Philologie, materielle Kultur und Authentizität. Das Dichterhaus zwischen Dokumentation und...

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SONDERDRUCK Die Herkulesarbeiten der Philologie

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S O N D E R D R U C K

Die Herkulesarbeiten der Philologie

Die Herkulesarbeiten der Philologie

Herausgegeben von Sophie Bertho und Bodo Plachta

WEIDLER Buchverlag

Abbildung auf dem Umschlag: Marcel Proust, Arbeitsmanuskript zu Sodome et Gomorrhe, Paris, Biblio-thèque nationale de France, Département des Manuscrits, NAF 16708, 16712 (Abbildung entnommen aus: Marcel Proust. L’écriture et les arts. Sous la di-rection de Jean-Yves Tadié avec la collaboration de Florence Callu. Paris 1999, S. 275)

© WEIDLER Buchverlag Berlin 2008 Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

ISBN 978-3-89693-509-0 www.weidler-verlag.de

Inhalt

Vorwort...................................................................................................... 7

DOMINIQUE MAINGUENEAU (Paris) Philologischer Wendepunkt und Analyse des literarischen Diskurses ...... 9

RÜDIGER NUTT-KOFOTH (Hamburg, Wuppertal) Philologie, Editionswissenschaft und Literaturwissenschaft ................... 25

JOSEPH JURT (Freiburg im Breisgau) Der neue Blick auf die Entstehungsbedingungen der Literatur. Textgenese/sozialgeschichtliche Genese ................................................. 45

GERARD J. BOTER (Amsterdam) Herkules oder Sisyphos? 23 Jahrhunderte Griechische Philologie.......... 63

THOMAS BEIN (Aachen) Die Herkulesarbeiten der Philologie: Perspektiven der Germanistischen Mediävistik....................................... 97

BERND HAMACHER (Hamburg, Köln) „Wirre Worte“ in Wissensrahmen. Das Goethe-Wörterbuch als philologischer Brennpunkt der Wissensgeschichte um 1800 ................ 123

DIRK VAN HULLE (Antwerpen) Joyce-Philologie .................................................................................... 143

NATHALIE MAURIAC DYER (Paris) Entziffern, transkribieren, kartographieren, verbinden. Proust oder das gezähmte Manuskript ................................................... 165

KLAUS BARTELS (Hamburg) Erzählen in der Schießzone. Das Computerspiel zwischen Ludologie, Narratologie und Philologie................................................................... 191

HARALD HENDRIX (Utrecht) Philologie, materielle Kultur und Authentizität. Das Dichterhaus zwischen Dokumentation und Imagination ................ 211

BODO PLACHTA (Amsterdam) „gelebtes Material“. Was bedeuten biographische Fakten und deren Verschlüsselungen für die Arbeit am Text? – Das Beispiel Mephisto von Klaus Mann................................................ 233

6 Inhalt

SOPHIE BERTHO (Amsterdam) Plädoyer für eine visuelle Philologie ..................................................... 253

IVO BLOM (Amsterdam) Senso (1954) und die Maler der Arrière-garde ...................................... 265

MICHAEL HUIG (Amsterdam) Der Dichter im Bild ............................................................................... 287

Harald Hendrix (Utrecht) Philologie, materielle Kultur und Authentizität. Das Dichterhaus zwischen Dokumentation und Imagination

Am 30. Mai 1997 wurde in Rom deutsche Geschichte geschrieben, als sich in Anwesenheit des damaligen deutschen Innenministers Manfred Kanther in der Via del Corso 18 die Türen der Casa di Goethe, der ersten deutschen Museumseinrichtung im Ausland, öffneten. Dieses Goethe und seiner Ita-lienischen Reise gewidmete Dichterhaus war nach einer intensiven öffent-lichen Debatte in wichtigen Zeitungen wie z.B. Die Zeit und als Folge ei-ner unmittelbaren Intervention sowohl durch die nationale Politik – bereits 1993/94 hatte Bundeskanzler Helmut Kohl eine Ausstellung über die Mu-seumspläne im Bundeskanzleramt beherbergt – als auch durch die Wirt-schaft zustande gekommen, denn Daimler-Benz hatte sich bereit erklärt, einen Teil der Gründungskosten und eine finanzielle Garantie für das Sti-pendienprogramm des Museums zu übernehmen.1 Die überwältigende Aufmerksamkeit der Presse sowohl in Deutschland als auch in Italien und das enorme öffentliche Interesse am ersten Wochenende nach der Eröff-nung machen deutlich, dass es sich hier nicht nur um ein symbolisches Er-eignis grenzüberschreitender Kulturpolitik handelte, sondern dass mit der Casa di Goethe auch eine Institution ins Leben gerufen worden war, die auf eine vielleicht unerwartete Weise nahtlos an das Interesse und die Er-wartungen vieler anknüpfte: einer breiten internationalen Öffentlichkeit, des Staates und der Wirtschaft sowie der Fachpresse.

Darin war die Casa di Goethe kein Einzelfall, denn in den 1990er Jah-ren können wir in ganz Europa und darüber hinaus eine auffällige Zunah-me der Zahl von Dichterhäusern mit musealer Funktion konstatieren, während gleichzeitig unzählige Publikationen über diese Häuser entste-hen,2 die an eine breite Öffentlichkeit gerichtet sind. Dieses Phänomen steht darüber hinaus im Zusammenhang mit Entwicklungen einer heuti-gen Freizeitkultur, in der spezielle Ausprägungen von Kulturtourismus einen immer wichtigeren Anteil haben. Aber dieses Phänomen kann nicht

1 Zur Entstehungsgeschichte der Casa di Goethe vgl. Dorothee Hock: Goethe’s Home in the

Capital of the World: The Making of the Casa di Goethe. In: Writers’ Houses and the Ma-king of Memory. Hrsg. von Harald Hendrix. New York 2007, und „... finalmente in questa capitale del mondo!“ Goethe a Roma. Hrsg. von Konrad Schürmann und Ursula Bon-gaerts-Schomer. 2 Bde. Roma [1997].

2 Vgl. hierzu meinen Überblick: Writers’ Houses as Media of Expression and Remembran-ce: From Self-Fashioning to Cultural Memory. In: Writers’ Houses 2007 (Anm. 1).

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losgelöst von den sich verändernden Auffassungen über Literatur und der Art und Weise, wie Literatur vermittelt werden kann und soll, gesehen werden. Es ist auch kein Zufall, dass in denselben Jahren in der Literatur-wissenschaft eine Debatte über herrschende Ansätze – manche sprechen sogar von Dogmen – in Gang gekommen ist, und vor allem dem Autor und dem faktischen Kontext, in dem sich das literarische Kunstwerk kon-stituiert, wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird.3 Die daraus resul-tierende Neuorientierung, in der der Fokus nicht länger auf den Text als ein in sich geschlossenes Artefakt, sondern vielmehr auf die Figur des Dichters und auf den kreativen Prozess, die das Fundament des Textes bilden, gerichtet ist, können wir leicht an der beispiellosen Popularität von Biographien und an der neuen akademischen Wertschätzung dieses Phänomens erkennen. Aber auch das zunehmende Interesse an Dichter-häusern und an Orten, die mit literarischen Werken in Zusammenhang gebracht werden können, deutet auf diese Neuorientierung hin.

Was das Phänomen darüber hinaus interessant und bemerkenswert macht, ist die sich darin manifestierende Annäherung zwischen dem, was gelegentlich als hohe und als niedere Kultur bezeichnet wurde. Denn das neuerliche Interesse vieler Literaturwissenschaftler am Autor und seinem kreativen Kontext hat in der breiten Öffentlichkeit, die dieses Interesse üb-rigens wohl nie verloren hat, zu einer neuen Wertschätzung des literari-schen Erbes geführt, zumindest wenn wir von den Besucherzahlen musea-ler Dichterhäuser und von den Auflagenzahlen von Dichterbiographien ausgehen. Dadurch dass die klassische, in der zweiten Hälfte des 20. Jahr-hunderts immer größer werdende Kluft zwischen einem akademischen und einem populären Interesse an Literatur überwunden werden konnte, wur-den Biographien mit angesehenen Literaturpreisen ausgezeichnet und scheinen auch Staat und Wirtschaft stark daran interessiert zu sein, in die-sen Bereich zu investieren, wie das Beispiel Casa di Goethe zeigt.

Diese Entwicklung bietet neue Perspektiven für einen philologischen Ansatz der Literaturwissenschaft, fordert aber zugleich eine Rückbesin-nung. Die Rückbesinnung auf den Dichter und auf den Schreibprozess schließt überdies an das an, was immer Kern philologischen Arbeitens war: die kritische Herstellung eines Textes unter Einschluss der vom Au-tor im Verlauf des Schreibprozesses angefertigten Varianten, diesen Text

3 Zu denken ist dabei u.a. an Maurice Couturier: La figure de l’auteur. Paris 1995; Antoine

Compagnon: Le Démon de la théorie. Litérature et sens comun. Paris 1998; Sean Burke: The Death and Return of the Author: Criticism and Subjectivity in Barthes, Foucoult and Derrida. Edinburgh 1999; und insbesondere an Carla Benedetti: L’ombra lunga dell’autore. Indagine su una figura cancellata. Milano 1999; auch in englischer Übersetzung unter dem Titel: The Empty Cage. Inquiry into the Mysterious Disappearance of the Author. Ithaca 2005.

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durch Erläuterungen zugänglich zu machen und dadurch zu bewahren. Doch in der hier beobachteten Wende stehen sicherlich nicht länger der Text und eine darin vermutete Aussage im Mittelpunkt, sondern der Kon-text, in dem dieser Text als Kunstwerk entstanden ist: die Motive eines Autors, das Auf und Ab seines Lebenslaufs und die konkreten Umstände, in denen er gelebt und als Künstler gearbeitet hat.4 Das Erläutern dieser Motive, das Beschreiben dieses Auf und Ab und das Verdeutlichen dieser Kontexte gehören ebenso zum philologischen Geschäft wie die Erfor-schung von Varianten, der handschriftlichen Überlieferung und der Druckgeschichte. Sie setzen in der Tat voraus, dass der Philologe nicht mehr in erster Linie als Textwissenschaftler, sondern als Historiker arbei-tet und – im Fall von Dichterhäusern – einen weiten Blickwinkel für ma-terielle Aspekte hat, die den Schaffensprozess einrahmen und manchmal selbst festlegen.

Doch das bedeutet nicht, dass ein Philologe in diesem Sinne nur noch Historiker oder sogar Museologe sein muss. Im Gegenteil. Dichterhäuser sind eine besondere Art von Quellen: Es geht in beinahe allen Fällen um bewusst oder unbewusst konstruierte Häuser, die als solche bereits eine Bedeutung haben und als Kunstwerk betrachtet werden müssen. Dichter selbst können ihnen Form gegeben haben – als Ausdruck von self-fa-shioning und insofern als Konstruktion einer Identität –, aber dies kann auch durch spätere Generationen geschehen sein, die dadurch nicht nur eine „Gedächtnisagentur“5 errichten, sondern auch ihr eigenes Verständ-nis vom Autor und dessen Werk festlegen wollten. Deshalb können wir Dichterhäuser nicht als neutrale Informationsquelle für die Entschlüsse-lung schriftstellerischer Triebfedern betrachten und analysieren. Es sind neben Dokumenten zum biographischen Hintergrund eines Dichters gleichzeitig künstlerisch oder nichtkünstlerisch gemeinte Artefakte, die als eine besondere Form von Texten gelesen werden müssen und deshalb eine bestimmte Art von Philologie erfordern, die die Kompetenz eines an der materiellen Kultur interessierten Literaturwissenschaftlers notwendig macht. In diesem Beitrag will ich deshalb das Phänomen Dichterhaus als Forschungsobjekt einer sich erneuernden Philologie betrachten, die eine historische und textanalytische Kompetenz mit einem Interesse an mate-riellen Aspekten des literarischen Schaffensprozesses und an einer sich darum herum formenden Erinnerungspraxis kombiniert, um schließlich

4 Benedetti spricht in diesem Zusammenhang von „autorialismo“, den sie als Kennzeichen

der gegenwärtigen westlichen Literaturwissenschaft betrachtet (Benedetti 1999, Anm. 3, S. 16-20).

5 Raimar Zons: Domesday, Buchenwald, Weimar. In: Das Archiv der Goethezeit. Ordnung – Macht – Matrix. Hrsg. von Gert Theile. München 2001 (Jahrbuch der Stiftung Weimarer Klassik. 1), S. 31-43, hier S. 34.

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Einblick in die Funktion von Literatur – aufgefasst als Texte und Kontex-te – zu bekommen, und dies nicht nur in ihrer Funktion als gesellschaftli-cher Rahmen der Kulturindustrie, sondern auch als Bedeutung gebendes Kulturgut. Die drei großen, dem Andenken Goethes gewidmeten Dichterhäuser in Frankfurt, Weimar und nun auch seit zehn Jahren in Rom können ver-deutlichen, wie relevant, aber auch wie problematisch diese Orte als do-kumentarische Quelle für die Erforschung des Lebens von Dichtern und als materielle Basis ihrer Kreativität sein können. Das Haus am Großen Hirschgraben in Frankfurt bezieht sich auf Goethes Kinder- und Jugend-jahre – hier lebte er mit Unterbrechung durch sein Studium in Leipzig und Straßburg seit seiner Geburt 1749 bis 1775 –; die Casa di Goethe bil-det den Rahmen für seinen Aufenthalt in Rom zwischen 1786 und 1788, und das Haus in Weimar zeigt uns die Entwicklung des Dichters nach sei-ner Rückkehr aus Italien bis zu seinem Tod 1832. Zusammen mit dem in den ersten Weimarer Jahren zwischen 1776 und 1782 bewohnten Garten-haus an der Ilm ermöglichen diese zu Museen umgewandelten Häuser ei-nen beinahe ununterbrochenen Blick auf das lange Leben des Dichters. Aber was erhellen sie eigentlich, und wie verlässlich sind sie als Quelle?

Natürlich geben diese Häuser Einblick in die Lebensumstände des Dichters in unterschiedlichen Epochen, wenn sie denn überhaupt ein his-torisch korrektes Bild davon geben können. Doch da beginnen schon die Probleme, wenn wie im Fall der Casa di Goethe nur von einer Rekon-struktion und nicht von einem Original die Rede ist. Es handelt sich zwar um eine äußerst sorgfältig ausgeführte Ausführung, die auf langen und genauen Archivuntersuchungen beruht, aber gerade weil dabei kaum rele-vante Informationen ans Licht gekommen sind, musste man sein Heil in einer Wiedererrichtung suchen, die – ausgehend von wenig sicheren An-haltspunkten wie den Zeichnungen von Goethes Mitbewohner Tischbein – das Original zwar suggerieren, aber nicht vordergründig imitieren, weil dies schlechterdings nicht möglich ist.6 Diese durch philologische Ent-scheidung verantwortete Art und Weise der Wiedererrichtung, bei der das Original ausdrücklich von einer Rekonstruktion abgegrenzt wurde, ist au-ßerdem ein blessing in disguise, weil sich so die Möglichkeit ergab, die Wohnung so zu gestalten und einzurichten, dass sie sich auch für Ausstel-lungen und andere kulturelle Veranstaltungen eignete.

Die Casa di Goethe ist daher nur in begrenztem Maße als Quelle zur Dokumentation von Goethes Leben geeignet. Letzten Endes ist dies je-

6 Vgl. zu diesen Untersuchungen neben Hock 2007 (Anm. 1) insbesondere Christoph Luit-

pold Frommel: La storia della Casa di Goethe. In: „... finalmente“ 1997 (Anm. 1), Bd. I, S. 78-95.

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doch unwichtig. Es wurden zwar viele Anstrengungen unternommen, um die dokumentarische Basis dieser Einrichtung zu erweitern. Obwohl dies aber nur wenig erfolgreich war, war das kein Hinderungsgrund, die Woh-nung in der Via del Corso als Dichterhaus zu musealisieren. Offensicht-lich spielten andere Faktoren eine wesentlich wichtigere Rolle: die Be-deutung einer zwar kurzen, aber als ungemein bedeutend angesehenen Phase in Goethes Leben und vor allem der exakt bestimmbare Ort. Denn gerade im Hinblick auf diesen Ort erhitzten sich die Gemüter, als im Ver-lauf der langwierigen, mit dem deutschen Staat geführten Kaufverhand-lungen Zweifel aufkamen, ob Goethe im ersten oder doch eher im zwei-ten Stock des Gebäudes in der Via del Corso 18 gewohnt habe.7 Nachdem diese Bedenken schließlich ausgeräumt waren – der Dichter hat in beiden Etagen gewohnt –, konnte der Kauf vonstatten gehen und die Rekonstruk-tion beginnen. Es waren also nicht der dokumentarische Wert oder die be-sondere künstlerische Gestaltung dieser in der Tat kaum außergewöhnli-chen Wohnung – sie war zu Goethes Zeiten eine einfache Pension –, son-dern es war vor allem der genius loci, der genaue Ort, wo Goethe gelebt hatte, der die Errichtung eines Museums rechtfertigte, eines Museums, in dem die Erinnerung an einen besonderen Aspekt von Goethes Leben – seine Begegnung mit Italien und damit seine kosmopolitische und klassi-zistische Haltung als Dichter und Gelehrter – vergrößert, fixiert und durch ein Programm kultureller Aktivitäten erläutert wird.

Auch im Fall des Hauses am Großen Hirschgraben in Frankfurt spielt der genius loci eine wichtige Rolle, weil er den Ort markiert, wo Goethe geboren wurde und wo sein ‚Genie‘ – ein Begriff, der in diesem Zusam-menhang keineswegs als unangemessen aufzufassen ist – sich entwickel-te. Außerdem hat dieses Haus durchaus einen dokumentarischen Wert für ein besseres Verständnis der Biographie des Dichters und seines Werde-gangs als Künstler. Das Haus, wie wir es heute noch sehen, stimmt in ho-hem Maße mit der ursprünglichen Gestalt überein, die es hatte, als der junge Goethe hier aufwuchs, eine Gestalt, die auf seinen Vater Johann Caspar Goethe zurückgeht, der das von seiner Mutter 1733 erworbene Haus zwischen 1755 und 1756, als der Dichter noch ein Kind war, zu ei-nem großen Stadthaus umbauen ließ, in dem nicht nur der vornehme Sta-tus der Familie, sondern auch ein ehrgeiziges kulturelles Programm zum Ausdruck gebracht wurden.8 Das außerordentlich großzügige Treppen-haus, das dem im Römer nachempfunden ist, die modischen Chinoiserien

7 Hansjakob Stehle: Rom: das falsche Goethe-Haus? In: Die Zeit, 20.2.1987; Christoph

Luitpold Frommel: Doch das echte Haus! In: Die Zeit, 6.3.1987. 8 Vgl. Petra Maisak, Hans-Georg Dewitz: Das Frankfurter Goethe-Haus. Frankfurt 1999;

Bodo Plachta: Remembrance and Revision. Goethe’s Houses in Weimar and Frankfurt. In: Writers’ Houses 2007 (Anm. 1).

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in der Roten Stube, das Musikzimmer und vor allem die zweite Etage mit einer reich bestückten Bibliothek und auch das Gemäldekabinett mit ei-ner Auswahl von Gemälden zeitgenössischer Künstler aus der Umgebung Frankfurts, dies alles zeigt anschaulich die, wenn auch nicht besonders fortschrittliche, so doch sehr wohl aufgeschlossene und wissenschaftlich interessierte, von tiefem Respekt vor Geschichte und Dichtkunst gepräg-ten Haltung, in der Vater Goethe seine Kinder erzog und die bei seinem schreibenden Sohn bleibende Spuren hinterließ. Dabei geht es nicht nur um die Kenntnis bestimmter Werke aus der väterlichen Bibliothek, die der junge Goethe las und vor Besuchern vortrug, woran er später in seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit erinnert. Auch mehr allgemeine Neigungen wie sein Interesse für Naturwissenschaft und alchimistische Experimente, sein Gespür für Räume, seine Begeisterung für Italien und die klassische Kultur lassen sich als materielle Spuren in diesem Haus finden.

Doch drängt sich in diesem Fall, ähnlich wie bei der Casa di Goethe, nicht so sehr die Frage auf, inwiefern es sich hier um Originale oder um Rekonstruktionen handelt. Bereits 1795 wurde das Haus in Frankfurt mit dem größten Teil des Mobiliars von der Familie verkauft, übrigens auf ausdrücklichen Wunsch des Dichters. In den folgenden Jahrzehnten wur-de das Haus grundlegend umgebaut, um Platz für verschiedene Wohnun-gen und im Erdgeschoss sogar für zwei Läden und eine Tapezierwerkstatt zu schaffen. Das Haus wurde aber nach und nach zu einer Attraktion für Goethe-Bewunderer, die, angeregt durch die Lektüre der ersten Bücher von Dichtung und Wahrheit und seit 1835 auch durch Bettina von Ar-nims Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde, den Ort besuchen wollten, der in diesen Texten eine solch nachdrückliche Rolle spielt. 1840 wurde ein eigener Erinnerungsraum eingerichtet, und Besucher konnten ihren Namen und Kommentar in ein Gästebuch schreiben, wie es die dort woh-nende Schriftstellerin Virginia Wunderlich in ihrem dem Haus gewidme-ten Buch Santa casa beschreibt:

Da stand noch Wolfgangs mit weißer Ölfarbe bestrichener Pult, da waren noch die altertümlichen Stühle, Handzeichnungen und mehrere unter Glas und Rahmen gebrachte Autographen des Dichters. Eine mehr als lebensgroße Büste des Dichters, das Haupt mit einem natürlichen Lorbeerkranz umwun-den, stand auf dem Tisch. Vor dieser Büste lag aufgeschlagen das in roten Saffian gebundene Buch, in das die Besucher des Goethezimmers ihre Namen aufzuzeichnen pflegen [...].9

9 Virginia Wunderlich [A. Lacy]: Santa casa. Frankfurt 1853, zitiert nach: Maisak/Dewitz

1999 (Anm. 8), S. 114.

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Kurios ist übrigens, dass auch in diesem Fall Unsicherheit über den exak-ten Ort besteht, denn der Museumsraum wurde 1840, wie sich später her-ausstellte, nicht in dem Raum eingerichtet, der heute das Dichterzimmer genannt wird, sondern entsprechend den falschen Angaben von Bettina von Arnim in einem anderen Zimmer in derselben Etage des Gebäudes.

Es sollte dann noch bis 1863 dauern, bis das Haus endgültig auf Initia-tive Frankfurter Bürger, die sich dazu in dem 1859 gegründeten Freien Deutschen Hochstift zusammen gefunden hatten, als Museum eingerichtet wurde. Von diesem Augenblick an wurde ebenso wie bei der Casa di Goe-the Wert gelegt auf eine möglichst zuverlässige historische Rekonstruktion des Hauses, wie es zur Zeit des jungen Goethe ausgesehen hatte. Dazu wurde das Haus umgebaut und das Inventar soweit wie möglich rekonstru-iert. Aber anders als in Rom geschah dies auf Basis einer umfangreichen und zuverlässigen Dokumentation, die direkt auf Goethe selbst rekurrierte. Er hatte nicht nur in Dichtung und Wahrheit ein detailliertes Bild von sei-ner Jugend im Haus am Großen Hirschgraben geliefert, sondern auch Zeichnungen angefertigt – insbesondere von seinem eigenen Zimmer – und in zahlreichen Briefen über sein Leben in Frankfurt berichtet. Die Res-tauratoren bemühten sich, so viel wie möglich von dem ursprünglichen In-ventar wieder zu beschaffen und in die Rekonstruktion zu integrieren. Manchmal kam ihnen dabei das Glück zu Hilfe, als sie etwa bei einem Trödler die originalen Fensterkörbe des Gebäudes aufspürten. Doch in den weitaus meisten Fällen musste man, insbesondere was das Mobiliar betraf, auf Objekte zurückgreifen, die nicht unmittelbar auf Goethe zurückgingen. Daraus resultierte die Entscheidung, das Haus zugleich als eine Art von Stilzimmer einzurichten, in dem der Alltag begüterter Frankfurter Familien des 18. Jahrhunderts anschaulich werden sollte.10

Dies können wir nun wiederum als blessing in disguise bezeichnen, genau wie im Fall der Casa di Goethe, wo sich die willkommene Mög-lichkeit eröffnete, einen Ausstellungsraum zu schaffen. Das heutige Frankfurter Goethehaus ist vor allem ein prächtiges Museum für die Kul-tur des Bürgertums im 18. Jahrhundert geworden. Aber dennoch bleibt ein gewisses Unbehagen. Wie aus dem bereits zitierten Abschnitt aus Wunderlichs Casa santa ersichtlich wurde, ist die Erinnerungspraxis, die sich in diesem Haus bereits früh entwickelte, vor allem auf das Vorhan- 10 Vgl. hierzu den Kommentar von Otto Volger, dem Gründer des Freien Deutschen Hoch-

stifts aus dem Jahr 1870, zitiert nach: Maisak/Dewitz 1999 (Anm. 8), S. 35: „In Goethes Vaterhaus will ich der Nachwelt ein Bild der Bauart, der Hauseinrichtung, der Lebenswei-se des Jahrhunderts, in welchem Goethe lebte, überliefern. Ich will also nicht allein das Haus erhalten, sondern mehr und mehr auch wieder das entsprechende Hausgerät hinein-schaffen. Selbstverständlich sind dabei alle ächten, aus dem Haushalte der Frau Rath und von Goethe selbst herrührenden Sachen zu bevorzugen. Da aber solche nicht ausreichen, so ergänze ich durch zeitentsprechende Gegenstände anderer Haushalte.“

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densein authentischer, unmittelbar auf den verehrten Dichter beziehbarer Objekte gerichtet: Handschriften, aber auch einfache Alltagsgegenstände. Dies sind die profanen Reliquien, die gemeinsam mit dem genius loci Anlass für literarische Pilgerreisen waren, ein halb-religiöses Ritual – nicht umsonst hieß Wunderlichs Buch Casa santa, eine Bezeichnung, die übrigens schon 1777 Wieland erstmals gebrauchte –, das seinen Höhe-punkt mit dem Eintrag der eigenen Unterschrift in ein Gästebuch fand, womit der Pilger wie durch ein Ex voto oder einen Pilgerpfennig seinen Besuch bestätigt und so ein bleibendes Band zwischen sich und dem be-wunderten Dichter knüpft. Das Frankfurter Goethehaus bleibt damit in gewisser Hinsicht ambivalent. Es dokumentiert das Milieu, in dem der Dichter geboren und aufgewachsen ist und bildet so eine wichtige Quelle für die Erforschung des jungen Goethe und seines aufblühenden kreati-ven Genies. Doch die dokumentarische Basis ist, obwohl detailliert und zuverlässig, nicht neutral, weil sie in erheblichem Maße aus den Werken Goethes selbst und insbesondere auch aus seiner Autobiographie abgelei-tet ist. Die Frage stellt sich nun, ob uns das Haus etwas über das Leben Goethes lehren kann, wenn es de facto das materielle Bild dessen ist, das der Dichter selbst davon hatte. Das Haus am Großen Hirschgraben illust-riert in der Tat viel eher das Bild, das der Dichter davon entwerfen wollte und ist daher zunächst kein dokumentarisches, sondern ein autobiogra-phisches Denkmal.

In noch viel stärkerem Maße ist das der Fall bei Goethes Wohnhaus in Weimar, dessen Bedeutung in verschiedener Hinsicht die der Wohnungen in Rom und Frankfurt übertrifft.11 Auch hier wird von einem genius loci gesprochen, denn am Frauenplan wohnte Goethe die längste Zeit seines Lebens und hier ist er auch gestorben; darüber hinaus schrieb er hier die weitaus meisten und wichtigsten seiner Werke. Aber anders als in Rom oder Frankfurt ist in diesem Haus alles original und authentisch, und von Rekonstruktion kann daher keine Rede sein. Wir verdanken dies teilweise dem Zusammentreffen glücklicher Umstände, denn das Haus blieb nach Goethes Tod 1832 mehr als ein halbes Jahrhundert unverändert im Besitz seiner Erben, bis sein letzter Enkel Walther Wolfgang es bei seinem Tod im Jahre 1885 dem Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach hinterließ und damit ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung ging, mit diesem Haus ein würdiges Denkmal für den gefeierten Dichter zu errichten. Obwohl Goethes Erben diesen Schritt zur Musealisierung des Hauses nicht getan und die schon lange bestehende Pilgerpraxis rund um das Haus nicht zu-gelassen hatten, war ihr Entschluss, das Haus unverändert zu erhalten, nicht zufällig. Damit legten sie vielleicht besonders zurückhaltend und

11 Vgl. hierzu auch Plachta 2007 (Anm. 8).

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vorsichtig den letzten Willen ihres Großvater aus, der stets gefordert hat-te, „daß meine Verlassenschaft liberal in meinem eignen Sinne behandelt werde“.12 Doch sie realisierten sicherlich auch, dass das Haus weniger ei-ne Ansammlung von Erbstücken, als vielmehr ein Ganzes war, das als ei-genständiges Kunstwerk daher erhalten bleiben sollte.

Das Goethehaus in Weimar ist in der Tat viel mehr als ein Objekt, das einen Einblick in das Leben und den Schaffensprozess eines Künstlers er-laubt, obwohl es das sicherlich auch in großem Maße ist, gerade weil sein originaler Zustand erhalten geblieben ist. Das Haus am Frauenplan ist aber zugleich Ausdruck eines kulturellen und poetischen Programms, ein Ma-nifest, in dem Goethe seine Existenz als kreativer Künstler zusammenge-fasst, durchdacht und vor allem auch der Außenwelt präsentiert hatte. Wir haben es mit einem programmatischen Dichterhaus zu tun, das gleichzei-tig Ausdruck eines kreativen Künstlers – und damit seines Werkes –, aber auch ein Denkmal für sich selbst ist und ebenso ein Versuch, die eigene Identität zu umschreiben, zu fixieren und mit Nachdruck der Außenwelt und ihrer Nachwelt zu präsentieren. Der umfangreiche Umbau in den Jahren nach 1792, nachdem Goethe das Haus als Geschenk des Herzogs erhalten hatte, verwandelte es in das Denkmal, das wir noch heute kennen und sollte sicherlich großen Eindruck auf Besucher dadurch machen, dass im repräsentativen Teil des Hauses ein besonderer Parcours gestaltet wur-de, wie er in dem Bericht von Eckermanns berühmtem ersten Besuch bei dem bewunderten Dichter 1823 anschaulich wird:

Das Innere des Hauses machte auf mich einen sehr angenehmen Eindruck; ohne glänzend zu seyn war alles höchst edel und einfach; auch deuteten ver-schiedene an der Treppe stehende Abgüsse antiker Statuen auf Goethe’s be-sondere Neigung zur bildenden Kunst und dem griechischen Alterthum. [...] Nachdem ich mich ein wenig umgesehen, ging ich sodann mit dem sehr ge-sprächigen Bedienten die Treppe hinauf zur ersten Etage. Er öffnete ein Zim-mer, vor dessen Schwelle man die Zeichen SALVE als gute Vorbedeutung ei-nes freundlichen Willkommenseyns überschritt. Er führte mich durch dieses Zimmer hindurch und öffnete ein zweytes, etwas geräumigeres, wo er mich zu verweilen bat, indem er ging mich seinem Herrn zu melden. Hier war die kühlste erquicklichste Luft, auf dem Boden lag ein Teppich gebreitet, auch war es durch ein rothes Kanapee und Stühle von gleicher Farbe überaus heiter meublirt; gleich zur Seite stand ein Flügel, und an den Wänden sah man Handzeichnungen und Gemälde verschiedener Art und Größe. Durch eine offene Thür gegenüber blickte man sodann in ein ferneres Zim-mer, gleichfalls mit Gemälden verziert, durch welches der Bediente gegangen war mich zu melden.

12 Goethe am 19. November 1830 gegenüber dem Kanzler von Müller; Kanzler von Müller:

Unterhaltungen mit Goethe. Kritische Ausgabe. Besorgt durch Ernst Grumach. Weimar 1956, S. 177f.

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Es währte nicht lange so kam G o e t h e , in einem blauen Oberrock und in Schuhen; eine erhabene Gestalt!13

Durch das Arrangement von Zimmern, Treppen, Gegenständen und Sprü-chen gelingt es Goethe, einen unauslöschlichen Eindruck auf seine Besu-cher zu machen. Noch bevor er selbst auf dem Theater erscheint – denn mit theatralischen Begriffen darf das wohl durchdachte Gesamtkunstwerk sicherlich charakterisiert werden –, hatten seine Gäste bereits ausdrück-lich Bekanntschaft mit seinen kulturellen Wurzeln und seiner vornehmen Stellung gemacht: mit der Antike im Junozimmer und im Büstenzimmer, mit Italien im Gartenzimmer, im Gelben Saal und im Urbinozimmer so-wie mit Weimar als ‚Klein-Athen‘ im großen Sammlungszimmer. Er zwingt sie überdies, z.B. durch die absichtlich niedrigen Treppenstufen, die im Haus ausgestellten Kunstwerke mit angemessener Demut zu be-trachten und ebenso den Hausherrn, der sie gesammelt hat.

Aber das Haus verfolgt nicht nur die Absicht zu imponieren. Neben den repräsentativen Räumen an der Vorderseite des Gebäudes befinden sich an der Rückseite deutlich einfacher eingerichtete Wohnräume, darun-ter die miteinander verbundenen Schlaf- und Arbeitszimmer und der allein für den Privatgebrauch – besonders für botanische Experimente – be-stimmte Garten. Diese auffallende Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre verweist auf die Doppelfunktion, die dieses Haus im Alltag seines Bewohners erfüllen sollte: einerseits ein Mittel, um seine öffentliche Persönlichkeit als gefeierter Dichter und Exponent einer jahrhundertealten kulturellen Tradition zu betonen und weiter zu tragen, andererseits ein Raum für seine schriftstellerische Tätigkeit. Die imponierenden, in dem Haus zusammen getragenen Sammlungen, die in den Repräsentationsräu-men verwahrten Kunstobjekte (insgesamt 26.000) – die für den eigenen Gebrauch bestimmte Bibliothek mit 6.500 Büchern und die umfangrei-chen, teilweise wiederum in dem für Außenstehende nicht zugänglichen Arbeitszimmer verwahrten naturkundlichen Sammlungen, u.a. von Mine-ralien (18.000) – dienten vor allem dazu, den Bewohner bei seiner Arbeit zu unterstützen, ihn auf Ideen zu bringen und zu inspirieren, beispielsweise um ihn daran zu erinnern, wie er die Objekte erworben hatte:

Diesem zu begegnen, gewöhnte ich mich zuvörderst, bei allem was ich besit-ze, mich gern zu erinnern, wie ich dazu gelangt, von wem ich es erhalten, es sei durch Geschenk, Tausch oder Kauf, oder auf irgend eine andre Art. Ich habe mich gewöhnt, beim Vorzeigen meiner Sammlungen der Personen zu gedenken, durch deren Vermittelung ich das Einzelne erhielt, ja der Gelegen-

13 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. 22.

Originalaufl. Nach dem ersten Druck, dem Originalmanuskript des dritten Teils und Ecker-manns handschriftlichem Nachlaß neu hrsg. von H[einrich] H[ubert] Houben. Leipzig 1939, S. 29f.

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heit, dem Zufall, der entferntesten Veranlassung und Mitwirkung, wodurch mir Dinge geworden, die mir lieb und werth sind, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Das was uns umgibt erhält dadurch ein Leben, wir sehen es in geis-tiger, liebevoller, genetischer Verknüpfung, und durch das Vergegenwärtigen vergangener Zustände wird das augenblickliche Dasein erhöht und bereichert, die Urheber der Gaben steigen wiederholt vor der Einbildungskraft hervor, man verknüpft mit ihrem Bilde eine angenehme Erinnerung […].14

Goethes Haus in Weimar ist damit zugleich ein Dokument seiner Biogra-phie, ein autobiographisches Kunstwerk, in dem der Dichter seiner künst-lerischen Identität Gestalt verleiht, ein Denkmal, durch das er sich selbst ausdrückt und ein sorgfältig gestaltetes mnemotechnisches Werkzeug, um seine literarische Tätigkeit zu befördern. Gerade in diesem arrangierten Charakter finden die Komplexität und der Reichtum von Goethes Künst-lertum ihren adäquaten Ausdruck, und darum überrascht es nicht, dass gerade dieses Haus – das darüber hinaus in komplett originalem Zustand überliefert ist – seit seiner Öffnung als Museum im Jahr 1886 stets das bedeutendste Denkmal für den Dichter geblieben ist. Was die hier vorgestellten Goethehäuser gemeinsam haben, ist, dass in keinem der drei Fälle die dokumentarische Basis von durchschlagender Bedeutung zu sein scheint, weil diese entweder zu unsicher ist – wie im Fall der Casa di Goethe – oder weil die Dokumentation vornehmlich aus dem Werk des Dichters abgeleitet ist – wie im Fall des Frankfurter Goe-thehauses – oder weil das Gebäude mehr ein Denkmal als ein Dokument und dann ein vom Dichter selbst konzipiertes und gestaltetes Denkmal ist, mit dem er seine eigene Identität konstruiert und fixiert: Weimar. Die-se Fakten, die übrigens nicht nur für die Goethehäuser, sondern auch für das Phänomen des Dichterhauses an sich typisch sind, sind weniger ein Hindernis als vielmehr eine Herausforderung für Philologen. Zu Recht können wir dann auch feststellen, dass die meistens langwierige und oft äußerst präzise Weise, mit der diese Häuser erforscht und rekonstruiert wurden, wichtige Grundlagen philologischer Anstrengung und Geduld bilden, wobei die verschiedenen Zustände der Häuser und die daran ge-koppelten Bedeutungen mit Hilfe unterschiedlicher Quellen erforscht und sichtbar gemacht werden können. Das hat dann auch Konsequenzen für die philologische Arbeit, die auf einer Expertise fußt, die nicht mehr aus-schließlich textuell ist, sondern zugleich auch einen Blick für unter-schiedliche Aspekte einer materiellen Kultur hat und die dazu notwendi-gen Kenntnisse zu mobilisieren versteht.

14 Dichtung und Wahrheit (10. Buch); Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin

Sophie von Sachsen. 113 (in 143) Bde. Weimar 1887-1919, hier 1. Abt., Bd. 27, S. 318f.

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Dass diese Häuser mehr als Monumente denn als Dokumente betrach-tet werden müssen, bedeutet nun nicht, dass textuelle Aspekte, die doch den Kern der in diesen Häusern sichtbar gemachten Autorschaft bilden, lediglich eine Rolle im Hintergrund spielen. Aber – und auch dies ist gut erkennbar bei den drei Goethehäusern – sie spielen eine deutlich unter-scheidbare, andere Rolle, die dann auch eine anders geartete Organisation und eine besondere Art und Weise der Präsentation erfordert. Dichterhäu-ser sind keine Archive und Dokumentationszentren. Sie können diese Funktion zwar erfüllen, allerdings vorzugsweise deutlich in einem davon getrennten und entsprechend abgegrenzten Kontext, um so den spezifi-schen Charakter des Dichterhauses zu erhalten. Als Goethes Enkel den Nachlass ihres Großvaters dem Staat vermachten, unterschieden sie aus-drücklich zwischen dem Haus am Frauenplan und seinem Inventar – dem als Kunstwerk und Denkmal ein besonderer Status zukam – und dem Ar-chiv, wodurch 1885-86 neben dem Goethe-Nationalmuseum, das für das Haus Sorge trug, auch die Goethe-Gesellschaft, die für die Archive Ver-antwortung übernahm, entstehen konnte, eine Differenzierung, die bis heute teilweise fortbesteht. In Frankfurt entwickelte sich parallel Ver-gleichbares, als 1897 das Freie Deutsche Hochstift seine Sammlungen in einem besonderen, neben dem Haus am Großen Hirschgraben errichteten Goethe-Museum unterbrachte. Auch die Casa di Goethe richtete einen Extra-Raum ein, in dem eine neu errichtete Bibliothek und ein Dokumen-tationszentrum untergebracht sind. Gerade das letzte Beispiel macht deut-lich, dass nach etwa einem Jahrhundert Erfahrungen mit Dichterhäusern als musealer Einrichtung weiterhin die Einsicht besteht, dass Biographie und Text, Haus und Archiv/Dokumentationszentrum in der Tat unlösbar miteinander verbunden sind, ihre Funktionen aber besser getrennt werden sollten, insbesondere was die museale Präsentation angeht.

Diese Einsicht in die Trennung von Funktionen gibt uns zugleich ei-nen Schlüssel für ein angemessenes Verständnis des Phänomens Dichter-haus an die Hand. Es geht hier nicht in erster Linie um ein Literaturmu-seum oder -archiv, sondern um einen Ort, wo ein bedeutender Dichter ge-ehrt und wo an ihn erinnert wird. Im Mittelpunkt steht dabei nicht das Werk des Dichters, wenngleich das natürlich Motivation für den im Haus zum Ausdruck gebrachten Respekt ist, sondern die Person des Dichters und seine Umwelt. Natürlich kann das Werk dabei eine dienende Rolle spielen, wie es z.B. im Frankfurter Goethehaus der Fall ist, wo sich Goe-thes Autobiographie als ein höchst wertvolles und unentbehrliches Instru-ment für einen Einblick in die Umwelt erweist, und es ist selbstverständ-lich, dass relevante Texte bei deren Präsentation eine Rolle spielen. Doch ist auch in diesem Fall auffällig, dass in Begleitpublikationen – also Text-Medien – die einschlägigen Abschnitte aus Dichtung und Wahrheit frei-

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lich eine herausgehobene Rolle spielen, während im Haus selbst hierauf nur mit großer Zurückhaltung Bezug genommen wird. Diese museologi-sche Entscheidung zeigt einen sensiblen Umgang mit der Bedeutung des Dichterhauses, eine Bedeutung, die sich besonders gut an der Erinne-rungspraxis ablesen lässt, die sich um diesen Ort herum entwickelt hat, und die deshalb auch als entsprechender Gegenstand philologischer For-schung dienen soll.

Schlüsselbegriffe dieser Erinnerungspraxis – wie bereits oben ange-sprochen und auch deutlich ersichtlich im Zitat aus Virginia Wunderlichs Casa santa – sind: Authentizität, genius loci und Nähe, die zu einem per-sönlichen, auch physischen, weil materiellen Kontakt oder zumindest zu einer Vorstellung davon, führt. Im Zimmer des Hinterflügels im dritten Stock des Frankfurter Hauses am Großen Hirschgraben, in dem Goethe Bettina von Arnim zufolge geschlafen und geschrieben hat, begegnete der Besucher um 1850 außer unter Glas ausgestellten Handschriften auch vom Dichter selbst benutzten Gegenständen, ein paar Stühlen und vor al-lem dem Pult und damit dem genauen Ort, wo Werke wie Die Leiden des jungen Werthers und Goetz von Berlichingen entstanden waren. Dort war der Dichter selbst in effigie anwesend, und als lebensgroße Büste schaute er auf das Gästebuch nieder, in dem der Besucher mit seiner Unterschrift einen bleibenden Kontakt zwischen sich und dem verehrten Dichter her-stellen konnte. Doch nicht nur mit dem Dichter. Denn über den Dichter und dank des Arrangements eines genius loci und von Authentizität – wie wenig historisch und philologisch korrekt auch immer – konnte der Besu-cher auf beinah physische Weise in Kontakt mit einer imaginären Welt treten, die in den hier entstandenen Werken aufgerufen wird. Der Ort war damit nicht nur ein Gedenk- und Erinnerungsort für einen verehrten Dichter, sondern auch ein Medium, um auf besonders feierliche Weise in die fiktionale Welt zu treten, die durch den Dichter aufgerufen wird.

Es ist vor allem diese Illusion eines materiellen Kontakts mit der ima-ginären Welt der Literatur, einem quasi bewusstseinserweiternden through the looking glass-Effekt, wodurch sich das Dichterhaus von ver-gleichbaren Einrichtungen unterscheidet und worin sich Eigenheit und Kraft dieses Phänomens verbergen. Auch in (kunst-)historischen Museen geht es um Authentizität, z.B. in einem Stilzimmer, in dem ausdrücklich ein als authentisch erachtetes Bild einer bestimmten Epoche oder Umwelt aufgerufen wird. Aber hier fehlt dann meistens der genius loci, wie hin und wieder schmerzlich erfahrbar wird bei von ihrem ursprünglichen Ort entfernten und in einem neuen musealen Kontext rekonstruierten Interi-eurs, wie im Fall des „studiolo“ aus dem Palazzo Ducale in Gubbio, das wir nun im New Yorker Metropolitan Museum finden. Solche Ensembles funktionieren als Kunstwerke, aber nicht als Gedächtnisagentur und ha-

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ben daher nicht die emotionale Anziehungskraft, die gerade der genius loci haben kann. Umgekehrt finden wir eine Kombination aus genius loci ohne Authentizität überall bei Gedenksteinen und Denkmälern, die be-sondere Orte markieren, ohne dass deren historische Umgebung bewahrt geblieben ist; in vielen deutschen Städten lassen sich derartige Beispiele finden. Hier handelt es sich sicherlich um lieux de mémoire, aber erneut ohne eine große emotionale Anziehungskraft, weil die Authentizität fehl. Es ist dann auch kaum überraschend, dass man sich nach 1945 dafür ent-schieden hat, die durch Bomben zerstörten bzw. beschädigten Goethehäu-ser in Frankfurt und Weimar soweit wie möglich in ihrer ursprünglichen Gestalt wieder aufzubauen.

Gerade dieser letzte Umstand verdeutlicht, dass der Begriff genius lo-ci weniger dehnbar ist, als der der Authentizität. Das Haus in Weimar ist die Wiederherstellung des ursprünglichen Gebäudes, das Haus in Frank-furt die Rekonstruktion einer Rekonstruktion, und die Casa di Goethe ist allenfalls eine annähernde Rekonstruktion der authentischen Wohnung, in der Goethe lebte. Der genius loci rechtfertigt offensichtlich einen flexib-len Umgang mit Authentizität. Aber wenn wir andere Dichterhäuser be-trachten, sehen wir, dass selbst der genius loci ein dehnbarer Begriff ist: Das Haus Dantes in Florenz ist die fiktive Rekonstruktion eines Gebäu-des aus dem frühen 14. Jahrhundert im Jahr 1911, und zwar an einem Ort, von dem nur annähernd feststand, dass die Familie des florentinischen Dichters dort gelebt hatte. Dies ist ebenso der Fall beim Shakespeare-Haus in Stratford-upon-Avon, das sich als solches erst im späten 18. Jahr-hundert zu einer musealen Attraktion entwickelte.15 Diese Beispiele ma-chen deutlich, dass der Bedarf an Erinnerungspraxis und an einem Brenn-punkt dafür in Form eines Hauses zu bestimmten Zeitpunkten derart groß war, dass dies die Errichtung von quasi-authentischen lieux de mémoire an einem quasi-ursprünglichen Ort rechtfertigte und sogar provozierte.

Dieser Bedarf an Erinnerungspraxis, der sich insbesondere im 19. und frühen 20. Jahrhundert abzeichnet und in engem Zusammenhang mit der Entwicklung eines nationalen Denkens steht, hat übrigens nicht nur Aus-wirkungen auf Dichter, sondern auch auf andere bedeutende Persönlich-keiten: Monarchen und Politiker, Theologen und Philosophen, Künstler und Musiker usw. Dichterhäuser sind daher Teil einer gemeinschaftlichen Museumskategorie, die Franz Rudolf Zankl 1972 erstmals systematisch als Personalmuseum bezeichnet hat:

15 Zum Shakespeare-Haus in Stratford-upon-Avon und die sich dort entwickelnde Erinne-

rungspraxis vgl. Michael Rosenthal: Shakespeare’s Birthplace in Stratford: Bardolatry Re-considered. In: Writers’ Houses 2007 (Anm. 1).

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Die Grundlage des Personalmuseums ist die besondere, historisch wirksame Leistung, die von einer einzelnen Person vollbracht worden ist oder zumin-dest mit dieser in engem Zusammenhang steht. Daraus ergibt sich als Aufga-be und Hauptziel, die Persönlichkeit als historischen, zeittypischen und ge-schichtsbestimmenden Faktor darzustellen.16

Doch innerhalb dieser Kategorie bildet das Dichterhaus sicherlich eine besondere und vielleicht sogar die wichtigste Unterabteilung und dies wohl aus zwei miteinander zusammenhängenden Gründen: dem bereits erwähnten through the looking glass-Effekt und der Tatsache, dass gera-de aufgrund dieses speziellen Effekts das Dichterhaus im Laufe der Ge-schichte als Urform eines Personalmuseums eine Erinnerungspraxis in Gang gesetzt hat und dadurch als älteste Äußerung dieser Erinnerungs-praxis den Weg für diese Kategorie als solche bereitet hat.

Bei musealisierten Häusern und Palästen von Staatsmännern, Feldher-ren, (Kirchen-)Fürsten und (Kirchen-)Reformern trägt die Kombination aus genius loci und Authentizität dazu bei, die historische Bedeutung die-ser Personen zu unterstreichen und anschaulich zu machen: Zu denken ist an die verschiedenen Häuser, in denen Luther gedacht wird (Eisleben, Ei-senach, Wittenberg usw.), an die von Napoleon auf Elba bewohnte Villa oder die seiner Familie gewidmeten Museen in Rom und auf der Ile d’Aix usw. Im Falle von bildenden Künstlern kommen zwei wichtige Ele-mente hinzu, die auch bei Dichterhäusern eine Rolle spielen: 1. Das Gebäude wird häufig als selbständiges Kunstwerk – oft als Ge-

samtkunstwerk verstanden – konzipiert und dient damit der Demonst-ration des kreativen Talents des Bauherrn (die Villen von Franz von Lenbach und Franz von Stuck in München).

2. Das Haus steht vollständig im Zeichen dieses Künstlertums und ist abgesehen von dessen Demonstration auch und besonders ein Instru-ment für den Künstler: Atelierhäuser, wie wir sie für Hans Makart in Wien und Arnold Böcklin in Zürich antreffen.17

Bei Dichterhäusern finden wir alle diese Elemente leicht wieder: Das Haus markiert den historischen Hintergrund und die Bedeutung des Dich-ters (die Goethehäuser in Frankfurt und Rom zeigen dies anschaulich), es ist Ausdruck des kreativen Geistes seines Bewohners (neben dem Goe-thehaus in Weimar sind weitere berühmte Beispiele Walter Scotts Ab- 16 Franz Rudolf Zankl: Das Personalmuseum. Untersuchung zu einem Museumstypus. In:

Museumskunde 41, 1972, S. 1-132, hier S. 7. 17 Diese Künstlerhäuser wurden bereits detailliert untersucht in: Künstlerhäuser von der Re-

naissance bis zur Gegenwart. Hrsg. von Eduard Hüttinger. Zürich 1985. Vgl. auch Künst-lerhäuser. Eine Architekturgeschichte des Privaten. Hrsg. von Hans-Peter Schwarz. Frank-furt/Main 1989; Hans-Peter Schwarz: Das Künstlerhaus. Anmerkungen zur Sozialge-schichte des Genies. Braunschweig 1990.

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botsford, Alexandre Dumas’ Chateau de Monte Christo und Gabriele D’Annunzios Vittoriale), und es ist ein Instrument für den Dichter, das wir sowohl im Sinn eines fast in jedem Dichterhaus präsenten Arbeits-zimmers (ausgestattet mit den notwendigen Voraussetzungen für das Schreiben) als auch im Sinn einer mnemotechnischen Konstruktion an-treffen, die dem Autor unterstützend dazu dient, eine imaginäre Welt auf-zurufen, die sich in seinem Werk manifestiert: Dabei kann es sich um Räume handeln, die zu diesem Zweck mit umfangreichen Sammlungen von Büchern und Kunstwerken angefüllt sind, wie im Fall von Goethes Haus in Weimar oder wie im archetypischen Fall der Casa Mario Praz in Rom;18 es kann sich auch um Räume handeln, die absichtlich so leer wie eben möglich sind, um dadurch der Phantasie, der mémoire involontaire, freien Lauf zu lassen, wie wir es im Fall von Prousts Wohnung am Pari-ser Boulevard Haussmann sehen.19

Auffallend ist nun, dass Dichterhäuser schon früh in der Geschichte und in besonders großem Ausmaß eine Anziehungskraft auf Besucher ausgeübt haben und wesentlich früher als Wohnungen anderer prominen-ter Personen, z.B. von Künstlern, als Gedächtnisagenturen musealisiert wurden. Zankl weist in diesem Zusammenhang auf Beispiele der Antike hin, die aus der Überlieferung bekannt sind, z.B. auf das Haus von Pindar in Theben, das von Alexander dem Großen aus Respekt für den Dichter vor der Zerstörung bewahrt worden sein soll. Zankl erläutert diese beson-dere Verehrung mit dem Hinweis auf den hohen und außergewöhnlichen Status, den Dichter bei den Mächtigen aufgrund der Tatsache genossen, dass sie diesen in ihren Werken zu Unsterblichkeit verhelfen konnten.20 Doch diese, übrigens allein auf die Überlieferung gestützten Erklärungen sind wenig zufrieden stellend, denn eine mehr philologische und auf em-pirischer Dokumentation ausgerichtete Forschung kann viel mehr an-schaulich machen.

Das aufgrund von Quellen bekannte älteste und noch bestehende mu-sealisierte Dichterhaus ist das von Francesco Petrarca in Arquà bei Pa-dua, ein vom Dichter selbst um 1370 in erheblichem Maße mitgestaltetes Gebäude, das etwa anderthalb Jahrhunderte, nachdem der Dichter dort 1374 gestorben war, ziemlich plötzlich in den Jahren 1530 und 1540 zu 18 Zur Wohnung von Praz vgl. Paola Colaiacomo: The Rooms of Memory: The Praz Muse-

um in Rome. In: Writers’ Houses 2007 (Anm. 1), sowie Arturo Cattaneo: Il trionfo della memoria. La Casa della Vita di Mario Praz. Milano 2003.

19 Dieser Gedanke steht im Mittelpunkt des Buches von Diana Fuss: The Sense of an Interi-or. Four Writers and the Rooms that Shaped them. New York 2004, in dem sie neben der Wohnung von Marcel Proust auch die Wohnungen von Emily Dickinson, Sigmund Freud und Helen Keller untersucht. Vgl. zur Wohnung von Proust auch Jon Kear: „Une chambre mentale“. Proust’s Solitude. In: Writers’ Houses 2007 (Anm. 1).

20 Zankl 1972 (Anm. 16), S. 39f.

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einem wichtigen Ort literarischer Pilgerschaft aufblühte und als solches zu einer Attraktion innerhalb des Phänomens Grand Tour wurde, das sich gegen Ende des 16. Jahrhunderts herausgebildet hatte. Diese frühneuzeit-liche Erfindung des literarischen Tourismus, wie ich dieses Phänomen an anderer Stelle bezeichnet habe, ist vollständig einer neuen Rezeptions-weise des Werks von Petrarca zuzuschreiben, die zu Beginn des 16. Jahr-hunderts aufkam und bei der zunächst die Biographie des Dichters und dann auch besonders seine vermeintliche Liebesbeziehung zu der in sei-nen italienischen Gedichten besungenen Laura im Mittelpunkt stand.21 Das Haus in Arquà bot, übrigens ebenso wie Petrarcas Haus in der Vauc-luse, Bewunderern dieser Gedichte die Möglichkeit, sich ein materielles Bild von der in den Gedichten aufgerufenen imaginären Welt zu ver-schaffen. Dies resultiert aus der Tatsache, dass das Haus in Arquà mit ei-nem durch Laura inspirierten Freskenzyklus geschmückt wurde, während dem Vernehmen nach in Avignon literarische Spaziergänge zu verschie-denen Orten organisiert wurden, die mit Laura in Beziehung gebracht werden konnten. Es wurde sogar ein Museum mit Gebrauchsgegenstän-den – sogar einem Nachttopf – eingerichtet, die ihr gehört haben sollten.

Der Kult um einen Künstler wie Michelangelo z.B. – um was dies be-trifft im Trend setzenden Italien zu bleiben – entfaltete sich freilich schon zur Zeit seines Todes und seines spektakulären Begräbnisses im Jahr 1575. Er wurde aber erst im späten 19. Jahrhundert Teil des kollektiven Gedächtnisses, als das vom Künstler erworbene, aber nie bewohnte Haus in Florenz, das seine Familie schon zwischen 1612 und 1643 in ein Per-sonalmuseum umgewandelt hatte, in öffentlichen Besitz kam und zum Zentrum der Feierlichkeiten aus Anlass seines 400. Geburtstages wurde.22 Das Interesse für Petrarca ist kein isolierter Einzelfall, denn aus der rei-chen Dokumentation, die die Grand Tour seit dem 17. Jahrhundert über-liefert – sowohl in Reiseführern als auch in Reisetagebüchern –, können wir schließen, dass der Besuch literarischer Orte – neben Häusern auch Gräber und besondere Orte wie die Irrenanstalt in Ferrara, wo Tasso zwi-schen 1579 und 1586 gefangen gehalten wurde – ein auf der Reise abzu-arbeitendes Standardelement des Kulturprogramms war, viel wichtiger als Orte, die mit anderen Personen in Zusammenhang gebracht werden konnten. 21 Vgl. meine Beiträge: The Early Modern Invention of Literary Tourism: Petrarch’s Houses

in France and Italy. In: Writers’ Houses 2007 (Anm. 1), und: De kat van Petrarca en de oorsprong van het literair tourisme. In: Incontri. Rivista europea di studi italiani 20, 2005, S. 85-98.

22 Die großen Feierlichkeiten anlässlich des Begräbnisses von Michelangelo werden be-schrieben in: The Divine Michelangelo. Hrsg. von Rudolf und Margot Wittkower. London 1964. Zur Geschichte der Casa Buonarroti vgl. Pina Ragionieri: Casa Buonarroti. 3. Aufl. Milano 2001, S. 7-15.

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Die moderne literarische Pilgerschaft, wie sie sich im Italien der Re-naissance entwickelte, ist zwar auf die Person des Dichters und also auf die mit seiner Biographie verbundenen Orte ausgerichtet, begreift diese jedoch nicht nur als in sich selbst geschlossene Denkmäler, sondern auch als Mittel, um einen Zugang zu der durch den Autor in seinem Werk auf-gerufenen Wirklichkeit zu bekommen. Dies wird unterstrichen durch die mehr performativen Aktivitäten, zu denen die Pilgerschaft von Anfang an Anlass geben kann, wie es die literarischen Spaziergänge durch Avignon und Umgebung entlang der mit Laura assoziierten Orte deutlich machen. Später sollten solche Aktivitäten weiter ausgebaut und auch kommerziell ausgebeutet werden. Zu denken ist an die von massivem und intensivem merchandising begleitete Kommerzialisierung, die sich um 1830 in der Umgebung von Lecco am Comer See entwickelte, als man auf der Suche nach Orten war, die Alessandro Manzoni in seinem historischen Roman I Promessi sposi sehr allgemein beschrieben hatte, eine Praxis, die übri-gens noch immer besteht und der gerade wieder neues Leben durch Füh-rer wie Manzoni-Spaziergänge in und um Lecco eingehaucht wurde.23 Doch derzeit ist Italien schon lange kein Wegbereiter mehr, denn die Manzoni-Manie ist kaum mehr als die Variante einer Praxis, die sich be-reits früher in Schottland mit dem Erscheinen der Romane Walter Scotts herausgebildet hatte.24

Aus dieser sich entwickelnden Praxis literarischer Pilgerschaft können wir erneut Schlussfolgerungen für die Interpretation ziehen, die für das Gesamtphänomen und damit auch für die Funktion von Dichterhäusern relevant sind. Im Mittelpunkt des Pilgerrituals steht augenscheinlich nicht nur der Ort – der genius loci – und die Authentizität, wie sie in als origi-nal erfahrenen Gegenständen zum Ausdruck kommt, sondern auch eine Form von Performativität, von Handeln und Hineinversetzen. Es ging nicht nur um das Abschreiten eines bestimmen Parcours, wie religiöse Pilger das taten, sondern auch um das Setzen einer Unterschrift, wie dies im frühen 16. Jahrhundert im Petrarcahaus in Arquà geschah, wo deut-sche Studenten 1544 ihre noch immer sichtbaren Namen in den Kamin eines damals als Schlafzimmer des Dichters bekannten Raums ritzten.25 Dies deutet auf einen Prozess von Aneignung und Genuss (Unterschrift) einerseits und andererseits auf Erfahrung und Erleben (Parcours) hin, der leicht in Zusammenhang mit aktuellen Vorstellungen über die zeitgenös-

23 Gian Luigi Daccò: Itinerari manzoniani a Lecco. Milano 2003. 24 Zur Erinnerungspraxis rund um Scott vgl. Ann Rigney: Abbotsford: Dislocation and Cul-

tural Remembrance. In: Writers’ Houses 2007 (Anm. 1). 25 La casa di Francesco Petrarca ad Arquà. Hrsg. von Mariella Magliani. Milano 2003, S. 63.

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sische Kultur zu bringen ist, die man experience society nennen kann.26 Es überrascht dann auch nicht mehr, dass gerade diese Aspekte einer mo-dernen Kulturindustrie stark in den Vordergrund drängen: Sie erklären den großen Aufschwung, den literarische Spaziergänge durch Städte und Landschaften genommen haben und illustrieren auch in zunehmendem Maße die ökonomische Bedeutung von Literaturreisen und Literatur-parks – in Italien sind seit 1990 mehr als 40 solcher Parks eingerichtet worden, häufig mit der Absicht, als wirtschaftlicher Motor für eine unter-entwickelte Gegend zu fungieren.27

Es ist auffallend, welch große Anziehung in den letzten Jahrzehnten Dichterhäuser und in deren Verlängerung literarische Landschaften auf die kommerzielle Tourismusindustrie und auf Verleger von Führern und coffeetable-Büchern ausübten.28 Vergleichbares geschieht nicht in dem Maße bei Häusern von Politikern, Militärs oder sogar Künstlern. Bei der ersten Inventarisierung von Personalmuseen durch Zankl 1972 wurden 145 Dichterhäuser in ganz Europa gezählt; augenblicklich gibt es allein in Frankreich mehr als 100, in Italien mehr als 60, von denen fast die Hälfte erst nach 1990 eingerichtet wurde, und auch in Deutschland, England und Spanien sind Dutzende zu finden. Seitdem hat darüber hinaus ein zahlen-mäßig ständig zunehmender Strom von Büchern für ein breites Publikum eingesetzt, und die Motive von Besuchern von Dichterhäusern werden außerdem empirisch erforscht, um auf diese Weise einen Eindruck zu be-kommen, um was es bei dem boomenden Kulturtourismus geht.29

26 Vgl. in diesem Zusammenhang z.B. Barbara Kirshenblatt Gimblett: Destination Culture:

Tourism, Museums, and Heritage. Berkeley 1998; Touring Cultures. Hrsg. von Chris Ro-jek und John Urry. London 1997; John Urry: The Tourist Gaze: Leisure and Travel in Contemporary Societies. London 1990; Ders.: Consuming Places. London 1995.

27 Vgl. auch die dazugehörigen Publikationen: Stanislao Nievo: I parchi letterari (dal XII al XVI secolo). Roma 1990; Ders.: I parchi letterari (dal XVII al XVIII secolo). Roma 1991; Ders.: Parchi letterari dell’Ottocento. Venezia 1998; Ders.: I parchi letterari del Novecen-to. Roma 2000.

28 Für eine entsprechende Übersicht vgl. meinen Beitrag Writers’ Houses 2007 (Anm. 2). Folgende Titel beziehen sich auf die Situation in Deutschland: Wolfgang Barthel: Litera-turmuseum. Facetten, Visionen. Frankfurt/Oder 1996; Dichter-Häuser in Thüringen. Hrsg. von Detlef Ignasiak. Jena 1996; Literaturarchive und Literaturmuseen der Zukunft. Be-standsaufnahme und Perspektiven. Hrsg. von Angelika Busch und Hans-Peter Beermeis-ter. Rehburg-Loccum 1999; Dichter-Häuser in Sachsen-Anhalt. Kulturgeschichtliche Port-räts. Hrsg. von Jens Dwars. Bucha 1999; Hans Günter Semsek: Englische Dichter und ihre Häuser. Frankfurt/Main 2000; Stefanie Wehnert: Literaturmuseen im Zeitalter der neuen Medien. Leseumfeld – Aufgaben – Didaktische Konzepte. Kiel 2000; Peter Braun: Dich-terhäuser. München 2002; Dichter und ihre Häuser. Die Zukunft der Vergangenheit. Hrsg. von Hans Wißkirchen. Lübeck 2002; Norbert Weiß, Jens Wonneberger: Dresdner Dichter-häuser. Berlin 2002. Peter Braun: Dichterleben – Dichterhäuser. München 2005; Ralf Nestmeyer: Französische Dichter und ihre Häuser. Frankfurt/Main 2005.

29 Zur Anzahl von Dichterhäusern vgl. meinen Beitrag Writers’ Houses 2007 (Anm. 2); Er-gebnisse statistischer Erhebungen zu Besuchern von Dichterhäusern sind zu finden bei Ju-

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Dieser außerordentliche Erfolg kann mit den spezifischen Eigenschaf-ten von Dichterhäusern, wie sie in diesem Beitrag erläutert wurden, er-klärt werden. Es geht hier schließlich um einen Ort, an dem die von Gas-ton Bachelard beschriebene Verflechtung von Raum und Phantasie opti-mal zu ihrem Recht kommt:

L’espace saisi par l’imagination ne peut rester l’espace indifférent livré à la mesure et à la réflexion du géomètre. Il est vécu. Et il est vécu, non pas dans sa positivité, mais avec toutes les partialités de l’imagination. En particulier, presque toujours il attire.30

Darüber hinaus bieten Häuser wie die von Goethe ebenso wie historische Orte, an denen anderer Personen gedacht wird, aufgrund der Kombinati-on von genius loci und Authentizität den Besuchern die Möglichkeit, in einen beinah physischen Kontakt mit der Vergangenheit zu treten und da-mit, wie Johan Huizinga es bezeichnet hat, die Erfahrung einer histori-schen Empfindung zu machen. Aber man beschränkt sich nicht auf diesen virtuellen Kontakt mit dem Dichter, auf dieses ‚Gespräch mit den Toten‘, womit der Besucher sein neugieriges Interesse an den Hintergründen des kreativen Prozesses befriedigen kann.31 Der Bereich von Dichterhäusern reicht weiter als die Biographie des dort gedachten Dichters und umfasst zugleich die Imaginationswelt, die vom Dichter aufgerufen, aber danach vom Leser/Besucher angeeignet wird. Weil es sich bei vielen der Besu-

dith Adler: Origins of Sightseeing. In: Annals of Tourism Research. A Social Sciences Journal 16, 1989, S. 7-29; Aaron Santesso: The Birth of the Birthplace: Bread Street and Literary Tourism before Stratford. In: ELH. A Journal of English Literary History 71, 2004, 2, S. 377-403; David Herbert: Literary Places, Tourism and the Heritage Experience. In: Annals of Tourism Research. A Social Sciences Journal 28, 2001, 2, S. 312-333.

30 Gaston Bachelard: La poétique de l’espace. Paris 1957, S. 17. 31 Den Begriff „Gespräch mit den Toten“ habe ich entlehnt von Jürgen Pieters: Speaking

with the Dead: Explorations in Literature and History. Edinburgh 2005. In diesem Zusam-menhang ist es interessant, dass gerade Bücher, die sich Dichterhäusern widmen, kaum zu Interaktion mit der Vergangenheit fähig sind, und sich deshalb auf die materielle Basis des kreativen Prozesses konzentrieren. Dies wird besonders deutlich am Klappentext des Buchs von Braun 2002 (Anm. 28): „Goethe wohnte erst bescheiden in seinem Gartenhaus an der Ilm, dann großzügig am Weimarer Frauenplan, Thomas Mann galt als ‚hartnäckiger Villenbesitzer‘, Herman Hesse liebte seine Gärten im schweizerischen Montagnola. Heute sind diese Dichterhäuser, in denen die Vergangenheit noch spürbar ist, Anziehungspunkt für Tausende von Besuchern. In diesem liebevoll bebilderten Band spürt Peter Braun den Lebensgeschichten bedeutender Dichter an den Orten nach, die sie inspirierten und die sie prägten. Kurz, pointiert und spannend erzählt er etwa von Jean Paul, der in Bayreuth sein langjähriges Domizil hatte und seinen Verehrerinnen Locken seines Pudels schickte, um sein eigenes Haupthaar zu schonen, oder von dem Boxfan Bertolt Brecht, der in Berlin in-mitten von Biedermeiermöbeln lebte. Auch geht er so geheimnisvollen Fragen nach wie: Lagen in Schillers Schreibtisch zur Beflügelung der Phantasie wirklich faulende Äpfel? Trug Justinus Kerner eine Hornbrille zum Schutz gegen Gewitter? Dichterhäusern von Hu-sum bis Salzburg wird so Leben eingehaucht, Biographie und Genius Loci verbinden sich aufs Trefflichste.“

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cher von musealisierten Dichterhäusern um motivierte, gut ausgebildete Touristen mit großen Vorkenntnissen zu handeln scheint, übt die Ver-flechtung von Wirklichkeit und Imagination eine besondere Anziehungs-kraft aus.32

32 Herbert 2001 (Anm. 28), S. 327, stellt in seiner Untersuchung über Besucher von Dichter-

häusern fest: „there is a strong supposition that real and imagined worlds fuse in the minds of the respondents“.