Naumović, Pavković: Zur historischen Anthropologie: Тraditionelle rechtliche sowie...

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0STERREICHISCHES OST- UND SODOSTEUROPA-INSTITUT 0STERREICHISCHE OSTHEFTE LANDERSONDERBAND SERBIEN UND MONTENEGRO JAHRGANG 47 / WIEN 2005 LIT

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0STERREICHISCHES OST- UND SODOSTEUROPA-INSTITUT

0STERREICHISCHE

OSTHEFTE

LANDERSONDERBAND

SERBIEN UND MONTENEGRO

JAHRGANG 47 / WIEN 2005

LIT

Ist gleichzeitig:

Osthefte: Sonderband 18 (=Reihe zu "Osterreichische Osthefte"lhrsg. vom Osterreichischen Ost- und Stidosteuropa-Institut. - Mtinster: LIТ

Bis 13 (1995) im Verlag Bohlau, Wien, KO!n, Weimar Reihe Osthefte zu: Osterreichische Osthefte

Bis 17 (2003) im Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main

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lnhaltsverzeichnis

Vorwort .......................................................... .

RAUM UND BEVOLКERUNG

Grundztige der raumlichen Struktur SerЬiens und Montenegros ______ _ Thede Kahl ........... . 5

Demografische Entwicklung und Migration Goran Penev . . . . . . . . . . . 31 in SerЬien und Montenegro, ______ _

The Ethnic and Religious Structure of the Population of SerЬia and Montenegro _ SaJa Kicosev . . . . . . . . . . . 55

Spatial Development Concepts for SerЬia and Borislav Stojkov . . . . . . . . 73 Montenegro ___________ _

GESCHICHTE UND GESCHICHTSBILDER

Zur geschichtlichen Anthropologie: Traditionelle rechtliche sowie gesellschaftliche Institutionen und Normen auf dem GeЬiet des heutigen SerЬien und Montenegro __________ _

SerЬien und Montenegro: Historische Geografie _______ _

Kosovo: Reality of а Myth and Myth

of Many Realities ----------

SerЬia under the Ottoman Rule ____ _

Slobodan Naumovic Nikola Pavkovic ....... .

Sima Cirkovic ......... .

Milica Bakic-Hayden . ...

Tatjana Katic

Nations- und StaatsЬildung bei den Serben _ Ana Stolic ............ .

Montenegro vom 16. Jahrhundert Ьis 1918 _ Dorde Borozan ........ .

Gesellschaftsgeschichte SerЬiens 1804-1914 Но/т Sundhaussen .....

91

123

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193

ii Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis 111

SerЬien und die stidslawische Frage Ьis zur Zur epischen Tradition im

Entstehung des Konigreiches der Serben, serЬisch-montenegrinischen kulturellen Кroaten und Slowenen (SHS) Ljublnka Trgovcevic .... 215 Selbstverstandnis Gabriella Sclшbert ..... 501

SerЬien und Jugoslawien (1918 -1941) __ Ljubodrag Dimic ....... 231 Post Yugoslav Cinema: New Balkan Cinema Nevena Dakovic . ..... . . 517

SerЬien und Montenegro Michael Portmшm The art scene in Serbia yesterday and today _ lrina Subotic о ••••• о ••• 535 im Zweiten Weltkrieg (1941-1944/45) __ Arnold Suppan ......... 265

GESELLSCHAFТ, POLIТIK UND INTERNAТIONALE BEZIEНUNGEN SerЬien im kommunistischen Jugoslawien _ Predrag J. Markovic .... 297

Die gesellschaftliche Entwicklung Serbiens _ Slobodan Antonic ...... 545 Montenegro 1914 - 1991 Serbo Rastoder . ..... .. 315

Der ModemisierungsprozeB in Montenegro: The role of SerЬia in the process Eine verspatete Modeme Dragan Vukcevic ... .. . . 563 of the disintegration of Yugoslavia Aleksandar Pavkovic .... 333

Die Bildungspolitik in SerЬien und Zwischen nationaler Sinnstiftung, Montenegro 1945 - 2004 Peter Bachmaier .... . .. 575 Jugoslawismus und "Erinnerungschaos": Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur The Media in SerЬia and Montenegro ___ Milena Dragicevic-Sesic 597 in SerЬien im 19. und 20. Jahrhundert __ Wolfgang Hopken ...... 345

Die Parteienlandschaft und die politische SPRACHE UND LIТERATUR Entwicklung SerЬiens und Montenegros

seit 1991 Vladimir Goati ....... . . 615 Die Entwicklung der serЬischen Literatursprache Tanja Petrovic ......... 393 The European Union and SerЬia

and Montenegro: Epochen der serЬischen Literatur Between StaЬilisation and Association __ Dusko Lopandic ........ 637 vor der Reform Vuk Karadzics Reinhard Lauer ........ 413

American Policy toward SerЬische Literatur des 19. und Serbia/Montenegro/Yugoslavia: 20. Jahrhunderts Dusan Ivanic ... ... .... 425 Congressional Debates & Po\icy Formation,

1989 - 2003 Sabrina Р. Ramet .. . .. . . 647 Zur Rezeption serЬischer Literatur im deutschen Sprachraum Zoran Konstantinovic ... 447 WIRTSCHAFT UND RECHT

AUS DEM KULTURELLEN SPEKTRUM SerЬia and Montenegro: Econornic Situation and Suggestions

Religion, Кirche und Staat nach dem Zerfall for Reform Vladimir Gligorov .... . . 673 der Sozialistischen FOderativen RepuЬlik Jugoslawien Radmila Radic .... . .... 471 Der Tourismus in Montenegro Peter Jordan ......... . . 701

Constitutional Development and the Rule of

iv Inhaltsverzeichnis

Law in Serbla and Montenegro after the Dismantling of Yugoslavia __ _

Minderheitenschutz in Serblen und

Montenegro ------------

STAATEN, PROVINZEN UND REGIO­NEN

Dragoljub Popovic .....

Mirjam Polzer-Srienz ...

Montenegro heute Mijat Sukovic ......... .

Zum Kosovo nichts Neues? Entwick.lung von Staatlichkeit entlang eines Konfliktes Н · tt R · z еппе е teg er ...... .

(De)Zentralisierung in Serblen und die Vojvodina-Frage ________ _ Jovan Komsic ......... .

Der Sandschak von Novi Pazar ____ _ Valeria Heuberger ..... .

REGISTER DER PERSONENNAМEN UND GEOGRAFISCHEN NAMEN

•••••••••••••••••••••••••• о •••••

VERZEICНNIS DER MIТARВEITERINNEN UND MIТARВEITER ............................................ .

CONTENTS 1 SOMMAIRE .. ..................................... .

721

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Vorwort

Waren die Ьisherigen Uindersonderblinde der "bsteпeichischen Osthefte" jeweils einem Land gewidmet - erschienen sind die Bande iiber Kroatien (1995), Make­donien (1998), die Ukraine (2001) und Albanien (2003) -, so hat der vorliegende Band zwei Lander zum Thema, zwei Lander, die ethnisch, sprachlich, historisch und kulturell viele Gemeinsarnkeiten aufweisen. Die beiden Lander waren in der Zeit der Konzeption und des Entstehens des Sammelbandes noch in der 1992 ge­griindeten BundesrepuЬiik Jugoslawien [Savezna RepuЬiika Jugoslavija] verbun­den, die dann 2002 durch die nur mehr lose und zunachst auf drei Jahre befriste­te Staatengemeinschaft SerЬien und Montenegro [SrЬija i Crna Gora], bestehend aus den RepuЬiiken SerЬien und Montenegro [RepuЬiika SrЬija, RepuЬiika Cr­na Gora], abge!Ost wurde. Zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses - Ende Juni 2005 - bestand diese Union noch, zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Vorwor­tes - anlaВlich der Umbruchkoпektur, ziemlich genau ein Jahr spater - traten zwar Serblen und Montenegro noch mit einer gemeinsamen Mannschaft bei der FuBballweltmeisterschaft an, aber Montenegro war nach dem am 21. Mai 2006 durchgefiihrten Referendum iiber den staatsrechtlichen Status und der daraufhin erfolgten Unabhangigkeitserklarung vom 3. Juni 2006 bereits ein auch intematio­nal anerkannter unabhangiger Staat.

Der vorliegende Osthefte-Sonderband 18 (gleichzeitig Jg. 47/2005 der Zeit­schrift) ist ahnlich aufgebaut wie die Ьisherigen Landersonderbande, aber eben unter Beriicksichtigung zweier gleichberechtigter Subjekte, die zum Teil getrennt, zum Teil aber auch gemeinsam vorgestellt werden. Geboten werden soll ein infor­mativer, wissenschaftlich ausgewogener multidisziplinarer UЪerЬJick iiber diese beiden Lander Siidosteuropas in einer westlichen Sprache (in Deutsch mit eini­gen englischsprachigen Beitragen). der Ьisher fehlte, wobei ein spezifischer Hand­buchcharakter angestrebt wurde: Die Herausgeber legten, trotz des ansehnlichen Umfanges des Bandes, nicht so sehr auf eine systematische Abdeckung aller Sach­bereiche mit allen daraus resultierenden Verkiirzungen Wert, als vielmehr auf eine integrative Zusammenschau auf der Grundlage Janderspezifischer Akzentsetzung. Im Sinne dieses Ansatzes war man bemiiht, durch abgerundete, faktographisch nicht allzu iiberladene Beitrage, einerseits die geographischen, demographischen, historischen, konfessionellen und kulturellen Grundlagen als auch die aktuelle wirtschaftliche, rechtliche sowie innen- und auBenpolitische Situation darzulegen, andererseits aber auch den spezifischen, ftir Serblen und Montenegro signifikan­ten Segmenten, einen besonderen Platz einzuraumen. So folgt auf das einleitende

GESCHICHTE UND GESCHICHTSBILDER

Zur historischen Anthropologie: Тraditionelle rechtliche sowie gesellschaftliche

Institutionen und Normen auf dem Geblet des heutigen Serblen und Montenegro

S LOBODAN NAUMOVIC, NIKO L A F. P AVKOVIC (Belgrad)

1. Einleitende Bemerkungen

Die Autoren sind der Ansicht, daB in den Sozialwissenschaften die gesellschaft­liche Realitiit nur unter Beriicksichtigung des gesamten gese!Jschaftlichen und wissenschaftlichen Entstehungskontexts richtig verstanden und bewertet werden kann 1

• Dieser Sachverhalt wird im Folgenden in zwei Erziihlstriingen dargelegt. Der erste Strang resiimiert die grundJegenden Erkliirungsansiitze fiir die Entste­hung der komplexen gesellschaftlichen sowie rechtlichen Einrichtungen und Nor­men, die als Hauptmerkmale der traditionellen Gesellschaften im heutigen Ser­bien und Montenegro galten oder noch immer gelten 2 • Der zweite Strang pro-

An dieser Stelle ist es nicht moglich, ein erschopfendes Bild von der historischen Entwick­lung der Perzeption traditioneller rechtlicher und gesellschaftlicher Jnstitutionen und Normen im heutigen Serblen und Montenegro zu zeichnen. Aus diesem Grund konzentriert sich der Text lediglich auf Erkenntnisse und Deutungen aus dem Ende des 19. und der ersten Halfte des 20. Jahrhunderts. Es handelt sich daЬei um ein wissenschaftlich "Goldenes Zeitalter", in dem einige der groBten Durchbri.iche auf diesem Geblet erzielt wurden. Wenngleich seitdem zahlreiche Aspekte in Frage gestellt wurden, konnte das grundlegende Ideengeri.ist doch dem Lauf der Zeit und den Kritiken Stand halten. Ein weiterer Grund, weshalb eben diese Periode im Zentrum der Betrachtung steht: In diesen Jahrzehnten fungierten die Sozialwissenschaften am intensivsten zugleich als "nationale Wissenschaften". In diesem Sinne Ьietet die von den .,nationalen Wissenschaften" angeЬotene Darstellung und Deutung der "nationalen Kultur und Geschichte" AnlaB zum Nachdenken tiber die Ideale der Wissenschaftlichkeit, tiber das gesell­schaftspolitische Engagement der Sozialwissenschaften sowie tiber die Selbstdarstellung und das Selbstverstandnis, zu der die Angehorigen der gesellschaftlichen Elite an der Peripherie Europas neigten. Mit e inem modemeren, deshalb аЬеr nicht zwingend einfacheren Vokabular ausgedri.ickt: Vor dem Leser liegt, neЬen einer UЬersicht tiЬer einige Bereiche des traditionel­len gesellschaftlichen LeЬens auch ein kontextueller Beitrag zur Vorgeschichte der Reflexivitat de1· Sozialwissenschaften am Balkan. Die Autoren mochten darauf hinweisen, daB es nicht ihre Absicht ist, tiber die nationale Identitat der heutigen Montenegriner zu polemisieren. Folgende Themen, die ftir das VersШndnis der traditionellen gesellschaftlichen und rechtlichen Institutionen und Normen wichtig sind, werden dargestellt: das Doif a/s gesellscJzaftlich-okonomische GemeinscJzaft; die strafreclztlichen Kollektivverannvortungen und

92 Slobodan Naumovic, Nikola F. Pavkovic

Ьlematisiert anhand des breiteren wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Kon­texts einige auf diese Weise dargestellte Deutungen. Damit wird dem Leser die Mбglichkeit geboten, sich sowohl mit den wichtigsten Auslegungen innerhalb der serblschen Wissenschaft vertraut zu machen, wie auch mit den Grtinden, weshalb sie genau so und nicht anders ausfielen.

Ztlm VersHindnis und Erkenntnisstand der traditionellen rechtlichen sowie ge­sellschaftlichen Institutionen und Normen haben zu unterschiedlichen Zeiten und in divergierendem AusmaB verschiedene Sozial- und Humanwissenschaften ihren Beitrag geleistet: so z. В. die Historiografie, die Rechtswissenschaften und die Ge­schichte der Rechtswissenschaften, die Sozialgeografie und Anthropogeografie, die Ethnologie und Anthropologie, die Soziologie, Philologie und die Folklori­stik. Jede dieser Wissenschaften Ьildete graduell eine eigene Sicht der untersuch­ten Begriffe und Werte heraus. Dennoch: Allen diesen Disziplinen ist gemeinsam, daB sie - in einem zunehmend offenen und kritischen Dialog - die Vorausset­zungen fur zwar nach wie vor fragmentarische, aber dennoch sehr umfangrei­che und nuancierte Darstellungen der traditionellen Formen des gesellschaftlichen und rechtlichen Lebens schufen. In diesem Sinne befindet sich eine ganzheitliche historische Anthropologie der traditionellen gesellschaftlichen sowie rechtlichen Institutionen und Normen noch in der AufЬauphase.

2. Uber das Paradoxon der "nationalen Wissenschaften"

Auch eine nur unvollstandige Ubersicht der Resultate aus den serЬischen Sozial- und Humanwissenschaften ermбglicht die Beschreibung einiger charak­teristischer Merkmale des lang andauernden und schwierigen Entwicklungs-, Annaherungs- und Nuancierungsprozesses in den verschiedenen Disziplinen der traditionellen sozialen sowie rechtlichen Institutionen und Normen.

In der Entstehungsphase der Nationalstaaten trug die besondere Position der Sozial- und Geisteswissenschaftler zur Ausformung einer spezifischen Arbeits­weise und eines ebensolchen Zugangs zum jeweiligen Forschungsobjekt bei, die тап als Syndrom des doppelt Beteiligten 3 umschreiben kбnnte. Dieser terminus

-verpftichtungen im Dorf; Grund und Boden de.1· Dorfes und dessen Abgrenzungen; dorfticher Kollektivbesitz; kollektive und individuelle Organe der loka/en Macht, d. h. der "skup.Stina" oder des "zbor", das Volksgericht und dег ii.ltestenrat; die clOrfliche Exogamie; das Dorf a/s rituelle Religionsgemeinschaft; standardisierte und nicht-standardisierte Heiraten; traditionelle Fami­lientypen und deren Rollen in der Gesellschaft; die zadruga (Grofifamilie) und deren Varianten; Besitzverhiiltnisse und Arbeitsaufteilung in der zadruga; Teilung der zadruga; Stammesoгgani­sation; Stammesmentalitiit; Gewohnheitsrecht und sein Platz in der Rechtsordnung; das Objekt des Gewohnheitsгechts; die Niedeпchrift und Kodifizierung des Gewohnheitsrechts; schliefilich die Prohlematik des гechtlichen Dualismus. Zum Syndrom des "doppelt Beteiligten" und dessen Rolle fUr die Ethnologie als nationaler Wissenschaft siehe: Slobodan Naumovic, Romanticists or DouЬie lnsiders? An Essay on the Origins of Ideologised Discourses in Balkan Ethnology. In: Ethnologia Balkanica (J 998) 2,

Zur historischen Anthropologie 93

technicus verweist auf die Auswirkungen dreier rniteinander verkntipfter Faktoren in Bezug auf die Stellung der Wissenschaftler in Gesellschaften mit verspateter Modernisierung:

1. Weil der Sozialwissenschaftler in der zu untersuchenden Gruppe geboren und/oder sozialisiert ist und sich bewuBt und willentlich rnit der Sprache, den Traditionen, den Erinnerungen, den Werten, d. h. mit der gesamten Kultur die­ser Gruppe identifiziert, ist er dazu pradisponiert, eine tiefe emotionale Zunei­gung und ein Gefuhl der persбnlichen Verantwortung gegentiber seinem For­schungsobjekt zu entwickeln.

2. Weil er besondere Kenntnisse und Fertigkeiten erwirbt, die ihn von der Mehr­heit seiner Landsleute abheben, steht der Sozialwissenschaftler unter enormem Druck seiner Umgebung, in die Rolle eines politisch engagierten Intellektuel­len, sozusagen eines Anwalts, zu schltipfen. Es ist seine Aufgabe, in der heirni­schen und intemationalen Offentlichkeit die eigene Gemeinschaft zu vertreten und nach Bedarf deren lnteressen darzulegen und zu verteidigen, wobei er sich dabei auf seine Kenntnisse, die Кraft seiner Argumente und seine Autoritat beruft.

3. Weil er imstande ist, die Stellung der Gruppe die er untersucht und vertritt, rea­listisch zu beurteilen, indem er sie oft als weniger entwickelt und/oder auf ver­schiedenste Weise seitens der entwickelten europaischen Staaten oder - sogar zu Friedenszeiten- durch rivalisierende Nachbarstaaten bedroht sieht, erachtet der Sozialwissenschaftler sein Engagement zum Nutzen der eigenen Gruppe als notwendig und legitim, als eine unausweichliche und berechtigte Koпek­tur der historischen Entwicklungen, die zu einer ungerechten politischen, wirt­schaftlichen, rnilitarischen und kulturellen Lage seiner Gruppe geftihrt haben.

Auf dem ftir uns relevanten GeЬiet beeintrachtigte das Syndrom des "doppelt Beteiligten" in bedeutendem МаВе zum Einen das ldeal der Wissenschaftlichkeit und zum Andem die Betrachtungsweise des Wissenschaftlers. Das Syndrom des "doppelt Beteiligten" hat zweifellos die Sozial- und Geisteswissenschaften ge­formt und zu deren Umwandlung in nationale Wissenschaften beigetragen. Die Trends hin zur Nationalisierung dieser Wissenschaften wurden zusatzlich durch das Uberschneiden der Periode der nationalen Befreiung und der Errichtung eines modernen Staates mit der Phase der AusЬildung der Geistes- und Sozialwissen­schaften verstarkt. Daher wurde von den "nationalen Wissenschaftlem" erwartet, staatsЬildende und zum nationalen AufЬau beitragende Rollen einzunehmen. Dies sollte Wissenschaftlem in Gesellschaften rnit kontinuierlicher Staatstradition vбl-

101- 120; sowie: ders., Identity Creator in ldentity Crisis. Reflections on the Politics of SerЬian Ethnology. In: The Politics of Anthropology at Home П. Anthropologica1 Joumal on European Cultures 8 ( 1999) 2, 39- 128. Zum Verstiindnis der Ethnologie, wenn sie sich seiЬer nicht mehr als eine nationale Wissenschaft betrachtet, siehe: Ders., The Ethnology of Transfomщtion as Transformed Ethnology: The SerЬian Case. In: Etlшologia Balkanica (2002) б, 7-37.

94 Slobodan Naumovic, Nikola F. Pavkov1c

lig, oder zumindest teilweise erspart Ьleiben 4 • In diesem Sinne wurden an die Sozialwissenschaften folgende Forderungen gestellt:

1. Sie hatten die Beweisfiihrung fiir die tatsachliche Existenz einer Titularnati­on des vor kurzem befreiten oder erst in der Entstehung begriffenen Staates zu erbringen (meistens durch Projektion ihres gegenwartigen nationalen Ideals in die Vergangenheit mit dem gleichzeitigen planmiijJigen AujЬau der Nation, d. h. die staatlich propagierte kulturelle und linguistische Vereinheitlichung der heterogenen Dorf- bzw. Regionalpopulationen auf dem gesamten Staatsge­Ьiet).

2. Sie hatten die historische RechtmaBigkeit der Nation, die Anspruch auf einen unabblingigen Staat erhebt, durch die Konstruktion einer historischen Konti­nuitat mit den mittelalterlichen Konigreichen zu beweisen und/oder die kul­turelle Legitimitat durch Betonung der kulturellen Errungenschaften der mit­telalterlichen Staaten festzuschreiben. Hierbei wurde im Rahrnen der Trans­formation der traditionellen Bauernkultur hin zu einem nationalen kulturellen Standard auch auf dessen Einheitlichkeit in Nachbarkulturen insistiert.

3. Sie hatten die Siedlungskontinuitiit einer ethnischen Gruppe, d. h. der entspre­chenden Nation, in den vom modernen Staat beanspruchten Territorien zu be­legen (durch den Nachweis des autochthonen Ursprungs der Gruppe oder der Ursprйnglichkeit ihrer Ansiedlung auf dem Balkan,) sowie die Verbreitung der Gruppe durch die Erstellung zahlreicher ethnographischer Karten aufzuzeigen.

4. Sie hatten die spezifischen "Liturgien" des modernen sakularisierten Kults um die Nation und der nationalen Kultur zu erschaffen, um eine kollektive Feier

4 Jn dieser Arbeit wird nicht die Thcse vertreten, daB die Sozial- und Geisteswissenschaften iп der Funktion als nationale Wissenschaften nur fiir die Randgeblete Europas charakteristisch sind. Es wird lediglich Ьehauptet, daB der gesellschaftliche Druck auf und die Erwartungen gegeniiЬer den Wissenschaftlem in den Uindem, in denen die lnstitutionalisierung der Sozial­wissenschaften parallel zur Errichtung der Nationalstaaten verlief, stiirker gewesen sein konnte, und meistens auch viel starker gewesen ist, als in den Staaten, die vor der lnstitutionalisierung der Wissenschaften entstanden sind. Vielleicht kann man sagen, dаВ ihre Besonderheit vielmehr in der Quantitat der gleichzeitig zu erfШienden AufgaЬen als in der Art dieser AufgaЬen lag. Als Einfiihrung in den Vergleich der sozial-politischen Rollen der Sozialwissenschaften in verschic­denen Gebleten kann die ausfiihrliche Studie des Belgradcr Soziologen Aljosa Mimica iiber die Ideen und wissenschaftlichen sowie auВerwissenschaftlichen Aktivitiiten dienen, welche die Durkheimsche Soziologie in eine ,,Radikalsoziologie", d. h. in die "offizielle Universitiitsdok­trin" und die "offizielle Philosophie der dritten franzosischen RepuЬlik" umwandelten. Siehe Aljosa Mimica, Emil Dirkem i radikalska sociologija [Emilc Durkheim und die Radikalsozio­logie] (Belgrad 2004). Нinzuweisen ist auch auf die Кritik Jiirgen Kockas, der am Ende des 20. Jahrhunderts die Histotiografie als emanzipatotische und aufklarerische Wissenschaft verstand, an der noch imrner sehr verbreiteten Ansicht, wonach die gegenwartige deutsche Histotiogra­fie nach wie vor zum AufЬau der deutschen nationalen Identitiit beitragen sollte. Siehe: Jiirgen Kocka, Geschichte und Aufklarung (Gottingen 1989) 140- 159, 193- 197. Wenn man niimlich die Qualitat der Argumentation Ьeiseite ШВt, scheint Kockas Kritik die Auseinandersetzungen zwischen den kritischen Emanzipatoren und nationalen Romantikem in der serblschen Histo­tiografie vom Ende des 19. Jahrhunderts wiederzubeleЬen.

Zur historischen Anthropologie 95

dieser Kultur zu ermoglichen (Staatsfeiertage, Jahrestage und JubШien, Folk­lorefestivale). Entsprechende "Schatzkammern" sollten errichtet werden, um Elemente der nationalen Kultur zu konservieren, zu pflegen und zu verbreiten (an erster Stelle historische, kunsthistorische, ethnografische, heimatkundliche und geografische Museen und Sammlungen). Sie hatten die gesamte Kulturpo­litik des eigenen Staates zu formulieren, die zur ErhOhung der Anzahl geЬilde­ter, integrierter und loyaler Biirger beitragen sollte.

5. Sie hatten zufriedenstellende, gesellschaftlich akzeptierte ErkJarungen fiir die relative politische, wirtschaftliche und zivilisatorische Riickstandigkeit des ei­genen Umfelds im Vergleich zu den entwickelten europaischen Gesellschaften, die als zivilisatorische VorЬilder gelten, anzuЬieten.

6. Sie hatten Wege zur schnelleren und weiter gehenden Oberwindung des Zu­standes der allgemeinen gesellschaftlichen RUckstiindigkeit zu finden: Unter moglichst vollstandiger Erhaltung der nationalen Identitat sollten Wege zur er­folgreichen und moglichst schmerzlosen Modernisierung und Europaisierung der Gesellschaft als Ganzes angeboten werden.

7. Sie hatten durch die Implementierung der ModernisierungsmaBnahmen in all den angesprochenen Bereichen Ansehen in der Welt zu erlangen und darnit den Anspruch der Gleichberechtigung gegeniiber Staaten mit ununterbrochener hi­storischer Entwicklungskontinuitat zu erheben.

Die an die nationalen Wissenschaften gestellten komplexen, in gewisser Wei­se sogar kontradiktorischen Anforderungen, trugen zur Bildung von Spannungen und der Entstehung amblvalenter Gefiihle bei zahlreichen Wissenschaftlern bei. In der Offentlichkeit forderten diese Anforderungen die Auseinandersetzungen zwi­schen den rivalisierenden Experten- und Ideologielagern, so z. В. zwischen "Ro­mantikem" und "Кritikern", "Traditionalisten" und "Modernisten" oder zwischen dem "SerЬischen Kulturklub" und dem ,,Jugoslawischen Kulturklub", deren An­blinger haufig eines der Ziele auf Kosten anderer verfolgten. 1m Privatbereich be­giinstigten die erwahnten Widerspriiche die Entwicklung des wahrend offentlicher Auftritte unterdriickten inneren Gefiihls der Zerrissenheit zwischen den schwer zu vereinenden, potentiell aber gleich wichtigen gesellschaftlichen Rollen der Wis­senschaft: а) der Suche nach der objektiven wissenschaftlichen Wahrheit, damals am voll­

standigsten verkorpert in Rankes Ideal, die Ereignisse genauso zu beschreiben wie sie geschehen sind;

Ь) dem AufЬau und der Erhaltung der einzigartigen Identitat der nationalen Ge­meinschaft, an erster Stelle durch Berufung auf das Erbe der feudalen Staaten und die Elemente der traditionellen Bauernkultur und

с) der Oberwindung der allgemeinen gesellschaftlichen Riickstandigkeit, d. h. dem Bestreben nach schnellstmoglichem AnschluB an die "zivilisierte Welt".

Erst durch die "private Welt", die fiir uns durch programmatische Texte, Ро-

96 Slobodan Naumovic, Nikola F. Pavkovic

lemiken und Rezensionen der Autoren erschlieBbar ist, wurde langsam klar, was in der Offentlichkeit absichtlich unterdriickt wurde: Es fiel den Wissenschaftlem als "doppelt Beteiligte" sehr schwer, die eine oder andere Rolle vollstandig aufzu­geben. Noch schwieriger war es, diese Rollen audeinander abzustimmen und sie gleichzeitig einzunehmen 5•

Neben den erwahnten Spezifika im Bereich der Wissenschaftspolitik waren auch gewisse Paradoxa im Rahmen der Organisation der wissenschaftlichen AI­beit ftir die frtihe Phase der Entwicklung der nationalen Wissenschaften durchaus charak:teristisch. Einerseits ЬеsаВ diese RticksHindigkeit Vorteile: So ftihrte die ge­sellschaftliche Erwartungshaltung an die Sozial- und Geisteswissenschaften und deren hohes Prestige im Einklang rnit dem schnellen Wissenstransfers aus ent­wickelteren Gebieten dazu, dаВ trotz der allgemein relativ niedrigen Stufe der ge­sellschaftlichen Entwicklung, die Institutionalisierung der Wissenschaft mit ihrer turbulenten, sprunghaften, in gewissen Momenten fast spektak:uHiren Entwicklung zusammenfiel. Teilweise ereigneten sich diese Prozesse gleichzeitig, ja manch­mal sogar noch vor bedeutenden Entwicklungen in manchen Wissenschaftsdiszi­plinen in moderneren Regionen. Andererseits erftthren der Wissenschaftsbetrieb und die gesellschaftliche Rolle der Wissenschaft durch die Rtickstandigkeit der Gesellschaft zahlreiche Einschrankungen. Entscheidenden Durchbrtichen folgten oft lange Perioden der wissenschaftlichen Ruhe oder gar des Stillstands. Viele bedeutende wissenschaftliche Errungenschaften gerieten bereits bei der nachsten Generation in Vergessenheit. Dies lag zum Einen am mangelnden Verstandnis in der Offentlichkeit und innerhalb des Fachgebiets und zum Anderen am Fehlen einer dauerhaften organisatorischen und materiellen U ntersttitzung ftir die wis­senschaftliche Arbeit. Die Anzahl einheirnischer Denkschulen konnte oft nicht rnit der rasanten Entwicklung der individuellen Forschungsleistungen rnithalten.

ScblieBlich muBten sich die nationalen Wissenschaften rnit den zahlreichen Spezifika der Geschichte und Kultur des eigenen Landes auseinandersetzen. Un­geachtet des gesellschaftlichen Drucks sollten fundierte Erk!arungen ftir groBe und heikle wissenschaftliche Fragen, welche die Aufmerksamkeit der Offentlich-

5 Eine hervorragende Einftihrung tiber die Natur der Konfrontation der verschiedenen wissen­schaftlichen Ziele Ьietet Andrej Mitrovic, Naucnost i sluzenje narodu. Shvatanje istorijske nau­ke kod Stojana Novakovica [Wissenschaftlichkeit und der Dienst am Volk. Die Auffassung der Geschichtswissenschaften Ьеi Stojan Novakovic]. In: Stojan Novakovic. Licnost i delo. Po­vodom 150-godisnjice rodenja ( 1842- 1992) [Stojan Novakovic. Person und Werk. AnНisslich des 150-jahrigen Geburtstags] (Beograd 1995) 173- 198. Fiir e ine ausgezeichnet dokumentierte Analyse der Rolle der nationalen Wissenschaften in den komplexen Prozessen der StaatsЬildung siehe Ljubinka Trgovcevic, Naucnici SrЬije i stvaranje jugoslovenske drzave 1914 - 1920 [Die Wissenschaftler SerЬiens und die Griindung des jugoslawischen Staates 1914- 1920] (Beograd 1986). Eine шogliche Sicht auf die komplexe und oft destaЬilisierend wirkende Beziehung zwi­schen Literatur, Wissenschaft und Kulturpolitik im multinationalen Staat Ьietet Andrew Baruch Wachtel, Making а Nation, Braking а Nation. Literature and Cultural Politics in Yugoslavia (Stanford 1998).

Zur historischen Anthropologie 97

keit erregten, gefunden werden. Dabei handelte es sich um "einige schwierige Fragen aus der serbischen Geschichte", wie sie der bertihmte serЬische Histori­ker, Philologe, Literaturhistoriker, Politiker, Diplomat und Beamte Stojan Nova­kovic ( 1842 - 1915) in seiner letzten groBen Arbeit beschrieben hat 6 . An erster Stelle ging er der Frage nach der Entwicklung einer historischen Theorie tiber das Volk/die Nation und eines adaquaten theoretischen Modells ftir den AufЬau der nationalen Identitat unter besonderen historischen Umstanden nach ("wann ist das entstanden und wann hat sich das entwickelt, was wir heute serbisches Volk nennen"). Zudem stellte sich Novakovic "die groBe Frage iiber das bloBe Geftihl der Nationalitat". Eine der schwierigeren Fragen war sicherlich diejenige nach dem Zusammenhang zwischen dem Bruch in der eigenstandigen staatlichen Ent­wicklung (bedingt durch lange Fremdherrschaft) und der Entwicklung der sozia­len und kulturellen Charakteristika der Gemeinschaft. Sehr wichtig und rnit dem Vorhergehenden eng verbunden war die Frage nach den Faktoren, die zur allge­meinen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und zivilisatorischen Rtickstandigkeit geftihrt haben, wobei Fragen nach den Perspektiven und der Zukunft des eige­nen Volkes nicht verrnieden werden konnten. Eine Herausforderung stellten die auf den ersten Blick zwar etwas weniger heiklen, deswegen aber nicht weniger wichtigen Problemfelder dar, wie z. В. jene tiber die Herkunft und die Auswir­kungen von Institutionen oder Brauchen, die als Identitatsmerkmale der Nation aufgefaBt wurden. Dabei denken wir vor allem an Institutionen wie die zadru­ga (GroBfamilie), die dorfliche Selbstverwaltung, das Gewohnheitsrecht oder die Stammesgesellschaft. Die Selbstachtung und das Selbstverstandnis der Gemein­schaft hingen von der Beantwortung der jeweiligen Frage аЬ. Verglichen mit der Geschichte groBer europilischer Staaten besaB die politische, kulturelle und ge­sellschaftliche Geschichte der BalkanvO!ker einen scheinbar diskontinuierlichen Entwicklungsablauf, an den sich spater zu verschiedenen Zeitpunkten eine Viel­zahl von Entwicklungsanomalien anschloB. Es fehlte an ganzen kulturhistorischen Perioden, die entscheidend die Entwicklung und das Selbstverstandnis der Natio­nen Westeuropas gepragt hatten, wie z. В . die Renaissance oder die Reformation. Zu gewissen Zeiten verlief die Entwicklung beinahe entgegengesetzt zu derjeni­gen in den zentralen GeЬieten des Kontinents. Stamme und gewohnheitsrechtli­che Normen entwickelten sich so auf den Territorien der zersttickelten feudalen Staaten wie ein eigenartig verkehrtes Spiegelbild der vorherigen Periode, in der die aufstrebenden feudalen Staaten im Begriff waren, die traditionellen, auf Ver­wandtschaft basierenden Formen der territorial-politischen Organisation aufzulб­sen. Aus diesem Grunde wurden in Expertenkreisen nicht selten Fragen gestellt,

6 Stojan Novakovic, Nekolika teza pitanja iz srpske istorije. [Einige schwierigere Fragen aus der serЬischen Geschichte]. ln: Godisnjica N. Cupica [Zшn Gedenken an N. CupiCl XXXI (Beograd 1912) 1- 35, und XXXll (Beograd 1913) 1-40. Die Liste der Fragen beginnt mit denen, die Novakovic zu beantworten versuchte, enthielt аЬег auch solche, denen er nicht weiter nachging.

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wie sie z. В. der Philosoph Vladimir Dvornikovic (1888- 1956) als Titel in einem seiner Texte formulierte: "Sind wir ein Anachronismus in Europa". 7

Die Versuche, sich solcher Herausforderungen anzunehmen, brachten einige der wichtigsten und originellsten Beitrage zur wissenschaftlichen Deutung der tra­ditionellen rechtlichen und gesellschaftlichen Institutionen und Normen auf dem GeЬiet des heutigen SerЬien und Montenegro hervor. Durch den Vergleich der kulturellen Gegebenheiten tiber einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten ent­wickelte Stojan Novakovic die These, da/3 "die Zeit von unseren ersten Denkma­lern Ьis zur Erneuerung des Staates in diesem Jahrhundert [dem 19. Jahrhundert] in vielen Zweigen des Volkslebens eine Einheit Ьildet, weil sich in diesem lan­gen Zeitraum die Grundlagen nicht verandert haben, sondern von Jahrhundert zu Jahrhundert, allen auBerlichen Umsttirzen in der obersten Verwaltung zum Trotz, ohne Modifikationen tibernommen und tradiert wurden." 8 Novakovic verdichtete in den bereits im Jahr 1890 geschriebenen Zeilen die These vom langen serЬi­schen Mittelalter, praziser ausgedrtickt, von der "langen Dauer" der kulturellen Grundlagen des Volkslebens, im Gegensatz zur kurzen Zeit der jeweils aktuellen politischen Geschichte. Dabei geht es um die Theorie der "kulturellen Unveran­derlichkeit, die Sitten fast wie in Alkohol konserviert" 9 , und uns an die gro/3e Personlichkeit der franzosischen Historiographie, Fernand Braudel und sein Kon­zept der longue duree als einer der drei verschiedenen historischen Zeiten erin­nert 10

• Bemtiht um eine Erklarung der lokalen kulturellen Besonderheiten, die auch als Anomalien erscheinen konnten, suchte Novakovic nach einer Losung, die um fast ein halbes Jahrhundert derjenigen voranging, die heute einen Teil des wissenschaftlichen Welterbes darstellt.

Der groBe serЬische Geograf, Geologe, Anthropogeograf und Ethnograf Jo­van Cvijic (1865- 1927) entwickelte die Konzeption der ethnografischen Auffri­schung. Im Material aus der gleichen ortlichen Umgebung erЬlickte er ein anderes wissenschaftliches ProЬlem als jenes nach der Frage der kulturellen Kontinuitat, welches Novakovic in seinen Bann geschlagen hatte. Damit versuchte er die Auf­merksarnkeit auf jene paradoxen EntwicklungsaЬlaufe in den Institutionen und den gesellschaftlichen Praktiken zu lenken, die archaischer als die vorausgegan­genen Vorgange erscheinen 11

• So gesehen ist die ethnografische Auffrischung ein

7 Vladimir Dvornikovic, "Epski covek" ili jesmo li mi anahronizam u Evropi? ("Der epische Mensch" oder sind wir ein Anachronismus in Europa]. In: Borba ideja [Ideenkampf] (Beograd 1 937) 85- 98.

8 Stojan Novakovic, Se1o [Das Dorf] (Beograd 1943) 4. 9 Novakovic, Selo 72. 1° Fernand Braudel, Histoire et sciences socia1es. La longue duree. In: Annales Е. S. С. XIII, 4

(1958) 725-753. 11 Jovaп Cvijic, Antropogeografski proЫemi Balkanskog Poluostrva, Srpski etnografski zbornik,

[Anthropogeographische ProЬieme der BalkaпhaiЬinsel, SerЬischer ethnographischer Sammel­baпd] XLVT-XLVII (Beograd 1902). Еiпе ahпliche Meiпuпg vertrat auch Jovan Erdeljanovic, Neke crte u formiranju plemena kod diпarskih Srba [Einige Ztige im AufЬau der Stamme bei

Zur historischen Anthropologie 99

kultureller ProzeB, der wie es scheint, die historische Zeit in eine andere Richtung als gewOhnlich lenkt. Der scheinbare Archaismus der dinarischen Stamme wird im Rahmen der Cvijic'schen Konzeption nicht mehr anhand der Ideen der longue duree und der dem politischen Umfeld trotzenden kulturellen Unveranderlichkeit gedeutet, sondern vielmehr als unbeabsichtigte, beilaufige Konsequenz der osma­nischen Eroberung und der Auflosung feudaler Staaten, als eine Erscheinung mit eigener spezifischer, "inverser" Historizitat. Mit der Konzeption der ethnografi­schen Auffrischung deutete Jovan Cvijic die Losung an, die viele Jahrzehnte spa­ter vom franzosischen Sozialanthropologen Claude Levi-Strauss erarbeitet wurde und ihn weltbertihmt gemacht hat. Die Rede ist von der heuristisch sehr interes­santen Idee des falschen Archaismus, die nach wie vor fur die linearen Modelle der kulturellen Entwicklung ein ProЬiem darstellt 12

NovakoviC' Theorie der unveranderlichen Grundlagen des Volkslebens, d. h. der longue duree und die ihr auf den ersten Blick entgegengesetzte Cvijic'sche Konzeption der ethnografischen Auffrischung Ьildeten jahrelang den maBgeЬli­chen theoretischen Rahmen ftir die nationalen Wissenschaften, sich den Heraus­forderungen des eigenen Faches zu stellen. Zusatzlich wurden auf diesem Wege auch die ProЬieme der Herkunft, d. h. der Entwicklung der traditionellen gesell­schaftlichen sowie rechtlichen Jnstitutionen und Normen gelost.

3. "Nationale Wissenschaften" und "Elemente der nationalen Kultur":

Der Beitrag der Sozial- und Humanwissenschaften zum Verstandnis der traditionellen rechtlichen und sozialen

Institutionen und Normen

Bisher befaBten wir uns mit der VerЬindung zwischen dem gesellschaftspoliti­schen Kontext und der ftir die Ausformung der Sozial- und Humanwissenschaften entscheidenden Aufgabe der nationalen Wissenschaften. Wir haben auf einige der wichtigsten Faktoren hingewiesen, die zu bestimmten Resu]taten auf verschiede­nen Arbeitsfeldern ftihrten. Mit der Darstellung der konkurrierenden, nicht aber zwingend einander vO!lig ausschlie/3enden Konzeptionen der kulturellen Konti­nuitdt und der ethnografischen Auffrischung fragten wir nach dem allgemeinen Gedankenrahmen der relevanten Begriffsdeutungen. Im Folgenden sollen die zen-

dеп dinarischeп Serbeп]. In: G1asnik Geografskog dru~tva 5 (Beograd 1921) 77. 12 Claude Levi-Strauss, La пotion d'archalsme en ethnologie, Cahiers lnternatioпaux de Sociolo­

gie, vol. 12, (1952). Ausftihrlicher wird dieses ProЬiem bearbeitet in: Nikola F. Pavkovic, Оп the proЬlem of secondary archaism among the South S1avs. In: Between the archives and the field: А dialogue оп historical aпthropo1ogy of the Balkaпs, ed. Kar1 Kaser, Miroslav Jovano­vic, Slobodan Naumovic (= Zur Kuпde Stidosteuropas Il/27, Udruzeпje za drustvenu istoriju, Teorija 1, Graz/Be1grade 1 999) 1 33- 140.

100 Slobodan Naumovic, Niko\a F. Pavkovic

tralen traditionellen gesellschaftlichen und rechtlichen Institutionen und Normen darge1egt werden.

3.1. Die Тraditionsformen der Sozialisation

Die Traditionsformen der Sozialisation kann bei den Serben seit dem spateren Mitte\alter bis heute verfolgt werden. Unsere Darlegungen beziehen sich jedoch nur auf die Agrargesellschaft und dies hauptsiichlich aus drei Griinden:

1. Die Bauem Ьildeten Ьis zur Mitte des 20. Jahrhunderts den hochsten Anteil an der Population SerЬiens.

2. Die Bauernkultur wird im Rahmen der Herderschen romantischen Konzepti­on, die von entscheidendem EinfluB auf die Nationalwissenschaften in diesem GeЬiet war, als Kem der Nationalkultur aufgefaBt.

3. Die stiidtische Populationen und stiidtische Kultur galten Ьis zum spiiten 19. Jahrhundert und auch noch danach weder als autochthon noch reprasentativ in Bezug auf die serЬische Gesellschaft. Aus diesen Gгilnden genoB die Agrar­gesellschaft als Forschungsobjekt Ьis in die 70-ег Jahre des 20. Jahrhunderts Prioritat in den ausgesprochen nationalen Wissenschaften, wie z. В. der Ethno­logie. In dem МаВе bezogen sich die zentralen Resultate solcher Disziplinen vorwiegend auf die Deutung der Elemente der Traditionskultur.

3.1.1. Das Dorf als gesellschaftlich-okonomische Gemeinschaft

Die Bezeichnung Doif [ selo] wurde bei Serben und anderen Sudslawen seit jeher sowohl ftir die Siedlung [naselje] selbst als auch ftir die Gemeinschaft [zajednica] seiner Bewohner verwendet. Die zahlenmaBig stiirkste Gesellschaftsschicht stell­ten die Ьis ins 19. Jahrhundert wirtschaftlich, sozial und po1itisch unterdriickten Bauem. Trotzdem zeichnete sich das Dorfleben durch eine weitgehend selbstan­dige Entscheidungsfindung in wichtigen Fragen aus. Dieser Spielraum war auf die begrenzte Fiihigkeit und noch mehr auf das mangelnde Interesse des staatli­chen Regierungsapparats zurtickzuftihren, das Dorfleben unmittelbar zu kontrol­lieren und zu beeinfluBen. Das kaum zu unterschatzende AusmaВ der dorflichen Selbstverwaltung in dieser langen Zeitspanne trug entscheidend zur Erhaltung der kulturellen Charakteristiken und der Sittenpraxis bei und war eines der von Stojan Novakovic angesprochenen entscheidenden Phiinomene der longue duгee. Die grundlegenden Verwaltungs- und Territorialeinheiten im Mittelalter waren das Dorfund die zupa, bzw. wiihrend der osmanischen Verwaltung (15.-19. Jahrhun­dert) das Dorf und die Nahiye [nahija], im freien SerЬien und Montenegro die Doifgemeinde [seoska opstina] und der Kгeis [sгez]. Die zupe waren kleinere ter­ritoriale Einheiten, zumeist FluBtiiler und Bergkessel ohne Stiidte. Die Last aller grundlegenden wirtschaftlichen Verpflichtungen der serЬischen Gesellschaft trug das Dorf.

Zur historischen Anthropologie 101

ln der gesamten ProЬiematik der mittelalterlichen Dorfgemeinschaft spielte der Begriff katun [Sommenveide] eine wichtige Rolle. Im Mittelalter und in der Neuzeit besaB dieser Begriff mehrere Bedeutungen, von denen zwei grundlegend waren: Die erste, vielleicht auch urspriingliche Bedeutung des katuns meint eine Gruppe von Menschen aus mehreren Familien mit einem Altesten an der Spit­ze, dic durch den gemeinsamen Besitz, die gemeinsame Arbeit und die Art des Wirtschaftens verbunden war. Die zweite zentrale Bedeutung umschrieb katun als eine Siedlung, in der mehrere Familien befristet oder unbefristet lebten und Vieh­zucht betrieben. Die durchschnittliche GroBe eines katuns betrug einige Dutzend Hauser. Die ProЬieme des katuns als einer gesellschaftlich-beruflichen Gruppe und einer besonderen Art des Habitats waren besonders hinsichtlich der ethni­schen Struktur und Organisation ilberaus komplex. Weder die serЬische Historio­grafie noch die serЬische historische Ethnologie auBerten sich abschlieBend zu diesem Thema. Die Frage des katuns ist eng mit dem Leben der mittelalterli­chen Walachen verbunden. Mit diesem Namen bezeichneten die Stidslawen die balkanischen romanisierten VOlker und ethnischen Gruppen. Die Walachen wur­den in serЬischen GeЬieten bereits im Mittelalter massenhaft slawisiert und das Ethnikon Walache [Vlah] auch auf die nicht-romanischen Bewolшer tibertragen, die typischen Beschaftigungen nachgingen (Vieh htiten, Militiirdienst und Wa­rentransporte). Auf diese Weise vollzog sich der Ubergang von der ethnischen Bedeutung des Wortes Walache [Vlah] zur soziale Kategorie Walache [vlah, mit kleinem Anfangsbuchstaben im SerЬischen] 13

Die kollektive strafгechtliche Verantwoгtung und die Verpfiichtungen waren im Dorf des Mittelalters und Ьis ins 19. Jahrhundert wichtige Merkmale der Le­bensorganisation. Zwei Grtinde sind als Ursache ftir diese Phiinomen anzuftiht·en: GemaB dem traditionellen Stammesrecht war der Einzelne primiir seiner Gemein­schaft untergeordnet. Diese ktimmerte sich um jedes ihrer Mitglieder, war aber gleichzeitig auch ftir jeden Einzelnen verantwortlich. Vom funktionellen Stand­punkt aus konnte man sagen, daB eine kollektive strafrechtliche Verantwortung Ausdruck der kulturellen Reaktion iilterer gesellschaftlicher Stammesstrukturen auf den von neuen feudalen Beziehungen aufgezwungenen Druck war. Die zwei­te Ursache lag zweifellos im Charakter der mittelalterlichen feudalen Herrschaft. Wegen der bereits erwahnten Unvollkommenheit und Ineffektivitat und wegen der Unmoglichkeit den Weg zu jedem Einzelnen zu finden, tiberlieB die alte serЬische

13 ln Vcrbindung mit dem ProЬiem der Slawisierung der mittelalterlichen Walachen schrieb Stojan Novakovic, daB er die "weitere Diskussion tiЬer dieses interessante Phanomen der etlmographi­sclюz Gesclziclzte [tiЬerltiBt]", bzw. "dal3 ftir die ethnographische Geschichte das Phanomen der Weiterftihrung einer unsel3haften Lebensweise durch romanische Vбlkcr sehr interessant ist". Novakovic, Selo 1 Das Dorf] 4, 20, 27. ln diesen vor liber einem Jahrhundert verfal3ten Satzen wies Novakovic auf das Bedtirfnis zur Errichtung einer interdiszipliniiren Wissenschaft hin, die sich unter dem Namen "historische Anthropologic'· auf dem Balkan heute erst in der Anfangs­phase befindet.

102 Slobodan Naumovic, Nikola F. Pavkovic

Gesetzgebung die Regulierung der privatrechtlichen Beziehungen dem Gewohn­heitsrecht, dem Dorf und der zupa als territorialen Basiseinheiten und zwang ih­nen die kollektive strafrechtliche Verantwortung und die Arbeitsverpftichtungen auf. Die Stammes- und Territoгialeinheit wаг fi.ir jeden auf ihrem Territorium begangen VerstoB und insbesondere auch fi.ir Mord zustandig. Dieselbe Art der Rechtszustandigkeit herrschte auch wahrend der osmanischen Periode, sowie in den ersten Dekaden des emeuerten serblschen Staates im 19. Jahrhundert vor 14

Bedeutende Veranderungen im Dorf als sozialer Gemeinschaft ereigneten sich erst nach der Verabschiedung des Gesetzes tiber die Gemeindeorganisation im Jahre 1839. Die neue Dorfgemeinde verftigte zumindest zu Beginn i.iber alle wichtigen Selbstverwaltungselemente. In gewissem Sinne stellte sie eine demo­kratische Institution dаг, an deren Spitze die Bauern selbst standen. Mit der Zeit entwickelte sie sich zu einer administrativ-territorialen Einheit, dessen Selbstver­waltungsrechte vom Staatsappaгat sukzessive eingeengt und immer vollstandiger kontrolliert wurden.

Grund und Boden des Doifes und seine Grenzen. Wegen des bereits erwahnten Prinzips der kollektiven Verantwortung und der damit verbundenen Androhung von StrafmaBnahmen ktimmerte sich die Dorfgemeinde immer um die Einheit von Grund und Boden. Die Grenzen besaВen neben einer rechtlichen auch eine groBe wirtschaftliche und k:ultische Bedeutung 15 und waгen im Prinzip unantast­baг. In Wirklichkeit aber kam es deswegen oft zu Streitigkeiten, die manchmal auch in Veranderungen resultieren konnten. Ein Dorf stritt mit dem anderen Dorf, manchmal auch eine zupa mit der anderen. Von Wichtigkeit ist, daB sich, vбl­lig im Einklang mit Novakovic' Prinzip der longue duree, die Art der Losung dieser Streitigkeiten vom Mittelalter Ьis zum Anfang des 20. Jahrhunderts nicht bedeutend veranderte. Die Verhandlungen fanden stets vor Ort in Anwesenheit des Richters oder eines Assessors und sechs, zwOlf oder 24 "Altesten" statt, die tiber den Verlauf der alten Ackergrenzen berichteten, nachdem sie einen Eid "auf die eigene Seele" abgelegt hatten.

Der kollektive DorjЬesitz (Weideflachen, Walder, Gewasser) wаг eine der wichtigen Errungenschaften des Dorfes. Derartiges Vermogen existierte vom Mit­telalter Ьis zur Mitte des 20. Jahrhundert. Danach zerstOrte die neue kommunisti­sche Macht, den Prinzipien des sozialistischen Kollektivismus verpftichtet, al\e Formen des traditionellen kollektiven Besitzes und erklarte ihn zum "allgemeinen Volkseigentum". Im Grunde genommen handelte sich dabei um die Errichtung eines engeren Gruppeneigentums, das "im Namen des Volkes" btirokratisch ver­waltet wurde. 14 Kollektive strafrechtliche Verantwortung in SerЬien wurde ebenfalls von der deutschen Besat­

zuпgsmacht 1941 - 1944 eingefUhrt: FUr einen getoteten deutschen Soldaten wurden 100, fUr einen verwundeten 50 serЬische Zivilisten hingerichtet.

15 Mirko Barjaktarovic, О zemlji~пim medama u Srba [0ber die Ackergrenzen bei den SerЬen]. In: Srpska Akademija Nauka, Posebna izdanja 203 (Beograd 1952).

Zur historischen Anthropologie 103

Das traditionelle kollektive Eigentum an Grund und Boden war eng mit der Viehzucht verbunden. Als man jedoch mit der ackerbaulichen Nutzung der ge­meinsamen Grundstiicke begann, wurden diese Grundstiicke schnell zu Privatbe­sitz. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts prasentierte sich dieser ProzeB immer ausgepragter. Das Recht auf Nutzung des Dorfvermogens besaBen nur die Dorf­bewohner. Die Neuankommlinge muBten dafi.ir zuerst die Erlaubnis des Dorfes einholen.

Die Organe der Doifgewalt waгen kollektiv und individuell. Das wichtigste kollektive Organ wаг die skupstina [Dorfvasammlung] oder der zbor [Ver­sammlung], dann das Volksgericht [narodni sud] und der Altestenrat [starci]. Die skupstina behandelte alle wichtigeren Dorfangelegenheiten. Sie bestand aus samtlichen erwachsenen Mannern oder mindestens allen Familienoberhauptem. Die Mitglieder der Volksgerichte und der Altestenrate wurden ad hoc gewahlt. Sie entschieden tiber alle Dorfstreitigkeiten, daneben tiber Korperverletzungs- und Totungsdelikte sowie tiber physische, materielle und moralische Strafen.

Von den individuellen Organen der Gewalt war der knez [Dmfdlteste, Doif­richter, Dorfschulze], bzw. seit den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts auch kmet genannt, das wichtigste. Der knez/kmet stellte ein Bindeglied zwischen der Staats­gewalt und seinem Dorf dаг. Er nahm Steuem ein, berief und fi.ihrte die Dorf­versammlungen, entschied tiber kleinere Streitfcille und ktimmerte sich um Ruhe und Ordnung im Dorf. Seine Funktion wаг elitar und nicht entlohnt, brachte dem knez/kmet aber ein gewisses soziales Ansehen ein. Paгallel zur Starkung des Staa­tes im 19. Jahrhundert verbanden sich die Funktionen des knez/kmet immer starker mit der Staatsverwaltung und den politischen Parteien.

Die dorfiiche Exogamie lieB sich bei Serben und anderen Balkanvбlkem (be­sonders bei Albanem) Ьis zu Beginn des 20. Jahrhundert beobachten 16 • Sie war Ausdruck der vOlligen Integritat aller DorfЬewohner Ьis zu dem МаВе, dаВ die SchlieBung von Freundschaften durch Ehen innerhalb des Dorfes kontraproduk­tiv wurde. Daher zog man es vor, Schwiegertochter aus benachbarten Dorfem herbeizuholen. Ftir einige Wissenschaftler bot diese Institution AnlaB zur Vermu­tung, daB die Dorfgemeinschaft in fri.iheren Zeiten eine Verwandtschaftsgruppe darstellte.

Die rituell-religiose Gemeinschaft wаг eines der ausgepragtesten Merkmale des Dorfes als sozialer Gemeinschaft 17

• Ursprung und Funktionen des Dorfes als rituell-religiose Gemeinschaft sind gewiВ sehr alte und universelle Erscheinungen

16 Nikola F. Pavkovic, Zajednica zivota па nivou porodice i sela kao osnova iskljucenja endoga­mije [Die Lebensgcmcinschaft auf dem Familien- und Dorfniveau als die Grundlage fUr den Ausschluss von Endogamie]. In: Etnoloski preglcd 11 (1973).

17 DarUber mehr bei: Nikola F. Pavkovic, Selo kao obredno-religijska zajednica I.Das Dorf als eine rituell-religiose Gemeinschaft]. In: Etnoloske sveskc 1 (Beograd 1978) 55- 65; Dusan Bandic, Kolektivni seoski obrcdi kao kulturni fenomen [Kollektive Dorfrituale als kulturelles Phano­men]. In: Novopazarski zЬornik 2 (Novi Pazar 1978) 111-120.

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und so war es auch bei den Serben. Sie sind altes slawisches, balkanisches, aber auch besonders hellenisches Erbe.

Als rituell-religiose Gemeinschaft war das Dorf fri.iher, und im Grunde ge­nommen Ьis heute auf drei Ebenen tatig: zum einen auf der Ebene des gesamten Dorfes durch den gemeinsamen Einsatz aller Angehorigen der Gemeinschat·t, zum Zweiten auf der Ebene der bevollmachtigten Gruppe der Vertreter, die im Namen und zum Nutzen dieser Gemeinschaft auftritt, und drittens auf dem Niveau des Einzelnen- Spezialisten fiir religiose Angelegenheiten -, der ebenfalls im Namen und zum Nutzen des ganzen Dorfes auftritt.

Das psycho-soziale und rituell-religiose Verha\ten der Dorfgemeinschaft ziel­te auf deren existenzielle Erhaltung hin: auf das Leben, die Gesundheit und die Fruchtbarkeit der Menschen und des Viehs sowie auf fiir die Fruchtbarkeit der Fel­der gtinstige Wetterbedingungen. Diese primaren Bestrebungen und die Funktio­nen dieser Rituale haben sich seit der Urzeit Ьis heute nicht grundlegend geandert. Im Wesentlichen waren die magischen Denk- und Verhaltensweisen der Dorf­bevOlkerung integraler Bestandteil der Produktionstatigkeit. Das rituell-religiose Verhalten der Dorfgemeinde konnte auch strafrechtliche Auswirkungen haben. Ein typisches Beispiel daftir war die seelische Strafe: das kollektive rituelle Ver­fluchen der unbekannten kriminellen Tater. Als zweites Beispiel sei die Anwen­dung von physischer Bestrafung derjenigen genannt, die wahrend hoher religioser Feiertage gegen das Arbeitsverbot auf dem Felde verstieBen. In diesem Fall konn­te der Strafvollstrecker eine hOhere Macht in Form Hagel bringender Wolken sein, oder die Dorfgemeinde selbst, die ihre Verbrecher bestrafte.

3.1.2. Ehe, Familie, zadruga

Ehe. Nach der Christianisierung im neunten Jahrhundert und besonders nach der Grtindung des SerЬischen ErzЬistums im Jahr 1219 wurde die Ehe immer mehr zu einer kirchlichen Angelegenheit. Die Festigung der kirchlichen Ehe war eine standige Sorge der Konige und Zaren. Die Vorschriften Uber die Ehe, wie z. В. das Alter des Ehepaares, die verwandtschaftliche Ехо- und die religiose Endoga­mie, dann der Ort der Trauung (Кirche), das Verbot der Trauung wahrend der vier groBen Jahresfastenzeiten, die Trauung unmittelbar nach dem Ende der Liturgie­all dies legten kirchliche Kanones fest. Es existieren nur wenige Angaben dari.iber, оЬ und wie die kirchlichen Regeln Uber die Ehe von gewOhnlichen Menschen im Mittelalter befolgt wurden. Es werden lediglich Strafen ftir eine sororale Ehe er­wahnt, vielleicht weil die Ehe zwischen dem Schwager und der Schwagerin die haufigste Art des VerstoBes gegen die Vorschriften der EheschlieBung innerhalb der eingeheirateten Verwandtschaft war. Wahrscheinlich war die sororale Ehe ge­miiВ damaligem Gewohnheitsrecht nicht verboten. Ethnografischen Forschungen zufolge erlaubte die orthodoxe Кirche in spateren Zeiten weder das Sororat noch das Levirat.

Zur historischen Anthropologie 105

Im Mittelalter war die religiose Endogamie im hOchsten Staatsgesetz festge­schrieben (Art. 9 des Gesetzbuches des Zaren Dusan). Falls ein "HalbgHiuЬiger" (Katholik) eine "Christin" (Orthodoxe) heiratete, muBte er sich "im Christentum taufen lassen"; andemfalls wurden ihm seine Kinder und die Frau weggenommen und er wurde verbannt.

In der traditionellen Kultur der Serben war die Ehe in der Regel monogam. Nur in seltenen Fa\len (Кrankheit der Frau, Kinderlosigkeit) wurde Bigamie still­schweigend toleriert. In diesem Falle war die erste Frau die Schwiegermutter ftir die zweite Frau. Bekannt waren auch seltene Falle der institutionalisierten und zeitlich begrenzten Polyandrie. Das bezeugt die Institution des Elzehelfers [bracni pomocnik]. Dieser Person war es erlaubt, tnit der wegen des sexuellen Versagens ihres Mannes kinderlosen Frau sexuellen Verkehr zu haben, um eine Schwanger­schaft herbeizuftihren. Danach loste sich die Beziehung auf, ohne irgendwelche gesellschaftliche Sanktionen nach sich zu ziehen. Die UЬ\ichen EheschlieBungs­arten waren:

l. Die Bгaufl.verbung- wenn die Eltem des jungen Mannes und andere Verwandte gemaB einer festgelegten Ordnung und tradierter Brauche um die Hand der jungen Frau bei ihren Eltem warben.

2. Die Flucht oder die veгmeintliche Entfйhrung сlег jungen Frau - wenn der junge Mann in Absprache mit der jungen Frau (aber ohne Wissen ihrer Eltem) sie zu sich nach Hause brachte.

3. Die echte Entfйhrung- wenn der junge Mann mit Hilfe seiner Freunde die jun­ge Frau mit Gewalt aus ihrem Haus oder (was ofter geschah) von бffentlichen Platzen entftihrte und zu sich nach Hause brachte. Diese Art des Nachhause­bringens war selten und sowohl seitens der Gemeinschaft als auch der Кirche verpont. Es stellte nicht nur eine Schande ftir die Familie der jungen Frau, son­dem auch ftir die Entftihrer dar, falls es den Verwandten der Frau gelang, sie wahrend der Entftihrung wieder an sich zu bringen.

Einer gesellschaftlich anerkannten Ehe gingen Hochzeitsfeierlichkeiten und die Verbringung des Madchens in das Haus des Brautigams voran, wo es Uber­nachtete. Die kirchliche Hochzeit war sekundar und konnte bedeutend spater er­folgen, da das von der Gesellschaft akzeptierte Eheleben schon langst begonnen hatte.

Wohnort des Ehepaars: Die Ehe war in der Regel patrilokal. Matrilokale Ehen [domazetstvo] traten relativ selten in Erscheinung und wurden meistens aus wirt­schaftlichen Grtinden geschlossen, infolge Armut des Brautigams oder aus Man­gel an mannlichen Nachkommen im Hause der Braut, die die mannliche Ver­wandtschaftslinie (des Schwiegervaters) weiterftihren wtirden. Den Mann der sich "ergab" nannte man den Eingeheirateten [ domazet]. Daneben existierten auch an­dere Bezeichnungen, mit denen das niedrige gesellschaftliche Ansehen des Ein­geheirateten verspottet wurde. Wahrend im patriarchalischen dinarischen GeЬiet

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das Einheiraten sehr selten war oder gar nicht existierte, ist es im nordбstlichen SerЬien bis heute eine verbreitete Erscheinung.

Die Folgen einer matrilokalen Ehe waren, daB die Kinder aus einer solchen Verbindung und Ьisweilen auch der Eingeheiratete selbst, den Namen der Mutter iibernahmen. Der Eingeheiratete finanzierte die Hochzeitsfeier im Hause seiner Frau, verlor einen Teil oder das ganze Erbe im vaterlichen Haus, iibernahm dafiir aber allmahlich den Besitz des Schwiegervaters.

Die sozialen Rahmenbedingungen der Eheschliefiung waren von der Tradi­tion vorgegeben. Mehr oder weniger galt die wirtschaftliche, insbesondere aber auch die religiose Endogamie. Blutverwandtschaft sowohl in der mannlichen als auch in der weiЬiichen Linie stellte ein Hindernis fiir die EheschlieBung dar. For­mell reichte die В lutsverwandtschaft Ьis zum siebten Verwandtschaftsgrad. In der Praxis aber galt das Verbot soweit eine Verwandtschaft im gesellschaftlichen Ge­dachtnis gespeichert war. Sogar eine geistige Verwandtschaft (Patenschaft, Wahl­bruderschaft, Milchverwandtschaft) war ein Hinderungsgrund fiir den Ehebund. Patenschaft als eine erЬJiche geistige und soziale Beziehung bedeutete ein dau­erhaftes Hindernis fiir die EheschlieBung. Wahlbruderschaft (Wahlschwestern­schaft) und Milchverwandtschaft waren dies nur fiir die Beteiligten und ihre Кin­

der. Im gesellschaftlich-wirtschaftlichen Sinne wurde darauf geachtet, daB der jun­

ge Mann (die junge Frau) aus einer angesehenen, ehrlichen Familie stammte und ahnlich viel Besitz in die Ehe brachte. Die EheschlieBung war weniger (oder gar nicht) die Wahl des Brautpaares, sondern die Wahl der Eltern oder des weite­ren Verwandtschaftskreises. Die Verwandtschaft hieB nach der Ehe Freundschaft [prijateljstvo ]. Es war daher von groBer Bedeutung, mit wem sich die Familie "an­freundete", d. h. die neuen sozialen- und VerwandtschaftsverЬindungen errichtete und erweiterte. Jeder wiinschte sich viele angesehene und ehrliche "Freunde". All diese Werte, die man bei EheschlieBungen in Betracht zog, gelten im Prinzip Ьis heute; allerdings rnit dem Unterschied, daB das Brautpaar auch mitentscheidet. Nach dem Zweiten Weltkrieg (1945 -1991) wurden im Einklang mit der schnel­len Modernisierung, der erhбhten sozialen MoЬilitat und den ideologischen Sti­muli viele ethnisch und konfessionell gernischte, Ehen geschlossen, abgesehen von den Albanern, die in dieser Hinsicht die geschlossenste Gruppe waren. Diese Entwicklung wurde durch den Zerfall Jugoslawiens (1991 - 1 992) jah unterbro­chen.

Die Scheidung war in der traditionellen Sozialkultur Ьis zum Anfang des 20. Jahrhunderts eine relativ seltene Erscheinung. Die haufigsten Grtinde fiir eine Scheidung waren Кinderlosigkeit, Ehebruch, Alkoholismus des Mannes und MiВ­handlung der Frau.

Die Familie im engeren Sinne wurde auch eigenstiindiges Haus genannt. Sie bestand aus einem Ehepaar und den unverheirateten Кindern. Vom Mittelalter Ьis zur Neuzeit kann man das gleichzeitige Bestehen der engeren und der erweiter-

Zur historischen Anthropologie 107

ten Familie beobachten, letztere setzte sich aus rnindestens zwei oder mehreren Ehepaaren zusammen. Eine aus mehreren Generationen bestehende, erweiterte Farnilie hieB seit dem 19. Jahrhundert zadruga [Grofifamilie]. Die Bezeichnung zadruga stammt nicht aus dem Volk, sondern ist eine literarische Schбpfung. Vuk Stefanovic Karadzic fiihrte diese Bezeichnung in sein Worterbuch der serЬischen Sprache aus dem Jahre 1818 ein. Die altere, aus dem Volk starnmende Bezeich­nung war das Haus [kuca]. Die zadruga war fi.ir ganze zwei Jahrhunderte Ob­jekt der Beschreibung und Erforschung. Sie galt als eine kulturelle Besonderheit der slawischen, d. h. siidslawischen Population. Mit der zadruga wurden oft ge­wisse vermutete Mentalitatsvarianten dieser Populationen verbunden. Sie wiirden auf der Blutsverwandtschaft ihrer Mitglieder, auf dem gemeinsamen Besitz, dem gemeinsamen Leben und der gemeinschaftlichen Arbeit basieren. Es gab jedoch auch Abweichungen von diesen Regeln. Als eine gesellschaftliche Erscheinung war die GroBfarnilie Antwort auf die allgemeinen Lebensbedingungen, die exten­sive landwirtschaftliche- und Tierhaltungsproduktion sowie die Arten der Auftei­lung von Steuern (entweder durch Geld oder Arbeit) im serЬischen mittelalterli­chen Staat und im osmanischen Feudalsystem. Sie war imstande sich zu andern und sich den historischen Umstanden anzupaBen.

Typen der zadruga. Aufgrund von historischen Quellen und ethnografischem Material aus dem 19. und 20. Jahrhundert lassen sich drei grundlegende Typen unterscheiden: die auf Verwandtschaft basierende zadruga, die auf keiner Ver­wandtschaft basierende zadruga und die geteilte zadruga.

Die auf Verwandtschaft basierende zadruga kannte zum Einen die zadruga des Vaters und zum Andem die zadruga der Briider.

Aufgrund der verwandtschaftlichen Struktur ist die zadruga des Vaters (oder des Sohnes) die einfachste Form. Sie besteht aus den Eltern und mindestens einem oder auch mehreren verheirateten Sohnen. ln dieser Gemeinschaft ist der Vater das Oberhaupt. Durch Heirat des Enkelsohnes und den Tod des Vaters (GroBvaters) wird aus der zadruga des Vaters eine zadruga der Sohne. In dieser Gemeinschaft ist einer der Briider das Oberhaupt. Im nordostlichen SerЬien, wo die matrilokale Ehe und die niedrige Geburtenrate typische Erscheinungen sind, ist eine vertika­le verwandtschaftliche Struktur der zadruga vorherrschend. Friihes Heiraten fiihrt dazu, daB in solchen GroBfarnilien sogar vier Ьis fiinf Generationen leben, jede mit einem Vertreter. Ahnlich ist es heute noch in der Vojvodina, wo sich ein ver­heirateter Sohn oft nicht von seinen Eltern trennt.

Die auf keiner Verwandtschaft basierende zadruga trat relativ selten in Er­scheinung. Sie bestand aus rnindestens zwei nicht miteinander verwandten Fami­lien oder sogar aus kleineren GroBfarnilien. Diese Form existierte bei den bos­nischen Serben seit der osmanischen Zeit Ьis heute 18

• Die nicht rniteinander ver-

18 Milenko S. Filipovic, Nesrodnicka i predvojena zadruga [Die auf keiner Verwandtschaft ba­sierende und geteilte GroBfamiliel (Beograd 1945) 21- 23; Nikola F. Pavkovic, Drustvene i oЬicajno-pravne ustanove [Soziale und gewohnheitsrechtliche Institutionen]. ln: Glasnik Ze-

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wandten Familien vereinten sich, um erfolgreich wirtschaften zu kбnnen, zum per­sбnlichen Schutze sowie zur Sicherung des Besitzes. Obwohl nicht auf Verwandt­schaft basierend, hielten sich alle ihre Mitglieder an die strenge GroBfamilien­exogamie. Das Leben und Arbeiten funktionierte auch in solch einer zadruga nach den gleichen Regeln wie in einer auf Verwandtschaft basierenden zadruga. In ei­ner derartigen zadruga feierte man das Fest des Familienschutzpatrons [slava} fiir

alle Mitglieder der vereinten Familie. Die geteilte zadruga war eine verwandtschaftliche Gemeinschaft, die raum­

lich meistens zweigeteilt war. Zu einer derartigen Teilung kam es infolge ei­ner extensiven und vielfaltigen Wirtschaft und wegen der Distanz zwischen den einzelnen Teilen des Besitzes. Es wurde zwischen Ackerbau und Viehzucht ge­trennt. Die Familien besaBen in der Nahe der Weideflachen ein separates Haus und ein Wirtschaftsgehaude. Beide Teile der zadruga, obwohl raumlich vonein­ander durch mehrere Кilometer getrennt, Ьildeten eine Einheit mit einem Ober­haupt an der Spitze. Die Vermogensbeziehungen in der zadruga richteten sich nach dem Gewohnheitsrecht der GroBfamilien. Das Besitzsubjekt war die zadru­ga. Niemand, nicht einmal das Oberhaupt, konnte den unbeweglichen Besitz der zadruga enteignen. In der zadruga war die testamentarische Verfiigung iiber den Besitz unbekannt. Solange die zadruga existiert, wird die Frage des Erbens des Besitzes nicht gestellt. N ur Frauen besaВen Eigentum { osobac}' bestehend aus Кleidungsstiicken, Schmuck und einigen Stiick Vieh. Sie brachten dieses Eigen­tum aus der eigenen Familie mit und verfiigten selber dariiber. Osobac wurde von den Tбchtem geerbt.

An der Spitze der zadruga stand das Oberhaupt [staresina} oder der Haus­vater [domaCin]. In der zadruga des Vaters war dies der Vater, in der zadruga der Briider war es derjenige Bruder, der sich durch seine Arbeit und Fiihrungs­qualitaten jahrelang profiliert hatte, so dаВ er zu einem festgelegten Zeitpunkt mit Zustimmung aller volljahrigen Mitglieder zum Oberhaupt gewahlt werden konn­te. Er vertrat die Familie gegeniiber der AuBenwelt und entschied in Abstimmung mit anderen erwachsenen Mannem iiber die alltaglichen Verrichtungen. Zudem war er fiir samtliche Handlungen und das бffentliche Verhalten der zadruga ver­antwortlich. Seine wirtschaftliche und rechtliche Lage in der zadruga machten ihn lediglich zum primus inter pares. Der beriihmte Jurist, Rechtshistoriker und Weg­bereiter der Rechtsethnologie in Ex-Jugoslawien, Valtazar Bogisic ( 1834- 1908), bewies als Erster, daB sich die einzelлe Familie bei den Siidslawen von der rб­mischen biirgerlichen Familie vollkommen unterschied, d. h. dаВ sie auf gleicher Basis wie die zadruga beruhte und sich infolge ihres Ьiologischen Wachstums zur GroBfamilie entwickelte 19 • Dadurch zeigte er, daB der Vater in einer zadruga des

maljskog muzeja. Etno1ogija, Sveska ХУН (Sarajevo 1962) 125 ft·. .. 19 Valtazar Bogisic, О oЬliku nazvanom inokostina и seoskoj porodici Srba i Hrvata [Uber die

Form der so genannten "se1bstiindigen Fami1ie" in der dorflichen Familie bei Serben und Kroa­ten]. In: Pravni Clanci i rasprave I (Beograd 1927).

Zur historischen Anthropologie 109

Sohnes nicht dieselbe Funktion innehatte wie der pater familias in der rбmischen Familie. Der Vater war den Sбhnen gleichgestellt und konnte ihnen den Familien­besitz nicht vorenthalten. Seine rechtlich-wirtschaftliche Position in der zadruga, das Fehlen des individuellen Verfiigungsrechts, das Recht der Farnilienmitglieder, die Familiengiiter nur zu ihren Lebzeiten zu genieBen, deuten darauf hin, daB ei­nige wissenschaftliche Darstellungen, die das Oberhaupt als ausgepragt autoritare Persбnlichkeit darstellten, mбglicherweise iibertrieben haben.

Das weibliche Oberhaupt wurde genauso wie das mannliche gewahlt. Diese Frau beaufsichtigte die "Frauenaufgaben": Sie bestimmte die Arbeit fiir die ande­ren Frauen, beaufsichtigte das Fleisch und die Fleischspeisen fiir die gemeinsame Ernahrung und verteilte diese, ebenso wie sie Wolle und Hanfgam an die Frauen zur Кleidungsanfertigung austeilte.

Die Spaltung der zadruga resultierte aus der durch Verheiratung immer grб­Beren Anzahl der Familienmitglieder, trat aber auch wegen innerer Zwistigkei­ten und Streitereien in Erscheinung. Als Folge dieser Spaltungen setzte der Zy­klus der Entstehung und Entwicklung neuer GroBfarnilien ein. Die Spaltung der zadruga war von der Verwandtschaftsstruktur abhangig. Gespalten wurde nach den Generationen der Briider: So viele Briider es als Griinder in der ersten Ge­neration gab, so viele neue Farnilien oder kleinere GroBfamilien entstanden im Prinzip dann auch. GemaB der Spaltungsregel "nach Verwandtschaftsgrad" wurde der ganze Grundbesitz geteilt: das Land, die Gehaude, das Vieh und das Geld. Nur die Lebensmittel, die Wolle und andere Rohstoffe zur Кleidungsproduktion wur­den gleichma6ig "pro Kopf'' aufgeteilt. Die Erben des Grundbesitzes der zadruga waren ausschlieШich Manner. Die Frauen erbten kein Land, besaВen aber aJs Ge­genleistung das Recht auf eine Mitgift (eigene Bekleidung anlaШich ihrer Heirat) und auf Riickkehr in ihre Familie im Falle der Scheidung oder Verwitwung. Nur eine Witwe, die Sбhne hatte und deren Ehemann Trager des ideellen Anteils am Erbe war, bekam anlaШich der Aufteilung den gleichen Anteil wie ihre Schwager. Eine weniger offensichtliche, aber weit zerstбrerische Ursache fiir SpaJtungen und das Verschwinden der GroBfarnilien waren kapitalistische Verhaltnisse und Pro­duktion. Nach dem Zweiten Weltkrieg versetzten die sozialistische Gesetzgebung und die Agrarreform der zadruga den TodesstoB, indem die GrбBe des Privatbe­sitzes auf zehn Hektar Land begrenzt wurde. Um die Enteignung von Grund und Boden zu vermeiden, brach die zadruga zuerst formal-juristisch und schlieBlich endgi.Нtig auseinander.

Im Laufe mehrerer Jahrhunderte verfiigte die Familie im System der serЬi­schen traditionellen Kultur iiber mehrere Funktionen, egal оЬ es sich um die selb­standige Farnilie oder die zadruga handelte. Die hauptsachlichen Funktionen der traditionellen Formen der Familie waren: Ьio-reproduktiv, wirtschaftlich, sozial­erzieherisch und ritual-religios.

1. Die Ьiologisch-reproduktiven Funktionen der Familie stehen nach wie vor an

110 S\obodan Naumovic, Niko\a F. Pavkovic

erster Ste11e. In der Vergangenheit verband sich diese Rolle der Familie eng rnit der extensiven, auf Landwirtschaft und Viehzucht orientierten Wirtschaft, die einen groBen Bedarf an Arbeitskriiften zu decken hatte. Die Frau gebar, solange sie dazu imstande war. Die Sohne waren beliebter, da sie als bessere Arbeiter galten und zudem die geistigen, sozialen und materiellen Gtiter er­ben konnten. Heutzutage sind Veranderungen in dieser Funktion der Familie ersichtlich: ihre GroBe und die soziale Zusammensetzung werden geplant, was meistens Geburtenbegrenzung mit einschlieBt.

2. Die wirtschaftlichen Funktionen waren in der Vergangenheit von zentraler Be­deutung. Die Farnilie verkorperte die grundsatzliche Produktionseinheit der Traditionsgesellschaft. In einer Bauernfamilie stellen Grund und Boden zusam­men mit dem Vieh die grundlegenden Produktionsmittel dar. Da der Boden im Prinzip unverauBerlich war, kam es selten zur Verminderung des Besitzes. Die primitiven landwirtschaftlichen Werkzeuge und der extensive Charakter der Viehzucht bedingten einen immer hoheren Bedarf an menschlichen Arbeits­kraften. Die Arbeitsteilung in einer solchen Familie erfolgte nach Geschlecht und Alter. Bis ins 19. Jahrhundert war die Farnilie eine mehr oder weniger autarke Produktions- und Verbrauchergemeinschaft. Sukzessive Veranderun­gen setzen аЬ der Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Die Farnilie partizipierte im­mer intensiver an der Waren-Geld-Wirtschaft des wachsenden Staates und der globalen Gesellschaft. Diese Veranderungen wurden in der Zeit der schnellen Industrialisierung nach dem Zweiten We1tkrieg noch radikaler.

3. Die soziale Rolle der Farnilie besaB zwei konstante Formen: eine erzieherische und eine beschtitzende. Die Mutter war und ist ftir die Erziehung der Кinder beider Geschlechter Ьis zu ihrem siebten/achten Lebensjahr unersetzlich. Da­nach tibernahmen der Vater, der GroBvater und die alteren Briider die Erzie­hung der Jungen. Sie ftihrten die Jungen systematisch in die mannlichen Ta­tigkeiten ein, erzahlten ihnen Geschichten tiber die Herkunft und Ansiedlung der Vorfahren sowie tiber die Entstehung und Entwicklung ihres Dorfes. Der GroBvater und die Mutter tibernahmen die Einftihrung der Jungen in die Fami­liengenealogie der beiden Verwandtschaftslinien. Sie unterrichteten die Кinder tiber ihre Verwandten und tiber die Mitglieder der Patenfamilien, die sie nicht heiraten durften. Sie belehrten sie dartiber, wie man sich gegentiber Alteren im Haus und auBerhalb des Hauses zu verhalten, wie man sie anzusprechen und zu begriiBen hat und daB man sie respektieren soll. Anweisungen fiir das Eheleben erhielten junge Madchen von ihren Schwagerinnen, wahrend sie die Mtitter dariiber in Kenntnis setzten, wie sie sich gegentiber den zukiinftigen Schwiegereltern verhalten sollten. Der Erniihrung der Кinder wurde besondere Aufmet·ksamkeit geschenkt: In einer selbstandigen Farnilie aBen die Kinder ge­meinsam mit den Eltem, in GroBfamШen aBen alle Кinder an einem separaten Tisch. Die Beziehung zwischen Ehemann und Ehefrau war in einer patriarchalischen

Zur histoпschen Anthropologie 111

Farnilie ein Verhiiltnis von ОЪеr- und Unterordnung. Vom Mann wurde erwar­tet, daB er die Ehre und das Ansehen seiner Gattin beschiitzte. Die primare traditionelle Stellung des Ehemannes, des Mannes im Haus allgemein, wurde im Jahr 1844 im Serhischen Bйrgerlichen Gesetzbuch [Srpski gradanski za­konik] festgelegt. Der Ehemann galt nun formal als juristisches Subjekt des Familienbesitzes. Die Grundstiicke im Besitz der Farnilie wurden auf seinen Namen eingetragen und er bezahlte die Steuern. Dadurch wurde die traditio­nelle gewohnheitsrechtliche Regel, wonach die Gemeinschaft als Rechtstrager der Besitztiimer fungierte, grundlegend geandert. Die Gleichberechtigung der Geschlechter im Erbrecht wurde erst im Jahre 1946 festgeschrieben.

4. Die rituell-religiOsen Funktionen der Familie kamen in bestimmten Lebenszy­klen ihrer Mitglieder (Geburt, Taufe, Heirat, Tod) und anlaBiich der allja.hr­lichen Feiertage zur Geltung. Zu diesen Gelegenheiten, besonders aber bei der Hochzeit, zu Weihnachten und bei Begriibnissen hatte die gesamte Fami­lie anwesend zu sein. In einer selbstandigen Familie nahm der Vater, in einer zadruga das Oberhaupt Ьisweilen die Rolle des Priesters ein. Der Hausherr und die Hausherrin regelten die gemeinsamen Fastenzeiten. Heute ist die Familie als rituell-religiose Gemeinschaft in vielem zersplittert, wobei seit Mitte der 1980er Jahre in einigen Fallen Anzeichen von Wiederbelebung des religiosen Farnilienlebens erkennbar sind.

3.1.3. Sippen- und Stammesorganisation

Die mehrere Jahrhunderte andauernde Unterwerfung der Balkanlander iso1ierte diese von gesellschaftlichen Ereignissen in Westeuropa. Es wurde bereits ange­deutct, daB unter vielen Vertretern der nationalen Wissenschaften die Meinung vorherrschte, daB diese Periode ftir "die unterjochten christlichen Volker" Stag­nation und Rtickgang in allen Lebensbereichen bedeutete, besonders im sozia1en und zivilisatorischen Bereich. Diesen Autoren zufolge war die Wiederentdeckung und -belebung einiger archaischer Formen der gesellschaftlichen Organisation das Resultat der angefuhrten regressiven Prozesse bei den Serben: Dazu gehoren die komplexe Familie, genannt zadruga, die vorrangig im Flachland mit Ackerbau vermehrt in Erscheinung trat, sowie der Stamm als einer auf fiktiver und ech­ter Verwandtschaft basierenden Form der territorial-politischen Organisation vor allem in GeЬirgsgegenden mit Viehzucht. Diese Erscheinungen wurden sowohl in der serЬischen Historiografie als auch in den anthropo-geografischen Arbeiten von Jovan Cvijic beschrieben. Die durch den Zerfall autochthoner feudaler Ge­sellschaften und durch Errichtung der osmanischen Gesel\schaftsordnung verur­sachten sozial-regressiven Prozesse umschrieb Cvijic, wie bereits erwahnt, schon im Jahr 1902 als ethnographische Auffrischung, also mehr als ein halbes Jahrhun­dert bevor Claude Levi-Strauss den Begriff falscher Archaismus kreierte, um eine vergleichbare Erscheinung zu charakterisieren.

112 Slobodan Naumovic, Nikola F. Pavkovic

Der allgemeinslawische Begriff Stamm [pleme] verftigt in der serЬischen Sprache tiber mehrere Bedeutungen. Erstens kann der Begriff Stamm kleinere, auf Verwandtschaft basierende Gruppen bezeichnen, wie Sippe [rod] und Bruder­schaft [bratstvo]. Zweitens kann der Terminus auch ftir eine gro/Зere territorial­politische Gruppierung, bestehend aus mehreren Bruderschaften, stehen. Synony­me fur Stamm waren in Montenegro (in der Umgebung von Plav und Gusinje) die Begriffe Hiigel [brdo], oder Berg [gora].

Die zweite oder neue Formierung der Stiimme bei den Serben in Montenegro und der Ostherzegowina setzte in der zweiten Halfte des 15. Jahrhunderts ein und dauerte Ьis zum 19. Jahrhundert an. Dieser Proze/3 war eng mit dem Verschwinden des serЬischen Feudalstaates und der langsamen, teilweise auch unvollstandigen Errichtung des osmanischen Verwaltungssystems verbunden.

Ober Alter, Herkunft und Entstehung serЬischer Stiimme gibt es zwei Theori­en: die Theorie der Kontinuitiit und die walachisch-katunische Theorie. Der Be­grtinder der ersten Lehre war Jovan Erdeljanovic (1874- 1944), einer der Pioniere der serЬischen Ethnologie. Ihm folgten noch weitere Ethnologen, weshalb die Hi­storiker seine Theorie als ethnologische Theorie bezeichnen. Der Grundgedanke von Erdeljanovic' Abhandlung: Er bringt die zu Beginn des 20. Jahrhunderts er­forschte Stammesgenese in unmittelbare VerЬindung mit altslawischen Stammen auf der BalkanhaiЬinsel. 20

20 Die wissenschaftliche Diskussion um die Entstehung der dinarischen Stamme Ьietet ein gutes Beispiel fUr die subtile Verflechtung von Wissenschaft und Ideologie. Es fallt schwer, sich dem Eindruck zu entziehen, daB Erdeljanovic vor allem aus nicht wissenschaftlichen Motiven auf der Kontinuitat der Stamme bestand und daшit versuchte, den EinfluB nichtslawischer (altbalkani­scher, roшanisierter, d. h. walachischer und albanischer) kultureller und ethnischcr Elcшente auf deren Entwicklung zu vermindern. Auf diese Weise wollte er die These untermaucrn, daB die dinarischen SШmme in ihrem Kern ein serЬisch-kulturelles Produkt seien. Er ahnte, daB die Starkung der Bedeutung nicht-slawischer Eleшente als Grundstein der ethnischen bzw. nationa­len Spaltung zwischen Montenegrinem und SerЬen dienen konnte. Seine Angste Ьewahrheiteten sich nach seinem Tod, als infolge der kommunistischen Nationalpolitik der ProzeB der Festigung der montenegrinischen Nationalitat einsetzte. In der Rhetorik des шontenegrinischen Nationa­lismus fand man auch Platz dafiir, die Stamme als ein Merkmal der kulturellen Besonderheit zu deuten, auf dem die montenegrinische nationale Eigcnhcit basiere. Siehe z. В. die Studie, die die Resultate und SchluBfolgerungen Erdeljanovic' i.iber die Stammesgesellschaft zu widerlegen versucht: Spiro KuliSic, О etnogenezi Crnogoraca [Uber die Ethnogenese der Montencgriner] (Titograd 1981). AuBerdem war es Erdeljanovic sehr wohl bekannt, dаВ die Stamme in dcr von ihm untersuchten Form am Anfang des 20. Jahrhunderts das Resultat eines Prozesses der se­kundaren Formung darstellten, im Einklang mit der These, die Konstantin Jirecek oder spater Branislav Durdev vertreten haЬen. In seinen Monografien i.iЬer die Entstehung einiger Stamme veroffentlichte er sogar Stammesgeschichten, die eine solche These Ьestatigen. Die Auseinan­dersetzung war nati.irlich nicht nur ideologischer Natur. Es gibt eine Anzabl von Fragen, auf die weder die Theorie der Kontinuiйit, noch die Theorie Uber die walachischen Soшmerweiden adaquate Antworten geben, die sich aber unter anderem auf die noch ungenUgend untersuchte Geschichte der transhumanten Viehzucht auf dеш Balkan beziehen. In dieseш Sinne Ьleibt das ProЬlem der Entstehung der dinarischen Stamme nach wie vor offen, sowohl fi.ir wissenschaft­liche Analysen als auch fiir die weitere Erforschung der nationalen Wissenschaften.

Zur historischen Anthropologie 113

Im Unterschied zum ethnografischen Zugang, der auf mtindlichen Oberliefe­rungen des Stammes und auf genea1ogischem Wissen basierte, lagen den histo­rischen Untersuchungen zur Herkunft der dinarischen Stamme die schriftlichen Oberlieferungen des 12.-16. Jahrhunderts zu Grunde. Konstantin Jirecek stellte die Hypothese auf, da/3 die Stiimme aus Hit·tendorfem [katuni] entstanden seien. Ausgehend von dieser Annahme meinte der Historiker Branislav Durdev aufgrund osmanischer Quellen aus dem 15. und 16. Jahrhundert, da/3 vor der Entstehung entwickelter Dorfer zwei Prozesse vonstatten gehen mu/Зten: zum Einen die Terri­torialisierung der Viehzucht-Sommerweiden [katuni], d. h. ihre Entwicklung von engeren, auf Verwandtschaft basierenden Einheiten hin zu einer breiteren territo­rialen Organisation, und zum Anderen die Schwachung bzw. der Untergang des serЬischen mittelalterlichen Staates.

Alle historischen und ethnologischen Untersuchungen der Stiimme bei den dinarischen Serben bestatigen, da/3 der Proze/3 ihrer Entstehung Jang andauemd und komplex war. Daneben ging die Neuformierung der Stamme (im Rahrnen des osmanischen Verwaltungssystems) aus kleineren, verwandtschaftlichen Gemein­schaften (Sippe und Bruderschaft) hervor. Abhangig von den historischen Um­standen veranderte sich durch Aussiedlung oder Vereinigung die Zahl und GrбBe der Stamme.

Die Stiimme unterschieden sich in Bezug auf Entstehungszeitpunkt und Gro­Be, verftigten jedoch tiber die gleiche Organisationsstruktur. Jeder Stamm ЬеsаВ seinen Namen, sein Terгitorium, seine Organisationsstruktш; seine Ven-valtung, Ideologie und Stammesmentalitdt.

Die Stammesnamen waren patronymischen und toponymischen Ursprungs. Patronymische Namen leiteten sich vom Vornamen des echten oder legendaren Ahnen аЬ. Die Stamme wurden im Unterschied zu den Bruderschaften [bгat­stva] nicht nach weiЬlichen Vorfahren benannt. Die historischen Quellen und die Volkstradition weisen darauf hin, daB sich die Stiimme aus Bruderschaften ver­schiedener Abstammung zusammensetzten. Die Zusammenftigung der Stamme wurde entweder von einer starkeren oder bedeutenderen Bruderschaft initiiert, die dem neuen Stamm Namen und Ideologie gab (Kulte und Feiern zu Ehren des Stammespatrons), oder von dynamischen "Neusiedlem" eingeleitet, die die Ein­heimischen verdrangten und deren Positionen, Verwaltungsfunktionen und Anse­hen tibemahrnen. Die Glaubwtirdigkeit der Oberlieferungen tiber die Zusammen­ftigung der Stamme belegen sowohl teilweise Ьis ins 15. Jahrhundert zurtickrei­chende genealogische Erkenntnisse, als auch in bedeutendem МаВе verschiedene Schriftquellen, darunter vor allem osmanische Einwohnerverzeichnisse vom Ende des 15. Jahrhunderts Ьis zum 18. Jahrhundert.

Alle Erforscher der Stiimme waren sich im Кlaren darilber, daB die alten Na­men der Stiimme sowohl slawischen als auch nicht slawischen Ursprungs sind. Nicht slawische Namen (wie Mataruga, Kuci, Macura, Bukumir) weisen auf den Einflu/3 altbalkanischer (walachisch-albanischer) Komponenten auf die Formie-

114 Slobodan Naumovic, Nikola F. Pavkovic

rung der Stamme in Montenegro und der Herzegowina hin, die aber in diesem ProzeB keine so bedeutende Rolle gespielt haben. Walachen gab es namlich auch auBerhalb der StammesgeЬiete, dort Ьildeten sie aber keine eigenen Stamme aus, wie die serЬischen Ethnologen Jovan Erdeljanovic und Milenko Filipovic aufzei­gen konnten.

Das Territorium. Jeder Stamrn verfilgte ilber ein eigenes umzauntes GeЬiet, das in der Ebene die Siedlungen und in hoheren Almengegenden die katune und die WeidegeЬiete umfaBte. Die Geschichte der montenegrinischen und herzego­winischen Stamrne war unter anderem auch die Geschichte stiindiger Kampfe um die Erhaltung und Erweiterung der StammesgeЬiete, um die Verteidigung gegen PШnderung, Ausrottung und Ansiedlung seitens der Neusiedler. In der Regel be­fanden sich die Siedlungen und Kultorte im Zentrum des Stammesterritoi"iums, wamend die Weidetlachen an der Peripherie lagen.

Die Stammesorganisation. Ungeachtet seiner GroBe hatte jeder Stamm die gleiche Struktur: Er bestand aus mehreren exogamen Bruderschaften. Die groBere Bruderschaft konnte mehrere Sippen oder Biiuche {trbuh] urnfassen, die wieder­um in Hiiuser [kuca] geteilt wurden. Die Mitglieder eines Stammes waren oft nicht gleicher Abstarnmung, wahrend dies in einer Bruderschaft der Fall war. Auf die Verwandtschaft und die Abstamrnung achtete man besonders streng. Jedes Mitglied der Bruderschaft muBte in der Regel seine mannlichen Vorfahren vieler Generationen kennen, hatte solidarisch zu sein und sich filr Beleidigungen oder Morde an anderen Mitgliedem seiner Bruderschaft zu rachen. Eine Bruderschaft war nicht nur eine auf Verwandtschaft basierende Gemeinschaft, sondem auch eine wirtschaftliche Einheit, weil sie ilber gemeinsame Weiden und Wiilder ver­ftigte. GewOhnlich erstreckte sich die Bruderschaft ilber eine oder mehrere nahe beieinander liegende Siedlungen. Stamm und Bruderschaft waren auch spezielle Militareinheiten, was besonders zu Zeiten der Aufstiinde oder Кriege zum Aus­druck kam, aber auch im Rahl"nen der Pltinderungswirtschaft, die charakteristisch war filr die Memheit der Viehzuchtgesellschaften. Die Кraft und zahlenmiiВige Stiirke eines Starnmes wurde oft aufgrund der "Anzahl der Geweme", d. h. der Кrieger gemessen.

Die Venvaltung des Stammes setzte sich aus den Kollektivorganen (skupstina oderzbor) und den Individualorganen (glavari) zusarnmen. Die skupstina bestand aus samtlichen Waffen tragenden Mitgliedern. Sie reprasentierte die hochste po­litische Gewalt und trat nach Bedarf zusammen. Sie regelte die Stammesangele­genheiten, verfaf3te die Richtlinien, trat als richterliche Gewalt auf, entschied ilber Кrieg und Frieden, ilber Bilndnisse mit anderen Stiimmen, ilber Friedensschltis­se zwischen verfeindeten Bruderschaften, ilber die Wahl des Woiwoden und tiber das Austreiben des Viehs auf die Sommerweiden. Ihre Entscheidungen wurden meist milndlich und einstimmig getroffen. Das hochste Individualorgan in Frie­denszeiten war der knez und im Кrieg der Woiwode {vojvoda]; [serdari] waren Militiiranfilhrer niedrigeren Ranges. Die Рореп [popvoi] (Priester) ziihlten eben-

Zur historischen Anthropologie 115

falls zu den Anfilmem. Die Woiwoden wurden von der skupstina gewahlt, ob­wobl es in den machtigsten Bruderschaften auch Erbwoiwoden (vom Vater zum frihigsten Sohn) gab, die als einzige von der osmanischen Verwaltung anerkannt wurden. Die Wahl zum Woiwoden war von symbolischen Ritualen begleitet, die diesem Akt seine Legitimitiit verliehen. Der Aktionsradius der Anfilhrer war nicht bei allen Stammen und zu allen Zeiten gleich. Ihl"e Macht und Befugnisse waren begrenzt. Auch wirtschaftlich hoben sie sich kaum von anderen Mitgliedem des Stammes аЬ. Das Haus und die Bruderschaft, aus der der Anftihrer stammte, si­cherten sich durch seine Funktion zwar moralisches Ansehen und Respekt, jedoch resultierten daraus keine materiellen oder andersartigen Begtinstigungen.

Gesellschaftliches BewujJtsein. Grundsatzlich stellte ein Stamm (besondeгs ei­ne Bruderschaft) eine einheitliche rituell-religiose Gemeinschaft mit dem gemein­samen Kult des Heiligen-Beschiltzers (sog. plemenska slava), mit gemeinsamer Кirche oder Юoster, sowie dem Bruderschafts- und (oder) Dorffriedhof dar. Die Uberlieferungen ilber die Vorfahren und ilber die Kampfe ftir die Erhaltung des Stammesterritoriums, ime gruppenidentitiitsЬildende Funktion, die Erhaltung des Gruppenprestiges und die Stiirkung ihrer inneren Verbundenheit waren einheitlich filr alle Мitglieder des Stammes, bzw. der Bruderschaft.

Die Stammesmentalitiit wurde lange und parallel zur Entstehung des Stam­mes selbst aufgebaut. Die historischen Umstande trugen dazu bei, daB Helden­mut, Tapferkeit und Aufopferung filr die Stammesgemeinschaft als die hochsten menschlichen vVerte geschatzt wurden. Es wurde ein ldealtyp des Menschen mit hohen moralischen Werten geformt, der sich durch Miinnlichkeit {cojstvo/lund Heldentum [junastvo] auszeichnete. Die Erinnerung an die Vorfahren, in de­nen diese Werte verkorpert gewesen seien, wurde kollektiv in der Familie, der Bruderschaft und im Stamm gepflegt. Parallel zum Bild der Mannlichkeit und des Heldentums ist auch der negative Gegenpol entstanden: das Bild des Verrii­ters [izdajnik] und Abtriinnigen [poturica], (ursp. ein zum lslam tibergetretener Cmist), eines wankelmtitigen Menschen mit ilbermiiВigem SelbstbewuBtsei'} und Selbstwertgefilhl, der bedenkenlos die Interessen der Gemeinschaft seinen eige­nen Wilnschen unterordnet. Es herrschte die Meinung vor, daB sich ein Abtrtin­niger gerade an seinen frtiheren Stammesmitgliedem filr die eigenen unerftillten und verletzten AmЬitionen grausam rachen wolle.

Der sukzessive AufЬau der Staatsorganisation filhrte аЬ dem Ende des 18. und wamend des 19. Jahrhunderts zur Umwandlung der Stammesgesellschaft in Mon­tenegro und anschlieBend zu ihrer immer schnelleren Autlosung. Trotzdem weiВ auch heute noch jeder Montenegriner, zu welcher Bruderschaft und zu welchem Stamm er gehбrt, wer seine Vorfahren waren und welche Heldentaten diese Men­schen zu Lebzeiten vollbracht haben.

116 Slobodan Naumovic, Nikola F. Pavkovic

3.1.4. Das Gewohnheitsrecht

Das Gewohnheitsrecht kann man als eine Ansammlung von Werten, Gebriiuchen und Regeln des gesel\schaftlichen Verhaltens bezeichnen, die als selbstiindige, vom Staat unabhiingige Quelle des Rechts bei der Regulierung der Beziehungen zwischen den Einzelpersonen und den gesel\schaftlichen Gruppen fungiert. Seit der Ansiedlung auf dem Balkan im siebten und Ьis zum Ende des zwбlften Jahr­hunderts dominierte im Rechtssystem der Serben (und anderer Siidslawen) das Ge­~vohnheitsrecht. Im Hochmittelalter (13.-15. Jahrhundert) behauptete sich das Ge­wohnheitsrecht parallel (oft auch contra legem) zum Staatsrecht. Viele staatliche Institutionen verdanken ihre Herkunft der Volkstradition und den Volksbraнchen. So zum Beispiel auch der sabor [Landtag] als die wichtigste Staatsinstitution des mittelalterlichen serblschen Staates 21

• Mehrere Artikel des Gesetzbuchs des Za­ren Dusan [Du.sanov Zakonik] (1349), sowie zahlreiche Bestimmungen aus der hrisovulja [Chrysobulle] lehnten sich an die Institutionen des Gewohnheitsrechts an. Im Prinzip iiul3erte sich die staatliche Gesetzgebung nicht zu den durch das Gewohnheitsrecht regulierten Verst013e und Strafen.

Auch spater - wiihrend der osmanischen bzw. der habsburgischen Herrschaft - kam das Gewohnheitsrecht in Konftikt mit den geschriebenen staatlichen Ge­setzen. So konnten die Bestimmungen des osterreichischen Allgemeinen Bi.irger­lichen Gesetzbuchs aus dem Jahr 1811 , die sich auf das Familien- und Erbrecht bezogen (z. В. in Slawonien, Кroatien und аЬ 1879 auch in Bosnien) nicht ange­wandt werden, ohne mit dem Gewohnheitsrecht in Konftikt zu geraten.

3.1.5. Der Gegenstand des Gewohnheitsrechts

Seit dem 13. Jahrhundert ist zu beobachten, daB einige Sparten des Rechtslebens die Normen des Gewohnheitsrechts iiberwinden und schrittweise in den Zustiin­digkeitsbereich der staatlichen Rechtsnormen iibergehen. Die Rede ist in erster Li­nie vom offentlichen Recht und vom Strafrecht. Private Angelegenheiten wurden Ьis zur Mitte des 19. Jahrhunderts gewohnheitsrechtlich geregelt. Die Vorschrif­ten des Gewohnheitsrechts galten und gelten aber mehr oder weniger paral\e\ zu den Staatsgesetzen - oder im Widerspruch zu diesen - Ьis heute. Der typische Rechtsdualismus Ьlieb im Bereich des Erbens, der Вlutrache (bei den Albanem in Kosovo und Metohija), dann auf dem Geblet des Eherechts und des Rechts des wichtigen Einkaufs [preca kupovina] erhalten

Das Gewohnheitsrecht konnte sich in der friiheren Stammesgesellschaft und im patriarchalischen Leben der zadruga am langsten halten und deckte ein brei­tes Spektrum des Rechtlebens аЬ. Der Rechtshistoriker Valtazar Bogisic nahm in

21 Teodor Taranovski, Istorija sprskog prava u nemanjickoj drzavi (Dic Geschichte des serbischen Rechtssystems im Nemanjidenstaat. (Beograd 2002/1931) 7 1 - 201.

Zur histortschen Anthropologie 117

seinen groB angelegten Untersuchungen der Jahre 1866 und 1873 am vollstiin­digsten eine Systematisierung dieser juristischen Materie vor. 22 Seine Einteilung

sieht folgenderma13en aus:

J. Privatrecht

(а) Familie: GroBfamilie, engere Familie, Verwandtschaft auBerhalb des Hau­ses, Teilung der Familie uпd zadruga, Vergleich mit dem SerЬischen Biir­gerlichen Gesetzbuch [Srpski gradanski zakonik - SGZ] aus dem Jahr 1844 in Bezug auf das Erben und die Teilungen, die Rechte der Eltem und der

Кinder, Ehevertrage, Schutz der Waisen

(Ь) echte Rechte (с) Verpflichtungen - Vergleich mit dem SGZ: Vertriige und allgemeines biir-

gerliches Recht.

2. Offentliches Recf1t (а) inneres Staatsrecht: Staatsrecht, Wirtschaftsbeziehungen, Кlassen und

Schichten im Volk, BeziehLtngen zwischen Bauern und Landbesitzern, kirchliche Beziehungen, auBergerichtlicher ProzeB, gerichtlicher ProzeB,

Strafrecht, Blutrache (Ь) auBeres offentliches Recht: das Recht des Einzelnen, Haiduken, Uskoken.

3.1.6. Die Niederschrift und die Redaktion des Gewohnheitsrechts

Die verschiedenen schriftlichen Quellen legten die Natur des Gewohnheitsrechts fest, modifizierten diese aber auch. Zu den Dokumenten, die das Gewohnheits­recht beeinfluBt haben, gehoren zum Beispiel Schenkungsurkunden aus dem 13. Ьis zum J 5. Jahrhundert und Statute der Kiistengemeinden vom 13. Ьis zum J 8. Jahrhundert. In Montenegro wurden zwei bedeutende Kodifizierungen des Ge­wohnheitsrechts vorgenommen. Die erste, in der Zeit von 1798- 1803 durchge­fiihrte Sammlung, ist unter dem Namen Crnogorska stega oder Das Gesetz des Vladika Petar des Ersten bekannt. Dieses Gesetz mit insgesamt 33 Artikeln war ei­nes der ersten Dokumente, das den Beginn der Umwandlung der Stammesgesell­schaft in einen Staat markierte. Die zweite Kodifizierung wurde im Jahr 1888 un­ter bedeutend veranderten gesellschaftlichen Bedingungen durchgefiihrt, da Mon­tenegro zu dieser Zeit bereits ein intemational anerkannter Staat war. Diese Ko­difi zierung war sowohl vom juristisch-geschichtlichen als auch vom praktischen Standpunkt her gesehen einzigartig in Europa. Es handelt sich um das Allgemei­ne Eigentumsgeset::.buch fiir das Fi.irstentum Montenegro [Opsti imovinski zako­nik za Knjazevinu Crnu Goru] , dessen Verfasser der bereits erwiihnte beriihmte Historiker der Rechtswissenschaften und Anhiinger der europaischen juristisch­

historischen Schule Valtazar Bogisic war.

22 Valtazar Bogisic. ZЬornik sada5njih pravnih obicaja u Ju/nih Slovena [Sammelband dcr gcgcn­wartigen Rechtsgewohnheiten bei den Siidslawen] (Zagreb 1874).

118 Slobodan Naumovic, Nikola F. Pavkovic

4. Anstelle eines Schlu8worts

Mit der Verflechtung der beiden Erzahlstrange wurden einerseits die wichtigeren traditionellen gesellschaftlichen lnstitutionen und Normen auf dem Gebiet des da­maligen SerЬien und Montenegro aufgezeigt, und andrerseits einige der Merkma­le des langsamen und schwierigen Prozesses der Erkenntniserweiterung i.iber die ProЬleme in den damaligen Gesellschafts- und Humanwissenschaften beschrie­ben.

In der zweiten Hiilfte und besonders im Laufe der letzten Dezennien des 20. Jahrhunderts haben sich die Entwicklungsprozesse innerhalb der einzelnen Dis­ziplinen, sowie der Austausch und die Zusammenarbeit zwischen den verschie­denen einscblagigen Wissenschaftsdisziplinen deutlich intensiviert. Die Quellen, Muster und Kontakte werden zuganglicher denn je. Eine der sichtbarsten Veran­derungen ist der allmahliche Ri.ickgang des Syndroms des "doppelt Beteiligten" bei vielen Gesellschafts- und Humanwissenschaftlern, womit eine stetig grбBer werdende Distanz dieser Disziplinen zum Ideal und der gesellschaftlichen Rolle der Nationalwissenschaft verbunden ist.

AuBerdem treten sowohl in den historischen als auch in den ethnologischen Arbeiten die einst vorherrschenden situationsgebundenen und institutionalisierten Auseinandersetzungen mit diesem Thema imrner· weniger zu Tage. Diese wer­den durch proЬlemorientierte Abhandlungen ersetzt, die im Rahmen der Gesell­schaftsgeschichte oder der Geschichte des alltiiglichen Lebens entstehen. ln der Historiografie kommt es sogar zu einer gewissen Renaissance des theoretischen Denkens 23

• Der steife kulturelle Determinismus sowie die Theorien, in denen jeweils nur ein Faktor im Vordergrund steht, werden immer kritischer hinter­fragt. Die Uberlegungen i.iber Faktorenzusammenlegung, Veranderungen in der Konjunktur, Besonderheiten des sozialen Kontextes, dominante und subversive Trends, unbeabsichtigte Folgen des menschlichen Handelns sowie i.iber indivi­duelle und Gruppenstrategien Ьilden einen breiteren und flexiЬieren Rahmen fi.ir die Deutung sowobl traditioneller als auch aktueller gesellschaftlicher Erschei­nungen. Sozialwissenschaftler beginnen systematisch, die theoretischen Rahmen von verschiedenen Disziplinen zu beriihren, um die alten, bereits angeschnitte­nen, aber auch die immer zahlreicher werdenden neuen ProЬieme besser zu lбsen, mit denen sie durch eine veranderte und breitere Erбrterung der wissenschaftli­chen Ziele und die immer rascher voranschreitende Transformation der Gesell­schaft konfrontiert werden 24

• Komplexe Prozesse der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Modernisierung werden zur Herausforderung ftir Historiker, An-

23 Andrej Mitrovic, Propitivanje Кlio. Ogledi о teorijskom и istoriografiji [Befragиng der Кlio. Experimente iiЬer das Theoretische in der Historiographie] (Beograd 1996).

24 Davon zeиgt auch die vielfliltige Тiitigkeit der Belgrader Gesellschaft fiir Sozialgeschichte, die als HerausgeЬer des Jahrbиchs fiir Sozialgeschichte immer wieder ArЬeiten аиs diesem Bereich prasentiert. Siehe die Homepage der Gesellschaft: http://www.иdi.org.yи

Zur historischen Anthropologie 119

thropologen und Ethnologen und stellen kein distinktives Merkmal dcr soziologi­schen Wissenschaftspraxi s dar 25

• Das Interesse ftir die Stadt und die Erforschung der Veranderungcn innerhalb der stadtischen Kultur verdrangen langsam das Dorf, die DorfЬewohner und die Traditionskultur vom Podest des meistuntersuchten Forschungsfeldes in der Ethnologie, aber auch in anderen Wissenschaften. Die frtiheren , von Juristen und Ethnologen begonnenen Untersuchungen des Gewohn­heitsrechts in der Traditionskultur, wurden durch die Erforschung des Rechtsdua­lismus im zeitgenбssischen Leben weitergefi.ihrt und entwickeln sich heute hin zum AufЬau einer breit verstandenen rechtlichen Anthropologie. Anthropologen und Ethnologen beginnen aufmerksamer die Arbeiten von Historikern zu studie­ren, unter anderem um die Mбglichkeiten zu ergrtinden, auf spezifische, ihnen schwer zugangliche Quellen den Begriffsapparat und die in ihrer Disziplin ent­wickelten theoretischen Konzepte kreativ anzuwenden. Historiker und Ethnolo­gen forschen gemeinsam, um die Logik der politischen lnstrumentalisierung der Traditionselemente der Kultur und der historischen Ereignisse sowie бffentliche Personen in Vergangenheit und Gegenwart zu verstehen 26

• Die Forschungen tiber die Familie, tiber Verwandtschaftsterminologien und Verwandtschaftsbeziehun­gen zeichnen sich immer mehr sowohl durch die Anwendung moderner komple­xer Theorien als auch durch gleichzeitiges Vertiefen der historischen Perspektive und der Arbeit mit neuen Quellen aus. Die angesprochenen Entwicklungen stei­Jen bei der komplexen ProЬiematik liingst tiberfallige Fortschritte dar. In diesem Sinne wird ein sorgfaltiger Vergleich der regional-spezifischen Verwandtschaft­stermini, zusammen mit dem Versuch der Entwicklung eines Notationssystems, in der neueren Zeit mit Uberlegungen zu allgemeinen Charakteristiken des ser­Ьischen Verwandtschaftssystems, seinen historischen Transformationen, seinen konkreten Arten in popularen Vorstellungen tiber die Wege der Vererbung kбrper­licher Charakteristiken und persбn licher Eigenschaften erganzt 27

• Das Verschwin-

25 SrЬija и modernizacijskim procesima 20. veka [SerЬien in den Modernisierungsprozessen des 20. Jahrhиnderts] (Beograd 1994); SrЬija и modernizacijskim procesima. Polozaj zena и SrЬiji kao merilo modernizacije, иrcdila Latinka Pcrovic ]SerЬien in den Modernisierungsprozesscn. Die Lage der Fraиen in SerЬicn als ein Massstab der Modcrnisierиng] (Beograd 1998); SrЬija и modemizacijskim procesima 19. i 20. veka. Uloga elita lSerЬien in den Modernisierungspro­zessen des 19. иnd 20. Jahrhиnderts. Dic Rolleder Eliten] (Beograd 2003).

26 Miroslav Jovanovic, Nasledc "vise klasc": odraz drustva u srpskom knjizevnom, kиlturnom i naucnom nasledu 18. veka (Das Erbe "der hoheren Кlasse": Das SpiegeiЬild der Gesellschaft im serЬischen literarischcn, kulturellen und wissenschaftlichen Erbe des 18. Jahrhunderts]. ln: Godisnjak za drиstvenu istoriju, godina, sveska (2002) 1 -3, 7-27. Slobodan Naumovic, Opan­ken im Parlament. Betracl1tungen iibcr die Bedcutung bauerlicher Symbolc in der serЬischen Politik. ln: Historische Anthropologie 7 ( 1999) 1, 63- 82.

27 Zorica lvanovic, The world is hugc, do not marry affinals. ln: Between the archives and the field 69-91. Siehe auch: Dies., Na koga lice deca: srodstvo kod Srba i principi perccpcije slicno­sti medи srodnicima [Wem tihncln die Кinder: Yerwandtschaft Ьеi Serben und die Prinzipien der Perzeption der Ahnlichkeit zwischen Verwandten]. ln: Etnografski institut SANU, Posebna izdanja 48 (Beograd) 375-408.

120 Slobodan Naumovic, Nikola F. Pavkovic

den der Institution des Brautkaufs, die Entwicklung der Mitgift, sowie Yerande­rungen bei anderen Forrnen der Bezahlung, der Schenkung und des Tausches an­Hilllich der EheschlieBung sind Praxen, die zunehmend ganzheitlicher erforscht und begriffen werden. Das Studium der kulturellen Konstruktion der Geschlech­teridentitat und der Sexualitat st6Bt vor allem bei Wissenschaftler der mittleren und jiingeren Generation zunehmend auf Interesse 28

• Parallel dazu riicken Fra­gen zur Lage der Frauen in der patriarchalischen Kultur, zum Funktionieren der Frauen-Subkultur, der Mechanismen ihrer Unterwerfung sowie zur Strategie der Yerwirklichung ihrer tatsachlichen gesellschaftlichen Macht und zur weiЫichen Perzeption der eigenen Lage in der Gesellschaft ins Zentrum des wissenschaft­lichen Blickfelds 29 • Generationsbedingte Profilierung, Positionierung und auch Auseinandersetzungen innerhalb der Disziplinen verstarken die Forschungssen­sibllitat, so daB Historiker den EinfluB der Generationen auf die Forrnierung der politischen und sozialen AЬlaufe in Serblen iiber einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten zu untersuchen beginnen 30

• Gewohnliche Manner und Frauen, ihr Alltag, ihre Erfahrungen auf dem Arbeitsplatz, ihre Festtagskultur und ihr ko­memoratives Verhalten, ihre Angste, Dilemmata, Erfolge und Niederlagen, ihre Erinnerungen, sogar ihre alltaglichen Gesprache am Kiichentisch erlangen in den Augen der hiesigen Sozialwissenschaften langsam den Rang forschungswiirdiger Subjekte, der ihnen lange Zeit verwehrt geЬlieben ist 31

Einige der weiter oben genannten, friiher vernachlassigten fruchtbaren For­schungshypothesen riicken imrner starker ins Zentrum des wissenschaftlichen In-

28 Eine Einftihrиng in das immer rasanter wachsende Forschиngsfeld Ьietet der Sammelband: Gen­der Relations in South Eastem Еигоре. Historical Perspectives on Womanhood and Manhood in the 191h and 20th Century, ed. Miroslav Jovanovic, S\obodan Naиmovic (= Zиr Kиnde Stid­osteuropas, Band II/33, Udruzenje za drustvenu istoriju), ldeje 4, Belgrade/Graz 2002).

29 Siehe z. В.: Ana Stolic, Drustveni identitet uciteljica u SrЬiji 19. veka [Die gesellschaftliche Identitiit der Lehrerinnen in Serblen des 19. Jahrhunderts ]. In: Godisnjak za drustvenи istori­ju 7 (200 1) 3, 205- 232, oder: Vladimir Jovanovic, Prostitucija и Beogradu tokom XIX veka [Prostitution in Belgrad im XlX Jahrhиndert]. In: Godisnjak za drustvenи istoriju 4 ( 1997) 1 7-24.

30 Rados Ljusic, Politicke generacije u SrЬiji [Politische Generationen in SerЬien]. In: Srpske poli­ticke generacije, 1788- 1918 ISerЬische politische Generationen, 1788- 19181 (Beograd 1988) 9-35.

31 Ein interessantes Beispiel stellt die Studie tiber die mittelalterliche Festtagskultur dar: Stanoje Bojanin, Predstave о prazniku i praznicno ponasanje и srednjevekovnoj Srblji [Vorstellungen vom Festtag иnd das Festtagsbenehrnen im mittelalterlichen SerЬien]. ln: Godisnjak za drust­venи istoriju 8 (2001) 3, 179-204. Einen anderen Zugang zur ProЬ\ematik der Beziehung zwi­schen Fest иnd Ideologie Ьietet: Predrag Sarcevic, Prvomajske proslave u Beogradu 1893-1988 )1. Mai-Festlichkeiten in Belgrad 1893- 1988]). ln: Tokovi 1 (1990) 71- 113. Ftir den Blick auf das Alltagsleben иnd die Arbeit unter besonderen sozialen und ideologischen Bedingungen: Predrag Markovic, Seeanja па rad u jugoslovenskoш socUalizmu izmedи kritike i mita о zemlji dembeliji [Erinnerungen an die Arbeit imjugoslawischen Sozialismus zwischen Кritik иnd dem Mythos vom Schlaraffen1and], ln: Godisnjak za drustvenu istoriju 9 (2002) 1 -3, 51 -67. Uber Erinnerungen in Form des Memoires siehe: Pero i povest. Srpsko drustvo и secanjima [Feder und Geschichte. Serblsche Gesellschaft in Erinnerungen] (Beograd 1999).

Zur historischen Anthropologie 121

teresses. Novakovic' Traum von einer totalen Historiografie, die sowohl die Кliif­te der historischen Periodisierung, als auch die Grenzen der Wissenschaftsdiszi­plinen iiberwindet, sowie sein Einsatz fiir eine ethnografische Geschichte nahert sich imrner mehr der Yerwirklichung. Ethnologen, Sozialhistoriker und histori­sche Anthropologen geben heute gemeinsam Samrnelhande tiber die Кindheit, Gescblechtlichkeit und andere ProЫeme des traditionellen Gesellschaftslebens in Siidosteuropa heraus 32

• Andere Traume, wie jener von Valtazar Bogisic von einer umfassenden, angewandten Rechtswissenschaft, die anstatt den Menschen fremde Verhaltensrahmen aufzuzwingen, ihnen durch Regelungen des positiven Rechts die Moglichkeit gibt, sich aus der gewohnheitsrechtlichen Praxis hinauszubewe­gen, haben anscheinend die groBen Menschen die sie traumten nicht tiberlebt.

Der gegenwartige Zustand der Erforschung sowohl traditioneller als auch ak­tueller gesellschaftlicher und rechtlicher Institutionen und Normen auf dem ftir uns interessanten Geblet ist noch immer weit vom Idealzustand entfemt. Fiir ei­ne erfolgreiche Entwicklung dtirften die notwendigen Schritte bereits eingeleitet worden sein und die Mehrheit der Forscher befindet sich auf gutem Wege.

Йbersetzung aus dem Serblschen: Daniela Portmann-Bogosavac, Michael Portmann

32 Neben weiter oben angeftihrten Werken siehe: Childhood in South East Europe: HistoricaJ Per­spectives on Growing Up in the 191h and 201h Century, ed. Slobodan Naumovic, Miroslav Jo­vanovic (= Zur Kunde Stidosteuropas П/28, Udruzenje za drustvenu istoriju, ldeje 2, Be1gra­de/Graz 2001).