „Der göttliche Geist umfaßt die Ideen aller Dinge. Diesen sind die Weltgötter, imd den Gaben der Weltgötter sind die

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niert den Bück der „Daimons"i auf die Schönheit der Dame, „ceste beaulte qui tant me fait la guerre"8- Die conclusio lautet, daß selbst der Engelsgeist verstrickt würde und nicht mehr aufsteigen könnte, bis er selbst versteinerte und damit entseelte Ma­terie würde. Sonett XXXIV baut zunächst eine Innen-Außen-Opposition auf Der Außenraum ist jedoch nicht vom Sprecher unabhängig, sondern erscheint nur aus den „soupirs"2 und „pleurs"4, die aus dem Inneren aufsteigen, geschaffen. In diese Selbstbespiegelung des Ich, das sich selbst Affekt und Natur, Mikro- und Makro­kosmos ist, ordnet sich ein „un portraict inutile,/ Ombre du vrai que je suis ad-orant"5-6, das durch einen Gedanken im „souvenir"ii erneut perspektiviert wird, der an die grausame Schönheit erinnert und eine Sehnsucht schafft, die zu Erstarrung und Todesevokation führt.

Vor platonistischem Hintergrund materiaHsiert sich im Porträt eine falsche, illu­sionäre Vergegenwärtigung der Geüebten. Was auf der Ebene mentaler, imaginati­ver Bildproduktion haUuzinatorisch im Traum erscheint, tritt im Porträt nach außen. Das Porträt bündelt die kritischen Impükationen der Liebespassion und verdichtet in sich die doppelbödige Relation von Nichtsehen und innerem Sehen. Während die selbstbezügbche Bewegung des Geistes nach Innen, so das Konzept etwa der Theolo-gia Platonica Ficinos, sich immer höhere Seinsformen eröffnet*^, kehrt das an das Porträt gebundene und von ihm reflektierte geistige Sehen immer nur auf das Por­trät und damit auf sich selbst zurück. Im historischen Kontext schüeßt Ronsard hierbei auch an die zunehmende Verbreitung der Porträtkunst und die Verfeinerung und Diversifizierung der malerischen und zeichnerischen Darstellungsart seit dem 15. Jahrhundert an. Ihr läuft die proüferierende descriptio des weibüchen Körpers in der Lyrik des französischen 16. Jahrhunderts parallel, wenn unzähüge Sonette die Schönheit der Geüebten in unendücher Variation evozieren. Die kombinatorische Zusammenstellung der einzelnen Körperpartien, die, der Zerstückelung des Kör­pers in den Blasons anatomiques du corps feminin korrespondierend'*^, ein imaginäres Puzzle entwirft, geht von den zum Teil in der petrarkistischen Tradition bereits ko­difizierten Bestimmungen von Schönheit - des goldenen Haares, des korallenroten Mundes, der üüenweißen Haut, der fein geschwungenen Brauen - aus. Die rhetori­sche Kunstfertigkeit, die Elemente stets different zueinander ins Verhältnis zu set-

Dämonen dienstbar; denn von der höchsten bis zur untersten Stufe geht alles durch die ordnungsmäßigen Zwischenstufen hindurch, so daß demnach die götthchen Ideen, nämlich die Gedanken des götthchen Geistes, durch Vermittlung der Götter imd Dämonen den Menschen ihre Gaben zukommen lassen." In der Oratio sexta werden die guten Dämonen mit den Engelsordnungen nach Dionysios Areopagita assoziiert, vgl. ebd., 189-199. Eine Auseinandersetzung mit dem Dämonenmodell unternimmt Ronsard in dem Stück Les Daimons aus L<premier lim des Hymnes, in: Pierre de Ronsard: CEuvres completes II , ed. etablie, presentee et aimotee par Jean Ceard, Daniel Menager et Michel Simonin, Paris 1994, 486-493.

•" Den „Selbstbezug des Denkens", den Rückgang der mens auf sich selbst als „denkende[r] Bestimmung und liebende[r] Berührung des absolut Unendüchen" bei Ficino erörtert im Zusammenhang der neuplatonisch-christlichen Philosophie Werner Beierwaltes: Plalonismus im Christentum, Frankfurt a.M. 22001, 187-204.

" Zur Gattung des Blason vgl D.B. Wilson: Descriptive Poetry in Francefrom hlason lo haroque, Manchester/New York 1967.

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zen und damit ein je leicht anderes Vorstellungsbild der Geliebten entstehen zu las-sen"*', mag für Ronsard als Referenzfeld der eigenen Dichtung ebenso bedeutsam gewesen sein wie die neuplatonische Abwertung des Porträts, das dort lediglich als Abbild des Partikularen und somit als Darstellung der amorphen, nicht-seienden Materie gilt.''^

Die erkenntniskritischen Implikationen des Porträts greifen bei Ronsard auf ei­ne Infragestellung der ontologischen Valenz von Dichmng aus. Dies wird etwa in Sonett C C V I I I deutlich, das seit der erweiterten Ausgabe det Amours im Jahre 1553 hinzugekommen und später leicht abgewandelt worden ist*:

Je sens portraits dedans ma souvenance Tes longs cheveux, & ta bouche & tes yeux, Ton doux regard, ton parier gracieux, Ton doux maintien, ta douce contenance.

Un seul Janet honneur de nostre France, De ses craions ne les portrairoit mieux, Que de l'Archer le trait ingenieux M'a peint au coeur leur vive remembrance.

Dans le cceur donque au fond d'un diamant J'ay son portrait, que je suis plus aimant Que mon coeur mesme. O vive portraiture!

De ce Janet I'artifice mourra: Dedans le coeur le den me demourra, Pour estre vif apres ma sepulture.

Die beiden Quartette und das erste Terzett stellen im Wechsel einen imaginären Bildentwxirf in der Erinnerung des Ich und die Porträtskizzen des Malers Janet ein­ander gegenüber. Amor, der, wie es in den Versen 7-8 heißt, das lebendige Bildnis der Geliebten, ihre sinnliche Erscheinung, dem Herzen eingezeichnet hat, übertrifft den bekannten Künsder Janet.'' Die Überbietungsgeste liegt nicht etwa in einer fei­neren Bildgestaltung, sondern ist über die Figur der Erinnerung und der Dauer konstruiert. Während das Kunstbüd vergeht, „I'artifice mourra"i2, kommt der „vive portraiture"] 1 in der memoria Ewigkeit zu. Das innere Porträt wird selbst dann blei­ben, wenn das Ich gestorben und schon begraben ist. Variiert wird hier das Motiv des von Horaz geprägten exegi monumentum, das dem dichterischen Werk größere

Die jSyntax' der Porträtgedichte, die Kombinatorik und die verschiedenen Formen der Zusammenfu-gimg der einzelnen Schönheitsbestimmungen sowie ihre Ausweitxmg imd Deutung durch Vergleiche, Metaphern und Allegorien erarbeitet und analysiert Fran^ois Lecercle: La Chimere de Zeuxis, Tübingen 1987.

** Zu Plotins Kritik an einem Bbck, der im Bild als einer Abspiegelung materieller, körperücher Schönheit gefangen bleibt, vgl. Roberto Campo: Rünsard's Contentious Sisters — The Paragone hetmen Poetry and Painting in the Works of Pierre de Konsard, Chapel Hill 1998, 25, Anm. 19 (zu Enneaden 1,6,8-9), 153-166. Der zitierte Text folgt der Werkausgabe von 1584, vgl. Ronsard: CEuvres completes V, Ees Amours (155}), ed. critique avec introd. et commentaire par Paul Laumonier, Paris 1968, 154f Die motivgeschichtUche Tradition des vorliegenden Gedichts erhellt Margot Kruse: Das Porträt der Geliebten und ,Amor pictor' - Tradition und Abwandlung einer petrarkistischen Motivkombination in Ronsards Amours de Cassan­dre', in: Literarhistorische Begegnungen - Festschrifi ^»w sech^sten Geburtstag von Bernhard König, hg. von Andreas Kablitz und Ukich Schulz-Buschhaus, Tübingen 1993,197-212.

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Dauerhaftigkeit als einem Denkmal aus Erz oder Stein zuspricht.'*'' Wichtig ist des­sen Kombination mit Erinnerung, Porträt und Tod. Sie greift die platonische Figur der Anamnesis auf, in der sich die Seele im Anblick des Schönen an die vor der Ein-körperung geschaute Ideenwelt erinnert, zu der sie nach dem Tod des Körpers zu­rückzukehren hofft. Ronsards Sonett ersetzt dabei das auf die Idee verweisende Schöne durch das Porträt der Geliebten. Die Ausrichtung auf ein Jenseits, das spiri­tuelle Sehen, wird durch die Bilderscheinung verhindert und abgelöst, deren Sinn­lichkeit in „sentir"i sowie im Moment der Süße, des „dolce", betont ist, das seit den Stilnovisten die affektive Affiziertheit des Liebenden meint. Die Kontrafaktur der Anamnesis gipfelt am Ende in einer Zusammenschau von Todesevokation, Kunstparagone und Monumentumgedanken. Anders als die Gemälde Janets, die, da an das ursprüngliche Material gebunden, von der Zeit zersetzt werden und vergäng­lich sind, bleibt die Dichtung, die den Stoff, auf dem sie steht, wechseln kann'* , die reproduzierbar und in die Erinnerung späterer Leser überführbar ist, bestehen. Über den Tod des Autors hinaus lebt das Bild der Geliebten, das sich, dem Inneren eingezeichnet, in seiner unbestimmten, bedrohlichen Qualität in den Gedichten ma­terialisiert. Das Porträt verweist auf den „esprit"'' ' dessen, der es künsderisch gestal­tet hat, und damit auf das poetische Werk, die Amours.^

Die textuelle Gestaltung des Porträts als Kontrafaktur der geistigen Anschauung des Einen beziehungsweise des übersinnlichen Schönen, die den Porträtgedichten inhärente Referenz auf in sich widersprüchliche Vorstellungsbilder sowie, so ließe sich an weiteren Gedichten zeigen, das rhetorische Spiel mit Figuren der Negation und der Hyperbolik, die in der aufzählenden praeteritio erotisierter Körperpartien gerade das zur Darstellung bringen, was vordergründig abgelehnt witd^', markieren

•• Vgl. Horaz: Oden III, 30,1; siehe auch Verse 6ff.: „non omnis moriar multaque pars mei/ vitabit Libitinam: usque ego postera/ crescam laude recens, dum Capitohum/ scandet cum tacita virgine pontifex." - „Nein, ich sterbe nicht ganz, über das Grab hinaus/ Bleibt mein edleres Ich; imd in der Nachwelt noch/ Wächst mein Name, so lang als mit der schweigenden Jungfrau zum Kapitol wandelt der Pontifex." Horaz: Sämtliche Werke. Lateinisch-Deutsch, Teil I: Carmina; Oden und Epoden; nach Kayser, Nordenflycht und Burger hg. von Hans Färber; Teil II: Sermones et Epistulae übers, und zus. mit Hans Färberbearb. von Wilhelm Schöne, München/Zürich '01985, 171.

** Zum Argument der gerade auch am Beispiel der verlorenen antiken Malerei im 16. Jahrhundert er­örterten Vergängüchkeit der materialgebundenen bildenden Kunst vgl. Lecercle: La Chimere de Zeuxis [Anm. 43], 36f Die Bildunterschrift zum Medaillon Ronsards, das der Werkausgabe von 1584 nun alleine, ohne das Porträt Cassandres, vorangestellt ist, lautet: „Tel fut Ronsard, autheur de cest ouvrage,/ Tel fut son ceil, sa bouche & son visage,/ Portrait au vif de deux crayons divers: Icy le Corps, & l'Esprit en ses vers." (Les auvres de Pierre de Ronsard, Paris: G. Buon 1584; http://galhca.bnf fr/ark:/12148/ bpt6k70094k/fl2.notice - 10.06.2006).

5" Den Monumentumgedanken entwickelt bereits das der Sammlung vorangestellte Gedicht Vau, wo eine Grabinschrift im Tempel der Musen niedergelegt werden soU, und zwar zu Füßen des Cassandre-Porträts, wie es das Frontispiz zeigt, vgl. die Verse 8-14: „Dans vostre temple engravez ces paroles:/ RONSARD, AFFIN Q U E L E SIEGLE A V E N I R , / D E P E R E E N F I L Z S E PUISSE SOUVENIR,/ D ' U N E B E A U T E QUI SAGEMENT A F F O L E , / D E LA MAIN D E X T R E APPEND A NOSTRE A U T E L , / L ' H U M B L E DISCOURS D E SON

I.IVRE IMMORTEL,/ SON CUCEUR D E L'AUTRE, AUX PIEDS D E C E S T E I D O L E . " Ronsard: (Euvres completes IV. Us Amours (1552) [Anm. 19], 4.

5' Die Rhetorik des „portrait negatif und die Umkehrung platoiüstischer Denkfiguren, die dank der besonderen Darstellung schUeßhch in ein „portrait fetichiste" einmünden, zeigt auf und analysiert

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in verdichteter Form die Distanz, die Ronsard gegenüber den Konzepten des Neu­platonismus einnimmt. Dabei ist es sicherlich sinnvoller, statt von Distanz von ei­nem kritischen Dialog mit unterschiedlichen Liebesdiskursen zu sprechen, der je­doch nicht beliebig die gegebenen Möglichkeiten zusammenstellt und variiert, son­dern die Frage nach einer insbesondere von der neuplatonischen Kunstbestimmung abweichenden und doch auf diese verwiesenen Kunstkonzeption stellt. Das Netz aus Beziehungen dürfte dem gebildeten Leser um die Mitte des 16. Jahrhunderts virtuell präsent gewesen sein; er ist herausgefordert, die zum Teil paradoxen Rela­tionen zu akmaüsieren. Der im Porträt gebannte Bück des lyrischen Subjekts, der Reflex einer durch Amor bewirkten trügerischen Vorstellung ist, wiederholt sich bei der Lektüre der Gedichte, hier jedoch mit ästhetischer Distanz. Der Rezipient ver­gegenwärtigt nicht nur, wie es im Eingangssonett heißt, das Bild Amors, sondern er erkennt in der allegorischen Figur zugleich die poetologische Grundlage der Samm­lung hes Amours. Diese zielt nicht auf eine zuletzt bildlose, abstrakte Anschauung des Schönen, sondern drängt über die enargeia, über Metaphern und Beschreibun­gen, die das Porträt verdichtend in sich vereint, allein ins Materielle, wenngleich der Prozeß von Anschauung und Erkenntnis der philosophischen Eros-Konzeption entspricht. Ronsard nutzt eine über das Bild geführte, im Porträt gleich einem Spie­gel reflektierte erkenntniskritische Struktur für die Lyrikdefinition.52 Er wirft damit eine eigene Perspektive auf die rinascimentale Kunsttheorie und hinterfragt die on­tologische Valenz der ästhetischen Erfahrung^', die Überhöhung der Kunst und des Künsders, wie sie im Horizont der Inspirationstheorie, der Melancholia Generosa als einer zur göttlichen Wahrheit führenden Kontemplation sowie der These von der Spiegelung der überirdischen Schönheit im Liebesobjekt, welches figural die Ideen­welt veranschaulicht und auf das Ewige verweist, grundgelegt sind.^'' Die Übertra-

Leceide: La Chimm di Ztuxis [Anm. 43], 122-126, 149-154. 2 Wolfgang Theile: Ronsard et la poetique du „variant penser", in: Sur des vefr de Ronsard (1583-1985) — Aäes du

Colloque International (Duke Unimsity) 11-13 avril 1985, publ. par Marcel Tetel, Pans 1990, 145-158, stellt ebenfalls die Bedeutung des Porträts als Reflexionsfigtir der immanenten Poetik Ronsards heraus. Er interpretiert den poetischen Entwurf des stets sich wandehiden Porträts Cassandres als ein dem „variant penser" des lyrischen Ich korrespondierendes spirimelles Tableau, das in sich eine Analogie des göttlichen Schöpfungsvorgangs sei und damit ek\e-fi^ratio der der Realität inhärenten geistig-metaphysischen Dynamis darstelle. Die seinsanaloge Wertung der Bildvorstellung und die Abgrenzung gegenüber den negativ gewerteten Metamorphosen, wie sie die Amours durchziehen, scheinen bei näherer Betrachtung problematisch. Zur „ambiguite des etres et des formes" als Charakteristikum einer manieristischen, autorefer­entiellen Ästhetik vgl. demgegenüber Yvoime Bellenger: Use;^ la Cassandre de Ronsard — Etüde sur ,Ees Amours' (1553), Pans 1997,137-142,157f Die neuplatonische Konzeption erörtert am Beispiel von Pontus de Tyard und Louis Le Caron der .Aufsatz von Fran^oise Joukovsky: E'experience esthetique dans le dialogue neo-platoniäen de la Renaissance, in: ha critique artistique - Ungenre litteraire, publ. par Jean Gaulnier, Paris 1983, 183-195. Zur Theorie des furor poeticus vgl. Grahame Castor: Pläaäe Poetics — A Study in Sixteenth-Century Thought and Terminology, Cambridge 1964, 24-36. Die Abkehr von der negativen Wertung der Melancholie als Krankheit und Sünde und ihre Deutung als einer zu überlegener Erkenntnis führenden geistigen Kraft weisen u.a. mit Blick auf Ficino auf Raymond Khbanski, Erwin Panofsky und Fritz Saxl: Saturn und Melancholie — Studien ^r Naturphilosophie und Medii^n, der Religion und der Kunst, übers, von Christa Buschendorf, Frankfurt a.M. 1990, 351-394. Zur figuralen Verknüpfung von Bild und Idee in der Liebesdichtimg der Renaissance vgl. Klaus Ley: Neuplatonische Poetik und nationale Wirklichkeit — Die Ühermndung des Petrarkismus im Werk Du Bellcrys,

150 Bettina Füll

gung des neuplatonischen Ideen- und Transzendenzentwurfs in die Immanenz der Kunst sowie der Gedanke der Teilhabe der künstlerischen Schöpfung am GöttH­chen werden relativiert.

III. Baudelaires Karikatur des Eros: das Gedicht „Une Charogne"

Im 19. Jahrhundert greift Charles Baudelaire ähnlich wie Ronsard auf das Bild und die künsderische Verbildlichung eines trughaften Amor zurück. Dies geschieht ebenfalls vor dem Hintergrund einer metaphysisch begründeten Ästhetik und dem ihr korrelierenden Anspruch auf eine Formgebung des Absoluten in der Kunst. Während Ronsard mit der neuplatonischen Philosophie im Dialog steht, referiert Baudelaire auf die zeittypische platonisierend-ideahstische Ästhetik, die ihm in kunst- und literaturkritischen Schriften und in der Dichtung als negativer Bezugsho­rizont dient. Von Bedeutung ist hier insbesondere die eklektizistische Philosophie Victor Cousins, die ein Amalgam aus transzendentalem Idealismus, Cartesianismus und Neuplatonismus ausbildet und von 1815 an bis über die fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinaus nachhaltigen Einfluß auf die Beurteilung von Kunst und Lite­ratur gewinnt. Cousin, der Piaton und Proklos übersetzt und dessen publikums­wirksamen Gestus Stendhal bereits 1822 als „hautes le9ons du Piaton moderne"55 kritisiert, bestimmt in zahlreichen Veröffentlichungen, insbesondere aber in seiner Hauptschrift Du Vrai, du Beau <& du Bien die ästhetische Erfahrung als Erfahrung des Selbstausdrucks des Absoluten in der Kunst^^: „L'art qui exprime la beaute idea­le epure l'äme en l'elevant vers l'infini, c'est-ä-dire vers Dieu." Gemälden oder Skulpturen, die dem Betrachter das Schöne vor Augen stellen, liegt nach Cousin ein intelligibles Substrat zugrunde. Sie verweisen in ihrer Form, die sich, antikem und rinascimentalem Vorbild entsprechend, einer klaren Linienfülirung verdankt^^, über das jeweils Dargestellte hinaus auf eine metaphysische Wahrheit, die der mensch­liche Geist von Gott empfangen hat. s

Die Aufladung der Kunst mit einer das Subjekt überschreitenden Sinndimen­

sion, wie sie Cousin, die Künstier, Theoretiker und Kritiker im Umfeld des Neo-

klassizismus^s, aber auch Schriftsteller wie Theophile Gautier und — in der christlich

interpretierten Figur des Dichtersehers — Victor Hugo vertreten*", wird von Baude-

Heidelberg 1975, 72-99,110.

55 Stendhal: Courrier anglais. l^Ures ä Stritch. Paris Monthfji Reitim 1, etabUssement du texte et prefaces par Henn Martineau, Paris 1935, 24; Brief vom 1. September 1822.

5« Victor Cousin: Du Vrai, du Beau <& du Bien, Paris "1872 ('1853), 185. Zu Cousins Ästhetik vgl. Hans Kömer: Auf der Suche nach der „wahren Einheit" - Gan^heitsvorstellungen in der fran^sischen Malerei und Kunstliteratur vom mittleren 17. bis :^m mittleren 19. Jahrhunderi, München 1988, 214-223.

" Als Vorbild für die künstlerische Darstellimg netmt Cousin beispielsweise den antiken Bildhauer Phidias oder den Renaissancekünstler Raffael, vgl. Cousin: Du Vrai, du Beau & du Bien, 181 f

'« Vgl. ebd., 67f, das Kapitel: „Nostre esprit aper9oit la verite absolue, il ne la constitue pas." 5 Den Einfluß der Philosophie Cousins auf die Kunstauffassung des juste-milieu erhellt Alfred Boime:

Thomas Couture and the Eclectic Vision, New Häven/London 1980, 3-35. ' Zur Bedeutung, die dem Dialog mit dem Piatonismus in Romantik imd Nachromantik zukommt, vgl.

Konsard und Baudelaire 151

laire in einer kleinen Szene des Salon von 1859 ironisiert. Am Beispiel der antikisie-rend-kitschigen „ecole neogrecque" zieht Baudelaire die transzendente Legitimie­rung von Kunst und Poesie ins Lächerliche. Er nutzt dafür ein in der .neu­griechischen Schule' besonders beliebtes Bildsujet: Auf den Gemälden tummeln sich Amouretten im Vollzug alltäglicher Handlungen. Im Blick auf die kleinen Amorfiguren bestimmt Baudelaire deren Funktion unter Rückgriff auf die alte Eroskonzeption als die einer weltüberformenden, die vergängliche Erscheinung transzendierenden Potenz. Als Kondensat der Vorstellung von antiker, idealer Schönheit bilden die Amorfiguren eine Schablone, die sich über die banale Welt der Moderne legt. Die Idealisierung, die das Kontingente verschwinden lassen soll, er­zeugt dabei jedoch nur eine Karikatur des Prinzips, mit dem sie operiert. Amor selbst ist immer schon von den trivialen Inhalten affiziert''': „L'Amour, l'inevitable Amour, Timmortel Cupidon des confiseurs, joue dans cette ecole un röle domi-nateur et universel." Baudelaire veranschaulicht dies anhand einer Karikatur von Thomas Hood. Das mit Teil me mji heart, can this he love? betitelte Bild (vgl. Abb. 2) zeigt einen feisten Knaben mit Schmetterlings flügeln, der, die topischen Attribute Pfeil und Bogen in Händen, in Herrscherpose auf einer Wolke thront.

Abb. 2; Thomas Hood: Teil me my heart, can this he love? Whims <& Odäties (1826).

Dem trügerischen Ideal, das die Form des himmüschen Amor auf das fette, entseel­te Fleisch überträgt - Baudelaire charakterisiert Hoods Liebesgott als „viande, capi-tonnee, tubuleuse et soufflee, comme les graisses suspendues aux crochets des bou-

Michel Brix: Le romantisme Jrancais — Tisthetique platoniäenne et modemite litteraire, Louvain-Namur 1999, sowie ders.: Piaton et le platonisme dans la litterature franfaise de l'äge romantique, in: Romantisme 113 (2001), 43-60.

' Charles Baudelaire: Salon de 1859, in: ders.: CEuvres completes II , texte etabli, presente et annote par Claude Pichois, Paris 1976, 638.

152 Bettina FuU

chers"*2 — tritt im Salon von 1859 eine andere Amorfigtir entgegen. Baudelaire schreibt<5':

Pour moi, si j'etais invite ä representer l'Amour, il me semble que je le peindrais sous la forme d'un cheval eiuage qui devore son maitre, ou bien d'un demon aux yeux cemes par la debauche et l'insomnie, trainant, comme un spectre ou un galerien, des chaines bruyantes ä ses cheviUes, et secouant d'une main une fiole de poison, de l'autre le poignard sanglant du crime.

Die Gestalt des gewaltsam-bösen Amor uird unter Rekurs auf Piatons Dialog Phai­dros und die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele konturiert. Sokrates verdeut­licht die Anamnesis, die von Eros angestoßene Wiedererinnerung an die vor der Einkörperung geschauten Ideen, im Gespann des Seelenwagens. Unter der Lenkung der Vernunft stehend wird dieser von zwei Pferden gezogen, von denen das eine -schön und von anmutiger Gestalt - der Ideenwelt zustrebt, das andere aber - trief­äugig, senkrückig und dunkel - die Seele zum Sinnlichen und den Affekten hinun­terzieht.'''* Baudelaire erfindet in seiner Dichtung diese Reflexionsfigur unter Be­rücksichtigung der philosophischen und der lyrischen Tradition neu. Er entwirft eine Doppelfigur, indem er Amorbilder, die traditionell mit der göttlichen Trans­zendenz und der Überschreitung des Sinnlichen auf das Schöne hin verbunden sind, mit Bildern des täuschenden Amor kombiniert. In dem Prosagedicht iMquelle

est la vraie? erscheint so Dantes Beatrice nach ihrem Tod nicht als die himmlisch ent­rückte Heilsbringerin, sondern als häßlicher, spöttischer Dämon am Rand des Grabs. Weniger plakativ in der Konfrontation von Zeitlichkeit, Liebesbegehren und jenseitiger Erlösungserwartung sind die Bezugnahmen auf poetische Amortheologie und antik-sinnlichen Eros in den lyrischen Stücken, beispielsweise in A une Passante oder Un Vojage ä Cytherefi^

Für die Spiegelung unterschiedlicher Liebestheorien in den Bildern und Ver­fahren der Kunst ist das Gedicht Une Charogne besonders interessant. Es steht in der ersten Sektion der Fleurs du Mal, die unter dem Titel Spken et Ideal auf die Verschrän­kung gegenläufiger Bewußtseinsprozesse verweist. Der in der Melancholietradition stehende Begriff des „Spleen" markiert eine unabschließbare, identitätsleere Ichbe­trachtung. Diese ist im Begriff „Ideal" mit einer übersubjektiven, in Kunst und Poe­sie geschaffenen Ordnungs- und Bedeutungsstruktur verknüpft. In der Kombinati­on von „Spleen et Ideal" generiert sich eine dialektische Spannung zwischen radika­lem Selbstbezug, Zeitlichkeit und einer Transzendierung des Bewußtseins auf das Schöne hin. Sie geht auch in das Stück Une Charogne ein und wird dort in einer mehrschichtigen Büdevokation des Eros anschaulich.

« Ebd. o Ebd., 639. " Vgl. Piaton: Phaidros 253d-e. 5 Zu Baudelaires kritischer Verwandlung tradierter Liebesdiskurse vgl. Rainer Waming: Zur Geschichte

lyrischer Dekonstruktion der Ajmortheologie - Dante, Petrarca, Baudelaire, in: ders.: Lektüren romanischer Lyrik — Von den Trobadors i^m Surrealismus, Freiburg im Br. 1997, 105-141, sowie Karin Westerwelle: Baudelaire und das Christentum - Die Beschädigung des Ems in ,Un myage ä Cythere', in; Romanistische Ziitschrifl für Uteraturgeschichten (2003), 95-115.

Konsard und Baudelaire 153

Das Gedicht Une Charogne wurde seit seiner ersten Veröffentlichung als pro­minentes Beispiel für eine moderne Ästhetik des Häßlichen, des Schocks und der Leserprovokation gedeutet. Eindrücklich zelebrieren die Verse die Zersetzung eines Körpers. Bilder des Ekels, der Auflösung der Form in bloße Materie sind in eine klangvolle Prosodie und in eine regelmäßige Reimstruktur gebracht. Diese kunstvol­le Gestaltung eines abstoßenden Inhalts, die für viele Stücke der Fleurs du Mal als konstitutiv gelten kann, hat Sainte-Beuve treffend als „petrarquisant sur l'horrible"'''' bezeichnet und damit zugleich den Bezug auf die Tradition der Liebeslyrik betont.

U N E C H . \ R Ü G N E

Rappelez-vous l'objet que nous vimes mon äme, Ce beau matin d'ete si doux:

Au detour d'un sentier une charogne infame 4 Sur un ht seme de caüloux,

Les jambes en l'air, comme une fertmie lubrique, Brülante et suant les poisons,

Ouvrait d'une fa<;on nonchalante et cynique 8 Son ventre plein d'exhalaisons.

Le soleil rayonnait sur cette pourriture, Comme afin de la cuire ä point,

E t de rendre au centuple ä la grande Nature 12 Tout ce qu'ensemble eile avait Joint;

E t le ciel regardait la carcasse süperbe Comme une fleur s'epanouir.

La puanteur etait si forte, que sur I'herbe 16 Vous crütes vous evanouir.

Les mouches bourdonnait sur ce ventre putride, D'oü sortaient de noirs bataiUons

De larves, qui coulaient comme un epais liquide 20 Le long de ces vivants haülons.

Tout cela descendalt, montait cotnme une vague, Ou s'elan^ait en petillant;

On eüt dit que le corps, enfle d'un souffle vague, 24 Vivait en se multipliant.

E t ce monde rendait une etrange musique, Comme l'eau courante et le vent,

O u le grain qu'un vanneur d'un mouvement rythmique 28 Agite et toume dans son van.

Sainte-Beuve: Correspondance generak X (1855-1857), recueiUie, classee et annotee par Jean Bonnetot, Paris/Toulouse 1960, 423 (Herv. im Orig.).

154 Bettina Füll

Les formes s'effa^aient et n'etaient plus qu'un reve, Une ebauche lente ä venir,

Sur la toüe oubüe, et que l'artiste acheve 32 Seulement par le souvenir.

Derriere les rochers une chienne inquiete Nous regardait d'un oeü fache,

Epiant le moment de reprendre au squelette 36 Le morceau qu'elle avait lache.

- Et pourtant vous serez semblable ä cette ordure, A cette horrible infection,

Etoile de mes yeux, soleil de ma nature, 40 Vous, mon ange et ma passion!

Oui! teile vous serez, 6 la reine des gräces. Apres les derniers sacrements,

Quand vous irez, sous I'herbe et les floraisons grasses, 44 Moisir parmi les ossements.

Alors, 6 ma beaute! dites ä la vermine Qui vous mangera de baisers,

Que j'ai garde la forme et l'essence divine 48 De mes amours decomposes!'''

Geht man vom Titel aus, so scheint das vorliegende Gedicht zunächst weit von her­kömmlicher Liebeslyrik entfernt. Als Sujet des poetischen Sprechens ist ein Kada­ver, „une charogne", genannt. Das verwesende Aas wird in den Strophen zwei bis fünf detailliert, mit gewaltsamer Eindrücklichkeit beschrieben und in einer Synäs-thesie - dem widerlichen, bestialischen Gestank, der unter der Sommersonne auf­steigt, dem Schwirren der Fliegen und in dem vor Maden wimmelnden Fleisch — vergegenwärtigt. Fäulnis und Gärung transformieren den Körper ebenso wie der schwarze, dickflüssige Larvenstrom. Im Raum der Natur verwandeln sich die einsti­gen Konturen langsam in eine unförmige Masse, die, der Hitze und den Insekten ausgesetzt, scheinbar lebendig vibriert und dabei zerfällt.

Die drastische Evokation von Vergänglichkeit, Tod und Verwesung erfolgt über eine Aufforderung an die Geliebte, sich einen zunächst kaum benenn- und sagbaren Gegenstand in Erinnerung zu rufen. „Rappelez-vous l'objet que nous vimes, mon äme"i, heißt es im Anfangsvers. Nach der Schilderung des Kadavers, die die folgen­den Strophen einnimmt, wiederholt und variiert sich die Anrede in der zweiten Hälfte des Gedichts. Dort setzt der Sprecher mit einer memento-mori-Vigut ein: „Et pourtant vous serez semblable ä cette ordure"37. Dem Vergleich mit dem Aas folgt dann eine Reihe von Zuschreibungen, deren Ursprünge im mittelalterlichen Frauen­lob liegen und die, insbesondere über Petrarca vermittelt, in die Lyrik der Renais­sance eingehen. Die Herrin in Une Charogne repräsentiert in dieser Traditionslinie die

'' Charles Baudelaire; Les Fleurs du Mal, in: ders.; CEuvres completes I, texte etabü, presente et atmete par Claude Pichois, Paris 1975, 31f

Ronsard und Baudelaire 155

kosmische Ordnung. Sie bildet als „Etoile de mes yeux, soleil de ma nature"39 das Wesenszentrum des Ich. Mit der Gnadenmutter, „6 la reine des gräces"4i, schließt sich ein weiterer topischer Lobpreis, nun aus der christlichen Mariensymbolik, an.

Der Vergleich stiftet ein auf Verwandlung hin angelegtes Verhältnis zwischen dem ekligen Kadaver und der in der Überhöhung der Geliebten vergegenwärtigten metaphysischen Deutung der Liebe. Wiederholt wird damit scheinbar die seit dem italienischen Duecento für die Liebeslyrik konstitutive Erfahrung des körperlichen Todes der „donna" als einer Grundvoraussetzung ihrer und des Sprechers Erlösung in Gott. Mit den futurischen Verbformen („teile vous serez"4i; „vous itez"43) wird hier jedoch eine Zukunft entworfen, die sich nicht auf Transzendenz öffnet, son­dern die vielmehr auf den Anfangsteil des Gedichts, die einprägsame Evokation des Kadavers, rückverweist. Die ersten Strophen erscheinen unter dieser Perspektive als eine Auflösung der spirituell-übersinnlichen Figuration des Eros. Lesen wir, um dies besser zu verstehen, noch einmal von vorn: Das Gedicht beginnt mit der Auffor­derung, ein Gesehenes in Erinnerung zu rufen: „Rappelez-vous l'objet que nous vimes, mon äme"] . Während die Fortsetzung das Gesagte zu einem Monolog an die Geliebte, einem morgendlichen Spaziergang konkretisiert, suggeriert der erste Vers einen „dialogue within the seif und damit einen Ort innerer Kontemplation, eine Technik, die auch für andere Stücke der ¥leurs du Mal charakteristisch ist.''^ Der An­fangssatz bildet, betrachtet man ihn gesondert, eine Anamnesis figur aus. Beim An­blick der irdischen Schönheit erinnert sich die Seele in Piatons Phaidros an die vor ih­rer Einkörperung geschauten Ideen und sehnt sich nach dem Wahren zurück.^' Im Blick auf das Sinnliche und dessen Transzendierung erschließt sich dem von Eros Beseelten eine intelligible Struktur. Der Ausgangspunkt für die das Sein erkennende Erinnerung ist in Baudelaires Gedicht nicht das Schöne oder die rein geistige Tu­genden repräsentierende, oft bereits himmlisch entrückte Herrin, sondern ein Kada­ver, „une charogne infäme"3. Die zweite Strophe assoziiert den verwesenden Kör­per mit der Sphäre des Erotisch-Sexuellen: „Les jambes en l'air, comme une femme lubrique"5. Der Vergleich mit der lüsternen Frau, der in den Strophen fünf und sechs noch unterstrichen wird, als das Gewimmel der FUegen und Larven in ein Bild „bestialisch zerfleischender Kopulation"^" übergeht, deutet die „charogne" als eine Inkarnation des amor carnalis. Als negative Potenz zersetzt dieser die Ordnung und Formgebung in der Folge der Strophen drei bis sechs: Rückgängig gemacht wird, was die Natur verbunden hat. Die der Natur eingeschriebene Dynamis, wie sie der Vergleich „comme une fleur s'epanouir"i4 impliziert, kehrt sich um. Die Vielheit,

^ Zum Eingangsvers von Une Charogne und parallelen Gedichtanfängen sowie deren Funktion der Ver­gegenwärtigung eines spirituellen Raumes vgl. Peter Broome; Baudelaire's Poetic Pattems — The Secret Language of.Les Fleurs du Mal; Amsterdam/Adanta, GA 1999, 69-90, Zitat 69.

» Vgl. Piaton: Phaidros 249d-256e. Kurt Weinberg: Baudelaires ,Une Charogne' - Paradigma einer Ästhetik des Unbehagens in der Natur, in: Poetica 12 (1980), 83-118, hier 109. Weinberg legt in seiner rezeptionsgeschichtüch orientierten Interpretation des Gedichts den Akzent auf Baudelaires Kontrafakmr des sentimentaUschen, eine Einheit von Subjekt und Kosmos imaginierenden Naturerlebens der Romantik.

156 Bettina FuU

die sich in „les mouches"i7 und „larves"i9 materiell entäußert, zersetzt Ganzheit („en se mulapliant"24) und löst mit dem Kadaver das einheitsbildende, harmonische Prinzip eines Eros auf, der Anamnesis möglich macht.

Die Verklammerung der beiden Gedichthälften spiegelt entseelte Materie und Tod sowie die metaphysisch konnotierten Formen der Liebe ineinander, wie sie in den Attributen der Herrin — „soleil de ma nature'Sg, „la reine des gräces"4i — aufge­rufen worden sind. Sie kann als Überblendung zweier ontologisch gegenläufiger Amorfiguradonen, von amor spiritualis und amor carnalis, gedeutet werden. Diesen Prozeß der Doppelung, der eine metaphysisch rückgebundene Geistigkeit auflöst, fokussiert die achte Strophe, indem sie ihn mit dem Prozeß künsderischer Bild-findung verknüpft. Das Tilgen der spirituellen Formen, wie es in den vorangegan­genen Strophen geschieht, ermöglicht erst das Entstehen einer inneren, traumhaften Bildfigur:

Les formes s'effa aient et n'etaient plus qu'un reve, Une ebauche lente ä venir

Sur la toile oubliee, et que l'artiste acheve Seulement par le souvenir.29 32

Das dem Vergessen unterworfene Gemälde und die langsam hervortretende Skizze, die der Künsder aus dem Gedächtnis auf die Leinwand wirft, vergegenwärtigen noch einmal den Prozeß der Überlagerung zweier Bilder. Dem Schwinden dessen, was einst auf der Leinwand aufgetragen war, läuft das Sichtbarwerden einer Skizze parallel. Mit dem Material der Leinwand, das Träger des alten Bildes und Grundlage für das neue Bild ist, spielt der Text auf eine Metaphorik an, die Bildprozesse im unsichtbaren Bewußtseinsraum veranschaulichen soU. Am bekanntesten dürfte das Modell der Wachstafel der Seele sein, in die sich Wahrnehmungen und Begriffe ein­schreiben oder in die sich, so Descartes, die Idee des Göttlichen gleich einem Präge­stempel immer schon eingedrückt hat, sodann Lockes Bestimmung der tabula rasa des Bewußtseins als „white paper void of all characters"^'. Das Erlöschen der For­men, die dem Inneren eingeprägt sind und die nun vergehen, faßt die Bewegung der Strophen zwei bis sieben zusammen. Noch einmal scheint in der Kombination von Vergessen und Formverlust ex negativo die Anamnesisfigur des Anfangs und damit die transzendente Ausrichtung des amor spiritualis auf An ihre Stelle tritt eine andere Art der Erinnerung, „le souvenir". Der „souvenir" ist dabei nicht Grundlage für ein neues, vollkommenes Gemälde, sondern läßt lediglich einen flüchtigen, noch vagen Entwurf hervortreten, der den andeutenden, unpräzisen Charakter der imaginären Büdentstehung unterstreicht. Was als Signatur dieses Erinnerungsprozesses sichtbar wird, ist, ähnlich wie dies Baudelaire in Lje Peintre de la me moderne, im Abschnitt „L'Art mnemonique" durch den Lazarusvergleich verdeutlicht, ein Bild, das auf die

John Locke: An Essay Conceming Human Understanding I, ed. by John W. Yolton, New York/London 1965, 77.

Ronsard und Baudelaire 157

Vergänglichkeit und die Kontingenz des bildgestaltenden Bewußtseins verweist.'^ Die Zeitlichkeit, die dem sprachlich evozierten Bild des Kadavers in Une Charogne eigen ist, wird nicht auf Ewigkeit hin transzendiert, obgleich diese Möglichkeit durch die dem Gedicht eingeschriebenen Topoi der Liebeslyrik virtuell präsent gehalten ist. In der Doppelfigur von Anamnesis/ Schönheit/ Form auf der einen Seite, von „souvenir"/ Skizze auf der anderen Seite entsteht, dem „fantöme" als jener subjektiven Vorstellung entsprechend, die der Maler Constantin Guys auf die Leinwand überträgt''^, ein magisch-geisterhaftes Gebilde, „une ebauche lente ä ve-nir"3o, in welchem sich das Verfahren des Gedichts reflektiert.

Die doppelte referentielle Ebene, die für Une Charogne festzuhalten ist, fordert den Leser dazu auf, in ein und demselben Moment zwei gegenläufige Bilder des Eros zu aktualisieren und sie in ihrem Verhältnis zu bestimmen. Das Gedicht initi­iert so einen Prozeß der mehrschichtigen Büdevokation, den Baudelaire an anderer SteUe mit Bück auf das graphische Verfahren der Karikatur konzeptuaüsiert. In dem für die ästhetische Theoriebildung Baudelaires zentralen Essay De l'essence du rire etge-neralement du comique dans les arts plastiques wird die Karikatur als eine Kunstform be­stimmt, die das satanische, von Gott und dem Allgemeinen getrennte Bewußtsein repräsentiert und hierin eine ganz eigene Schönheit gewinnt'*: „Chose curieuse et vraknent digne d'attention que l'introduction de cet element insaisissable du beau jusque dans les oeuvres destinees ä representer ä l'homme sa propre laideur morale et physique!" Im Horizont der Darstellbarkeit des gefaUenen Menschen dient die Karikatur im Essay auch als Bezugshintergrund für den Entwurf einer kritisch-re­flexiven und zugleich originären Dimension des Schreibens. Von Bedeutung für die üterarische Ausarbeitung des Verfahrens ist dabei vor allem, daß die Karikatur zwei nur heuristisch zu trennende Bildebenen aufweist. In ihrer DarsteUung bezieht sie sich stets verzerrend auf ein Vorbild, das sie durch Reduktion auf wenige signifi­kante Linien zugleich aufruft und deformiert.

Das Vermögen, ein Referenzobjekt kritisch zu deuten und es in seinen Voraus­setzungen zu hinterfragen, üegt dem Gedicht Une Charogne als Konstruktionsprinzip zugrunde. Es tritt in der Überlagerung zweier Eros-Konzepte, dann, im poetologi-schen Kommentar der achten Strophe, in der Relation von „formes" und „ebauche" hervor. In der Skizze, die erst unter der Voraussetzung erscheint, daß sie das Wohl­geformte auf- und ablöst, spiegelt sich das Verfahren der Brechung vorgängiger Bü-der und Diskurse, wie es Baudelaire in De l'essence du rire theoretisch erörtert, in den Gedichten der Fleurs du Mal ausgefeüt hat.'^ Une Charogne karikiert die Vorstellung

" Vgl. Baudelaire: Le Peintre de la vie moderne, in: ders.: CEuvres completes II [Anm. 61], 699: Im künstlerischen Schaffensprozeß des Malers Constantin Guys, der aus der Eritmenmg des Nachts Bilder auf die Lein­wand wirft, zeigt sich „une contention de memoire resurrectionniste, evocatrice, ime memoire qui dit ä chaque chose: J.azare, leve-toi!'"

'5 Vgl. ebd.: „Cest la peur de n'aller pas assez vite, de laisser echapper le fantöme avant que la Synthese

n'en soit extraite et saisie." • Baudelaire: De l'essence du rire et neralement du comique dans les arts plastiques, in: CEuvres completes II [Anm. 61], 526.

'5 Zu Baudelaires Referenz auf das graphische Verfahren der Karikatiu: imd der für seine Ästhetik kon-

158 Bettina Füll

von Eros als eines spirituellen Mittlers der Ideen und damit die in der zeitgenössi­schen Ästhetik eingeforderte Formgebung des Absoluten in der Kunst. Im negati­ven Modus der Karikatur wird der Leser nicht auf das ideale Schöne verwiesen, sondern auf ein mehrschichtiges Bild, das eine differente Bestimmung des künstie­rischen Werks formuliert. Die doppelte, das Vorbild relativierende Figuration zer­setzt die in der Denkfigur der Anamnesis evozierte intelligible Form. Diese verweist nicht auf einen geistig-ewigen Bereich. Sie reflektiert vielmehr jenen kritischen poe­tischen Prozeß, der im Dtirchgang der Überblendung der Bilder entsteht und der wie die Karikatur ein ,ungreifbares Element des Schönen', nämlich die ästhetische Qualität des der Zeit unterworfenen Bewußtseins betont.

stitutiven Theorie des Komischen vgl. Bettina Füll: Karikatur und Paiesis — Die Ästhetik Charles Baudelaires, Heidelberg 2005.

Bettina
Schreibmaschinentext
in: Eros. Zur Ästhetisierung eines (neu)platonischen Philosophems in Neuzeit und Moderne, hg. von Maria Moog-Grünewald, Heidelberg: Winter 2006.