„La Science en famille“. Populäre Wissenschaft im 19. Jahrhundert als bürgerliche Kultur –...

10
PHILIPP SARASIN «La Science en Famille» Populäre Wissenschaft im 19. Jahrhundert als bürgerliche Kultur - und als Gegenstand einer Sozialgeschichte des Wissens I. Das Phänomen ist in der Moderne allgegenwärtig: Man spricht nicht bloss vom Wetter, sondern von Hochdrucklagen; wer an seine Gesundheit denkt, sorgt sich um den Cholesterin-Spiegel; und während einst der zweite Hauptsatz der Ther- modynamik den unweigerlichen Niedergang und die Erschöpfung von Mensch und Gesellschaft evident zu machen schien, versöhnt heute die Chaostheorie das persönliche Durcheinander mit der modernen Physik, wenn nicht gar mit dem Kosmos. Populäre Wissenschaft hat offensichtlich die Alltagssprache längst durchdrun- gen, hat die Diskurse aller sozialen Schichten geprägt; doch wer wissen will, wie und seit wann genau dies der Fall ist, stösst schnell auf methodische Schwierig- keiten: Wie lässt sich dieses diffuse, omnipräsente und konturlose wissenschaftli- che Wissen, das in irgendwie «vereinfachter», meist auch veränderter Form virtu- ell allen zur Verfügung steht, als kulturelles Phänomen analysieren? Greift man nicht in Watte, wenn alles Denken und Sprechen in der Moderne in irgend einer Weise von ihm affiziert ist? Weil ich mich nicht mit der Vorstellung begnügen will, dass das wissenschaftliche Wissen wie andere kulturelle Güter der Eliten langsam, gleichsam natürlich in die unteren sozialen Schichten «absinkt», gehe ich hier von der These aus, dass Populärwissenschaft als bestimmte Form des Wissens in modernen Gesellschaften, und das heisst, als Teil der Kultur im an- thropologischen Sinne des WOrtes (Geertz 1983; Daniel 1993), verstanden werden muss: als Wissen, mit welchem die Menschen versuchen, sich in der (industriellen) Welt zurechtzufinden. Mit einem solchen Kultur- bzw. Wissenschaftsbegriff sind Fragen verbunden, die ich hier nicht diskutieren werde (insbesondere Fragen nach dem Verhältnis zwischen Wissen und Macht sowie der Verdrängung von traditionalem Wissen durch wissenschaftliches Wissen); ich möchte hier bloss darauf hinweisen, dass Michel Foucaults Diskurs-Konzept es ermöglicht, jede Form von Wissen (Wis- senschaft, Populärwissenschaft, Aberglaube ... ) als Diskurs, d. h. als historisch- 97

Transcript of „La Science en famille“. Populäre Wissenschaft im 19. Jahrhundert als bürgerliche Kultur –...

PHILIPP SARASIN

«La Science en Famille»

Populäre Wissenschaft im 19. Jahrhundert als bürgerliche Kultur - und als Gegenstand einer

Sozialgeschichte des Wissens

I. Das Phänomen ist in der Moderne allgegenwärtig: Man spricht nicht bloss vom Wetter, sondern von Hochdrucklagen; wer an seine Gesundheit denkt, sorgt sich um den Cholesterin-Spiegel; und während einst der zweite Hauptsatz der Ther­modynamik den unweigerlichen Niedergang und die Erschöpfung von Mensch und Gesellschaft evident zu machen schien, versöhnt heute die Chaostheorie das persönliche Durcheinander mit der modernen Physik, wenn nicht gar mit dem Kosmos.

Populäre Wissenschaft hat offensichtlich die Alltagssprache längst durchdrun­gen, hat die Diskurse aller sozialen Schichten geprägt; doch wer wissen will, wie und seit wann genau dies der Fall ist, stösst schnell auf methodische Schwierig­keiten: Wie lässt sich dieses diffuse, omnipräsente und konturlose wissenschaftli­che Wissen, das in irgendwie «vereinfachter», meist auch veränderter Form virtu­ell allen zur Verfügung steht, als kulturelles Phänomen analysieren? Greift man nicht in Watte, wenn alles Denken und Sprechen in der Moderne in irgend einer Weise von ihm affiziert ist? Weil ich mich nicht mit der Vorstellung begnügen will, dass das wissenschaftliche Wissen wie andere kulturelle Güter der Eliten langsam, gleichsam natürlich in die unteren sozialen Schichten «absinkt», gehe ich hier von der These aus, dass Populärwissenschaft als bestimmte Form des Wissens in modernen Gesellschaften, und das heisst, als Teil der Kultur im an­thropologischen Sinne des WOrtes (Geertz 1983; Daniel 1993), verstanden werden muss: als Wissen, mit welchem die Menschen versuchen, sich in der (industriellen) Welt zurechtzufinden.

Mit einem solchen Kultur- bzw. Wissenschaftsbegriff sind Fragen verbunden, die ich hier nicht diskutieren werde (insbesondere Fragen nach dem Verhältnis zwischen Wissen und Macht sowie der Verdrängung von traditionalem Wissen durch wissenschaftliches Wissen); ich möchte hier bloss darauf hinweisen, dass Michel Foucaults Diskurs-Konzept es ermöglicht, jede Form von Wissen (Wis­senschaft, Populärwissenschaft, Aberglaube ... ) als Diskurs, d. h. als historisch-

97

spezifische kulturelle Struktur zu begreifen, welche a) mit jeweils anderen Diskur­sen koexistiert bzw. sie konkurrenzieren kann, und b) dazu dient, das, was man von der «Welt» wissen kann, zu generieren, d. h. zu selektieren und zu formieren (Foucault 1969). Im Anschluss an Foucault haben Pecheux (1971) und Link (1983) die Schnittfläche bzw. «Überlappungszone» zwischen verschiedenen Spe­zialdiskursen mit dem Begriff des Interdiskurses bezeichnet: hier, in alltäglichen, literarischen oder eben auch populärwissenschaftlichen R~dezusammenhängen ermöglichen insbesondere zentrale Metaphern die «Kopplung» mehrerer Diskurse aneinander bzw. den Transfer von Sinn vom einen Diskurs in einen anderen. Hier treffen sich insbesondere wissen­schaftliche und alltägliche Diskurse, und hier entsteht aus diesem Zusam­mentreffen auch Populärwissenschaft. Ebenfalls in Anschluss an Foucault hat Roger Chartier gefordert, dass man die Produktion von Sinn in einer Ge­sellschaft anhand der Produktion und Distribution von Texten untersuchen muss; Diskurse wären daher auch gleichsam materiell, das heisst von ihren konkreten gesellschaftlichen Pro­duktionsbedingungen (z. B. Publika­tionsformen) und Aneignungsweisen (z. B. Lesegewohnheiten) her zu unter­suchen (Chartier 1989).

In unserem Zusammenhang be­dingt das zuerst die Erforschung einer Reihe faktischer Fragen - wer popula­

Mechanische Energie von Gasen. (Aus Gaston Tissandiers «Remfations scientifiques>>

von 1882)

risierte was in welchem Medium für wen und zu welchem Zweck?-, Fragen, die ich hier kurz an mehrheitlich französischen Beispielen präzisieren werde. Im weiteren (und in Absehung von wissenschaftsgeschichtlichen Aspekten [Shinn/Whitley 1985; Fleck 1993]) möchte ich zumindest andeutungsweise zu zeigen versuchen, dass in einer an Foucault und Chartier orientierten methodischen Perspektive die populärwissenschaftlichen Diskurse sich als Ort bestimmen lassen, an dem mas­senwirksam «Bedeutung» entsteht. Gerade in sozialgeschichtlicher Absicht sind die «Bedeutungseffekte» (Pecheux 1971; Schöttler 1989: 101) dieses (neuen) Wis­sens in der Gesellschaft, d. h. die durch diese Diskurse vermittelte Herstellung von Sinn im Alltag der Menschen, wichtig: Wie die Leute handeln, was sie sagen, wovon sie träumen, was sie erhoffen und was sie fürchten, ist in der Moderne

98

in einem sehr weitgehenden Masse von (populär)wissenschaftlichen Diskursen strukturiert - vom Wissen um Gesundheit und Krankheit des eigenen Körpers bis hin zu Vorstellungen über die Entwicldung von Welt und Gesellschaft.

II. Bernard B. de Fontenelles Entretiens sur la Pluralite des mondes (1686) markieren den Anfang einer Tradition popularisierter Wissenschaft, die im 18. Jahrhundert in sehr unterschiedlichen Formen Einfluss auf das wachsende Lesepublikum ge­wann. Zweifellos an der Spitze dieser Bewegung stand das erfolgreichste Werk der Aufldärung, die Encyclopedie von Diderot und d'Alembert, welches in erster Linie, das heisst noch vor jeder subversiven Absicht, eine gewaltige Anstrengung war, das gesamte Wissen der Epoche allgemeinverständlich darzustellen. Auf einer ganz anderen Ebene und mit ganz anderen Formen agierte gleichzeitig die wohl wich­tigste Gattung der akademischen Volksaufldärung: Eine grosse Zahl von Ärzten hat sich schon seit dem 17. Jahrhundert die Verbreitung von Gesundheitsregeln zur Aufgabe gemacht (etwa Tissot in seinen Avis au peuple sur sa santevon 1761 oder Hufeland mit der Kunst, das menschliche Leben zu verlängern von 1797, um nur die berühmtesten zu nennen) (Porter 1992; Fischer 1933: 455-462).

Die Popularisierung von Wissenschaft und Technik hatte dann im 19. Jahr­hundert ihr age d'or (Raichvarg/Jacques 1991: 14): Noch nie haben so viele Au­toren (meist Männer) für so viele Leser(innen) über nicht-religiöse und nicht-fik­tionale Themen geschrieben. Der wachsende Markt für Populärwissenschaft bot Erläuterungen auf jedem Niveau über jedes Thema, das als Erfolg oder Verspre­chen auf eine bessere Zukunft, als entdeckte Exotik, erforschtes Geheimnis oder gelöstes Problem den säkularen Glauben an den «Fortschritt» propagieren oder bestärken konnte. Dazu kamen die Ratgeber fürs savoir foire, fürs «Selberma­chen»: traditionell waren dies die unzähligen Schriften für eine medecine par soi­meme und für Gartenpflege; neu Verbreitung fanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts neben anderem etwa Anleitungen zur Herstellung von Photo­graphien (als Form populärer Chemie und populärer Kunst), Belehrungen zur Rationalisierung der Ernährung oder Schriften zur Technik und Physiologie des Fahrradfahrens.

Insbesondere die neu aufkommende Physiologie galt als gelehrtes Wissen, das sich jede und jeder aneignen könne bzw. müsse, um den eigenen Körper - also sich selbst -, befreit von kirchlichen Vorurteilen, kennenzulernen. Typisch in die­sem Sinne zeigt etwa das Titelkupfer von Alexis Clercs «Hygiene et Medecine des deux sexes, Seiences mises a la portee de tOUS» von 1882 ein Knäblein, das aus einem zerbrochenen Vagelei heraussteigt («Generation» - im Werk selbst dann durchaus noch realistischer. .. ), flankiert von einem Knochenmann («Anatomie»)

99

und einem Muskelmann («Physiologie»); den Sinn der Darstellung illustriert die Gravure auf der nächsten Seite, wo über der «Introduction» finstere Kirchenmän­ner mit Rüschenkragen, langen Hüten und schwarzen Gewändern vor den Strah­len aus einem aufgeschlagenen Buch fliehen: vor der «science moderne» ...

Auf diesem Wissensmarkt bildeten Bücher (quantitativ nach Titeln) das wich­tigste Medium; ihre Auflagezahlen waren teilweise beeindruckend: Vom fast 900sei­tigen «Buch vom gesunden und kranken Menschen» des Leipziger Professors für pathologische Anatomie Carl Ernst Bock, welches 1855 zum erstenmal erschien, wurden «in wenigen Jahren weit über hunderttausend Exemplare ( ... ) abgesetzt» (Bock 1876: VII). Ernst Haeckels «Welträtsel», jene zwar «gemeinverständlichen», aber dennoch durchaus nicht einfach zu lesenden 470seitigen «Studien über Moni­stische Philosophie», erschien 1911 allein in der Kröner'schen Taschenbuchausgabe im 300. Tausend. Der Astronom Camille Flammarion freute sich 1885 im Vorwort zur achten Auflage seiner Merveilles celestes: «Qui pourrait douter du progres et de la victoire definitive de l'instruction positive? Qui pourrait douter du developpe­ment actuel des gouts scientifiques dans toutes les classes de la societe (sie!), lors­qu' on voit, par exemple, que quarante-quatre mille exemplaires de ce modeste petit volume ont deja ete demandes par autant de lecteurs desireux de s'instruire, lors­qu' on voit un ouvrage philosophique comme La Pluralite des mondes habites parve­nu a sa trente-cinquieme edition et un traite complet d'astronomie comme L'Astro­nomie populaire acclame par la sympathie de soixante-dix mille souscripteurs?» (zi­tiert in: Raichvarg/Jacques 1991: 12). Die Beispiele Hessen sich mehren.

Neben den Büchern (mit eigentlichen Bestsellern, die allerdings bis auf Aus­nahmen nicht mit den Auflagehöhen von Romanen konkurrenzieren konnten [Lyons 1987: 85-104]) existierte eine schwer überschaubare Zahl von Zeitschriften für die Popularisierung von Wissenschaft und Technik1

; daneben erschienen in Ta­geszeitungen, illustrierten Blättern und Familienzeitschriften Ratgeberspalten und wissenschaftliche Feuilletons (Messerli/Mathieu 1992; Dröge/Wilkens 1991). Die Inhalte der speziell für die Vulgarisation scientifique publizierten Blätter reichten, grob gesagt, meist vom Kochrezept über technische Anleitungen bis zu den sehr verbreiteten Berichten aus den Sitzungen der Academie des Sciences. Es ist ein Cha­ralcteristikum dieser Wissenskultur und ihrer Publikationen, dass «alles» kunterbunt nebeneinander erscheint: Elektrizität, Entwicldungsgeschichte oder Anilinfarben, «Kongo-Neger», tropische Pflanzen oder Infektionskrankheiten, schnelle Dampflo­komotiven, Eisenbrücken oder Vulkane, Planetensysteme, das menschliche Gehirn oder die neue Zellularpathologie ... Die Welt, über die hier berichtet wird, ist kaum mehr fremd, sondern entdeckt, erforscht, verstanden - und lädt daher immer auch

I Siehe für Frankreich das (nicht vollständige) Titelverzeichnis in Raichvarg/Jacques 1991: 265-266.

100

zur privaten Aneignung ein: Die bescheiden aufgemachte Science en fomille bei­spielsweise berichtete in ihrer Nummer 7 von 1897 auf 16 Seiten u. a. über «I: Aquarium d' appartement», die «Photographie en trois couleurs», in der Rubrik A travers la science über «La plus puissante pompe a vapeur» oder in der Ratgeber­ecke La science pratique über einen «Gomme arabique artificielle» oder die «Con­servation des viandes par l' electricite» ... Ebenso die bei G. Masson in Paris verlegte und vom Wissenschaftsjournalisten und Ballonfahrer Gaston Tissandier herausge­gebene Zeitschrift La Nature (1873-1939), welche sich an ein gebildetes Publikum richtete: sie war in der Dritten Republik neben der knochentrockenen Revue Scien­tifique (und vor dem Erscheinen von La Science et Ia Vie ab 1913) die wichtigste und erfolgreichste Zeitschrift, die auf hohem Niveau über die Entdeckungen, Erkenntnisse und Fortschritte aus den Na­tur- und Ingenieurwissenschaften schrieb -angereichert durch ethnographische Reise­berichte und archäologische Erfolgsmel­dungen sowie durch eine (offensichtlich für die Dame des Hauses zum Heraus­nehmen konzipierte) Ratgeber-Beilage mit science pratique, Kochrezepten und Hygie­netips. - Das gesamte Feld populärer Wis­senschaft war allerdings grösser als der Markt für entsprechende Publikationen. Nicht ausschliesslich, aber doch mit beson­derer Hinsicht auf jene sozialen Schichten, die wenig oder kaum lasen, organisierten Akademiker populäre Vorträge und Kurse zur Erwachsenenbildung, bemühten sich Gewerkschaftsfunktionäre um die Bildung

Zentrifugalkraft und Reibungswiderstand. (Aus Gaston Tissandiers «Recreations scientifiques»

von1882)

von Arbeiter(innen) oder liessen belehrende Theaterstücke aufführen. Diese Wissenskultur ist als Ganzes noch kaum erforscht2

; Produzenten, Publi­kum und Medien sowie Formen, Ziele und «Effekte» populärer Wissenschaft las­sen sich im Rahmen einer Sozialgeschichte des Wissens in der Moderne nur sehr

2 Für Frankreich liegt das ausgesprochen materialreiche, zugleich aber auf die blasse Darstellung beschränkte Buch von Daniel Raichvarg und Jean Jacques vor (1991); soweit ich sehe, gibt es hingegen für Deutschland noch keine grössere Untersuchung zur Geschichte der Populärwissenschaft. Für die Schweiz haben Messer­li/Mathieu (1992) auf populäre Zeitschriften als Quelle hingewiesen und erste Resultate über eine Auswahl von in der Schweiz gelesenen Blättern veröffentlicht. Systematisch wurde das Thema in dem von Shinn/Whitley herausgegebenen Sammelband «Expository Science» (1985) diskutiert.

101

ObeJjlächenspannung des Wtsm>. (Aus Gaston TissandieiJ «Recreations scientifiques"

von 1882)

vage bestimmen. War sie «bürgerlich», Teil der bürgerlichen Kultur? Dass dies hin­sichtlich ihrer Produzenten weitgehend zu­trifft, scheint mir angesichts der ldassenspe­zifischen Verteilung der Bildungsgüter im 19. Jahrhundert auf der Hand zu liegen (ohne dass damit eine empirische Überprü­fung obsolet wäre). Die Autor(innen) sol­len uns daher im Folgenden nicht beschäf­tigen (auch wenn die Frage, wer als Au­tor(in) «das Wort ergreift», im Hinblick auf die Sozial- und Wissensgeschichte des Bür­gertums wichtig wäre); hingegen möchte ich hier kurz die komplexe Frage des Publi­kums skizzieren.

III. Das Epitheton «populär» erweckt den trü-gerischen Eindruck, es korrespondiere not­

wendig mit einer soziologischen Kategorie; so spricht auch «Meyers Konversati­ons-Lexikon» von 1869 in bezugauf das Publikum schlicht vom «Volle», welches «emporzuheben» Aufgabe der Populärwissenschaft sei (Meyer's 1869: 110). Roger Chartier hält dieser Vorstellung den Befund entgegen, dass gerade weitverbreite­te, explizit als populär präsentierte Bücher mit hohen Auflagen soziale Schranken überspringen und keineswegs nur Leser(innen) aus den «classes populaires» zu fesseln vermögen (Chartier 1987: 11). -Wer also gehörte zu den Konsument(in­nen) populärwissenschaftlicher Darstellungen?

Schon in der Encyclopedie wurden zwei verschiedene Lesergruppen anvisiert und dementsprechend sogar zwei parallele Lesesysteme geboten, ein gelehrtes und ein populäres. Für die von d'Alembert im Discours preliminaire (1751) vorgestellte «mul­titude» möglicher Leser(innen) hielt sich die Encyclopedie - popularisierend - als Dictionnaire an das Klassifikationsschema des Alphabets. Die für die ldeine Gruppe der «gens eclain6s» hingegen konzipierte Verwendungsweise der Encyclopedie war kei­neswegs populärwissenschaftlich: diese «Aufgeldärten» sollten durch den Arbre ency­clopedique, das «Strukturmodell» des Werks, angeleitet werden, das System des Wis­sens als enzyldopädisches Ganzes sich anzueignen (Encyclopedie 1751: XIX).

Im 19. Jahrhundert veränderten sich die Vorstellungen vom Publikum solcher Texte. An die Stelle der ehemaligen «Aufgeldärten» traten nun verschiedene Gruppen von Leser(innen): Zum einen der bürgerliche, literarisch gebildete «let-

102

tre», der zugleich in bezugauf die sciences bestenfalls ein «demisavant» war; diese Leute lasen, wie 1866 die einschlägige Revue Cosmos schrieb, des grands jour­naux quotidiens: ce sont des fonctionnaires, des industriels, des marchands, des flaneurs et des rentiers» (zitiert in Raichvarg/Jacques 1991: 30). Neben dieser städtisch-bürgerlichen Elite von wissenschaftlichen Laien gehörten aber auch Wissenschaftler selbst zum anvisierten oberen Publikumssegment, Wissenschaft­ler, die zur Deckung ihres Informationsbedarfs jenseits ihres immer enger be­grenzten Fachgebietes selbst auf populärwissenschaftliche Medien angewiesen wa­ren (bzw. sind) (Whitley 1985: 12-13).

Zugleich entwickelte sich, und nicht allein zur medizinischen Volksauf­klärung, der publizistische Markt «pour tous», «für alle Stände» (während die «multitude» d'Alemberts de facto eine sehr kleine Gruppe von Leser(innen) dar­stellte). Dafür spricht zuerst, wenn auch als grober Indikator, die expansive Aus­dehnung der Buchproduktion. Der französische Buchmarkt ist nie mehr so stark gewachsen wie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (mit einer Zu­nahme von rund 7000 auf rund 14 000 Titel pro Jahr); generell hat sich zwi­schen dem 18. und dem Ende des 19. Jahrhunderts die Produktion um etwa das 70fache gesteigert - die Bevölkerung Frankreichs hingegen verdoppelte sich im selben Zeitraum nicht einmal ganz ... (Estivals 1965: 412-415). Trotz dieses be­eindruckenden «Triomphe du livre» (Lyons 1987) muss man die euphemistische Vorstellung einer Buchproduktion «für alle Stände» relativieren und versuchen, die einzelnen Leser(innen)-Schichten zu differenzieren, die - möglicherweise -populärwissenschaftliche Darstellungen konsumierten. Denn es gilt wahrschein­lich auch hier, was Schenda für populärliterarische Bücher und Broschüren mit Nachdruck betont: Mehrheitlich fanden im 19. Jahrhundert die populären Le­sestoffe ihre Leser(innen) nicht im «Volk», sondern im allerdings auch nicht durchwegs gebildeten Bürgertum (Schenda 1970: 456-457). Die tatsächlich wachsende Zahl jener, die überhaupt lasen, ist also regional, konfessionell sowie klassen- und geschlechtsspezifisch zu differenzieren, und überdies wäre zu berücksichtigen, dass verschiedene Leser(innen) zum Teil unterschiedliche Me­dien nutzten. Die Schwierigkeiten eines solchen Programms sind allerdings be­trächtlich: Subskriptionslisten wie für die Encyclopedie und ihre diversen Nach­drucke (Darnton 1993) gab es für die Bestseller und die billigen Reihen des 19. Jahrhunderts natürlich nicht mehr, so dass die Frage nach den Leser(innen) po­pulärwissenschaftlicher Darstellungen empirisch nur etwa anhand von Ausleihli­sten in Volksbibliotheken untersucht werden kann. Für eine breitere, wenn auch notwendig deduktivere Analyse muss man sich daher auf die Vorstellung vom jeweiligen Zielpublikum in den Vorworten von entsprechenden Publikationen stützen.

103

Schliesslich lassen mit allen Vorbehalten auch Preise, Aufmachung, Sprache und intellektueller Stil gewisse Rückschlüsse auf das Zielpublikum zu. Dabei zeigt sich dann doch deutlich zumindest der Wille zur Massenwirksamkeit. Vor

allem die periodische Presse zielte nicht nur auf die durch eine höhere Ausbil­dung oder eine qualifizierende Berufstätigkeit gebildeten männlichen Segmente des wachsenden Lesepublikums, sondern schrieb auch - schematisch gesagt - für

bürgerliche Jugendliche und Frauen (vgl. dazu Otto 1990) sowie für ldeinbürger­liche Kreise (Messerli/Mathieu 1992). Leser(innen) aus den eigentlichen «classes populaires» als Abonnent(innen) zu gewinnen war hingegen wohl eher der rheto­risch evozierte Traum in den Editorials dieser Presse als eine reale Möglichkeit.

Wie auch immer: Hier musste Wissenschaft praktisch und unterhaltend sein,

und wenn diese Blätter auf dem umkämpften Markt eine Chance haben wollten, mussten sie mit einer einfachen Sprache möglichen Verständnisschwierigkeiten der anvisierten breiten Leser(innen)schichten entgegenkommen, welchen diese

Presse Teilnahme an der grossen Welt des wissenschaftlichen Fortschritts ver­

sprach. Das ephemere Blatt La Science moderne verkündete in seinem Editorial vom

1. 3. 1891 etwa: «Pour la modique somme de dix Centimes le numero, deux fois par semaine, nos lecteurs seront tenus au courant de toutes les manifestations de la science ( ... ).» Und das, ohne die Klassen- und Geschlechterschranke der

höheren Bildung auszuspielen, im Gegenteil: «Il faut que 1' article offre un tout complet, sans que le lecteur soit oblige de recourir a un dictionnaire ou un traite

classique, pour qu'il saisisse en une fois ce qu'illit.»

IV. Welches sind die Gründe für die populärwissenschaftliche Welle in der zweiten

Hälfte des 19. Jahrhunderts? Vordergründig entsteht «das Streben nach Populari­sierung der Wissenschaft» (Helmholtz o. J.: 25) aus einem sprachlichen Problem: Seit spätestens der Mitte des 19. Jahrhundert bestanden im Gebiet der Naturwis­senschaften wachsende Wissens- und Verständnisdifferenzen zwischen Speziali­

sten und auch gebildeten Laien. Popularisierung als, wie Hermann von Helm­holtz es nannte, das «Streben (. .. ), den gebildeten Klassen Einsicht in die Art

und die Erfolge der naturwissenschaftlichen Forschung soweit (zu geben), als es

ohne eigene eingehende Beschäftigung mit diesen Fächern überhaupt möglich ist» (Helmholtz o. J.: 29), ist allerdings mehr als das Überwinden von Sprach­

und Kenntnisdifferenzen. Ich möchte hier drei Hypothesen formulieren: Erstens verfolgen die Popularisierer bestimmte Zwecke, die über das selbstlose «Einsicht­geben» hinausgehen; zweitens besteht eine von diesen Zwecken unabhängige

Nachfrage; drittens schliesslich verbergen sich unter den manifesten Differenzen

104

zwischen gelehrten und populären Diskursen wahrscheinlich die Gemeinsamkei­ten einer kulturellen Ordnung, der sie beide angehören; solche Gemeinsamkeiten' bedeuten, dass sich die Wissenschaft über das Medium der Popularisierung auch

aus diesen populären Diskursen nährt (Fleck 1993). Ich will nur kurz auf die ersten beiden Hypothesen eingehen (für die dritte

wäre eine moderne Wissenschaftgeschichte zuständig). Mit Daniel Raichvarg und

Jean Jacques (1991: 17-28) lassen sich im wesentlichen vier Gründe für die Vu!­garisation scientifique anführen:

1. der Versuch, die Versöhnung von Wissenschaft und Religion als möglich

Schwerkraftexperiment. (Aus Gaston Tissandiers «Recreations scientifiques» von 1882)

darzustellen, ein Versuch, der

in der zweite Jahrhunderthälfte zweifellos ein Rückzugsgefecht war3;

2. die Demonstration der gesell­schaftlichen Nützlichkeit der

Wissenschaft und damit die Be­schaffung politischer Legitima­tion für deren öffentliche Finan­

zierung (vgl. Whitley 1985); 3. die Emanzipation oder sozia­le Besserstellung durch Wissen,

a) als emanzipatorische, ja revo­lutionäre Geste «von unten», etwa in Arbeiterbildungsver-

einen der Gewerkschaften, be-ziehungsweise auch als bürgerlich-liberale Kritik, z. B. an den überkommenen spätfeudalen Verhältnissen in Deutschland (vgl. Bayertz 1985: 218); b) als Morali­

sierung der classes populaires durch bürgerliche Philanthropen «von oben» (aller­dings beschränkte sich dies im wesentlichen auf Hygiene, Krankenpflege und Ernährung, vgl. z. B. Frevert 1985);

4. das Bedürfnis nach Unterhaltung und der Versuch, Wissenschaft als Teil der Massenkultur zu etablieren.

Pauschalisierend lässt sich also sagen: Wissenschafter oder spezialisierte Jour­

nalisten gaben nicht nur einem grösseren Publikum «Einsicht», sondern verfolg-

3 Die Revue du Foyer etwa richtete sich an die «gens du monde, qui veulent conserver intacts a leur foyer les croyances religieuses, le culte de la famille et l'amour du devoir, mais ne peuvent ignorer, ou laisser ignorer autour d' eux, le mouvement intellectuel si prodigieux a notre epoque>>, während sie gleichzeitig über den Schund und Betrug wetterte, der die Druckerzeugnisse mehrheitlich präge (La Revue du Foyer, Nr. 1, 3. 11. 1888, s. 1).

105

ten professions- oder allgemein wis­senschaftspolitische Ziele, oder sie stellten sich in den Dienst ideologi­

scher bzw. moralisierender Absichten; die Konsument(innen) ihrerseits nah­men populäre Wissenschaft als Deu­

tungsraster für eigene Ziele in An­spruch oder nutzten sie für ihre Un­terhaltungsbedürfnisse. Ich möchte

aus Platzgründen nur den vierten Punkt diskutieren, der mir einerseits reichlich vage erscheint, andrerseits aber in eine interessante Richtung

zielt, weil hier bestimmte Intentionen der Produzenten ebenso wie die Nach­

frage, die Bedürfnisse der Konsu­ment(innen), mit impliziert zu sein

scheinen. Das erldärte Ziel von La Nature, das

Schwerkmftexperiment. (Aus Gaston Tissandiers «Recreations scientifiques»

von1882)

diese mit der gesamten populärwissenschaftlichen Literatur teilte, war es, «de faire comprendre a tous que le sol de l'investigation scientifique, loin d'etre aride et froid,

est au contraire fertile, hospitalier, - veritable terre promise, toujours accessible a l'esprit laborieux» ... (La Nature, Nr. 1, 1873: VII). Wie zeigt man das? Indem man die Wissenschaft ins bürgerliche Wohnzimmer bringt - als «Physique sans ap­pareils», als «Recreations scientifiques», als «chimie sans laboratoire» -, oder indem

man den «amateun> zur «science en plein air» bzw. «en vacances» anleitet. Unter diesen Titeln erschienen in La Nature Artikelserien, die 1880 auch als Buch ediert

wurden) (Tissandier 1882). Physikalische oder chemische Zusammenhänge und Gesetzmässigkeiten wurden anhand einfachster Anordnungen und mittels Alltags­gegenständen nachvollziehbar, «erlebbar» gemacht: harte Eier, die durch gezieltes

Blasen von einem Bordeaux-Glas ins andere springen (i. e.: mechanische Energie von Gasen); Servietten-Ringe, die, vor dem Hintergrund einer entkorkten Cham­

pagnerflasche, durch Rotation an einem nach unten gerichteten Finger einer Frau­

enhand haften bleiben («Force centrifuge et resistance de frottement»); zwei Gabeln in einem Korken, welcher, so im Gleichgewicht gehalten, auf der Ausgusskante einer Weinflasche während dem Einschenken stabilisiert bleibt («Experience sur le

centrede gravite»); Silberlöffel, die, an Fäden aufgehängt, welche in die Ohren ein­geführt werden, ihre Eigenschaften als Schallkörper demonstrieren («Conductibilite du son par les corps solides»), und so fort ... (alle Beispiele Tissandier 1882).

106

Zwei Dinge fallen hier auf: Erstens wurde die Physik, die Grundlage all jener wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften, über welche La Nature wöchentlich berichtete, als im Prinzip von jederman handhabbar beschrieben, in­dem sie als ldeines Spiel (vgl. Kocka 1988: 31) vorgeführt wird, als gefahrloser Zeitvertreib, als angenehm-zwecldose Belehrung. Das waren, wie Gaston Tissan­dier betonte, keine Tricks, keine Scherze, die ihren «veritable mode d' operer» ver­

hüllen, sondern vielmehr seriöse Experimente, «rigoureusement bases sur la

methode scientifique» (La Nature, Nr. 389, 1880: 370f.). Die jeux scientifiques schaffen so Kontinuitäten und Vertrautheiten zwischen der industriellen Welt und der familiären Intimität, indem sie nahelegen, dass die Gesetze der Physik, welche die «grosse Maschinerie» (Marx) der Industrie in Gang halten, auch diese ldeinen Spiele regieren, die erlöschenden Kerzen, hüpfenden Eier und zuweilen

zerspringenden Gläser im bürgerlichen Salon ... Sie sind Kultur im anthropologi­schen Sinne des Wortes, indem sie - einerlei, ob nachvollzogen oder bloss lesend konsumiert - den bürgerlichen Leser(innen) von La Nature eine auch ohne uni­

versitäre Bildung adaptierbare V<ltthrnehmungsform für die äussere Wirldichkeit anbieten, und zudem, indem sie, durch die Demonstration der Allgemeingültig­keit von Naturgesetzen, dieser Wirldichkeit auch Sinn verleihen.

Zweitens aber, und dazu durchaus widersprüchlich, fällt auf, dass jeder expli­zite Bezug dieser ldeinen Experimente zur Realität der industriellen Produktion in diesen Artikeln sorgsam vermieden wird. Das «verheissene Land» der Wissen­

schaft und - wie es im Untertitel von La Nature und der meisten anderen Perio­dika dieser Art heisst - ihrer «applications aux arts et a l'industrie», diese «terre promise», die jedem «esprit laborieux» zugänglich sei, erscheint vielmehr in die­

ser physique sans appareils ganz ohne konkrete Arbeit, sondern allein mit einem ldein wenig esprit betretbar. Ja im Grunde immer schon betreten: Das gefüllte

Glas und die paar Münzen, mit welchen sich die Oberflächenspannung des Was­sers demonstrieren lässt (Tissandier 1882: 60), sind im bürgerlichen Salon jeder­zeit zur Hand, die Einsicht ins Naturgesetz folgt zwanglos und unmittelbar aus

einer ldeinen Veränderung ihres alltäglichen Arrangements ... Es geht hier nicht um die Frage nach der Realität von Arbeit im 19. Jahrhun­

dert und um die Stellung der Bürger im Produktionsprozess, sondern um die Vor­stellungen über den Zusammenhang von Natur bzw. Welt, Wissenschaft, Arbeit

und Produktion in dieser Form der Popularisierung: Denn nicht bloss in den jeux scientifiques, sondern überhaupt in den Artikeln von La Nature verschwindet die konkrete industrielle Arbeit tendenziell vollständig hinter den Beschreibungen von technischen Vorrichtungen oder wissenschaftlich entwickelten Gesetzen, ent­steht das ideale Bild einer Wissenschaft und Technik, die Natur widerstandslos

zur Welt umformt, welche direkt mit der «Bürgerlichkeit» (Kocka) bildender

107

Lektüre im Kreis der Familie kongruent ist. Und dies gilt, soweit ich sehe, für die

gesamte Popularisierungsliteratur: ihr Diskurs behauptet die wundersame Verän­

derung der Welt einzig durch entdeckte Naturgesetze.

Es wäre banal, festzustellen, dass damit die negativen, ökologisch, sozial oder

kulturell bedrohlichen Aspekte der Technik verschwiegen werden bzw. in der Form

von Unglücksfällen der Sensationspresse und als decadence der konservativen Kul­

turkritik überlassen blieben. Interessanter ist m. E. das, was ich eingangs die «Be­

deutungseffekte» populärer Wissenschaft genannt habe. Die Ausblendung von rea­

ler Arbeit und (weitgehend proletarischer) Mühe, und das heisst auch vom Zusam­

Scha/lkörperexperiment. (Aus Gaston Tissandiers «Recrtations scientifiques>>

von 1882}

menhang zwischen der «sozialen Frage» und

der «Anwendung» der Naturgesetze eben

nicht im Salon, sondern in der Industrie,

wäre - eine genauere Analyse vorausgesetzt

- ein spezifisch bürgerlicher «Bedeutungsef­

fekt»: er idealisiert die Industrie zum Labor

und er-zeugt eine Wahrnehmungslücke, in

welcher die Industriearbeiter verschwinden

- ein Effekt mit den bekanntlich allergröss­

ten politischen Auswirkungen ...

Ein anderes Beispielliefert die interessante

Beobachtung Dieter Langewiesches, dass

die proletarischen Benutzer(innen) von

Leihbibliotheken und Teilnehmer(innen)

an gewerkschaftlichen Bildungsveranstal­

tungen sich kaum für Naturwissenschaft

interessierten - mit der wichtigen Ausnah­

me der insbesondere von Haeckel propa­

gierten Entwicldungslehre (ebenso: Stein­

berg 1979). Der Zusammenhang, den

Langewiesehe zwischen diesem Phänomen

und der in der Zweiten Internationalen vorherrschenden mechanistischen Lehre

eines naturgesetzlich notwendigen Fortschreirens der Gesellschaft zum Sozialis­

mus herstellt, wäre, die Differenzierung und Erhärtung dieser Hypothese voraus­

gesetzt, ebenfalls ein signifikanter «Bedeutungseffekt» populärer Wissenschaft,

welcher die deutsche Arbeiterbewegung der Jahrhundertwende tiefgehend prägte.

Dabei kommt es m. E. auf eine methodische Präzisierung an: Die populärwissen­

schaftlichen Diskurse sind in diesen ldassenspezifischen Kontexten nicht bloss ein

Reflex oder Ausdruck einer «realen» Situation, sind nicht bloss eine Bestätigung

«realer» Erfahrungen (etwa, wie Langewiesehe schreibt: « ... die proletarischen

108

Hörer in diesen Kursen [konnten so] ihre eigene subjektive Lebenserfahrung und

ihre Form der Weltdeutung als wissenschaftlich begründbar erfahren» [Lange­

wiesche 1985: 451]), sondern sie strukturieren diese Erfahrungen einer realen so­

zialen Situation (die sie zugleich natürlich zu ihrer Voraussetzung haben). Mit

anderen Worten: Die «Bedeutungseffekte» populärer Wissenschaft sind Teil der

sozialen Wirldichkeit, verstanden als ein zirkuläres Verhältnis von Erfahrung und

Struktur, Bedeutung und «Realität» (Berger/Luckmann 1977); sie präformieren

die Wahrnehmung der Welt, ohne von «aussen» zu kommen; sie vermögen Ver­

hältnissen Sinn zu verleihen, weil sie selbst als Diskurse gleichzeitig an diese Ver­

hältnisse angebunden sind, wie sie eine kulturelle Eigenlogik besitzen, welche erst

Interpretation, Bedeutungsstiftung, möglich macht (Rabinow 1993).

Dazu kommt ein Letztes, auf das ich nur noch hinweisen möchte: Populärwis­

senschaftliche Diskurse stiften nicht nur ldassenspezifische, gleichsam «regionale»

Bedeutungen, sondern vermitteln auch das Bild einer von homogenen Prinzipien

regierten Welt. Trotz unterschiedlicher Aneignungsweisen sind sie damit Teil jenes

sälcularen Prozesses, der im Zuge der industriellen Revolutionen regionale Traditio­

nen und Kulturen tendenziell vereinheitlichte und eine wissenschaftlich-technische

Weltkultur geschaffen hat. - Die dabei allerdings nicht aufgelöste Spannung zwi­

schen der weltkulturellen Tendenz der Populärwissenschaft und ihrer «regionalen»,

ja individuellen Aneignungen, zwischen medialen Diskursen und alltäglichen Be­

deutungen ist m. E. Grund genug, damit sich Sozialhistoriker für solche Formen

von Wissen zu interessieren beginnen, welche bis jetzt meist unter der falschen Eti­

kette drittldassiger «geistesgeschichtlicher» Phänomene ignoriert werden konnten.

Literatur und Quellen

- Bausinger, Hermann: Volkskultur in der technischen Welt. Frankfurt/New York 1986.

- Bayertz, Kurt: Spreading the Spirit of Science. Social Determinants of the Popularisation of Science in Nineteenth-Century Germany; in: Shinn/Whitley: 1985.

- Berger, Peter L., und Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfun/M. 1977 (Garden City, N.Y. 1966).

Bock, Carl Ernst: Das Buch vom gesunden und kranken Menschen. Elfte, mit der zehnten gleichlautende Auflage. Leipzig 1876.

- Chartier, Roger: Avant-Propos; in: ders. (Hg.): Les usages de l'imprime (XVe-XIX siede). Paris 1987.

- Chartier, Roger: Le monde comme representation; in: Annales ESC, Nr. 6, 1989.

- Clerc, Alexis: Hygiene et Medecine des deux sexes, Seiences mises a Ia portt'e de tous. Paris 1882.

- Daniel, Ute: <<Kultur» und <<Gesellschaft>>. Überlegungen zum Gegenstandsbereich der Sozialgeschichte; in: Geschichte und Gesellschaft, 19. Jg., 1993, H. 1.

- Darnton, Roben: Glänzende Geschäfte. Die Verbreitung von Diderots Encyclopedie, oder: Wie verkauft man Wissen mit Gewinn? Berlin 1993 (Cambridge Mass. 1979).

- Dröge, Pranz, und Andreas Wilkens: Populärer Fortschritt. 150 Jahre Technikberichterstattung in deutschen illustrierten Zeitschriften. Münster 1991.

109

- Encydopedie ou Dictionnaire raisonne des sciences, des arts et des metiers ... Bd. 1. Paris 1751.

- Estivals, Robert: La statistique bibliographique de Ia France sous Ia monarchie au XVUie siede. Paris 1965, Chap. VIII: La statistique bibliographique de Ia France du XVIIe au XX siede.

- Fischer, Adolf: Geschichte des deutschen Gesundheitswesens. Bd. 2. Berlin 1933.

- Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv (mit einer Einleitung, hg. von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle). 2. Auf!. Frankfurt/M. 1993 (Originalausgabe Basel 1935).

- Foucault, Michel: l:archeologie du savoir. Paris 1969.

- Frevert, Ure: «Fürsorgliche Belagerung>>: Hygienebewegung und Arbeiterfrauen im 19. und frühen 20. Jahr-hundert; in: Geschichte und Gesellschaft, 11. Jg., 1985.

- Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt/M. 1983.

- Helmholtz, Hermann von: Über das Streben nach Popularisierung der Wissenschaft; in: ders., Natur und Na-turwissenschaft. München, o.J.

- Kocka, Jürgen: Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Europäische Entwicklungen und deutsche Eigenarten; in: ders. und Ure Frevert (Hg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich. München 1988.

- La Nature (Universitätsbibliothek Basel, 1873-1923, Sign: Natw. Zs. 17).

- La Revue du Foyer (Bibliotheque de I 'Arsenal, Paris, 1888-1900, Sign: 4" Jo. 10. 357).

- La Science moderne (Bibliotheque Nationale, Paris, 1891-1893, Sign: 4 R. 1043).

- La science pratique (Bibliotheque de !'Arsenal, Paris, 1886-1899, Sign: 4" Jo. 11.906).

- Langewiesche, Dieter: Arbeiterbildung in Deutschland und Österreich. Konzeption, Praxis und .Funktionen; in: Werner Conze und Ulrich Engelharde (Hg.): Arbeiter im Industrialisierungsprozess. Herkunft, Lage und Verhalten. Stutegart 1985 (Industrielle Welt, Bd. 28).

- Lecoq, Beno1t: l:edition et Ia science; in: Henri-Jean Martin, Roger Chartier und Jean-Pierre Vivet (Hg.): Hi­stoire de l'edition franc;aise. Bd. IV: Le Iivre concurrence, 1900-1950. Paris 1986.

- Link, Jürgen: Elementare Literatur und generative Diskursanalyse. München 1983.

- Lyons, Martyn: Le Triomphe du Iivre. Une hisroire sociologique de Ia Ieerure dans Ia France du XlXe siede. Paris 1987.

- Messerli, Jakob, und Jon Mathieu: Unterhaltungs- und Belehrungsblätter in der deutschen Schweiz 1850-1900. Eine Quelle zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte; in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 42, 1992, No. 2.

- Meyer's Neues Konversations-Lexikon, ein Wörterbuch des allgemeinen Wissens. Zweite Auf!., Bd. XIII. Bildburghausen 1869.

- Otto, Ingrid: Bürgerliche Töchtererziehung im Spiegel illustrierter Zeitschriften von 1865 bis 1915. Bildes­heim 1990 (Beiträge zur Historischen Bildungsforschung, Bd. 8).

- P~cheux, Michel, et al.: La semantique et Ia coupure saussurienne: Iangue, Iangage, discours (1971); in: ders.: l:inquietude du discours, Textes de Michel P~cheux (hg. von D. Maldidier). Paris 1990.

-Porter, Roy (Hg.): The Popularization ofMedicine 1650-1850. London/New York 1992.

- Rabinow, Paul: Repräsentationen sind soziale Tatsachen. Moderne und Postmoderne in der Anthropologie; in: Eberhard Berg und Martin Fuchs: Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsen­tation. Frankfurt/M. 1993.

- Raichvarg, Daniel, und Jean Jacques: Savants et Ignorants. Une histoire de Ia vulgarisation des sciences. Paris 1991.

- Schenda, Rudolf: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe, 1770-1910. Frank-furt/M. 1970.

- Schöttler, Peter: Mentalitäten, Ideologien, Diskurse. Zur sozialgeschichtlichen Thematisierung der «dritten Ebene»; in: Alf Lüdtke: Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen. Frankfurt/M., New York 1989.

- Shinn, Terry, und Richard Whitley (Hg.): Expository Science: Formsand Functions ofPopularisation. Dord­recht 1985 (Sociology of the Sciences, A Yearbook, Vol. IX).

- Steinberg, Hans-Josef: Lesegewohnheiten deutscher Arbeiter; in: Peter von Rüden (Hg.): Beiträge zur Kul­turgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 1848-1918. Frankfurt/M.- Wien- Zürich 1979.

- Tissandier, Gaston: Les Recreations scientifiques ou I' enseignement par !es jeux. Paris, 2eme ed., 1882.

- Whitley, Richard: Knowledge Producers and Knowledge Acquirers. Popularisation as a Relation Bet:ween Scientific Fields and Their Publics; in: Shinn/Whitley: 1985.

110

Freizeit und Musse

DELI GYR (HG.)

oll und Hab n Festgabe für Paul Hugger zum 65. Geburtstag Alltag und Lebensformen bürgerlicher Kultur

Offizin Verlag 1995

Diese Publikation wurde in grasszügiger Weise unterstützt durch

die Genossenschaft zum Baugarten, Zürich, und BuchsDruck, Buchs/SC.

© 1995 Offizin Verlag Zürich und Autoren

Gestaltung/Produktionsbetreuung: Peter Zimmermann, Zürich

Satz/ Lithos I Druck: Buchs Druck, Buchs/SC

Einband: Buchbinderei Burkhardt AG, Mönchaltorf/ZH

ISBN 3-907495-63-2

Umschlag: Bürgerlicher Salon um 1900, vermutlich Villa in Thalwil, Sammlung Paul Hugger, Zürich

Inhaltsverzeichnis

Ueli Gyr: Einleitung: Bürgerlichkeit und Alltagskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Berufswelt und Standeskultur Ruth-E. Mohrmann: Der braunschweigische Samenhändler Ernst Christian Conrad Wrede. Ein bürgerliches Leben der Goethezeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Othmar Birkner: Bürgerliche Lebenswelten zwischen Cholera und Revolution. Mit besonderer Berücksichtigung der Wiener Beamten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Roland Girt!er: Bürgerliches Freiheitsideal, Vagantenturn und Rituale des Trinkens, . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

Bildungs- und Erziehungsstile Beatrix Le Wita: Der Rekurs auf die Tradition im französischen Bürgertum . . . . . 63 Gottßied Korffi Hase & Co. Zehn Annotationen zur niederen Mythologie des Bürgertums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Phitipp Sarasin: «La Science en famille». Populäre Wissenschaft im 19. Jahrhundert als bürgerliche Kultur- und als Gegenstand einer Sozialgeschichte des Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

Freizeit und Musse Albert Tanner: Freizeitgestaltung und demonstrativer Müssiggang im Bürgertum .. 113 Hermann Bausinger: Bürgerliches Massenreisen um die Jahrhundertwende ...... 131 Martine Segalen: Der Langstreckenlauf- ein bürgerlicher Sport? ................. 149

Photographie als bürgerliches Medium Timm Star!: Themen und Motive der privaten Fotografie ........................ 161 Peter Herzog: Die Photographie als Mittel bürgerlicher Selbstdarstellung ........ 179

Wandel materieller Kultur Martin Fröhlich: Schulhäuser als Selbstdarstellungen der bürgerlichen Gesellschaft ........................................................................ 201 Georg Kreis: Aufbruch und Abbruch: Die «Entfestigung» der Stadt Basel ........ 213 Ingrid Ehrensperger: Gutbürgerliche Küche. Sparherd statt offener Feuerstelle ... 229

Bürgertum und gesellschaftliche Entwicklung Klaus Roth: Bürgertum und bürgerliche Kultur in Südosteuropa. Ein Beitrag zur Modernisierungstheorie .......................................... 245