Kratzer auf dem "Autobus des Sieges". Erinnerung an den Stalinismus in der Sowjetunion und in...

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Jörg Baberowski, Robert Kindler (Hg.) Macht ohne Grenzen Herrschaft und Terror im Stalinismus Campus Verlag Frankfurt/New York

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Jörg Baberowski, Robert Kindler (Hg.)

Macht ohne GrenzenHerrschaft und Terror im Stalinismus

Campus VerlagFrankfurt/New York

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-593-50164-2

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Dieser Titel ist auch als E-Book erschienen.www.campus.de

Dieser Band ist aus Vorträgen entstanden, die 2011/12 im Rahmen einer vom Lehrstuhl »Geschichte Osteuropas« an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur organisierten Ringvorlesung gehalten wurden. Ring-vorlesung und die Publikation des Buches wurden durch die Stiftung ermöglicht.

Inhalt

Macht ohne Grenzen: Eine Einleitung ............................................................. 7 Jörg Baberowski/Robert Kindler

Stalinistische Repressionen und das Problem der sozialen Umgestaltung ................................................................................ 23 David Shearer

Angst und Macht: Tätergemeinschaften im Stalinismus ............................. 41 Jörg Baberowski

Stalins Höhlengleichnis: Verschwörungsdenken und Machtkalkül im Stalinismus ............................ 69 Fabian Thunemann

Versammle und herrsche: Über die Legitimationsquellen stalinistischer Diktatur ................................ 97 Lorenz Erren

Die große ukrainische Hungersnot von 1932/33 ....................................... 117 Nicolas Werth

Die Schicksale der Täter: Tschekisten und der Große Terror 1937/38 ............................................... 141 Nikita Petrow

6 I N H A L T

Die andere Seite des Schweigens: Lager, Hunger und Terror im Blick des Westens ....................................... 157 Gerd Koenen

Repressionen in der »lustigsten Baracke« des Ostblocks: Der Funktionswandel des Terrors in Ungarn ............................................. 173 Krisztián Ungváry

Kratzer auf dem »Autobus des Sieges«: Erinnerung an den Stalinismus in der Sowjetunion und in Russland ..... 193 Robert Kindler

Weiterführende Literatur ................................................................................ 215

Abkürzungsverzeichnis und Glossar ............................................................ 219

Autoren .............................................................................................................. 222

Kratzer auf dem »Autobus des Sieges«: Erinnerung an den Stalinismus in der Sowjetunion und in Russland Robert Kindler

Stalin ist jetzt im öffentlichen Nahverkehr unterwegs. Seit Anfang 2010 verkehren in zahlreichen russischen Städten Autobusse, auf denen sein Porträt flankiert von populären Slogans aus der Zeit des Zweiten Welt-kriegs (»Für die Heimat!«, »Für Stalin!«) zu sehen ist. Schon mehrfach hat die Aktion »Autobus des Sieges« Stalin auf diese Art und Weise in die Öf-fentlichkeit gebracht. Es gehe ihnen keinesfalls darum, Streit auszulösen oder zu provozieren, versicherten die Initiatoren.1 Ihr Ziel sei es lediglich, an die herausragende Rolle Stalins im Großen Vaterländischen Krieg zu erinnern, der untrennbar mit dem Sieg der Roten Armee verbunden sei. Man werde es nicht zulassen, dass sein Name allein aufgrund »politischer Interessen« aus dem Gedächtnis der Nation verschwinde. Es sei an der Zeit »historische Gerechtigkeit« walten zu lassen und einen »objektiven Blick« auf die Geschichte zu werfen.2

Die Stalinbusse scheinen zu belegen, was in unzähligen Texten be-schrieben – und gewöhnlich auch beklagt – wird: dass die Erinnerungs-kultur in Russland defizitär sei. Der offizielle, staatlich gelenkte Stalinis-musdiskurs sei undifferenziert und einseitig, er blende den Terror als zentrales Herrschaftsinstrument weitgehend aus, akzentuiere Stalins Rolle beim sowjetischen Sieg im Großen Vaterländischen Krieg und stelle eine direkte Verbindung zwischen der imperialen Größe der Sowjetunion und der gegenwärtigen Rolle Russlands in der Welt her.3 Der Massenterror und

1 Dabei handelt es sich um von unterschiedlichen Interessengruppen getragene Verbünde, die offensichtlich aus staatsnahen Quellen finanzielle und organisatorische Unterstüt-zung erhalten. Der prominenteste Protagonist hinter den »Autobussen des Sieges« ist der Journalist Dimitri Lyskow, der in seinen Büchern den stalinschen Terror als »große Lüge« bezeichnet. Eine wichtige Rolle spielt auch Sergei Kurginjans sowjetnostalgische Vereinigung »Sut wremeni«. Für diese Informationen danke ich Mischa Gabowitsch.

2 Siehe http://сталинобус.рф/about (12.5.2013). 3 Satter, David, It Was a Long Time Ago and It Never Happened Anyway. Russia and the Com-

munist Past, New Haven/London 2012.

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der Gulag würden nur dann erwähnt, wenn zugleich auch auf sowjetische Triumphe und Siege hingewiesen werde.4 Ansonsten fänden diese Themen höchstens in einer familiär tradierten »Gegenerinnerung« ihren Platz. Die im Westen populären, in Russland selbst hingegen marginalisierten »zivil-gesellschaftlichen« Kräfte stünden daher auf verlorenem Posten, wenn sie die systemische Funktion des Terrors thematisierten. Kurzum, der veröf-fentlichte Diskurs werde durch eine Art »guten Stalin« dominiert.5

Bus mit dem Portrait Stalins in St. Petersburg, Mai 2010.

(Quelle: Wikimedia Commons, Photograph: Wiktor Loginow)

Nur selten scheint es, als ließe sich auch eine andere Geschichte erzählen: Am 7. Mai 2012, seinem letzten Amtstag als Präsident der Russischen Fö-deration, unterzeichnete Dimitri Medwedew einige finale Direktiven: In einer schränkte er die Versammlungsfreiheit in Russland ein, in einer ande-ren forderte er die Regierung auf, die Empfehlungen einer Arbeitsgruppe umzusetzen, die sich mit der prekären materiellen Situation der noch le-benden Opfer politischer Repressionen auseinandergesetzt hatte. Im Kern liefen diese Empfehlungen auf die Gewährung von Pensionen und anderen

4 Figes, Orlando, Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland, Berlin 2008. 5 Einen Höhepunkt fand diese Deutung in der Debatte um ein Schulbuch zur Geschichte

Russlands zwischen 1945 und 2006, in dem Stalins Herrschaft als Teil einer russischen politischen Herrschaftstradition interpretiert wurde. Dazu: Brandenberger, David, »A New Short Course? A. V. Filippov and the Russian State’s Search for a ›Usable Past‹«, Kritika, Jg. 10, H. 4 (2009), S. 825–833.

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materiellen Leistungen hinaus.6 Wichtig war jedoch weniger die konkrete Höhe der avisierten Zahlungen als die Fokussierung auf die Opfer der stalinistischen Gewaltherrschaft. Dieser letzte Akt von Medwedews Präsi-dentschaft fügt sich in ein Bild ein, das in den vergangenen Jahren an Kontur zu gewinnen schien. Neben das Narrativ vom Stalinismus als Zeit ökonomischer Erfolge, imperialer Größe und militärischer Triumphe trat – wenngleich wesentlich bescheidener – die Erinnerung an die Opfer stali-nistischen Terrors. Sie lässt sich nicht länger mit einem Halbsatz über-gehen, sondern hat, zumindest bis zu einem gewissen Grade, Eingang in die offizielle russische Geschichtspolitik gefunden. Daran änderten auch die imperialen Bestrebungen unter Medwedews Vorgänger und Nachfolger Wladimir Putin wenig.

Diese Schritte konnten indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich dabei lediglich um unterschiedliche Seiten ein und derselben Medaille handelt: Wie in der Sowjetunion soll der Umgang mit dem Stalinismus auch in Russland »von oben« kontrolliert und reglementiert werden. Der Soziologe Boris Dubin hat daher vorgeschlagen, die Erinnerung an die Diktatur als »staatliche Veranstaltung« zu begreifen.7 Doch weshalb verhält es sich so? Und warum erweist sich das offiziell propagierte Geschichtsbild als so wirkungsvoll? Oder anders formuliert: Weshalb finden »alternative« Formen des Sprechens über Stalin und den Stalinismus so geringen An-klang in einer breiteren Öffentlichkeit? Um zu verstehen, wie postsowjeti-sche Geschichtsbilder entstanden und wie sie wirkten, werden in diesem Beitrag zunächst wesentliche Aspekte sowjetischer Geschichtspolitik nach-gezeichnet, dann geht es um die schwierige Suche nach einer tragfähigen erinnerungspolitischen Linie nach 1991 und schließlich um den Umgang mit dem Stalinismus im heutigen Russland.

Zwischen Tauwetter und Erstarrung

Die Historisierung des Stalinismus begann mit dem Tod des Diktators am 5. März 1953. Öffentlich bekundeten die Parteiführer ihre Trauer und sie

6 Perečen’ poručenij po itogam zasedanija Soveta po razvitiju graždanskogo obščestva i pravam čeloveka, 7.5.2012, in: http://www.kremlin.ru/assignments/15222 (18.3.2014).

7 Dubin, Boris, »Erinnern als staatliche Veranstaltung. Geschichte und Herrschaft in Russland«, Osteuropa, Jg. 58, H. 6 (2008), S. 57–65.

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versicherten, das Erbe des verblichenen »Lenins von heute« zu bewahren und zu mehren. Der Leichnam des viel beweinten »Vaters der Völker« wurde zunächst im Mausoleum an der Kremlmauer aufgebahrt. Doch symbolische Handlungen und Reden waren das eine, die Praxis etwas ganz anderes. Rasch begannen die Mitglieder des Politbüros, scheinbar unver-rückbare Elemente stalinscher Herrschaft zu demontieren. Am deutlichs-ten zeigte sich dies am ökonomisch defizitären Lagersystem des Gulag: Bereits 1953 kam es zu Massenentlassungen und Amnestien. Die Zeit des Terrors war endgültig vorbei.8

Doch es bedurfte eines eindeutigen Signals von oben, damit sich die Gesellschaft zumindest teilweise aus der Umklammerung des toten Dikta-tors lösen konnte. Es blieb Nikita Chruschtschow und seinen Vertrauten vorbehalten, die Entstalinisierung voranzutreiben. Auf dem 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 hielt er jene spektakuläre »Geheimrede«, de-ren Inhalt sich in rasender Geschwindigkeit verbreitete. Chruschtschow kritisierte den »Personenkult« um Stalin und die Vernichtung der »alten Bolschewiki«. Vor allem aber legte er all diese Vergehen Stalin persönlich zur Last. Dieser trage allein die Verantwortung für alles, was geschehen sei, so erklärte er.9

Die Rede schlug nicht nur in der sowjetischen Öffentlichkeit ein wie eine Bombe.10 Sie markierte den Beginn des so genannten »Tauwetters«, das als erstes im Bereich der Kultur Bedeutung erlangte.11 Doch dieser neue Kurs war keineswegs unumstritten. Einerseits war es nun möglich, die Verbrechen des Stalinismus zumindest teilweise zu benennen, anderer-seits verunsicherte es viele Menschen, dass scheinbar eherne Gewissheiten nun nicht mehr galten, ohne dass stets feststand, welche Regeln nun zu be-folgen waren. Wie weit konnte und durfte die Entstalinisierung gehen, ohne die Legitimität und damit letztlich auch die Stabilität des Systems zu

8 Baberowski, Jörg, Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt, München 2012, S. 498ff. 9 Der Text der Geheimrede ist abgedruckt in: Talbott, Strobe (Hg.), Chruschtschow erinnert

sich, Reinbek 1971, S. 529–586. 10 Der polnische Parteichef Beirut erlag einem Herzanfall, kurz nachdem er die

Offenbarungen Chruschtschows zur Kenntnis nehmen musste. Zu den Auswirkungen der Geheimrede in Ungarn siehe den Beitrag von K. Ungváry in diesem Band. In der DDR behielt Walter Ulbricht hingegen die Nerven und erklärte kühl: »Zu den Klassi-kern des Marxismus kann man Stalin nicht rechnen«; zu weitergehenden Reformen sub-stanzieller Natur waren er und seine Genossen hingegen nicht bereit.

11 Etkind, Alexander, Warped Mourning. Stories of the Undead in the Land of the Unburied, Stan-ford 2013.

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gefährden? Auf diese Frage fanden Chruschtschow und seine Weggefähr-ten keine eindeutige Antwort. Die aus dieser Unsicherheit resultierenden »Dilemmata der Entstalinisierung« zeigten sich in praktisch allen Bereichen des politischen, sozialen und kulturellen Lebens.12

Die Kritik am Stalinismus wurde nicht von allen Teilen der Gesellschaft gleichermaßen geteilt. Dafür mochten ideologische Gründe verantwortlich sein. Zugleich gab es aber auch ganz praktische Aspekte, die die Legitimität der Entstalinisierung gefährdeten. So erwies sich etwa die Integration hun-derttausender Menschen, die aus den aufgelösten Lagern in die Gesell-schaft zurückkehrten, als außerordentlich problematisch, weil es sich bei einem großen Teil der entlassenen Häftlinge um Kriminelle handelte, deren massenhafte Präsenz eine enorme Herausforderung für Bevölkerung und Behörden darstellte.13 Hinzu kam, dass die überlebenden Opfer allein mit ihrer Gegenwart dem Rest der Bevölkerung die Frage vorlegten, weshalb jene nicht verfolgt worden waren. In der Debatte um Alexander Solsche-nizyns Roman Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch, eines der einfluss-reichsten Bücher jener Jahre, prallten die unterschiedlichen Positionen auf-einander und es wurde deutlich, wie zerrissen die sowjetische Gesellschaft im Hinblick auf die unmittelbar zurückliegenden Jahre der Diktatur war.14

Die kritische Auseinandersetzung mit dem Stalinismus fand unter Chruschtschows Nachfolger Leonid Breschnjew ein schnelles Ende. Die Kader der Breschnjew-Zeit, die miteinander alt und grau wurden, teilten gemeinsame Erinnerungen und eine gemeinsame Sozialisation. Die Zwangskollektivierung, die Massenrepressionen und schließlich die Ent-behrungen des Krieges hatten sie nachhaltig geprägt. Sie alle waren »Stali-nisten«, weil ihre Karrieren in den dreißiger Jahren begonnen hatten und sie mit den Werten dieser Zeit imprägniert waren. Von ihnen war eine kritische Auseinandersetzung mit dem Stalinismus kaum zu erwarten. Die knapp 20 Jahre währende Breschnjew-Ära ist vielfach als »bleiern« be-schrieben worden, weil öffentliche Verlautbarungen in einem solchen Ma-ße mit ideologischem Dogmatismus und pathetischen Worthülsen durch-

12 Jones, Polly, »From the Secret Speech to the Burial of Stalin. Real and Ideal Responses to De-Stalinization«, in: dies. (Hg.), The Dilemmas of De-Stalinization. Negotiating Cultural and Social Change in the Khrushchev Era, New York 2006, S. 41–63.

13 Detailliert: Dobson, Miriam, Khrushchev’s Cold Summer. Gulag Returnees, Crime, and the Fate of Reform After Stalin, Ithaca 2009.

14 Dobson, Miriam, »Contesting the Paradigms of De-Stalinization, Readers’ Responses to ›One Day in the Life of Ivan Denisovich‹«, Slavic Review, Jg. 64, H. 3 (2005), S. 580–600.

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tränkt waren, dass niemand sie mehr ernst nehmen konnte.15 Funktionäre und Bevölkerung richteten sich in einem System des institutionalisierten Stillstands ein, das seine Legitimation weniger aus Zukunftsverheißungen, als vielmehr aus der Verklärung des Vergangenen bezog. Die Erfolge der sowjetischen Aufbaujahre, vor allem aber der Kult um den Großen Vater-ländischen Krieg wurden nun zu den zentralen Pfeilern der offiziellen sow-jetischen Identität. Die pompösen Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag des Kriegsendes im Jahre 1965 markierten den Beginn der ritualisierten und staatlich orchestrierten Erinnerungsinszenierung.16 Aus der Perspektive des Alltagslebens gelten die Breschnjew-Jahre jedoch weniger als Phase der Stagnation, sondern vielmehr als die »goldenen Jahre« der Sowjetunion. So werden sie auch heute von den meisten Menschen erinnert.17

Der »Konservatismus« der Kader zeigte sich besonders deutlich bei der Historisierung der eigenen Vergangenheit. Die sowjetische Geschichtswis-senschaft war ab Mitte der sechziger Jahre von »Routine und Retardation« gekennzeichnet und damit beschäftigt, traditionelle Narrative zu kanonisie-ren. Die Historiker beschränkten sich darauf, passende Beiträge zu Jubiläen und Parteitagen zu liefern.18 Sie beschrieben die tatsächlichen und angebli-chen Erfolge des sowjetischen Modells. Stalin wurde dabei weder ver-schwiegen noch explizit in den Vordergrund gerückt. Doch die Katas-trophen, die seine Diktatur über das Land gebracht hatte, fanden – wenn überhaupt – nur in Andeutungen, Auslassungen und Nebensätzen Erwäh-nung. Die verheerende Hungersnot von 1932/33 wurde etwa mit dem Hinweis auf nicht näher bezeichnete »Schwierigkeiten beim Kolchos-aufbau« abgetan. Von den Moskauer Schauprozessen, vom Massenterror, den Deportationen ganzer Nationen und den Erschießungen hunderttau-sender Menschen las man in diesen Werken nicht einmal zwischen den Zeilen.

15 Yurchak, Alexei, Everything Was Forever, Until it Was No More. The Last Soviet Generation, Princeton 2006, S. 36ff.

16 Gudkov, Lev, »Die Fesseln des Sieges. Rußlands Identität aus der Erinnerung an den Krieg«, in: Osteuropa, Jg. 55, H. 6 (2005), S. 56–73.

17 Bacon, Edwin, »Reconsidering Brezhnev«, in: ders./M. A. Sandle (Hg.), Brezhnev Reconsidered, Basingstoke 2002, S. 1–21, hier S. 4ff.

18 Hösler, Joachim, »Perestroika und Historie. Zur Erosion des sowjetischen Geschichts-bildes«, in: Helmut Altrichter/Elisabeth Müller-Luckner (Hg.), GegenErinnerung. Geschichte als politisches Argument im Transformationsprozeß Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas, München 2006, S. 1–26, hier S. 4.

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Abseits offizieller Diskurse wuchs in der sowjetischen Gesellschaft jedoch das Bewusstsein für die repressive Dimension des Stalinismus. Es war wiederum ein Buch Alexander Solschenizyns, das zum Symbol dieses nicht mehr zu unterdrückenden Interesses an der eigenen Geschichte wurde. Der Archipel Gulag, eine schonungslose Analyse des sowjetischen Lagersystems, wurde zu einem inoffiziellen Bestseller in der Sowjetunion. Doch damit die in verrauchten Küchen und über illegal vervielfältigte Ma-nuskripte geäußerte Kritik am Stalinismus breite Bevölkerungsschichten erreichen konnte, bedurfte es – wie so oft in der russisch-sowjetischen Geschichte – eines Impulses von der Spitze des Staates.

Zeit des Erwachens? – Die Geschichtsdebatten der Perestroikajahre

Die von Michail Gorbatschow angestoßenen Reformen (Perestroika) und sein Ruf nach Offenheit (Glasnost) markierten, wie sich später erweisen sollte, nicht nur den Anfang vom Ende der Sowjetunion,19 sondern sie stellten auch den Rahmen für ein zuvor nie gekanntes öffentliches Inte-resse an der sowjetischen Geschichte dar. Ihr Initiator war freilich zunächst entschieden gegen eine solche Debatte, weil er um den Erfolg seiner Re-formen fürchtete. Im Juni 1986 erklärte Gorbatschow: »Wenn wir anfan-gen, uns mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, werden wir unsere ganze Energie einbüßen. Das wäre so, als würden wir den Leuten auf den Kopf schlagen.«20 Doch der Geist des kritischen Denkens war aus der Flasche entkommen und ließ sich nicht mehr einfangen. Die Menschen lasen und diskutierten nun offen, was sie über Jahrzehnte allenfalls hinter vorgehaltener Hand auszusprechen gewagt hatten. Die Medien überboten sich mit Enthüllungsgeschichten über die Untaten des Stalinismus. Lange Zeit indizierte Bücher konnten erscheinen. Historiker erhielten Zutritt zu den zuvor hermetisch verschlossenen Archiven und fanden spektakuläre Belege für die Verbrechen des Stalinismus. Einige unter ihnen hofften, dass sich nun eine Geschichtswissenschaft »ohne Dogmen« betreiben lasse,

19 Eine vorzügliche Interpretation der letzten Jahre der Sowjetunion liefert: Kotkin, Ste-phen, Armageddon Averted. The Soviet Collapse 1970–2000, New York 2008.

20 Zit. nach: Altrichter, Helmut, Russland 1989. Der Untergang des sowjetischen Imperiums, München 2009, S. 85.

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die dazu beitragen werde, »uns wirklich vom Stalinismus zu befreien und unsere gesellschaftliche Identität wieder herzustellen«, wie es einer von ihnen pathetisch formulierte.21

Während professionelle Historiker noch forschten, bezogen viele Künstler, Schriftsteller, Musiker und Regisseure längst Position. In ihren Werken kritisierten sie in nie zuvor gesehener Offenheit den Stalinismus, aber auch das sowjetische System insgesamt. Einen besonders wichtigen und nachhaltigen Impuls erhielt die Geschichtsaufarbeitung »von unten« im Jahr 1987, als Angehörige der Intelligenzija, Menschenrechtler und Dis-sidenten die Gesellschaft »Memorial« gründeten. Zunächst einte sie vor al-lem die Überzeugung, die Opfer des Stalinismus müssten geehrt werden; idealerweise mit einem zentralen Mahnmal. Ihrer Initiative war es zu ver-danken, dass vor der Lubjanka, der Zentrale des KGB und seines Nachfol-gers, dem FSB, ein Gedenkstein an die Opfer des Stalinismus erinnert. Dabei handelt es sich um einen tonnenschweren Felsbrocken von den Solowki-Inseln im Norden Russlands, auf denen sich das erste sowjetische Zwangsarbeitslager befand. Ausgehend von diesem ersten Anliegen, wei-tete sich das Tätigkeitsfeld von Memorial in den folgenden Jahren rasch aus und umfasste neben historischen Themen vor allem Fragen der Menschen- und Bürgerrechte. Bis heute gehört Memorial auf diesen Fel-dern zu den wichtigsten zivilgesellschaftlichen Akteuren in der Russischen Föderation und es reißen auch die Versuche staatlicher Stellen nicht ab, diese Gesellschaft mit Restriktionen und Sanktionen zu belegen. Unge-achtet aller Hindernisse stehen die Mitglieder von Memorial noch immer für eine von moralischen Prinzipien geleitete Auseinandersetzung mit dem Stalinismus ein22 – eine absolute Minderheitenposition im heutigen Russ-land.

Während der Perestroika wurden Themen zum Tagesgespräch, die kurz zuvor noch mit einem absoluten Tabu belegt gewesen waren. Die »weißen Flecken« der eigenen Geschichte wurden benannt und diskutiert. Mit jeder neuen Enthüllung erodierte die Legitimität der sowjetischen Ordnung wieter, deren Fundamente so offensichtlich aus Blut, Terror und Gewalt

21 Afanassjew, Juri, »Perestroika und historisches Wissen«, in: ders. (Hg.), Es gibt keine Alternative zur Perestroika. Glasnost, Demokratie, Sozialismus, Nördlingen 1988, S. 563–583, hier S. 583.

22 Fein, Elke, »Die Gesellschaft ›Memorial‹ und die postsowjetische Erinnerungskultur in Russland«, in: Lars Karl/Igor J. Polianski (Hg.), Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in Russland, Göttingen 2009, S. 165–186.

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bestanden. Die Reformer um Gorbatschow, denen es um eine Neuausrich-tung, keinesfalls aber um die Abschaffung des Sozialismus gegangen war, verloren zunehmend an Rückhalt in der Bevölkerung.23 Dabei spielte je-doch die immer deutlicher spürbare Wirtschaftskrise und die damit ein-hergehenden Belastungen vermutlich eine wichtigere Rolle als Debatten über stalinistische Verbrechen.

Die Berichte über den Terror riefen auch den Protest derjenigen her-vor, denen die Gefahr offener Diskussionen größer zu sein schienen als ihr Nutzen. Zum Symbol dieser »konservativen« Schichten wurde die Lenin-grader Chemiedozentin Nina Andrejewa. In einem unter ihrem Namen veröffentlichten Text mit dem Titel Ich kann meine Prinzipien nicht aufgeben vom März 1988 verurteilte sie das neue Geschichtsbild, das höchst einseitig die negativen Seiten der sowjetischen Vergangenheit betone. Die Zuschrift löste eine stürmische Debatte aus. Selbst das Politbüro sah sich gezwun-gen, Stellung zu diesem angeblichen »Leserbrief« zu nehmen, der allgemein als »Manifest« einflussreicher Kritiker des gorbatschowschen Erneue-rungskurses begriffen wurde.24 Die geschichtspolitische »Konterrevolu-tion« hatte keinen Erfolg, aber die Reformer mussten sie als Mahnung ver-stehen, dass es signifikante Kräfte im Partei- und Staatsapparat gab, die dem Untergang des Systems nicht tatenlos zusehen wollten, in dem sie sich einigermaßen komfortabel eingerichtet hatten. Der dilettantisch durchge-führte Putsch gegen den bereits weitgehend machtlosen Gorbatschow im Sommer 1991 war schließlich der deutlichste Ausdruck einer weit über die Erosion tradierter Geschichtsbilder hinausgehenden Missstimmung. Doch auch diese hilflosen Versuche, das ins Wanken geratene Imperium zu kon-solidieren, waren zum Scheitern verurteilt. Die Sowjetunion, die Stalin so nachhaltig geformt und geprägt hatte, hörte im Dezember 1991 auf zu existieren.

Zunächst schien es, als würde nun ein neues Kapitel in der Auseinan-dersetzung mit dem Stalinismus beginnen. Denn erst jetzt setzte die eigent-liche »Archivrevolution« ein. Große Teile vormals geheimer Dokumente aus dem Partei- und Staatsapparat wurden innerhalb kurzer Zeit deklas-sifiziert und für die Forschung freigegeben.25 So konnten etwa erstmals

23 Dalos, György, Gorbatschow. Mensch und Macht, Eine Biographie, München 2011. 24 Altrichter, Russland 1989 [wie Anm. 20], S. 82–90. 25 Mittlerweile sind zahlreiche Bestände bereits wieder für die Nutzung gesperrt. Wehner,

Markus, »Gescheiterte Revolution. In Russlands Archiven gehen die Uhren rückwärts«, in: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung, Berlin 2009, S. 377–390.

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valide Zahlen über die Opfer der stalinistischen Terrorherrschaft ermittelt werden. Dass die Archive geöffnet wurden, war nicht zuletzt Mitgliedern von Memorial zu verdanken, die Anfang der neunziger Jahre in staatliche Gremien berufen worden waren und dort für einen offenen Umgang mit den sowjetischen Akten eintraten. Hinzu kamen gesetzgeberische Ver-suche, dem Unrecht zu begegnen. So verabschiedete die Duma zwischen 1991 und 1993 einige Gesetze zur Rehabilitierung von Opfern des Stali-nismus, die es Millionen von Menschen ermöglichten, zumindest ihren Ruf wiederherzustellen.26 Ihren Höhepunkt fand die staatlich orchestrierte Auseinandersetzung mit dem Kommunismus im Jahr 1992, als vor dem russischen Verfassungsgericht die Frage verhandelt wurde, ob es sich bei der Kommunistischen Partei um eine verfassungsmäßige Partei handelte. Die Richter befanden in einem umstrittenen Urteil, die KPdSU sei keine Partei, sondern ein »staatlicher Mechanismus« gewesen. Dennoch verboten sie lediglich die Führungsgremien der Kommunisten, während die Basisorganisationen bestehen blieben und das Recht erhielten, sich neue nationale Führungsorgane zu geben.27

Doch in Zeiten der ökonomischen Dauerkrise und des politischen Aus-nahmezustands verlor die Kritik am untergegangenen System für die meis-ten Bürger Russlands rasch und dauerhaft an Bedeutung. Es ist unter-schiedlich darüber geurteilt worden, weshalb die kritische Auseinander-setzung mit dem Stalinismus ab Mitte der neunziger Jahre zu einem Thema wurde, für das scheinbar nur noch die überschaubaren Teilöffentlichkeiten von Historikern und Menschenrechtlern Interesse zeigten. War die Zeit in Russland »noch nicht reif« für eine intensivere und umfangreichere Auf-arbeitung der totalitären Diktatur? Fehlte es am politischen Willen der maßgeblichen Akteure? Oder hatte die Bevölkerung angesichts der katas-trophalen ökonomischen Situation schlicht andere Sorgen? Es war wohl eine Mischung all dieser Faktoren, die den Raum für eine schleichende Umwertung und Neuinszenierung des Stalinismus entstehen ließ, den die neue russische Staatsführung – zunächst noch unsicher und tastend, ab der Jahrtausendwende jedoch immer energischer – einnahm und besetzte. Die Auseinandersetzung mit der stalinistischen Vergangenheit wurde nun zu einer Angelegenheit, die der russische Staat unter seine Kontrolle zu brin-

26 Fein, Die Gesellschaft »Memorial« [wie Anm. 22], S. 172ff. 27 Dies., Rußlands langsamer Abschied von der Vergangenheit. Der KPdSU-Prozeß vor dem russischen

Verfassungsgericht (1992) als geschichtspolitische Weichenstellung, Ein diskursanalytischer Beitrag zur politischen Soziologie der Transformation, Würzburg 2007.

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gen suchte. Es handelte sich jetzt endgültig um eine »staatliche Veran-staltung«.

Der Krieg als Vater aller Identität

Der Sieg der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg, dem Großen Vaterlän-dischen Krieg war und ist im kollektiven Gedächtnis der Russen weit mehr als nur ein militärischer Triumph. Er wurde zum wichtigsten Element kol-lektiver Identität in der Sowjetunion und er blieb es auch nach 1991.28 In den letzten Jahren nahmen Aufwand und Umfang der staatlich gesteuerten Inszenierungen rund um den »Tag des Sieges« am 9. Mai immer größere Ausmaße an. Seit 2005, als der 60. Jahrestag des Kriegsendes gefeiert wur-de, gehören auch pompöse Militärparaden wieder fest zum Inventar dieses höchsten russischen Feiertages.

Jenseits des Krieges gibt es kein historisches Ereignis, das auch nur an-nähernd so geeignet wäre, praktisch die gesamte Gesellschaft in ähnlicher Art und Weise zu vereinen. In Umfragen erklärten bis zu 90 Prozent der befragten Bürger, dass es in der russischen Geschichte nichts gebe, worauf sie stolzer seien.29 In einer zunehmend fragmentierten und brüchiger wer-denden Gesellschaft erfüllt die Rückbesinnung auf den Zweiten Weltkrieg aus der Perspektive der russischen Führung wichtige integrative Funktio-nen: Einerseits geht es darum, dem unendlichen Grauen und den Entbeh-rungen jener Jahre Sinn zu verleihen. Deshalb ist das Gedenken an den Krieg stets eng mit dem Beschwören der immensen Opfer verbunden, die der Sieg der Sowjetunion abverlangte. Andererseits aber handelt es sich bei diesem Sieg um das einzig verbliebene Symbol nationaler Stärke und pa-triotischen Stolzes, das nach der Erosion aller Werte in der postsowjeti-schen Gesellschaft noch verfügbar war. Indem die Erinnerung an den Krieg wachgehalten wird, sollen schließlich auch die damals angeblich dominierenden Werte wie Opfermut und Patriotismus in die Gegenwart transportiert werden.

Keine Geschichte des Zweiten Weltkriegs kann erzählt werden, ohne Stalin eine prominente Rolle zuzuweisen. Die Schlachten der Roten Armee wurden unter seinem (nominellen) Oberkommando geschlagen und er war

28 Überblick bei: Gudkov, »Die Fesseln des Sieges« [wie Anm. 16]. 29 Ebenda, S. 61.

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ohne jeden Zweifel die alles dominierende Figur auf sowjetischer Seite in jener Zeit. Als Feldherr und Stratege spielt er eine wichtige Rolle in der offiziellen Erinnerungskultur, denn der »starke« Stalin ist die Personifizie-rung all dessen, was Russland auch heute wieder gern sein möchte. Es ist eine weit verbreitete Haltung in der russischen Gesellschaft, in Stalin weniger den Massenmörder und Tyrannen als vielmehr den siegreichen Feldherrn und starken Staatsmann zu sehen. Dort, wo man Stalin hoch-leben lässt, wird in der Regel nicht an Massenrepressionen und Schaupro-zesse erinnert, sondern jener Zeiten gedacht, als sich die Sowjetunion auf dem Höhepunkt ihrer Machtentfaltung befand. Unter diesen Umständen sieht sich jegliche Kritik am Stalinismus dem Verdacht ausgesetzt, eine Form von Nestbeschmutzung zu sein. Die Akteure von »Autobus des Sieges« formulierten diesen Gedanken so:

»Schon mehr als 50 Jahre, beginnend mit der Rede Chruschtschows auf dem 20. Parteitag der KPdSU wurde der Name eines der Väter des Sieges unverdienter-weise aus der Geschichte getilgt. […] Bereits länger als ein halbes Jahrhundert tun wir, die Erben des Sieges, so, als habe nicht Stalin das Land, die Front und das Hinterland geführt, sondern irgendeine abstrakte Kraft, die das sowjetische Volk vereinte. […] Uns muss nichts unangenehm sein und wir brauchen nichts zu be-reuen! Es ist an der Zeit, mit derjenigen Geschichte zu leben, die unser großes Land hatte und nicht mit derjenigen, mit der diese oder jene Politiker oder gesell-schaftlichen Kräfte leben wollen.«30

Dass diese Position durchaus Anhänger hat, belegen nicht zuletzt auch Umfragen, in denen Stalin zu einer der bedeutendsten Persönlichkeiten der russischen Geschichte gewählt wurde.31

Das Siegernarrativ entfaltet eine solche Sogkraft, dass alternative Er-zählungen vom Krieg kaum mehr möglich scheinen. Der Soziologe Boris Dubin bezweifelt gar, dass in Russland überhaupt so etwas wie eine »Ge-generinnerung« existiere, die sich in Familien oder anderen privaten Kon-texten behaupten könne. Vielmehr stellten gerade Familienüberlieferungen »Transmissionsriemen« offizieller Erinnerungsdiskurse in den privaten Raum dar.32 Insbesondere die heute hoch betagten Veteranen des Krieges fungieren als eine Art Gralshüter standardisierter Erzählungen, von denen

30 Siehe http://сталинобус.рф/about (5.7.2013). 31 Abstimmung. Stalin zum drittgrößten Russen aller Zeiten gewählt, 28.12.2008, in:

http://www.spiegel.de/panorama/zeitgeschichte/abstimmung-stalin-zum-drittgroessten-russen-aller-zeiten-gewaehlt-a-598594.html (18.3.2014).

32 Dubin, »Erinnern als staatliche Veranstaltung« [wie Anm. 7].

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sie keine Abweichung dulden. Die Historikerin Catherine Merridale hat einmal erklärt, weshalb es sich so verhält:

»Der Kommunismus, an den sie glaubten, ist diskreditiert, die Kollektivgemein-schaft, die für ihre Gesundheit und ihre Wohlfahrt sorgte, ist erodiert. Die Infla-tion hat den Wert ihrer Pensionen vernichtet, während Werbung, Pornographie und elektronische Medien die prüde und geschlossene Welt ihrer mittleren Jahre zerstörte. Der Krieg, mit seiner Romantik und seinen heroischen Kämpfen ist der letzte Schatz, den viele alte Menschen noch besitzen. Die Frage danach, wie es war, bedeutet, den letzten Sinn zu bedrohen, den sie ihren langen Leben noch geben können.«33

Gegen die These von der ausschließlichen Wirksamkeit staatlich inszenier-ter Erinnerung spricht das außerordentlich populäre Narrativ vom »bitte-ren Sieg«, der unendliches Leid über das Land brachte. Eine Fülle von weit verbreiteten Darstellungen, Büchern und Filmen konzentriert sich vor allem auf diesen Aspekt, der nur wenig Platz für nationale Begeisterung lässt. Diese beiden Dimensionen der Erinnerung – patriotisch überhöhter Sieg und menschliches Leid – existieren vielfach unverbunden nebeneinan-der.34

Nichtsdestoweniger ist die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg we-sentlich durch die sowjetische Erinnerungskultur geprägt. Symbole, Lieder, Filme und Romane, aber auch die Paraden und die Ehrungen der Vetera-nen stammen vielfach aus der Zeit vor 1991. Deshalb haben die wesentli-chen Elemente des Kriegskultes eine doppelte Funktion: Einerseits sollen sie das Gedenken an den Krieg aufrechterhalten; andererseits stellen sie eine Brücke in jene sowjetischen Jahre dar, die von den meisten Menschen rückblickend als Zeit der Stabilität und Erwartungssicherheit erinnert wer-den. Die Nostalgie, mit der heutzutage vielfach an den Zweiten Weltkrieg erinnert wird, kann auch als Verklärung der Breschnjew-Zeit verstanden werden.35 Nicht nur aus der Perspektive der Eliten ist dies eine durchaus erwünschte Verbindung, erweist sie sich doch als anschlussfähig für das Stabilitätsversprechen der Ära Putin. Der starke Staat mit einer ausgepräg-ten Machtvertikale erscheint nicht nur als Garant und Voraussetzung für

33 Merridale, Catherine, »Culture, Ideology and Combat in the Red Army 1939–45«, Journal of Contemporary History, Jg. 41, H. 2 (2006), S. 305–324, hier S. 308.

34 Etkind, Alexander, »Stories of the Undead in the Land of the Unburied. Magical Histor-ism in Contemporary Russian Fiction«, Slavic Review, Jg. 68, H. 3 (2009), S. 631–658.

35 Dubin, Boris, »Gesellschaft der Angepassten. Die Brezhnev-Ära und ihre Aktualität«, Osteuropa, Jg. 57, H. 12 (2007), S. 65–78.

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den größten Triumph der eigenen Geschichte, sondern er stellt auch das Ideal gegenwärtiger Politik dar. Nach der »Zeit der Wirren« während der neunziger Jahre war und ist diese für viele Menschen kein geringer Wert. Deshalb handelt es sich beim Sieg im Großen Vaterländischen Krieg um das wichtigste Instrument zur Schaffung einer nationalen russischen Iden-tität, die um heroische Aspekte der Vergangenheit zentriert sein soll.

Schweigespirale à la russe

Aus der Perspektive russischer Großmachtinszenierungen ist es eine absurde Vorstellung, »negativen« Ereignissen eine identitätsstiftende Funk-tion zuzubilligen. Sie sollen in offiziellen Diskursen eine möglichst unter-geordnete Rolle spielen und Sache der Spezialisten bleiben. Doch was sich nicht verschweigen lässt, wie etwa die Hungersnot der Jahre 1932/33, der Massenterror der Jahre 1937/38, der Gulag oder die Erschießung von rund 24.000 polnischen Offizieren in Katyn, wird auf jeweils ähnliche Weise erinnert: als öffentlich aufgeführte Abkehr vom Erbe des »totalitären Sys-tems«, die in erster Linie eine Erinnerung an die Opfer, nicht aber eine Auseinandersetzung mit den Tätern ist. Von ihnen ist – abgesehen von der Führungsspitze um Stalin – praktisch niemals die Rede.36 Eine breite gesellschaftliche Debatte über kollektive oder individuelle Schuld und Ver-antwortung gibt es in Russland nicht. Als Gedenken an die Opfer lässt sich der stalinistische Terror in das staatliche »Monopol« zur »Schaffung und Weitergabe von Erinnerung«37 integrieren. Damit werden Stalinismusopfer nicht zuletzt auch zu einem zwar hohen, aber notwendigen »Preis« verklärt, der für die Modernisierung des Landes und den Triumph im Zweiten Weltkrieg zu zahlen war. So wird versucht, dem sinnlosen Leid der Opfer nachträglich Sinn zu verleihen.38

Indem Sprachregelungen vorgegeben werden, lassen sich die Grenzen des Sagbaren markieren. Die Diskurse über die Vergangenheit sollen unter der Kontrolle der Mächtigen bleiben. Der stalinistische Staat und seine

36 Roginskij, Arsenij, »Fragmentierte Erinnerung. Stalin und der Stalinismus im heutigen Russland«, Osteuropa, Jg. 59, H. 1 (2009), S. 37–44.

37 Ders., »Erinnerung und Freiheit. Die Stalinismus-Diskussion in der UdSSR und Russ-land«, Osteuropa, Jg. 61, H. 4 (2011), S. 55–69.

38 Etkind, »Stories of the Undead« [wie Anm. 34], S. 633ff.

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Funktionsträger sind dabei weitgehend sakrosankt. Von den Tätern, ihrer Verantwortung und dem System, welches ihre Taten überhaupt erst er-möglichte, ist im offiziellen russischen Geschichtsbild kaum die Rede.39 Dass der massenhafte Terror ein zentrales Merkmal der stalinistischen Dik-tatur darstellte, spielt kaum eine Rolle. Der Stalinismus wird als eine Zeit großer Erfolge und Triumphe erzählt, in der es – leider – immer wieder zu dramatischen Ausnahmesituationen kam. Der Terror erscheint als eine Art »Naturgewalt« (Arsenij Roginski), die über die Menschen hereinbrach, die sich seiner nicht erwehren konnten, für die aber auch niemand verant-wortlich war. Einzig einige prominente Bolschewiki, neben Stalin vor allem Jeschow, Berija, Molotow und Kaganowitsch, werden in diesem Narrativ überhaupt namentlich mit den Massenrepressionen in Verbindung ge-bracht. Von den abertausenden Exekutoren des Terrors auf allen adminis-trativen Ebenen ist kaum die Rede. Es gibt keine russische Täterforschung des Stalinismus.40

Welchen Sinn maßen etwa die im Akkord arbeitenden Todesschützen in Butowo ihrem blutigen Handwerk bei?41 Wie rationalisierten Aufseher im Gulag, was sie den Lagerinsassen tagtäglich antaten? Auf solche Fragen kann man auch in Russland differenzierte Antworten erhalten. Doch fin-den sie in der Öffentlichkeit kaum Resonanz, denn die Beschäftigung mit derartigen Problemen beschränkt sich auf einige professionelle Historiker und Medien, deren Leser sich vor allem aus den urbanen Eliten der beiden russischen Hauptstädte Moskau und St. Petersburg rekrutieren. Im offiziel-len russischen Erinnerungsdiskurs spielen die Praktiken des Terrors keine Rolle, denn damit wäre das Problem verbunden, die Täter des stalinis-tischen Terrors als Teile einer Gesellschaft zu begreifen, die sich nicht aus klar identifizierbaren »Opfern« und »Tätern« zusammensetzte, sondern in der die Grenzen zwischen beiden vielfach unklar und verschwommen waren. Nicht alle Menschen litten unter der Diktatur. Manche profitierten vom Leid eines Nachbarn oder machten Karriere, weil Kollegen im Lager verschwanden. Vor allem aber bestand das Regime auf der ständig zu

39 Roginskij, »Fragmentierte Erinnerung« [wie Anm. 36]. 40 Erste Überlegungen: Viola, Lynne, »The Question of the Perpetrator in Soviet History«,

Slavic Review, Jg. 72, H. 1 (2013), S. 1–23. 41 Dazu: Baberowski, Jörg, »Das Beil überlebt seinen Herrn. Das Jahr 1937 und die Erin-

nerung an die stalinistische Diktatur«, in: Matthias Stadelmann/Lilia Antipowa (Hg.), Schlüsseljahre. Zentrale Konstellationen der mittel- und osteuropäischen Geschichte, Stuttgart 2011, S. 185–202.

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erneuernden Affirmation durch seine Untertanen.42 Wo aber jedermann Zustimmung zu den offiziell propagierten Zielen signalisieren musste, da konnte niemand behaupten, nicht Teil des Systems gewesen zu sein; es sei denn, man zahlte dafür einen immensen – und für viele Menschen zu ho-hen – Preis.

Auch in dieser Hinsicht steht das offizielle Geschichtsbild daher in einer Tradition, die mit der Geheimrede Chruschtschows ihren Anfang nahm. Die Betonung einzelner, besonders prägnanter Aspekte der stalin-schen Herrschaft soll eine Analyse des Stalinismus als System jenseits von Terror, Traum und Triumph erschweren. Denn die Auswirkungen des Sta-linismus auf die Gesellschaft waren und sind gravierend: Patronagenetz-werke, ein weit verbreitetes Unbehagen im Angesicht des Staates, Xeno-phobie, aber auch das Fehlen einer funktionierenden Zivilgesellschaft gehören zu seinem Erbe. Eine Debatte über solche Zusammenhänge liegt jedoch nicht im Interesse der russischen Eliten, weil sie die Stabilität des Systems untergraben könnte.

Noch immer dominieren Beschweigen, Vergessen und Verdrängen das öffentliche Sprechen über den Stalinismus. Die Parallelen zur Situation in (West-)Deutschland in den Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Welt-krieg scheinen auf der Hand zu liegen: Auch die Schrecken des National-sozialismus wurden in öffentlichen Debatten kaum thematisiert. Die Sehn-sucht, einen »Schlussstrich» unter die »unselige« Vergangenheit zu ziehen, bestimmte die Auseinandersetzungen. Diese im wahrsten Sinne des Wortes »stillschweigende« Übereinkunft bewahrte die Täter des Nationalsozialis-mus lange Zeit davor, sich mit ihren eigenen Vergehen auseinandersetzen zu müssen. Indem über das Vergangene nicht gesprochen wurde, glaubten die Menschen »neu« beginnen zu können. Hannah Arendt bezeichnete die-ses Phänomen einmal als die »totale Komplizität« zwischen den Tätern und der Gesellschaft, in der sie lebten.43 Das andauernde Schweigen ist in Ar-beiten zum kollektiven Gedächtnis und Erinnerungskulturen immer wieder als ein gravierendes Problem der Vergangenheitsbewältigung thematisiert worden. Nur wo über die Schrecken der Diktatur gesprochen werde, wo Täter und Opfer in den Dialog miteinander träten, ließen sich die Trau-mata von Gewalt und Unterdrückung aufarbeiten, lautet eine immer wieder

42 Merl, Stephan, Politische Kommunikation in der Diktatur. Deutschland und die Sowjetunion im Vergleich, Göttingen 2012.

43 Zitiert nach Assmann, Aleida, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, S. 84.

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vorgetragene Überzeugung. Dabei, so Aleida Assmann, »bilden sich For-men einer kollektiven Erinnerung, die nicht mehr in die Muster einer nach-träglichen Heroisierung und Sinnstiftung fallen, sondern auf die universale Anerkennung von Leiden und therapeutische Überwindung lähmender Nachwirkungen angelegt sind«44. Gegen solche Überlegungen ist einge-wandt worden, dass das »Vergessen« von »schlimmer« Vergangenheit schon immer eine wesentliche Bewältigungsstrategie gewesen ist, um nach Zeiten der Krise wieder zur Normalität zurückkehren zu können.45

Der Blick auf russische Verhältnisse zeigt, dass solche Überlegungen durchaus plausibel sind. Hier scheint eine Form jener gesellschaftlich bin-denden Komplizenschaft intakt zu sein, die Hannah Arendt für Nach-kriegsdeutschland diagnostiziert hatte. Warum aber verhält es sich so? Orlando Figes hat in seinem Buch Die Flüsterer auf zwei wichtige Aspekte aufmerksam gemacht, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung sind: Viele Menschen hätten nach dem Tode Stalins und auch nach dem Zerfall der Sowjetunion noch immer so viel Angst vor dem Staat und seinen Vertretern verspürt, dass sie über das, was ihnen widerfahren war, nicht sprechen konnten und können. Es sei eine Folge der Terrorjahre, dass nur wenige Opfer des Stalinismus den Mut aufbrachten, ihre Lebensgeschich-ten zu erzählen. Das »Schweigegebot«, das den entlassenen Gulaghäftlin-gen auferlegt wurde, wirkte bei vielen von ihnen fort, weil es ihnen sicherer erschien, nichts zu sagen. Hinzu kommt ein zweiter Grund: Viele ehema-lige Lagerhäftlinge sahen durchaus mit Stolz auf die Bauwerke, Fabriken und Straßen, die sie unter furchtbaren Entbehrungen errichten mussten. Dies gilt insbesondere für jene Menschen, die nach ihrer Entlassung aus den Lagern nicht aus den unwirtlichen Regionen fortzogen, sondern sich dort eine Existenz aufbauten. Sie konnten ihre Lebensgeschichten in die offiziellen Narrative vom heldenhaften Aufbau und der Überwindung der widerspenstigen Natur durch den Menschen integrieren, und diejenigen unter ihnen, die während des Krieges inhaftiert gewesen waren, deuteten die Zwangsarbeit als Beitrag zum Sieg über Deutschland um. Auf diese Weise konnten auch die Opfer des Stalinismus Teil jener nationalen Erin-nerungsgemeinschaft werden, deren Identität sich ganz wesentlich aus dem gemeinsam gewonnenen Krieg speiste. Nur so lässt sich das vermeintliche Paradox erklären, dass selbst manche Repressierte nostalgische Gefühle für

44 Ebenda, S. 114. 45 So etwa Meier, Christian, Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom

öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit, München 2010, S. 44.

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Stalin hegten; trotz all der ihnen widerfahrenen Grausamkeiten.46 Und schließlich hatten viele überlebende Repressionsopfer oft andere Probleme, als sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen oder gar mit ihr zu ha-dern. Für sie war die Vergangenheit vergangen und nichts, worüber es sich angesichts der Herausforderungen der Gegenwart zu diskutieren lohnte. Manche hatten in einem Leben voller Entbehrungen sogar beinahe verges-sen, dass jemals ein Mann namens Stalin gelebt hatte, der für ihr Schicksal verantwortlich gewesen war.47

Es ist in diesem Zusammenhang keine Nebensächlichkeit, dass die Forderung nach einer kritischen Auseinandersetzung mit der stalinistischen Vergangenheit oft von außen an die russische Gesellschaft herangetragen wurde und wird. Wo westliche Nichtregierungsorganisationen, Historiker oder Politiker mahnten oder forderten, erreichten sie jedoch häufig das Gegenteil ihrer Absichten: Es gelang der russischen Führung und den von ihr dominierten Massenmedien, derartige Hinweise und Mahnungen als Zumutung zurückzuweisen. Nur Russen selbst seien in der Lage, die eigene Geschichte angemessen zu deuten, so der Tenor derartiger Einlassungen. Ein Gesetz aus dem Jahr 2012, das Nichtregierungsorganisationen dazu verpflichtet, sich offiziell als »ausländische Agenten« registrieren zu lassen, wenn sie mit westlichen Partnern kooperieren, stellt den vorläufigen Hö-hepunkt dieser Entwicklung dar.48 Es ist offenkundig, dass all die unange-nehmen Assoziationen an die Zeit des Großen Terrors, die sich mit diesem Begriff verbinden, einkalkuliert und gewollt sind. Die meisten Menschen lässt all dies jedoch scheinbar kalt. Weder die sowjetische Geschichte im Allgemeinen noch der Stalinismus im Besonderen sind für sie offenbar von sonderlichem Interesse.

Das Interesse der einstigen Täter an einer umfassenden Auseinander-setzung mit der stalinistischen Diktatur war aus naheliegenden Gründen noch geringer als jenes der Opfer. Doch dies bedeutete nicht, dass sie ihre Sicht der Geschichte für sich behielten. Ganz im Gegenteil: Sie melden sich durchaus offensiv zu Wort. So widmen sich etwa Angehörige der

46 Figes, Die Flüsterer [wie Anm. 4], S. 891ff. 47 So etwa jene zum Zeitpunkt des Gesprächs 92-jährige Frau, die 1930 als Angehörige

eines Kulaken in den Ural deportiert worden war und ihr Leben in dem Dorf verbracht hatte, das ihnen damals zugewiesen worden war. Geith, Jehanne M./Jolluck, Katherine R., Gulag Voices. Oral Histories of Soviet Incarceration and Exile, New York 2011, S. 28.

48 Bowring, Bill, »Gesetze und NGOs in Russland«, 27.2.2013, in: http://www.bpb.de/ internationales/europa/russland/155725/analyse-gesetze-und-ngos-in-russland (18.3.2014).

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Sicherheitsorgane in Ausstellungen, historischen Kabinetten und Publika-tionen hingebungsvoll der Traditionspflege. Dabei stellen sie vielfach aus-drücklich eine Kontinuität zwischen sich selbst und den Tschekisten der Stalinzeit her. Von diesen Männern habe er sein Handwerk gelernt, so wie es die nachfolgende Generation von ihm übernommen habe, erklärte etwa der pensionierte Lageraufseher Wladimir Kurgusow, der in unmittelbarer Nachbarschaft zum noch immer existierenden Straflager »Perm-35« ein Museum betreibt, in dem er die Geschichte des Lagers als eine Geschichte erfolgreicher Gefangenendisziplinierung und aufopferungsvoller Wächter-arbeit inszeniert.49 Berührungsängste mit der stalinistischen Vergangenheit kennt dieser Mann nicht. Schließlich hat er in seinem direkten Umfeld eine wichtige Funktion als Bewahrer der Tradition inne und selbst von Seiten der Historiker von Memorial, mit denen er regelmäßig zusammentrifft, muss er keine allzu kritischen Fragen fürchten. Für sie stellt er mit seinem Wissen über die Geschichte und die Organisation der Lagerpunkte in der Region Perm eine unentbehrliche Informationsquelle dar. Es ergibt sich also die Situation, dass die Anwälte der Opfer auf die Informationen derjenigen angewiesen sind, die sich selbst in die Tradition des Regimes stellen.50 In gewisser Weise bleiben so die über Jahrzehnte etablierten Machtverhältnisse intakt und die Historisierung des sowjetischen Repres-sionsapparats in den Regionen vollzieht sich zumindest teilweise zu den Bedingungen der Täter.

Risse und Kratzer

Zivilgesellschaftliche Akteure und Historiker, die versuchen, einen »alter-nativen« Blick auf die sowjetische Geschichte zu entwickeln, haben es schwer in Russland. Ihre (erinnerungspolitischen) Aktivitäten werden zwar häufig nicht direkt behindert, aber ihre Tätigkeiten werden von den russi-schen Sicherheitsbehörden zunehmend aufmerksamer beobachtet. Den-

49 Persönliche Konversation des Autors mit Wladimir Kurgusow im Museum Perm-35 im Juli 2004. Andere Beispiele für das Verhalten ehemaliger Wachmänner bei: Figes, Die Flüsterer [wie Anm. 4], S. 882ff.

50 Wąs, Maciej, »Memento Gulag. Ein System, zwei Perspektiven«, in: Manuela Putz/ Ulrike Huhn (Hg.), Der Gulag im russischen Gedächtnis. Forschungsergebnisse einer deutsch-russischen Spurensuche in der Region Perm, Bremen 2010, S. 20–25.

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noch regte sich stets auch Widerstand gegen das dominante Bild vom »gu-ten Stalin«. Die Inszenierung Stalins als starker Politiker und Feldherr war und ist für Teile einer eher liberal denkenden Minderheit in der russischen Gesellschaft nicht akzeptabel. Lange Zeit artikulierten vor allem die »übli-chen Verdächtigen«, wie Bürgerrechtler und einflusslose Oppositionelle ihren Protest gegen die Verharmlosung des diktatorischen Charakters von Stalins Herrschaft.51 Solche Debatten entstanden immer wieder, wenn Bil-der Stalins oder Zitate aus seinen Werken prominent in der Öffentlichkeit platziert werden sollten.52 Dabei wurde einerseits deutlich, dass die über-wiegende Mehrheit der russischen Bevölkerung kein großes Interesse an diesen Diskussionen hat und die Mächtigen gewähren lässt. Andererseits artikulierte sich dabei eine signifikante Minderheit, die ganz offensichtlich den »Gesellschaftsvertrag« der Ära Putin nicht mehr bedingungslos verlän-gern wollte. Politische Unmündigkeit und die Aufgabe individueller Frei-heitsrechte im Austausch für die Möglichkeit, materiellen Wohlstand zu erwerben, erscheint einer (so die Hoffnung der russischen Demokratie-bewegung) wachsenden Zahl von Menschen, insbesondere in den urbanen Zentren, als nicht mehr zeitgemäß.53 Ihren vorläufigen Höhepunkt erreich-ten derartige Debatten, als im Zuge der Feierlichkeiten zum 70. Jubiläum der Schlacht von Stalingrad die offizielle tageweise Umbenennung Wolgo-grads in Stalingrad beschlossen wurde.54

Längst ist die Person Stalins auch zu einem Symbol aktueller politischer Auseinandersetzungen geworden. Besonders deutlich wurde dies während der Massenproteste des Winters 2011/12, als Stalin von ganz unterschied-lichen politischen Strömungen als Referenz für die eigenen Ziele ins Feld geführt wurde. Liberale und westlich orientierte Oppositionelle zogen Pa-rallelen zwischen dem Stalinismus und der sich autoritärer gebenden Regie-rung unter Putin und warnten vor den Folgen zunehmender Repressionen. Gleichzeitig versammelten sich auf den gleichen Demonstrationen radikale Kräfte von rechts wie von links unter Bannern und Bildern mit Stalins Konterfei. Dieser Teil der Opposition nutzte sein Potenzial als Protest-

51 Exemplarisch: »Das Jahr 1937 und die Gegenwart. Thesen von ›Memorial‹«, in: Anna Kaminsky (Hg.), Erinnerungsorte an den Massenterror 1937/38. Russische Föderation, Berlin 2007, S. 11–17.

52 »Menschenrechtler kritisieren Stalininschrift«, 27.8.2009, in: http://www.zeit.de/online/ 2009/35/moskau-stalin-u-bahn (18.3.2014).

53 Gabowitsch, Mischa, Putin kaputt!? Russlands neue Protestkultur, Berlin 2013. 54 »Volgograd ili Stalingrad. Diskussija o pereimenovanii goroda«, 6.2.2013, in:

http://ria.ru/society/20130206/921596118.html (18.3.2014).

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ikone gegen die bestehende Ordnung.55 Mit dem Ende der Massenbewe-gung verlor diese neue Dimension stalinscher Präsenz im öffentlichen Raum zunächst rasch wieder an Bedeutung. Der »Generalissimus« blieb je nach Perspektive das Symbol staatlicher Stärke oder die Personifizierung des Terrors. Die erste Perspektive überstrahlte dabei stets die letztere.

Auch als die »Autobusse des Sieges« im Jahr 2010 auf russischen Stra-ßen auftauchten, schien zunächst alles so wie immer zu sein: Russische Massenmedien berichteten scheinbar »objektiv« über diese »private« Initia-tive, die marginalisierten liberalen Bürgerrechtler protestierten ebenso ener-gisch wie routiniert und westliche Beobachter konstatierten einmal mehr, Russland habe noch eine weite Strecke auf dem beschwerlichen Weg der Vergangenheitsbewältigung zurückzulegen. Doch in St. Petersburg verbot die Stadtverwaltung den Betrieb der Aufsehen erregenden Gefährte. Zur Begründung führten die Bürokraten weder historische noch politische Argumente ins Feld, sondern sie berief sich allein auf technische Gründe. Sie erklärten, die private Firma, der die Fahrzeuge gehörten, habe keine Genehmigung für die Beförderung von Passagieren besessen.56 Man konn-te in diesem Vorgehen durchaus eine mehr als nur subtile Missfallensäu-ßerung an der Präsenz Stalins auf den Straßen der Stadt sehen. Und auch einige Bürger ignorierten die eingespielten Diskursregeln: Sie übermalten oder zerkratzten die Stalinporträts auf den Bussen kurzerhand.57 Doch von solchen Hindernissen ließen sich diese Fahrzeuge nicht aufhalten. Bis heute sind sie immer wieder in verschiedenen Städten unterwegs und daran wird sich wohl auch künftig nur wenig ändern. Vor Stalin gibt es in Russ-land kein Entkommen.

55 Hellsichtig: Roginskij, »Erinnerung und Freiheit« [wie Anm. 37], S. 66ff. 56 »Komitet po transportu Peterburga. Avtobus s portretami Stalina ne imeet prava vozit’

passažirov«, 5.5.2010, in: http://www.baltinfo.ru/2010/05/05/Komitet-po-transportu-Peterburga-avtobus-s-portretami-Stalina-ne-imeet-prava-perevozit-passazhirov-142584 (18.3.2014).

57 »Avtobus s portretom Stalina puščen po ulicam Sankt-Peterburga, ego uže zamazali kraskoj«, 5.5.2010, in: http://www.newsru.com/russia/05may2010/stalinobus.html (18.3.2014).

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