Ostpreußen als Brücke zwischen Russland und Westeuropa: Die ökonomische Zusammenarbeit und ihr...

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ISBN 978-3-8305-1891-4 Olga Kurilo (Hg.) Mobilität und regionale Vernetzung zwischen Oder und Memel: Eine europäische Landschaft neu zusammensetzen mm BWV • BERLINER WISSENSCHAFTS-VERLAG

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ISBN 978-3-8305-1891-4

Olga Kurilo (Hg.)

Mobilität und regionale Vernetzung zwischen Oder und Memel:

Eine europäische Landschaft neu zusammensetzen

mm BWV • BERLINER WISSENSCHAFTS-VERLAG

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Inhalt

Grußwort des Präsidenten der Europa-Universität Frankfurt (Oder) Dr. Gunter Pleuger

Einleitung

Vorwort

Karl Schlägel Eine europäische Landschaft neu zusammensetzen Rede zur Eröffnung des Trialogs am 18. November 2010

Valerij Gal 'cov Die historischen und gegenwärtigen Beziehungen zwischen den Universitäten in Frankfurt (Oder) und Königsberg/Kaliningrad

Mobilität und Wirtschaft

Jurij Kostjasov Ostpreußen als Brücke zwischen Russland und Westeuropa: Die ökonomische Zusammenarbeit und ihr Scheitern während der Weimarer Republik

Jan Musekamp Die Königlich Preußische Ostbahn als Rückgrat des europäischen Ost-West-Verkehrs

Cezary Kardasz Die Stadt im Wirtschaftsraum. Das spätmittelalterliche Thorn und seine Einwohner auf dem Kreditmarkt

Kommunikation und Vernetzung

Roman Czaja Die preußischen Städte und ihr Hinterland. Ein Beitrag zu Wegen und Methoden der Kommunikation im Ordensland in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts

Jury Kostjasov

Ostpreußen als Brücke zwischen Russland und Westeuropa: Die ökonomische Zusammenarbeit und ihr Scheitern während der Weimarer Republik

Bereits im 19. Jahrhundert war Deutschland der wichtigste ökonomische Partner Russlands: Von 1870 bis 1910 behauptete es den ersten Platz unter den nach Russland exportierenden Nationen. Dabei erhöhte sich der allgemeine Warenwert um fast das Dreifache von 159 auf 450 Millionen Rubel. Im gleichen Zeitraum wuchs der Wert der russischen Exporte nach Deutschland um das 4,5-fache von 88 auf 390 Millionen Rubel im Jahr. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs entfielen auf Deutschland mehr als 40 Prozent des gesamten russischen Imports und ein Drittel des Exports.1

Von dieser intensiven bilateralen Zusammenarbeit hatte Ostpreußen nicht wenige Vorteile. Königsberg wurde scherzhaft als ein „russischer Hafen" bezeichnet: Drei Viertel der Seetransporte waren russischen Ursprungs. „Infolge seiner geografischen Lage", schrieb 1880 der russische Konsul Friedrich Vysemerskij an das russische Au­ßenministerium, „spielt Königsberg seit langem die Rolle eines Versandhafens für das Nordwestgebiet und die grenznahen Gouvernements. Durch seine heutige Eisenbahn­verbindung mit Zentralrussland erstreckt sich sein Einfluss ebenfalls auf die kleinrus­sischen, südwestlichen und teilweise auch südlichen Gouvernements". Der Konsul meldete gleichfalls, dass in den letzten Jahren, dank des „gewaltigen Ausmaßes" des gegenseitigen Handels, in Königsberg „bedeutende Arbeiten, sowohl zur Vergröße­rung der Güterbahnhöfe, als auch zur Ausführung neuer Hafenbauten, unter denen den ersten Platz der Kaibahnhof außerhalb der Stadt zur Verladung von Waren von Schif­fen auf Güterwaggons und umgekehrt einnimmt, unternommen wurden". Er unter­strich, dass der wirtschaftliche Wohlstand der Hauptstadt Ostpreußens in vielem vom Handel mit seinen östlichen Nachbarn abhinge: „Eine Missernte in Russland und alles kommt hier zum Erliegen, wie man in diesem Jahr erleben konnte, als das Handelsvo­lumen des hiesigen Hafens unbedeutend war".2

1 Peresmotr torgovogo dogovora s Germaniej. Doklad VIII s"ezdu predprinimatelej promyslennosti i torgovli [Revision des Handelsvertrags mit Deutschland. Bericht an den VIII. Kongress der Unternehmer von Industrie und Handel], Sankt-Peterburg 1914, S. 2-9; Dokumenty vnesnej politiki SSSR [Dokumente zur Außenpolitik der UdSSR], Moskva 1961, Bd. 5, S. 745.

2 Sbornik svedenij po departamentu torgovli i manufaktur. Konsul'skie donesenija [Sammel­band von Daten des Departements für Handel und Manufakturen. Konsularische Meldungen], Sankt-Peterburg 1880, Bd. 1, S. 92-94.

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Jurij Kostjasov

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Abb. 1: Titelblatt des ,,Sammelband(s) konsularischer Meldungen". Sankt Petersburg 1900.

Ostpreußen als Brücke zwischen Russland und Westeuropa

Neben den Handelsbeziehungen war die Wirtschaft Ostpreußens vom ständigen und anwachsenden Strom russischer Saisonarbeitskräfte abhängig, die im Wesentlichen in der Landwirtschaft der Provinz eingesetzt wurden. Nach einer Einschätzung des rus­sischen Außenministeriums erreichte die Zahl der aus Russland in Deutschland ein­treffenden Arbeitskräfte um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert meh­rere hunderttausend Menschen (etwa eine halbe Million Grenzüberschreitungen im Jahr),3 wobei auf den Gebieten der Konsulärbezirke von Königsberg, Memel und Dan-zig etwa 70 bis 80 Tausend angeworbene russische Untertanen arbeiteten.4 In der Mehrzahl waren das polnische Bauern aus dem Priwislinsker Kreis (ein ehemaliger polnischer Regierungsbezirk des Zarenreiches) sowie Einwohner Litauens, Weißruss­lands, der Ukraine und der nordwestlichen russischen Gouvernements. Besonders vie­le Arbeitskräfte wurden in den südlichen Gebieten Ostpreußens, im Königsberger Umland und an der Ostseeküste benötigt.5 Hinzuzufügen ist, dass zahlreiche bedeu­tende Persönlichkeiten des russischen Staates, der Wissenschaft und Kultur ihre Aus­bildung in den Mauern der Albertina erhalten hatten.6 Letztlich verlief über Ostpreu­ßen die Hauptroute von Russland nach Westeuropa, die der Schriftsteller Nikolaj Leskov „russische Hauptstraße" (russkaja stolbovaja doroga) taufte. Kennzeichen für die Bedeutung der östlichen deutschen Provinz für Russland war die Einrichtung von drei zaristischen Konsulareinrichtungen in Königsberg, Memel und Pillau.7

Nach Meldungen russischer Konsuln war der Hauptgegenstand des Exports aus Russland Getreide, vorrangig Hafer, dessen Einfuhr nach Ostpreußen zu Beginn des Jahrhunderts 500 bis 600 Tonnen im Jahr überstieg. Seiner Qualität nach war dieser besser als der deutsche, sodass ein Teil weiter nach Westen transportiert wurde. Kö­nigsberg wurde zum wichtigsten Zentrum für die Reinigung, Sortierung und teilwei-

3 Vyvodcev, Artemij: Vopros o russkich sel'skochozjajstvennych rabocich v Prussii [Zur Frage der russischen Landarbeiter in Preußen], in: Izvestija Ministerstva inostrannych del [Nach­richten des Außenministeriums], Sankt-Peterburg 1913, Buch 1, S. 136.

4 Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii, Moskva [Staatliches Archiv der Russischen Föderation, Moskau] (im Weiteren - GARF): Fond [Fundus] (im Weiteren - F.) 568, Opis' [Verzeichnis] (im Weiteren - Op.) 1, Delo [Akte] (im Weiteren - D.) 103, List [Blatt] (im Weiteren - L.) 2 (Perepiska MID s konsul'stvami v Germanii po povodu russkich rabocich v Prussii po najmu, 1895-1901 [Schriftwechsel des Außenministeriums mit den Konsulaten in Deutschland zu Fragen angeworbener russischer Arbeitskräfte in Preußen, 1895-1901]).

5 GARF: F. 568, Op. 1, D. 104, L. 2-2 ob. Izvlecenie iz zapisok konsula P. A. Mel'nikova o polozenii russkich rabocich v Prussii, 1896 g. [Auszug aus den Aufzeichnungen des Konsuls P. A. Mel'nikov zur Lage russischer Arbeitskräfte in Preußen, 1896],

6 Siehe: Kostjasov, Jurij/Kretinin, Gennadij: Rossijane v Vostocnoj Prussii [Russen in Ostpreu­ßen], Kaliningrad 2001, Bd. 1-2.

7 Kostjasov. Jurij: Rossijskie konsul'skie ucrezdenija v Vostocnoj Prussii v konce XIX nacale XX vekov [Russische Konsulareinrichtungen in Ostpreußen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts], in: Kaliningradskie Archivy [Kaliningrader Archive], Kaliningrad 2000, Nr. 2, s 80 m

Jurij Kostjasov

1 Veredelung russischer landwirtschaftlicher Rohstoffe, vor allem von Hülsenfrüch-1, aber auch von Leinsamen, Hanf, Ölkuchen, Häuten und Fleisch. Mit der Eisen-hn trafen täglich 400 bis 500 Güterwaggons aus Russland ein. Diese Transporte irden nach einer bilateralen Vereinbarung nach russischem Binnentarif bezahlt, was a Handel bedeutend stimulierte.8

Der zweite wichtige russische Exportartikel nach Ostpreußen war Nutzholz. Russi-les Holz wurde in gewaltigen Mengen (mehr als eine Million Kubikmeter im Jahr) f Flüssen befördert und auf dem Eisenbahnweg transportiert.9 Der Konsul Artemij vodcev verwies in seiner Erklärung der wachsenden Nachfrage nach Nutzholz auf ; umfangreichen Baumaßnahmen. In Königsberg, so meldete er, „werden gewaltige .uten errichtet, sodass sich alle beeilen, städtische Grundstücke zu verkaufen und zu bauen, in der Hoffnung auf die Abtragung der alten Festungsmauern, worüber seit igem Verhandlungen mit der Militäradministration geführt werden".10 Noch bedeu-lder waren die Lieferungen russischen Holzes für die nördlichen Gebiete Ostpreu-QS. Davon zeugt eine Meldung des russischen Konsuls in Memel Sergej Protopopov Jahre 1914: „Die Holzindustrie in Memel, wie auch in Tilsit, basiert ausschließlich

f russischem Holz, welches hauptsächlich als Rohmaterial für die örtlichen holzver-)eitenden Fabriken und Betriebe eingeführt wird. Im Jahre 1910 gab es auf dem Weg n Tilsit nach Memel und dort selbst 31 Sägewerke. Unter den nach Memel geliefer-I Rohmaterialien waren Nadelhölzer von größter Bedeutung, vorrangig Tannenholz, er auch Fichtenholzstämme. In der letzten Zeit erhöhte sich die Einfuhr von uholz".11

Konsul'skie donesenija [Konsularische Meldungen], Sankt-Peterburg 1889, Nr. 63, S. 2-3; K voprosu o torgovle russkim zernom i semenami v Kenigsberge (Iz zapisok imperatorskogo rossijskogo konsula v Kenigsberge Z. M. Poljanovskogo) [Zur Frage des Handels mit russi­schem Getreide und Saatgut in Königsberg (Aus den Aufzeichnungen des zaristischen russi­schen Konsuls in Königsberg Z. M. Poljanovskij)], in: Handelsbräuche an der Königsberger Börse, Sankt-Peterburg 1913, S. 53-65. Lesnoj rynok v Kenigsberge [Der Holzmarkt in Königsberg], in: Kratkij obzor donesenij imperatorskich konsul'skich predstavitelej zagranicej za 1913 god [Kurzer Überblick zu Mel­dungen zaristischer russischer Konsularvertreter im Ausland für das Jahr 1913], Petrograd 1915, S. 73-74; Torgovlja osinym lesom v Kenigsberge [Der Handel mit Espenholz in Kö­nigsberg], in: Bjulleten' Spravocnoj casti po vnesnej torgovle [Nachschlagewerk zum Außen­handel], Sankt-Peterburg 1912, Nr. 4, S. 3; Polozenie lesnogo rynka v Kenigsberge [Die Situ­ation auf dem Holzmarkt in Königsberg], in: Bjulleten' Spravocnoj casti po vnesnej torgovle [Nachschlagewerk zum Außenhandel], Sankt-Peterburg 1914, Nr. 2, S. 15-16. Vyvodcev, Artemij: Torgovlja Kenigsberga v 1905 godu [Der Handel in Königsberg im Jahre 1905], in: Sbornik [Sammelband konsularischer Meldungen], Sankt-Peterburg 1906, Nr. 6, S. 493^196. Kratkij obzor donesenij imperatorskich rossijskich konsul'skich predstavitelej za granicej za 1914 god [Kurzer Überblick zu Meldungen zaristischer russischer Konsularvertreter im Aus­land fiirrfns lahr IQ 141 Petrnorad 1 01 'S S 68

Ostpreußen als Brücke zwischen Russland und Westeuropa

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1912.

Abb. 2: Titelblatt des „Kurzen Überblicks zu Meldungen kaiserlicher russischer Konsularvertreter im Ausland". Sankt Petersburg 1912.

Für einen komfortablen Güterverkehr wurden auf den Grenzbahnhöfen beider Län­der auf eigene Rechnung spezielle Einrichtungen zum Umspuren der Waggons von der (breiteren) rassischen auf die deutsche Spurweite gebaut. Entsprechend der unter­zeichneten Vereinbarungen sollte der Weitertransport rassischer Waggons durch die preußische Eisenbahn erfolgen.12

Andererseits kauften russische Händler gern in Ostpreußen Rassevieh, ausgewähl­tes Saatgut und landwirtschaftliche Geräte. Die Eigentümer der örtlichen Schiffswerf­ten erzählten mit Stolz, dass die Hälfte der zaristischen Flotte auf Werften in Ostpreu­ßen gebaut worden sei. Kaum zu überschätzen war die Rolle Königsbergs als Transit­punkt für rassische Importe - Maschinen, Ausrüstungen, Kunstdünger und Salz. Von hier wurden jährlich eine halbe Million Fässer mit Hering nach Russland geliefert.13

Anfang des 20. Jahrhunderts wurden hier in bis dahin unbekannter Größenordnung Maßnahmen zur Rekonstruktion und Modernisierung der Hafenanlagen und Trans­portsysteme unternommen. Diese Arbeiten wurden erst nach dem Krieg abgeschlos­sen. An den Ufern des Pregel und in den Königsberger Häfen entstanden große, nach dem letzten Stand der Technik ausgestattete Lagerhäuser, Getreidespeicher und Kühl­häuser mit guten Verkehrsanbindungen. Dadurch stieg die Produktivität des Königs­berger Hafens um ein Vielfaches im Vergleich zur Vorkriegszeit.14

Der Erste Weltkrieg und die Revolution in Russland waren für den wirtschaftlichen Wohlstand Ostpreußens verheerend und führten zum Abbrach der in Jahrzehnten und Jahrhunderten gewachsenen Beziehungen. Zugleich ermöglichte die internationale Isolation, in der sich beide Staaten Anfang der zwanziger Jahre befanden, ihre erneute Annäherung. Bei seinem Auftritt auf dem VIII. Kongress der Sowjets im Dezember 1920 unterstrich Vladimir Lenin gleich vier Mal, dass die durch den Versailler Vertrag entstandene Lage „Deutschland zur Annäherung an Sowjetrassland treibt" und dass „das einzige Mittel zur Selbstrettung nur im Bündnis mit Sowjetrussland besteht, wo­hin es bereits seinen Blick wendet".15 Im Bericht des Volkskommissars für Auswärtige Angelegenheiten, Georgij Cicerin, wurde im gleichen Jahr vermerkt, dass Deutschland „als Gegengewicht zur Entente mit uns in Wirtschaftsbeziehungen zu treten wünsche

12 Soglasenie o vzaimnom pol'zovanii na uslovijach obmena besperegruzocnymi tovarnymi va-gonami sistemy Brejdsprechera [Vereinbarung über die gegenseitige Nutzung von Güterwag­gons unter den Bedingungen des Austausches nicht umladbarer Waggons des Systems Breit­sprecher], Königsberg 1912, S. 4-6.

13 Sbornik konsul'skich donesenij [Sammelband konsularischer Meldungen], Sankt-Peterburg 1906, Nr. 6, S. 496.

14 Techniceskoe oborudovanie Kenigsbergskogo porta [Die technische Ausrüstung des Königs­berger Hafens], in: Vostocno-Evropejskij Zemledelec [Ost-Europäischer Ackerbauer], Kö­nigsberg 1926, Nr. 2 (19), S. 5-6.

15 Dokumenty vnesnej politiki SSSR [Dokumente zur Außenpolitik der UdSSR], Moskva 1959, Bd. 3, S. 414-415.

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und gleichzeitig sich davor fürchte". Seinerseits versicherte der Volkskommissar, das:-„wir bereit seien, mit Deutschland in Wirtschaftsbeziehungen zu treten", die deutscht Regierung jedoch Schuld daran trage, dass „all unsere Schritte nicht mit Erfolg ge­krönt sein können".16

Unterdessen wurde das objektive Interesse beider Länder an einer Zusammenarbeit dadurch untermauert, dass Deutschland ab dem Jahre 1921 unbestritten den zweiter Platz unter den Haupthandelspartnern Russlands einnahm.

Anteil Englands, Deutschlands und der USA am Außenhandel Russlands/der UdSSR (in Prozent)17

Land

England

Deutschland

USA

1921

30,3

24,0

19,4

1922

15,5

26,5

28,0

1923

22,0

19,3

8,7

1925-1926

24,7

22,4

11,5

Bei seiner Rede auf der Eröffnungsveranstaltung der sowjetisch-deutschen Verhand lungen zum Abschluss eines Handelsvertrages im Jahre 1924 erklärte der Völkskom­missar für Außenhandel, Leonid Krasin, mit aller Deutlichkeit, dass die Sowjetunioi und Deutschland „füreinander bestimmt seien". Nach seinen Worten erklärte sich da; mit „der geografischen Lage beider Staaten, ihrer ökonomischen Struktur und dei bekanntermaßen historisch entstandenen Beziehungen".18 Nach Meinung des Volks kommissars war Deutschland „von Hauptinteresse als Markt für unser Getreide", abe auch ebenso für Rauchwaren und andere Rohstoffe. Andererseits könnte die starb deutsche Industrie der UdSSR Maschinen, Farben, chemische Produkte und Arznei mittel liefern.19

Günstige politische Rahmenbedingungen für die Entwicklung bilateraler ökonomi scher Beziehungen bestanden nach der Unterzeichnung des Vertrages von Rapallo an 16. April 1922, der unter anderem die Einführung der Meistbegünstigung im Außen handel beider Länder vorsah und den Weg zu einer Wiedereröffnung des russische! Konsulats in Königsberg ebnete.20

Im Jahre 1929 begann eine der ersten Meldungen des sowjetischen Generalkonsul in Königsberg, Grigorij Meerzon, mit den Worten: „Es findet sich kaum irgendein andere Provinz in Deutschland, deren Interesse an der UdSSR so groß ist, wi<

16 17 18 19 20

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-710;

-323. -224.

Bd. 7, s 697 Bd. 8, S. 702--703.

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Ostpreußen".21 Davon sprach ebenfalls die Vorsitzende der Allrussischen Gesellschaft für Beziehungen mit dem Ausland, Olga Kameneva (eine Schwester Lev Trockijs): „Königsberg ist nach Berlin hinsichtlich der Beziehung zu uns der markanteste Ort Deutschlands".22 Derartige Einschätzungen beeindrucken besonders, wenn man be­rücksichtigt, dass offizielle sowjetische Persönlichkeiten nicht aufhörten zu wiederho­len, dass „Ostpreußen die reaktionärste deutsche Provinz" sei.23

Das ist auch nicht verwunderlich. Der Versailler Vertrag, der die Provinz in eine Exklave verwandelt hatte, die durch den Danziger Korridor vom restlichen Deutsch­land abgetrennt war, erschwerte die ökonomische Situation der Provinz erheblich. Die örtliche politische und ökonomische Elite versuchte, mit der Schaffung eines regiona­len Systems der ökonomischen Zusammenarbeit einen Ausweg zu finden. Dabei soll­te Ostpreußen die Rolle eines Hauptvermittlers zwischen der UdSSR und den angren­zenden Ländern Osteuropas einerseits und Deutschland und Westeuropas anderseits übernehmen. Als wichtigstes Instrument dafür sollte die Ostmesse in Königsberg die­nen.

Zu diesem Zweck wurde im Sommer 1920 das Komitee zur Organisation der Deut­schen Ostmesse in Königsberg gegründet. Anfangs wurde die Messe zweimal im Jahr veranstaltet, ab 1929 jedoch nur noch jährlich. Die Königsberger Ostmesse war nach der Leipziger Messe die zweite offizielle deutsche Messe. Sie hatte übernationalen Charakter. Hier wurden verschiedenartigste Industriewaren und landwirtschaftliche Produkte ausgestellt, die von einer ganzen Reihe spezieller Sparten, von der Ausstel­lung von Zuchtvieh oder Flugapparaten bis hin zur Präsentation von Kunstwerken und Kunsthandwerk, ergänzt wurden. Aussteller waren neben Deutschland die skandina­vischen und baltischen Staaten sowie zentraleuropäische und einige andere Länder. Das Hauptaugenmerk galt jedoch dem unermesslichen sowjetischen Markt.24

Russland nahm erstmals im August 1922 an der 5. Ostmesse teil. Die Direktion der Ostmesse unternahm alles Erdenkliche, um die Teilnahme der UdSSR zu fördern und zu erweitern. Im Jahre 1922 wurde in Königsberg das Wirtschaftsinstitut für Bezie­hungen zu Russland und den osteuropäischen Staaten gegründet, welches sich auf das Studium und die Festigung der Kontakte zur UdSSR spezialisierte. Im August dessel­ben Jahres wurde gemeinsam mit der Städtischen Bank die Gesellschaft „Deutsch-

21 GARF: F. 5283 (Vsesojuznoe obscestvo kul'turnych svjazej s zagranicej [Allrussische Gesell­schaft für kulturelle Verbindungen mit dem Ausland], VOKS), Op. 6, D. 45, L. 50 [16. März 1929].

22 Ebd., Op. 6, D. 50. L. 54, 93-94 ob. 23 Ebd., Op. 1, D. 33, L. 8-8 ob. 24 Gause, Fritz: Königsberg in Preußen. Die Geschichte einer europäischen Stadt, Recklinghau­

sen 1994, S. 234-235; Königsberg - Stadt der osteuropäischen Messen, Königsberg 1924, S. 3-4.

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Jurij Kostjasov

russischer Warenaustausch" gegründet, um den beiderseitigen Wirtschaftsvertretern Waren- und Geldkredite zur Verfügung stellen zu können. In Moskau wurde eine stän­dige Messevertretung eröffnet. In Königsberg gab man drei Zeitschriften in russischer Sprache heraus („Ost-Europäischer Markt", „Ost-Europäischer Holzmarkt", „Ost-Europäischer Ackerbauer"25). Zur Eröffnung der Messe erschienen die örtlichen Zei­tungen mit Beilagen, die der UdSSR gewidmet waren. Das Radio strahlte spezielle Sendungen aus und es wurden zahlreiche Versammlungen, Sitzungen sowie Lehrver­anstaltungen über das Leben in der UdSSR durchgeführt. Während der Ostmesse wur­den deutsch-russische wissenschaftliche Konferenzen und Kongresse abgehalten. Den Vertretern aus Russland bezahlte die deutsche Seite die Unterkunft und die Versiche­rung der Ausstellungsstücke und stellte unentgeltlich Ausstellungsfläche zur Verfü­gung. Die Anstrengungen der Messeleitung verfehlten nicht ihre Wirkung. Der sow­jetische Pavillon auf der Messe wurde mit jedem Jahr ansehnlicher, die Anzahl der offiziellen Delegationen erreichte einhundert und mehr Menschen. Bereits im Jahre 1923 nahm die vom Volkskommissariat für Außenhandel vorbereitete Ausstellung mit überwiegend landwirtschaftlichen Produkten einen ganzen Pavillon auf der Messe ein. Die Teilnahme der UdSSR an der Ostmesse erschien der deutschen Seite als so wich­tig, dass man sich nach Abschluss der Messe im Jahre 1931 entschloss, den sowjeti­schen Pavillon als ständige Ausstellung am Königsberger Wirtschaftsinstitut für das Studium der UdSSR zu erhalten.26

Ungeachtet aller Bemühungen der ostpreußischen Staatsmacht und der Geschäfts­leute blieb der ökonomische Effekt ihrer Anstrengungen eher unbedeutend. Im Jahre 1929 entschloss sich die lokale politische und ökonomische Elite daher zu einem un­gewöhnlichen Schritt. Unter der Leitung des Oberpräsidenten der Provinz, Ernst Siehr, initiierte sie den Besuch einer ostpreußischen Delegation in die UdSSR, in der Hoff­nung, damit den Gang der Dinge zu beschleunigen und eine radikale Aktivierung der bilateralen Beziehungen zu erreichen. In Vorbereitung dieses ungewöhnlichen Ereig­nisses besuchten mehrere sowjetische Diplomaten unter der Leitung des verantwort­lichen Mitarbeiters des Außenministeriums Nikolaj Rajvid Ostpreußen. Als Ergebnis des Besuches wurde ein interessanter Bericht für den Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Cicerin, verfasst, in dem eine ausführliche Charakteristik der poli­tischen und ökonomischen Lage Ostpreußens gegeben und mögliche Perspektiven einer Zusammenarbeit aufgezeigt wurden.

25 „Vostocno-Evropejskij Rynok", „Vostocno-Evropejskij Lesnoj Rynok", „Vostocno-Evro-pejskij Zemledelec".

26 Siehe: Kostjasov, Jurij: Ucastie SSSR v Kenigsbergskoj Vostocnoj jarmarke [Die Teilnahme der UdSSR an der Königsberger Ostmesse], in: Baltijskij region v mezdunarodnych otnosenijach v novoe i novejsee vremja [Die baltische Region in den internationalen Bezie-' — - J — — ' -7,.:,i f„i;„;„,„„j i « u c nQ_14Ä

Ostpreußen als Brücke zwischen Russland und Westeuropa

Abb. 4: Fragment der Ausstellung im sowjetischen Pavillon auf der Königsberger Ostmesse 1933.

„Das Verhältnis Ostpreußens, besonders Königsbergs zur Sowjetunion unterscht sich grundlegend von dem Berlins und Westdeutschlands", schreibt ein Diplomat, einer Zeit, da innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft Berlins und unter den freundlich gesinnten Parlamentariern, Geschäftsleuten, Journalisten und Beamten , Sachtinsker Stimmung'27 verbreitet ist und eine Abkühlung der Beziehungen zu vorherrscht, fühlt man in Ostpreußen eine vollkommen andere Atmosphäre. Alle litischen Gruppierungen des Bürgertums, von den Nationalisten bis zu den Demc ten, sind ohne Ausnahme russlandfreundlich gestimmt. In Königsberg fühlt man

27 Im März 1928 wurde im Sachtinsker Kreis des Donbass eine große Gruppe technischer arbeiter und Ingenieure, darunter mehrere Staatsbürger Deutschlands, verhaftet und der S tage beschuldigt. Über den Sachtinsker Vorfall und die Reaktionen auf ihn in Deutscl siehe: Kislicyn, Sergej: Sachtinskoe delo [Der Sachtinsker Vorfall], Rostov na Donu 1 Pivnenko, Roman: Sachtinskoe delo 1928 g. i sovetsko-germanskie otnosenija [Der \ tinsker Vorfall im Jahre 1928 und die sowjetisch-deutschen Beziehungen], in: Voprosy i Kvropcjskogo Sevcra [Zu Fragen der Geschichte des europäischen Nordens], Pctrozav 1995. S. 82-90.

wirklich wie unter Freunden. Bei allen die Ostmesse betreffenden28 Auftritten wurde der Sowjetunion großer Stellenwert eingeräumt. In inoffiziellen Gesprächen erklären uns die Königsberger ihre Verehrung. Natürlich beruht das ausschließlich auf dem Interesse Ostpreußens an der Entwicklung von Wirtschaftsbeziehungen zur UdSSR und der besonderen politischen Lage Ostpreußens [...]. Es ist vollkommen klar, dass Ostpreußen äußerst unzufrieden mit der gegenwärtigen Politik der deutschen Regie­rung in Bezug auf die UdSSR ist".29

Die Gründe dieser „Russlandfreundlichkeit" liegen nach Ansicht Nikolaj Rajvids in Folgendem: „Königsberg mit seinem großen Hafen kann nur mit Hilfe von Wirt­schaftsbeziehungen zur UdSSR überleben. Die dort kürzlich erst errichteten grandio­sen Getreidespeicher sind überwiegend leer, da sie auf den sowjetischen Export aus­gelegt wurden. Der Hafen ist ebenfalls leer, denn die Seeverbindungen sind im We­sentlichen auf den Handel mit der UdSSR ausgerichtet. Die in Königsberg ansässige Lokomotiv- und Schiffsbaufabrik,Union Gießerei Königsberg' ist nur zur Hälfte aus­gelastet (900 Arbeitskräfte anstelle von 1.800), da der Bedarf der Eisenbahn in Deutschland an Lokomotiven gering ist und der Schiffsbau im Wesentlichen auf den Bau von zwei Fischtrawlern für die UdSSR beschränkt bleibt. [...] Deshalb leben Ostpreußen und Königsberg von der Hoffnung auf die UdSSR".30

Nach Meinung des Verfassers besteht vom Standpunkt der sowjetischen Politik in Bezug auf ganz Deutschland gegenüber Ostpreußen ein „gewaltiges Interesse": „Wir müssen unbedingt die ostpreußische Stimmung nutzen, damit Ostpreußen Druck auf die deutsche Regierung bezüglich ihrer Russland- und Polenpolitik ausübt. Dazu müs­sen wir Ostpreußen eine gewisse Aufmerksamkeit sowohl in politischer als auch in ökonomischer Hinsicht erweisen. Leider nutzen unsere Wirtschaftsorgane besonders auf dem Gebiet der Wirtschaft nicht die Möglichkeiten, die Ostpreußen bietet. Bei der Auftragsvergabe werden ostpreußische Unternehmen weder vom Gesichtspunkt ihrer technischen Möglichkeiten noch vom Gesichtspunkt unserer dort vorhandenen beson­deren politischen Interessen berücksichtigt". Im Bericht wird die Durchführung einer gemeinsamen Beratung des Volkskommissariats für auswärtige Angelegenheiten und des Volkskommissariats für Handel vorgeschlagen, um „die Gesamtheit der ostpreu-

28 Der Sieg der Diplomaten wurde verbunden mit der Eröffnung der 16. Ostmesse, welche in Königsberg am 11.-14. August 1928 stattgefunden hat. Zu dieser Messe waren mehrere Dut­zend Delegierte aus der UdSSR angereist. Sowjetische Expositionen der Exportwaren waren im „Haus der Technik" aufgestellt (siehe: SSSR na XVI Vostocno-Evropejskoj Jarmarke v Kenigsberge [Die UdSSR auf der 16. Ostmesse in Königsberg], in: Vostocno-Evropejskij Zemledelec [Ost-Europäischer Ackerbauer], 1928, Nr. 9, S. 23).

29 Archiv Vnesnej Politiki Rossijskoj Federacii, Moskva [Archiv der Außenpolitik der Russi­schen Föderation, Moskau] (im Weiteren - AVP RF): F. 0165 (Posol'stvo SSSR v Germanii [Die Botschaft der UdSSR in Deutschland], Op. 8, Papka [Mappe] (im Weiteren - P.) 147, D. 299, L. 34, 38.

30 Ebd., L. 38.

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Bischen Frage vom Standpunkt der weiteren Stabilisierung unseres Einflusses in Ost preuüen zu erörtern".31

Am 8. Dezember 1928 fand im Volkskommissariat für auswärtige Angclegenheitei die „Beratung zur Frage der Entwicklung der Wirtschaftbeziehungen der UdSSR zi ()stpreußen und der Nutzung der Stadt Königsberg als Transitpunkt" statt, an der Di plomaten und Vertreter verschiedener Exportorganisationen wie das Volkskommissa riat für Handel, die sowjetische Handelsflotte, die Holzhandelsorganisation „Export les", das Erdölsyndikat und andere Organisationen teilnahmen. Aus dem Abschluss Protokoll mit der Einstufung „Streng Geheim" wird ersichtlich, dass die politischet Motive zur Intensivierung der Beziehungen zu Ostpreußen unter der Führung de: Volkskommissariats für auswärtige Angelegenheiten im klaren Widerspruch zu dei ökonomischen Interessen bestimmter Wirtschaftssubjekte standen.

Die Vertreter der Handelsflotte erklärten, dass ihnen ein günstiger Vertrag mit den Rigaer Hafen entschieden mehr zusagen würde und sie es als unnötig erachteten Schiffe mit Ballast nach Königsberg zu schicken. Das Volkskommissariat für Handc verwies darauf, dass es bei der Reinigung von Getreide und Hülsenfrüchten in Königs berg jährlich etwa 7 Millionen Rubel verlöre und im nächsten Jahr die Dienstleistun gen der ostpreußischen Partner nicht in Anspruch nehmen wolle. Die Holzhandelsor ganisation „Exportles" verwies direkt auf die Unwirtschaftlichkeit der Lieferung ihre Produkte nach Ostpreußen, da hierfür wegen der unterschiedlichen Spurbreiten ein große Anzahl an Waggons mit Wechselgestellen benötigt würde. Auch sei ein Flößei auf der Memel wegen der angespannten Beziehungen zu Polen unmöglich. Alle andc ren Wirtschaftsvereinigungen äußerten sich im gleichen Sinne. Unter ihnen gab c nicht ein Unternehmen, welches eine ökonomische Zweckmäßigkeit der Entwicklun der direkten Beziehungen zu dieser östlichen deutschen Provinz erkannte. Im Übrige war der Abschlussteil der Beratung nicht ganz so kategorisch. „Die interessierten Be hörden werden gebeten, im Verlaufe der nächsten Woche die Frage der ökonomische Beziehungen zu Ostpreußen aus politischem Blickwinkel zu erörtern und ihre Vorstel lungen mit konkreten Wünschen bezüglich dessen, was wir von den Deutschen vei langen sollten und was wir daraus schlussfolgernd Ostpreußen anbieten könntet vorzutragen".32

Die Reise der Delegation aus Ostpreußen in die UdSSR fand im April 1929 stat Im Verlaufe des Besuches versuchte Moskau die „ostpreußische Karte" auszuspielei indem man den Besuchern erklärte, dass die Intensivierung der Wirtschaftsbeziehur gen und eine besondere Bevorzugung Ostpreußens unter der Bedingung möglich se dass Ostpreußen die Rolle eines Lobbyisten der sowjetischen Interessen in Berlin b< der deutschen Zentralregierung übernähme. Wie die Protokolle der Verhandlungsfül rung belegen, wollten die Mitglieder der ostpreußischen Delegation auf den Handi

31 Ebd., L. 36-37. 32 Ebd., L. 85-89.

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nicht eingehen und „reagierten mit keinem Wort" auf die Versuche, das Thema der „besonderen politischen Interessen, die Ostpreußen mit der UdSSR verbanden", zu erörtern.33 Im Endeffekt war der Besuch ein Misserfolg.

Ernüchternd waren auch die Ergebnisse der Versuche der ostpreußischen Staatsor­gane und der wirtschaftlichen Elite, die bisherigen ökonomischen Beziehungen mit ihrem östlichen Nachbarn wiederzubeleben. Laut dem im Jahre 1932 durch das Volks­kommissariat für Außenhandel der UdSSR vorbereiteten Bericht zu den „Bilateralen Handelsbeziehungen der UdSSR und Ostpreußens" wurden in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre im Durchschnitt 153 Tonnen Güter über Königsberg in die UdSSR ge­liefert, was etwa ein Drittel der Importe ausmachte. Aus der UdSSR wurden jährlich 82.000 Tonnen Güter, das heißt ein Drittel aller sowjetischen Exporte, nach Königs­berg transportiert. Alles in allem war das jedoch zehn- bis zwölfmal weniger als vor dem Krieg.34 Trafen in den Vorkriegsjahren aus Russland täglich mehrere hundert Waggons mit verschiedenen Gütern in Königsberg ein, so waren es zum Beispiel im Jahre 1926 nur noch 8 Waggons am Tag.35

Die Gründe dafür lagen im katastrophalen Rückgang des allgemeinen Umfangs des sowjetischen Außenhandels. Nach Angaben der sowjetischen Handelsvertretung in Berlin war der Umsatz aus dem sowjetisch-deutschen Handelsaufkommen Mitte der 1920er Jahre im Vergleich zu 1913 11-mal geringer (2.343 Millionen zu 215 Millionen Reichsmark gemessen an den Preisen von 1913).36 Anfang der 1930er Jahre stagnier­te der Handelsumsatz Ostpreußens mit der UdSSR nicht nur, sondern nahm stetig weiter ab. Laut Auswertung der Arbeitsergebnisse des sowjetischen Pavillons wurde auf der Ostmesse 1933 nicht ein einziger Handelsvertrag abgeschlossen. Das war die niederschmetternde Bilanz der Versuche der ostpreußischen Elite, ein System der re­gionalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Königsberg als Zentrum aufzubauen.

33 AVP RF: F. 0165, Op. 9, P. 150, D. 333, L. 14-b. (Boris Stomonjakov an Nikolaj Krestinskij, 13. April 1929, Einstufung „Geheim").

34 Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Ekonomiki [Russisches Staatliches Wirtschaftsarchiv] in Moskau (im Weiteren - RGAE): F. 413 (Ministerstvo vnesnej torgovli SSSR [Ministerium für Außenhandel der UdSSR]), Op. 13, D. 2477, L. 130-131.

35 AVP RF: F. 0165, Op. 6, P. 155, D. 199, L. 189 (Meldung des Konsuls Ezekiilja Kantor vom 18. Juni 1926).

36 RGAE: F. 5240 (Narodnyj komissariat vnesnej i vnutrennej torgovli [Volkskommissariat für Außen- und Binnenhandel]), Op. 19, D. 1590, L. 325.

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Abb. 5: Titelbild der Zeitschrift „ Ost-Europäischer Ackerbauer ", Ausgabe September-Oktober 1933 mit einer Fotografie der Delegation der Sowjetunion

auf der 21. Deutschen Ostmesse in Königsberg.

Abschließende Bemerkungen

Worin lagen nun die Gründe für das Scheitern einer Initiative, die, so schien es allen in Königsberg, eine große Perspektive hatte und die auf der Übereinstimmung der objektiven Interessen der potentiellen Teilnehmer basierte? 1. Ist von den Schwierigkeiten die Rede, die Ostpreußen nach dem Krieg zu meistern

hatte, so wird gewöhnlich auf die verhängnisvollen Artikel des Versailler Vertrages verwiesen, welche die Provinz vom restlichen Territorium Deutschlands durch den Polnischen Korridor trennten. Die Veränderungen an der östlichen Grenze hatten eine nicht geringere, sondern eher eine größere Bedeutung für die Ökonomie des Gebietes. Infolge der Bildung der neuen Staaten Polen und Litauen hatte Ostpreu­ßen keine gemeinsame Grenze mehr mit seinem wichtigsten Wirtschaftspartner Russland. Der Übergang zum Transithandel erschwerte die traditionellen Wirt­schaftsbeziehungen und wurde auch zu einer spürbaren Bremse bei der Entwick­lung der politischen bilateralen Beziehungen.

2. Der Außenhandel der UdSSR ordnete sich einer einzigen Aufgabe unter: um jeden Preis von den entwickelten westlichen Ländern Maschinen, Werkbänke, Ausrüstun­gen und neue Technologien für eine Industrialisierung im Sinne Stalins zu erhalten. Es machte keinen Sinn, all das in einer rückständigen deutschen Provinz zu suchen, weshalb man es in Moskau vorzog, Kontakte zu großen westlichen Firmen zu un­terhalten.

3. In Ostpreußen verstand man die radikalen Veränderungen, die sich in Russland nach der Machtergreifung der Bolschewiki mit der Einführung eines staatlichen Außenhandelsmonopols vollzogen, überhaupt nicht. Königsberger Unternehmer und Politiker setzten weiter auf die Kategorien der Marktwirtschaft. Sie gingen davon aus, dass eine erfolgreiche Entwicklung einer bilateralen Zusammenarbeit einen beiderseitigen Vorteil garantiere. In der Realität jedoch strebten ihre Ge­schäftspartner in der UdSSR nicht nach Unternehmensgewinnen. Sowjetische Be­amte sorgten sich vor allem um den Umfang ihrer Dienstreisen und die Möglich­keit, „schön zu leben" oder sogar eine gewisse Zeit in einer sowjetischen Vertretung im Westen zu verbringen. Unter diesen Umständen galt das provinzielle Königs­berg als „Krähwinkel", „Loch" und war daher vollkommen uninteressant.

4. Der Besuch der ostpreußischen Delegation in der UdSSR im Jahre 1929 zeigte mit aller Deutlichkeit, dass das Streben nach einer Zusammenarbeit auf beiden Seiten völlig unterschiedlichen Zielen unterlag und dass sich ihre wirklichen Interessen auf verschiedenen Ebenen befanden. Die politischen und ökonomischen Führer Ostpreußens rechneten mit der Wiederherstellung des bis zum Krieg und bis zur Revolution vorhandenen Handelsvolumens mit seinem östlichen Nachbarn, der Er­neuerung des Vertriebes seiner Landwirtschafts- und Industrieprodukte in der UdSSR sowie dem Erhalt billiger Rohstoffe, vor allem Hülsenfrüchte und russi­sches Holz. Sie waren bereit, auf jede nur erdenkliche Weise die Entwicklung des

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Transithandels zu fördern, in der sie die einzige Möglichkeit der Auslastung di Königsberger Hafens sahen. Die sowjetische Seite dagegen verfolgte fast ausschließlich politische Motive. 1 Volkskommissariat für auswärtige Angelegenheiten betrachtete man Ostpreuße welches äußerst interessiert an einer Intensivierung der Wirtschaftsbeziehung! war, als möglichen Lobbyisten der UdSSR bei der deutschen Regierung. Die po tische Elite und Wirtschaftskreise in der UdSSR wollten die Provinz zur Schaffte eines Gegengewichtes zu jenen Berliner Politikern nutzen, die eine enge Annäh rung Deutschlands an die Westmächte anstrebten. Außerdem hoffte man in Mc kau, dass die Spekulation über die geopolitischen Probleme Ostpreußens die n< wendige Grundlage für übereinstimmende Anstrengungen der beiden Länder i Kampf mit dem „gemeinsamen Feind" Polen schaffen würde. Jedoch wurde diese (überaus zweifelhafte!) Basis für eine Zusammenarbeit nie genutzt. Die ostpreußischen Politiker sperrten sich gegen jegliche politische V bindlichkeiten, indem sie ihre Loyalität zur Zentralregierung erklärten, und lehnt die Möglichkeit der Erörterung irgendwelcher internationalen Probleme ab.

5. Neben politischen Motiven maß die UdSSR beliebigen außenpolitischen Aktivi ten, einschließlich der ökonomischen Zusammenarbeit sowie ideologischen u propagandistischen Aspekten eine große Bedeutung bei. Die Teilnahme an den K nigsberger Messen und die damit verbundenen nicht geringen Kosten rechtfertig! die Notwendigkeit einer direkten Propagierung der Errungenschaften der sowjc sehen Staatsmacht. Dazu bemerkte der Berater des Botschafters der UdSSR in B lin, Stefan Brodowskij, recht selbstkritisch, dass die Deutschen davon überzci seien, dass wir hier weder etwas verkaufen noch etwas kaufen wollen, sondern „i Dummheiten im Kopf hätten, die darauf zielten, unsere Propagandaarbeit verschleiern"37.

6. In der neueren Geschichtsforschung wird die Meinung vertreten, dass die Versui der Führer Ostpreußens, die alten Beziehungen zwischen Königsberg und Russli wiederherzustellen, „wegen der ungeklärten politischen Lage in Nordosteuropa folglos waren".38 Der Grund für das Scheitern der „Politik der Annäherung" jedoch nicht in der ungünstigen außenpolitischen Verteilung der Kräfte in der gion, sondern vielmehr im Unterschied der Ziele und Handlungsmotive beider i ten sowie in den ungelösten Widersprüchen zwischen zwei Wirtschaftssysteme dem marktwirtschaftlichen deutschen und dem planwirtschaftlich-administrati sowjetischen.

37 Ebd.: F. 413, Op. 2, D. 1437, L. 50. 38 Sindo, R.: Rassirenie kompetencii ober-prezidenta provincii Vostocnaja Prussija v period

marskoj respubliki [Die Erweiterung der Kompetenzen des Oberpräsidenten der Provinz preußen während der Weimarer Republik], in: Kaliningradskie Archivy [Kaliningrader Ai ve], Kaliningrad 2008, Nr. 8, S. 92-93.