„DER MENSCH MIT GROßBUCHSTABEN“ – Entwürfe Neuer Menschlichkeit der konstruktivistischen...

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„DER MENSCH MIT GROßBUCHSTABEN“ – Entwürfe Neuer Menschlich-keit der konstruktivistischen Fotografie in der frühen Sowjetunion Auf dem Feld der Ideengeschichte stellt das Konzept des Neuen Menschen mehr als nur eine weit verbreitete Gedankenfigur dar, die zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen geographischen Räumen verschiedene Ausprägungen erfuhr. Der Neue Mensch erwies sich oft als eine Reaktion auf krisenhafte Erscheinungen und Prozesse, als einen radikalen Bruch mit bereits Etabliertem zugunsten einer besseren Zukunft. Diskurse über eine neue Menschlichkeit traten oft als säkulares Projekt rationaler Menschenvernunft besonders in totalitären Gesellschaften auf. 1 Der geistige Hintergrund solcher Narrative kann bei den aufklärerischen Ideen eines teleologischen Fortschritts und freien Willens gesucht werden. Diese Vorstellungen entwickelten sich stark im Zuge der Industrialisierung und der Professionalisierung verschiedener natur-, sozial- und geisteswissenschaftlicher Fachdisziplinen weiter und wurden zunehmend mit verschiedenen wissenschaftlichen Befunden belegt. 2 So erhielten die Erzählungen über den Neuen Menschen schnell einen organischen Charakter und eine biopolitische und psychologische Komponente, wie zum Beispiel durch Motive des Erbauens oder Optimierens des Neuen Menschen mithilfe eugenischer Methoden. 3 1 Vgl. Peter Fritzsche / Jochen Hellbeck: The new man in Stalinist Russia and Nazi Germany. In: Geyer, Michael /Fitzpatrick, Sheila (Hg.): Beyond totalitarianism: Stalinism and Nazism compared. Cambridge [a.a.] 2009, S. 303ff. 2 Beispiel hierfür wären die biologischen Diskurse im ausgehenden 19. Jahrhundert sowie die Verselbstständigung von Teildisziplinen wie Histologie, Embryologie usw., deren Deutungsmuster jedoch stark von metaphysischem Verständnis geprägt waren. Siehe dazu: Isabel Wünsche: Organic Visions and biological models in Russian avant-garde. In: Botar, Oliver / Ders. (Hg.): Biocentrism and Modernism. Farnham (u.a.) 2011., S. 130ff. 3 Der organische Moment erscheint sehr zentrale für die Erzählung vom Neuen Menschen im sowjetischen Kontext. So begriffen sich zum Beispiel viele 1

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„DER MENSCH MIT GROßBUCHSTABEN“ – Entwürfe Neuer

Menschlich-keit der konstruktivistischen Fotografie in der

frühen Sowjetunion

Auf dem Feld der Ideengeschichte stellt das Konzept des Neuen

Menschen mehr als nur eine weit verbreitete Gedankenfigur dar, die

zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen geographischen

Räumen verschiedene Ausprägungen erfuhr. Der Neue Mensch erwies sich

oft als eine Reaktion auf krisenhafte Erscheinungen und Prozesse,

als einen radikalen Bruch mit bereits Etabliertem zugunsten einer

besseren Zukunft. Diskurse über eine neue Menschlichkeit traten oft

als säkulares Projekt rationaler Menschenvernunft besonders in

totalitären Gesellschaften auf.1 Der geistige Hintergrund solcher

Narrative kann bei den aufklärerischen Ideen eines teleologischen

Fortschritts und freien Willens gesucht werden. Diese Vorstellungen

entwickelten sich stark im Zuge der Industrialisierung und der

Professionalisierung verschiedener natur-, sozial- und

geisteswissenschaftlicher Fachdisziplinen weiter und wurden

zunehmend mit verschiedenen wissenschaftlichen Befunden belegt.2 So

erhielten die Erzählungen über den Neuen Menschen schnell einen

organischen Charakter und eine biopolitische und psychologische

Komponente, wie zum Beispiel durch Motive des Erbauens oder

Optimierens des Neuen Menschen mithilfe eugenischer Methoden.3

1 Vgl. Peter Fritzsche / Jochen Hellbeck: The new man in Stalinist Russiaand Nazi Germany. In: Geyer, Michael /Fitzpatrick, Sheila (Hg.): Beyondtotalitarianism: Stalinism and Nazism compared. Cambridge [a.a.] 2009, S.303ff.2 Beispiel hierfür wären die biologischen Diskurse im ausgehenden 19.Jahrhundert sowie die Verselbstständigung von Teildisziplinen wieHistologie, Embryologie usw., deren Deutungsmuster jedoch stark vonmetaphysischem Verständnis geprägt waren. Siehe dazu: Isabel Wünsche:Organic Visions and biological models in Russian avant-garde. In: Botar,Oliver / Ders. (Hg.): Biocentrism and Modernism. Farnham (u.a.) 2011., S.130ff. 3 Der organische Moment erscheint sehr zentrale für die Erzählung vom NeuenMenschen im sowjetischen Kontext. So begriffen sich zum Beispiel viele

1

Der Neue Mensch stellte ein besonders wichtiges Konzept in der

frühen Sowjetunion dar, welches eine enorm große Anzahl an

Projekten, Experimenten und Theorien aus den verschiedensten

Disziplinen von Philosophie über Pädagogik bis hin zur Histologie

hervorbrachte. In ihrem Kern beruhte die Vorstellung des Neuen

Menschen auf der Annahme einer Optimierung des Individuums durch

erzieherische Arbeit. Diese lebensreformischen Erziehungsansätze

umfassten ebenfalls ein breites Spektrum an theoretischen Grundlagen

und stammten nicht ausschließlich aus der Wissenschaft, sondern

enthielten auch Elemente aus der Populärkultur. Trotz der

unterschiedlichen Hintergründe setzten alle Konzepte die

proletarische Klasse in den Mittelpunkt und appellierten an die

Möglichkeiten ihrer Gestaltbarkeit. Im neuen kommunistischen

Zeitalter sollte sich der Neue Mensch, befreit von alten Zwängen,

frei entfalten und seine Welt mitformen können. Diese Vorstellung

schlug sich auch in der visuellen Kultur nieder. Die ikonographische

Darstellung des Neuen Menschen prägte die gesellschaftliche

Wahrnehmung über ihn, indem man sich in Rahmen von konkreten

Projekten mit dem Image dieses Neuen Menschen auseinandersetzte und

ein mehr oder minder kohärentes Bild propagierte. Dazu gehörten im

besonderen Maße die Arbeiten von konstruktivistischen Fotografen der

1920er und 1930er Jahre4. Die beteiligten Personen waren keine streng

organisierte Gruppe, sondern eine lose Gemeinschaft an Fotografen,

die jedoch Berührungspunkte über persönliche und/oder berufliche

Kontakte hatten und alle den Anspruch vertraten, die Umgestaltung

der Gesellschaft und die Formung des Neuen Menschen voranzutreiben.

Dies sollte über den Weg der visuellen Alphabetisierung des Volkes

geschehen. Mithilfe der Totalität der Fotografie erstellten sie eine

Künstler selbst als „Baumeister“ am Projekt der Neuen Menschlichkeit. Vgl.Rudolf Stumberger: Klassen-Bilder. Sozialdokumentarische Fotografie 1900 –1945. Konstanz 2007, S. 108.4 Zu den Akteuren, der Pediosierungsfrage usw., siehe Kapitel 3.

2

eigene Wirklichkeit, in dessen Zentrum der Neue Mensch stand.

Demnach gilt als Ziel dieser Arbeit, die verschiedenen

Darstellungselemente der Figur des Neuen Menschen im Kontext

ausgewählter Fotoquellen des Konstruktivismus zu untersuchen. Das

Augenmerk dieser Analyse liegt auf dem universalen Charakter der

Figur, der jedoch einige Dichotomien in sich trug, zum Beispiel die

Opposition Individuum vs. Kollektiv und Natur vs. Kultur.

Die Quellengrundlage dieser Arbeit stellen die Fotos selbst, in

denen Elemente des Neuen Menschen ausgearbeitet werden. Im Kontext

der Analyse der konkreten Figur fungieren diese Bilder als

mentalitätshistorische Quellen, d.h. durch sie gelangt man an

Erkenntnisse über Diskurse und Deutungsangebote, die für die

damalige Zeit prägend waren und den sowjetischen Neuen Menschen

mitformten. Ergänzt werden diese durch Aussagen der Fotografen oder

der Vertreter des Regimes herangezogen. Leider sind nur sehr wenige

Ego-Dokumente der Künstler in Deutschland verfügbar, daher kommen

manche Zitate aus der Sekundärliteratur. Allgemein lässt sich auch

feststellen, dass sich vergleichsweise wenig Arbeiten sich mit den

Projekten des Neuen Menschen dieser Strömung der sowjetischen

Fotografie auseinandersetzen und diese vorwiegend eine

kunsthistorische oder medien-kulturwissenschaftliche Prägung haben,

zum Beispiel wie Rudolf Stumbergers „Klassen-Bilder.

Sozialdokumentarische Fotografie 1900 – 1945“. In den letzten Jahren

wurden jedoch auch historische Auseinandersetzungen mit einzelnen

Fotoprojekten veröffentlicht, in diesem Kontext wäre Nina Klinglers

Aufsatz "24 Stunden aus dem Leben einer Moskauer Arbeiterfamilie".

Eine Fotoreportage als historische Quelle“ zu erwähnen. Im Gegensatz

dazu sind sowohl der Neue Mensch als Konzept der frühen Sowjetunion,

als auch die frühsowjetischen visuellen Objekte Gegenstände breiter

Untersuchung: Nur beispielhaft können hier Groys und Hagemeisters

Band „Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu

3

Beginn des 20. Jahrhunderts“ und Valerie Kivelson „Picturing Russia.

Explorations in Visual Culture“ aufgeführt werden.

Die Arbeit verfolgt das Prinzip einer hermeneutisch-

analytischen Methode, die allerdings auch ein vergleichendes Element

enthält, denn die Analyse umfasst die Werke verschiedene Künstler,

die oft unabhängig voneinander arbeiteten. Zu Beginn werden die

zeitgenössischen Diskurse über den Neuen Menschen in der Sowjetunion

zusammengefasst aufgeführt, um die Einordnung der Beispiele im

späteren Verlauf der Arbeit zu verdeutlichen. In einem nächsten

Schritt wird die konstruktivistische Fotografie der 1920er und

1930er Jahre dargestellt. Es werden die Fragen nach den Akteuren,

dem Wesen und den Merkmalen dieser fotografischen Ausrichtung, aber

auch an der Periodisierung und dem politischen Bezugsrahmen

angegangen. Dadurch erhofft sich die Verfasserin, die Grundlage

eines reflektierten Umgangs mit den Quellen zu schaffen. Auf der

Basis der Erkenntnisse aus den ersten beiden Theoriekapiteln wird

die Analyse der Darstellungselemente des Neuen Menschen aufgebaut,

die im Wesentlichen drei Hauptpunkte behandeln wird: der neue Mensch

als urbaner Arbeit, seine Rolle als Arbeiter auf dem Land im Zuge

der Industrialisierung und Kollektivierung sowie sein Bild im

Kontext von Sport und Körperlichkeit.

1.Der Neue Menschen in der sowjetischen Kultur der

1920er und 1930er Jahre

Im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert war

Russland eins der wenigen Länder ist, in dem die Idee des Neuen

Menschen außerhalb kleineren literarischen oder wissenschaftlichen

Kreisen große Verbreitung fand. Obwohl die Ursprünge des russischen

und späteren sowjetischen Neuen Menschen bei der radikalen

Intelligenzija zu suchen sind, gewann dieses Projekt mit der Zeit

enorm an Popularität innerhalb einer breiteren Öffentlichkeit und4

erreichte seinen Höhepunkt in der Stalinära. Noch in der

vorrevolutionären Zeit wurde der Neue Mensch als ein

Heilsversprechen zur Befreiung von den Zwängen des zaristischen

Regimes und seiner politischen und sozialen Rückständigkeit sowie

ein Vollendung der historischen Entwicklung hin zum Kommunismus

gedeutet.5 Ihm wurde eine besondere historische Rolle sowie ein

besonderer Sinn für die eigene Verantwortung in der Geschichte

zugesprochen. Zu den geistigen Vätern des Konzepts im russischen und

sowjetrussischen Raum werden in erster Linie Marx, Lenin, Nikolai

Tschernyschewski, Maxim Gorki und andere Intellektuellen gezählt.

Während Autoren wie Tschernyschewski vor allem die Idee eines

rational und harmonisch mit sich selbst handelnden Individuums als

Allegorie der idealen Bewusstheit und Askese verflocht,6 fügte Gorki

mit seinen Werken die Komponente des „heroischen Neuen Menschen“

hinzu. Inspiriert vom nietzscheanischen Übermenschen leistete er

einen wichtigen Beitrag zur Bildung des sozialistischen Helden als

idealisierten Kämpfer gegen das „Kleinbürgertum“7. Für Gorki, wie für

viele andere auch, war der sowjetische „MENSCH mit Großbuchstaben“

notwendig in den Reihen des Proletariats zu suchen und als ein

Gesamtkunstwerk zu verstehen: eine Symbiose aus Medien,

Alltagskultur, Kunst, Wissenschaft und Politik. Neben Autoren, die

als „Ingenieure der Seele“ angesehen wurden8, arbeiteten auch

5 Vgl. Gottfried Küenzlen: Der Neue Mensch. Zur säkularenReligionsgeschichte der Moderne. München 1994, S.142ff.6 Im Werk Tschernyscheweski wird besonders stark die Rolle derEnthaltsamkeit und Keuschheit zur Stärkung des menschlichen Körpers undVerstands betont. Vgl. Derek Müller: Der Topos des Neuen Menschen in derrussischen und sowjetrussischen Geistesgeschichte. (-Geist und Werk derZeiten. Arbeiten aus dem Historischen Seminar der Universität Zürich; 90).Bern 1998, S. 45f. 7 Hans Günther: Der sozialistische Übermensch. M. Gorkij und der sowjetischeHeldenmythos. Stuttgart / Weimar 1993, S. 9. Wichtig an dieser Stelle wärezu betonen, dass Gorkij die nietzscheanischen Ideen nicht durchmarxistische verdrängte, sondern sie in die ideologischen Rahmenintegrierte. Siehe dazu: Ebd., S.72. 8 Müller, Der Topos, S.10.

5

konstruktivistische Fotografen, professionelle sowie Amateure,

Wissenschaftler, aber auch Laien in verschiedenen Disziplinen am

großen Projekt des Neuen Menschen. Vor diesem Hintergrund erscheinen

die Grenzen zwischen hoher und Populärkultur in Bezug auf diese

Narrative in der frühen Phase der Sowjetunion äußerst undeutlich.9

Gleichzeit blieb der Neue sowjetische Mensch als Erziehungsprojekt

an der Mitwirkung des Kollektivs gebunden. Erst in der Interaktion

mit der Gemeinschaft konnten sich sein harter Wille und seine Macht

entfalten. Überhaupt ließen sich die sozialistischen Helden nicht

schwer in die typische Eisen- und Stahlsymbolik der Zeit einordnen:

vom Stalins Pseudonym („Sta‘l“), über die Bezeichnung der

Bolschwiken als besonders „hart“ (vor allem in der Opposition zu den

„weichen“ Menschewiken) bis hin zu einem stets „vorwärts“

orientierten „Helden der Arbeit“ wie etwa den mythischen

Bergarbeiter Sergej Stachanow.10 Der Namensgeber der

Stoßarbeiterbewegung entwickelte sich zu einer emblematischen Figur

der Stalinzeit, die für die Überproduktion menschlicher Natur stand.

Die stählernen Körper und Seele des sowjetischen neuen Menschen

waren jedoch nicht nur das Ergebnis von Askese und Enthaltsamkeit,

sondern auch ein Ausdruck der idealisierten Symbiose zwischen Mensch

und Maschine. Nicht nur war der Körper als stark und von erheblicher

Ausdauer gedacht, die Nerven sollten ebenfalls wie aus „Stahl“

sein.11 Er wurde als ein Transformationsobjekt angesehen, das auf

Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse gestalt- und optimierbar

erschien. Verschiedene Vorhaben auf dem Feld der Biochemie,

Psychologie, Neurobiologie usw. verfolgten das Ziel, die Grenzen der

Natur zu überwinden und einen vollkommenen Menschen zu erschaffen.9 Vgl. Margarita Tupitsyn: The Soviet Photograph 1924 – 1937. New Haven(u.a.) 1996, S. 8. 10 Der Bergarbeiter überfüllte mithilfe von einigen Zuarbeitern seineArbeitsnorm um das Siebenfache. Sein Arbeitseinsatz wurde zum Mythosverklärt und zelebriert. Vgl. Günther, Der sozialistische Übermensch,S.196.11 Vgl. Fritzsche / Hellbeck, The new man, S.307.

6

Die Bluttransfusionsversuche Bogdanovs oder die Träume von

Überwindung der Sterblichkeit bei Federov sind nur als zwei

Beispiele unter zahlreichen Theorien, Versuchen und Methoden zu

nennen.12 Der Neue Mensch sollte die Loslösung von Gesetzen der Natur

und den Sieg der Wissenschaft symbolisieren; der Neue Prometheus in

den frühsowjetischen Phantasien brachte das elektrische Licht und

somit die säkulare Unabhängigkeit von göttlicher Bestimmung.13 Da das

Telos die Überwindung des Menschlichen im Menschen selbst war,

diente der Körper als Werkzeug, als Rädchen in der Gesamtheit der

sozialistischen Gesellschaft. Der eigene Einsatz für das Kollektiv

sollte die Neue Zeit einleiten. Insofern war seine eigene Existenz

nur dann von Bedeutung, wenn man sich für die Gemeinschaft opferte.

Erst mit dem absoluten Verzicht auf individuelles Glück konnte der

Schritt zwischen einem „Übergangsmenschen“ der Revolutions- und NEP-

Phase und dem „Neuen Menschen“ der Stalinzeit vollzogen werden.

Charakteristikum dieser Figur war auch die Überwindung der

Spontanität auf dem Weg zur absoluten Bewusstheit als Beweis der

Befreiung von jeglichen Naturgesetzten.14 Diese Vorstellung entsprach

dem allgemeinen euphorischen Zeitgeist am Vorabend des ersten

Fünfjahresplans.15 Die große Faszination für monumentale Bauprojekte,

aber auch über den gesamtwirtschaftlichen Aufschwung und

Übererfüllung des Plansolls fanden ihre konkreten Dimensionen in der

konstruktivistischen Fotografie, die die Darstellung des neuen

Lebens in den Städten und auf dem Land zu ihrem wichtigsten Projekt

12 Für eine Einführung in die verschiedenen Projekte zur Gestaltung desNeuen Menschen, siehe: Hagemeister, Michael: “Unser Körper muss unser Werksein.“ Beherrschung der Natur und Überwindung des Todes in russischenProjekten des frühen 20. Jahrhunderts. In: Groys, Boris / Dems. (Hg.): DieNeue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20.Jahrhunderts. Frankfurt am Main 2005, S. 19 – 68. 13 Vgl. Hubert Gassner: Der Neue Mensch. Zukunftsvisionen der NeuenAvantgarde. München 1994, S.154.14 Vgl. Müller, Der Topos, S.175 15 Vgl. Ebd, S. 204.

7

machte.16 Die Helden der Arbeit, so zum Beispiel die Teilnehmer an

der Stachanow-Bewegung, wurden nicht nur zum Gegenstand der

politischen Fotografie, sondern wurden auch mit materiellen

Vorteilen und Nähe zum Generalsekretär belohnt.17 In seiner Rede auf

der Ersten Unionsberatung der Stachanow-Bewegung hielt Stalin eine

Rede, in der der berühmte Abschnitt „Neue Menschen – neue technische

Formen“ enthalten war.18 Diese Rede verfestigte die Vorstellung vom

heroischen Neuen Menschen, dessen Individualismus in Form von

Gedanken, Gefühlen und Empfindungen zugunsten des Gemeinwohls und

der ständigen „vorwärts“-Bewegung zur Bekämpfung von inneren und

äußeren Feinden zurückgedrängt werden mussten. Diese vollkommene

körperlich-seelische Hingabe wurde als eine besondere Form des

„Enthusiasmus“ für das neue sowjetische Zeitalter propagiert und zum

Idealbild verklärt.19

2.Entwicklung der sowjetischen konstruktivistischen

Fotografie der 1920er und 1930er Jahre

2.1. Ästhetik Akteure Netzwerke

Seit der Einführung des fotografischen Verfahrens in Russland

zu Beginn der 1840er Jahre nahmen seine Entwicklungen ähnliche Züge

16 Seit der Proklamation des Sozialistischen Realismus als offizielleStilrichtung wurde die Auseinandersetzung mit diesem Thema quasiverpflichtend.17 Es wird berichtet, dass die Gehälter der Mitglieder der Stachanow-Bewegung bis zum Neunfache der üblichen Löhne entsprachen. Vor diesemHintergrund kann der Dualismus zwischen Individuum und Kollektiv nichtkomplett gelöst werden: zwar sollten einzelne Individuen als Exempel füralle andere dienen, doch ihre eigenen Bestrebungen konnten in der Realitätnicht komplett vernachlässigt werden. Siehe dazu: Robert Maier: DieStachanow-Bewegung 1935 – 1938. Der Stachanowismus als tragendes undverschärfendes Element der Stalinisierung der sowjetischen Gesellschaft.Stuttgart 1990, S. 66.18 Müller, Der Topos, S.214.19 Vgl. Günther, Der sozialistische Übermensch, S. 197.

8

wie in Europa ein.20 Bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert

etablierte sich die Ausrichtung der Kunstfotografie, die auf

Traditionen der romantischen Malerei und den poetischen

Impressionismus aufbaute und bis Ende der 1920er Jahre hinein ihre

Wirkung entfalten konnte. Diese Fotografie nahm jedoch schon in den

letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zunehmend realistische

Züge an: Dem Medium wurde ein enormer dokumentarischer Wert

beigemessen und man setzte es zuerst innerhalb der ethnografischen

Forschung, ab den 1890er Jahren auch zu sozialdokumentarischen

Zwecke ein. 21 Gegen Ende dieser Phase begann eine allmähliche

Abkopplung der Fotografie von den Konventionen der Malerei. Dies

stellte jedoch kein spezifisch russisches Phänomen, sondern vielmehr

eine internationale Entwicklung dar. Es wurden neue ästhetische

Formen und Konventionen mit besonderem Augenmerk auf der Schaffung

einer neuen Bildsprache unter Berufung auf die für dieses Medium

spezifischen Gestaltungsmöglichkeiten propagiert.22 Bereits in

vorrevolutionärer Zeit widmeten sich sowohl professionelle

Fotografen als auch Amateure der Aufgabe, verschiedene Aspekte des

Arbeiteralltages bildlich festzuhalten.23

Die Oktoberrevolution stellte vor diesem Hintergrund sowohl

eine einschneidende Zäsur, als auch ein verbindendes Element dar und

war zugleich Quelle schöpferischer Inspiration für Fotokünstler und

20 Vgl. Inka Graeve: Die frühe Moderne in der sowjetischen Photographie. In:Schönecker, Julia (Galerie Alex Lachmann) (Hg.): Sowjetische Photographieder 20er und 30er Jahre. Katalog zur Ausstellung: 26. April - 29. Juni1991. Köln 1991, S. 8. 21. Vgl. Stumberger, Klassen-Bilder, S. 97ff. 22 Vgl. Susanne Winkler: Piktorialismus / Modernismus / SozialistischerRealismus. Meisterwerke der sowjetischen Fotografie der 1920er-/1930erJahre. In: Ders. (Hg.): Sowjetische Fotografie der 1920er-/ 1930er-Jahre:von Piktorialismus und Modernismus zum Sozialistischen Realismus. Wien2002, S.7. 23 Diese Tendenz wurde in erster Linie durch die technischen Innovationen imBereich der Fotografie vorangetrieben: die Fotoapparate wurden immerkleiner und flexibler einsetzbar und die Blitzlichtverwendung mobiler. Vgl.Stumberger: Klassen-Bilder, S. 41.

9

andere Kulturschaffende. In der Zeit um 1917 entstand schlagartig

eine Art Netzwerk unter Malern, Fotografen, Filmschaffenden,

Architekten usw., die die Abbildung und die Neugestaltung der

sowjetischen Realität als Gebot der Stunde begriffen. 24 Diese

Künstler werden nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Anspruches,

unter Einbeziehung der fotografischen Kunst die proletarische

Wirklichkeit entstehen zu lassen, dem Konstruktivismus zugeordnet.25.

Fotoreporter traten als neue Akteure an der Grenze zwischen Politik

und Kunst auf, die sich aktiv an der Bildschöpfung der

Lebenswirklichkeit in der UdSSR beteiligen und radikalen Einfluss

auf das alltägliche Leben nahmen.26 Obwohl sich im Bereich der

ästhetischen Konventionen vorerst nicht viel änderte, brachte die

Revolution einen entscheidenden Unterschied mit sich: Von nun an

konzentrierten sich die Fotografen sich nicht mehr auf die

Missstände des proletarischen Lebens zum Zwecke von Kritik, um diese

zu beseitigen, sondern wandten sich der Darstellung einer

fortschrittlichen Zukunft zu.27 Die Industrialisierung und

Urbanisierung des Lebens, Kollektivierung und Technologisierung der

Landwirtschaften sowie der Neue sowjetische Mensch und sein Alltag

gehörten zu den wichtigsten Themen dieser Zeit.

Einhergehend mit den thematischen Veränderungen in der

Fotografie, die in der unmittelbar postrevolutionären Zeit

ausschlaggebend waren, entwickelte sich in der Mitte der 1920er

Jahre auch erste Bestrebungen zur Revolutionierung der Form.

Signifikante Impulse für die Entwicklung einer neuen Bildsprache

erhielt die frühe avantgardistische Fotografie der Sowjetunion durch

Aleksandr Rodtschenko. In seinen Texten propagierte er „das neue24 Vgl. Sergej Morosow: Die Fotopublizistik des schöpferischen Volkes. In:Dems. et al. (Hg.): Sowjetische Fotografen 1917 – 1940. 2. Aufl., Berlin(West) 1983, S. 5. 25 Vgl. Tupitsyn: The Soviet Photograph, S. 4f. Die Autorin betont stark dieRolle der Produktion als typisches Merkmal der sowjetischen Auslegung. 26 Vgl. Winkler, Piktorialismus, S. 7f. 27 Vgl. Stumberger, Klassen-Bilder, S. 98f.

10

Sehen“ und erklärte Krieg an die etablierten Sehegewohnheiten. Nach

seiner Vorstellung, müsse man „alltägliche, wohlbekannte Objekte von

völlig unerwarteten Situationen zeigen“, um sich dadurch besser an

die veränderten Voraussetzungen des neuen Zeitalters bzw. an den

beschleunigten Alltagsrhythmus anzupassen.28 Die Konventionen des

„Neuen Sehens“ resultierten zum großen Teil auf der Annahme, dass

die Kamera einen objektiven Blick auf die Realität als die

menschlichen Augen gewährleistet. Diese Vorstellung knüpfte stark an

das neue Medium Film und die Theoretiker, die sich mit ihm

befassten, so etwa an Dziga Vertov. Im „Kinoauge“ („Kinoglaz“)

erkannte er eine perfekte Symbiose zwischen Mensch und Maschine.29

Die Sozialfotografie und der Fotojournalismus galten als die

wichtigsten Formen dieser Zeit und richteten ihren Blick gegen die

vorrevolutionären Bildnormen, primär gegen den piktorialistischen

Kanon: die Schüsse sollten nicht "Wie ein Gemälde!" wirken, sondern

herausfordern sowie die Reaktionsgeschwindigkeit und die

Aufmerksamkeit maximieren.30 Experimentieren erwies sich als das

wichtigste Schlagwort für eine ganze Generation von

konstruktivistischen Fotokünstlern. Extreme Unter- und Übersichten,

schräge Blickwinkel in vertikalen, horizontalen und diagonalen

Kompositionen sowie spezifische Techniken bei der Arbeit mit Licht

waren nur ein Teil der spezifischen Merkmale der internationalen

avantgardistischen Fotografie.31 Im Gegensatz zum westlichen

Expressionismus der 1920er Jahre lehnten jedoch die sowjetischen28 Zitiert nach: Hubertus Gassner: Rodtschenko Fotografien. Mit einemVorwort von Aleksandr Lavrentjev. München 1982, S. 34. 29 Vgl. Bodo von Dewitz: „Wir sind verpflichtet zu experimentieren“. In:Dems. / Schuller-Procopovici, Karin (Hg.): Politische Bilder: sowjetischeFotografien; die Sammlung Daniele Mrázkowá = Political images. SovietPhotograohs. Göttingen 2009, S. 11. 30 Vgl. Aleksandr Rodtschenko: Wege der zeitgenössischen Fotografie. Aus:Nowy LEF, 1928, Vol.9. Abgedruckt in: Weiss, Evelyn (Hg.): AleksandrRodtschenko: Fotografien 1920 – 1938. Übersetzt von Ronte, Dieter / Ders. /Wienand, Michael. Köln 1978, S. 58. Der Piktorialismus verschwand im Laufeder 1930er Jahre allmählich als etablierte Stilrichtung.31 Vgl. Lawrentjew, Piktorialismus, S. 19.

11

Fotografen die Motive dekadenten Lebensstil ab, widmeten sich ganz

den revolutionären Idealen und verstanden sich als Chronisten und

Mitgestalter einer neuen Realität.32

Rodtschenko beeinflusste viele Künstler, die ungefähr zum

selben Zeitpunkt sich der Fotografie gewandt haben, darunter

besonders prominent waren Boris Ignatowitsch und Georgi Petrussow.33

Sie plädierten ebenfalls für die Vereinheitlichung von Inhalt und

Form, konzentrierten sich auf große industrielle Projekte und

versuchten, ihre eigene Begeisterung für den sowjetischen „Helden

der Arbeit“ durch extreme Blickwinkel und schräge Perspektiven

bildlich darzustellen. Viele dieser Akteure waren im

Künstlerkollektiv „Oktober“ („Oktjabr“) mit anderen Architekten,

Designer usw. organisiert. Andere hingegen, so etwa Arkadij

Schajchet, Maks Alpert u.a. gründeten eine Gegengruppe, die

„Russische Gesellschaft der proletarischen Fotoreporter“ (ROPF), die

die „Oktober“-Fotografen des Formalismus und der Imitierung

westlicher Dekadenz bezichtigten.34 Trotz Meinungsunterschieden

arbeiteten die meisten dieser Fotografen für dieselben

Zeitschriften. Die wichtigsten Organe der Konstruktivisten waren die

Zeitschriften „LEF“ („Linke Front der Kunst“), „Nowy LEF“,

„Sovetskoe Kino“, „Konofot“ und die 1930 vom Maxim Gorki gegründete

„UdSSR im Bau“, welche durch ihre fremdsprachigen Ausgaben die

sowjetischen Vorstellungen und Ideen auch außerhalb der

Landesgrenzen propagieren konnte.

2.2. Politische Entwicklungen

Neben den selbst auferlegten Aufgaben und Visionen der

konstruktivistischen Fotografen in Bezug auf die ästhetische Form

enthielten ihre Projekte meist auch politische Komponenten. Aufgrund

32 Vgl. Morosow, Die Fotopublizistik, S. 8.33 Vgl. Graeve, Die frühe Moderne, S.10ff.34 Vgl. Stumberger, Klassen-Bilder, S. 104f.

12

der hohen Analphabetenquote im Land schien es für Parteifunktionäre

erstrebenswert, das neue Medium für propagandistische Zwecke

einzusetzen.35 Der Fotografie wurden institutionelle Rahmen

verliehen, indem man zum Beispiel eine Kino-Foto-Abteilung bei der

Staatlichen Kommission für Volksbildung einrichtete,36 in

verschiedenen Reden die wichtige Rolle der Fotografie anpries37 und

ihre Funktionsweisen und Entfaltungsmöglichkeiten per Dekrete und

Anordnungen zu regeln versuchte.38 Die bildhafte Publizistik sollte

in den Dienst der Volksaufklärung und Erziehung gestellt werden.

Fotografien von jüngsten Ereignissen wurden zu propagandistischen

Zwecken in Schaufenstern (die so gennanten "Agit-Vitrinen") in der

größeren Städten ausgestellt, mobile "Agitationsschiffe" und

"Agitationseisenbahnen" verbreiteten sie im ganzen Land39. Das Bild

wurde praktisch vom Text abgelöst und fungierte in der Phase des

Kriegskommunismus (1918 – 1921) als ein selbstständiges Medium.40 Mit

der Einführung der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) entspannte sich

die wirtschaftliche Lage im Lande etwas, sodass neue Möglichkeiten

zur Zeitschriftengründung und für weitere Entwicklungen der

Fotoindustrie gegeben waren. Neben den Sprachorganen von

Künstlerkollektiven brachte auch das Volkskommisariat für Aufklärung

35 Vgl. Stumberger, Klassen-Bilder, S.100f. Ca. zwei Drittel der Gesamtbevölkerung konnten anfangs der 1920er Jahren weder lesen noch schreiben.36 Vgl., ebd., S. 99.37 Zum Beispiel sprach Lenin oft von der Fotografie als ein wichtiges Mediumfür die "Erziehung der Massen", Vgl. Daniela Mrazkowa / Vladimir Remes: DieSowjetunion zwischen den Kriegen. 175 Photographien aus den Jahren 1917 -1941. Oldenburg 1981, S.14.38 Vgl. Olga Sviblowa: "Die Kunst sollte von der Politik getrennt werden..."Aleksandr Rodtschenko. Moderne Fotografie in der frühen Sowjetunion. In:Winkler, Susanne (Hg.): Sowjetische Fotografie der 1920er-/1930er-Jahre:von Piktorialismus und Modernismus zum Sozialistischen Realismus. Wien2002, S. 14.39 Vgl. Stumberger, Klassen-Bilder, S.100.40 Aufgrund der Materialknappheit in der Phase des Kriegskommunismus (1918 –1921) war die Produktion von Fotos, ihre Qualität bzw. diepropagandistische Wirkung, die sie entfalten konnten, trotz allerBemühungen eher eingeschränkt. Siehe dazu: Ebd. S. 112.

13

(Narkompros) eine eigene Zeitschrift, " Sovetskoe Foto" ("Das

Sowjetische Foto“), heraus.

Als Anfangsphase der konstruktivistischen Fotografie in der

Sowjetunion wird die Einführung der NEP bzw. die ersten Manifeste

führender Fotokünstler anfangs der 1920er Jahre datiert. Ihr Zenit

wird hingegen an der stalinistischen Terrorswelle in der zweiten

Hälfte der 1930er bzw. bis zur „Erste(n) Allunionsausstellung der

Fotokunst“ 1937 verortet.41 Während in der Anfangszeit eher die

ästhetischen Diskussionen ausschlaggebend waren, wurden die Debatten

gegen Ende der 1920er Jahre zunehmend politisch-ideologischer Natur

und die Rolle der Fotografie für erzieherisch-kulturmissionierende

Zwecke immer deutlicher.42 Die Industrialisierung und die

Kollektivierung der Landwirtschaft gehörten bereits bei der

Einführung des ersten Fünfjahresplans im Jahr 1928 zu den

wichtigsten Themen der konstruktivistischen Fotografie. Zu diesem

Zeitpunkt entstand auch eine Reihe an Fotoprojekten über die

Errungenschaften der Industrie, etwa Rodtschenkos „Bau des

Weißmeerwasserkanals“, welches das Großinfrastrukturprojekt unter

einem zivilisatorisch-fortschrittlichen Gesichtspunkt glorifizierte.

Mit der Veränderung der wirtschaftlichen Ausrichtung des Landes

ging auch ein Wandel der Sozialstruktur einher. Urbanisierung und

Proletarisierung der Landbevölkerung, Verschlechterung der

Wohnumstände und Einbußen in der Lebensqualität in den Städten

gehörten zu den gesellschaftlichen Folgen der forcierten

„Aufholjagd“ gegenüber dem kapitalistischen System. 43 Um auf diese

Lage zu reagieren, konzentrierten sich viele Fotografen auf den

neuen „Helden der Arbeit“ mit seinem Pioniergeist und seiner

Begeisterungsfähigkeit für Großprojekte. In vielen Fotostrecken,

41 Vgl. Margarita Tupitsyn: Die Geschichtsschreibung der sowjetischenFotografie im In- und Ausland. In: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichteund Ästhetik der Fotografie. 1997, Vol. 17 (63), S. 52. 42 Vgl. Sviblowa, Die Kunst, S. 14.43 Vgl. Stumberger, Klassen-Bilder, S.106.

14

etwa das Fotoessay "Die Filipows - 24 Stunden aus dem Leben einer

Moskauer Arbeiterfamilie" zeichneten Arkadij Schajchet, Solomon

Tules und Maks Alpert das Idealbild des Neuen Menschen. Dieses

spiegelte den kollektiven Arbeitsalltag und die Ruhepausen in der

Großstadt wieder und lieferte somit Identifikationsmuster, ohne

dabei die „Industrialisierung“ und „Kollektivierung der Gefühle“ zu

unterlassen. Die Familie Filipow war in diesem Kontext austauschbar

und fungierte primär als ein Symbol.44

Um 1930 verschwand der Piktorialismus vollständig von der

Landkarte der Fotokunst in der Sowjetunion und die Fotoreportage

etablierte sich endgültig als wichtigste mediale Form.45 Mit der

„Resolution der Zentralkomitees vom 23. April 1932 über die

Umwandlung der literarisch-künstlerischen Organisationen“ erklärte

man die Stilrichtung des sozialistischen Realismus für verbindlich

und beschleunigte die Exklusion bestimmter Künstlern+. Rodtschenko

war bereits 1930 dem Formalismus bezichtigt und aus dem Oktober-

Kreis ausgeschlossen, viele anderen sahen sich gezwungen, von ihren

älteren Arbeiten Abstand zu nehmen und öffentlich Reue zu zeigen.46

Im Totalwesen der stalinistischen Herrschaft wurde die Utopie einer

durch und durch ästhetisierten Politik und einem organisierten

Alltag konsequent verfolgt.47 Auch wenn viele Künstler gewisse44 Vgl. Hubert Gassner: Rodtschenkos Fotografien. Mit einem Vorwort vonAleksandr Lavrentiev. München 1982, S. 96. 45 Die Kunstfotografie war in der sowjetischen Abteilung bei derinternationalen Stuttgarter Ausstellung „Film und Foto“ 1929 nicht mehrvertreten. Vgl. Rosalinde Sartorti: Bemerkungen zur sowjetischen Abteilungder Stuttgarter Ausstellung „Film und Foto“ 1929. In: Eskildsen, Ute /Horak, Jan-Christopher (Hg.): Film und Foto der zwanziger Jahre. Stuttgart1979, S. 187. 46 Die definitive Gleichschaltung erfolgte erst nach dem Kongress dersowjetischen Schriftstellern im Sommer 1934, doch die Ausschlussprozessegegenüber vieler Künstler setzten schon viel früher ein. Diese ergaben sichzum Teil auch durch offene Konkurrenzverhältnisse in der NEP-Phase zwischenRodtschenko und Vertretern der „Oktober“-Gruppe auf der einen undReportagefotografen wie Schajchet auf der anderen Seite. Siehe dazu:Stumberger, Klassen-Bilder, S.108ff, 114f.47 Vgl. Boris Groys: Am Nullpunkt: Positionen des russischen Avantgarde.Frankfurt am Main 2005, S. 32.

15

Strategien und modernere Gestaltungsprinzipien nicht aufgeben

wollten, hielten sie sich an einem strengen Regelwerk, das zunehmend

eine verklärte sowjetische Wirklichkeit mit bestimmten Vorstellungen

vom Neuen Menschen reproduzierte.

3.Elemente der Vision vom Neuen Menschen in der

frühsowjetischen konstruktivistischen Fotografie

3.1. Der Neue Mensch als urbaner Arbeiter am Beispiel des Fotoessays

"Die Filipows - 24 Stunden aus dem Leben einer Moskauer

Arbeiterfamilie"

Das propagandistische Fotoessay „Die Filipows - 24 Stunden aus

dem Leben einer Moskauer Arbeiterfamilie“ entstand als gemeinsames

Werk von drei Fotojournalisten: Arkadij Schajchet, Solomon Tules und

Maks Alpert. Es schilderte das Leben eines Metallarbeiters der

Fabrik „Roter Proletarier“ und seiner Familie. Die beiden

Hauptverantwortlichen für das Projekt, Schajchet und Alptert, hatten

bereits früher Erfahrung in der bildhaften Publizistik gesammelt.

Der ungelernte Schlosser Schajchet erstellte schon seit Anfang der

1920er Jahre Fotoreportagen für größere Zeitschriften wie „Ogonjok“

(„Flämmchen“) oder „Rabotschaja Gaseta“ („Arbeiterzeitung“).48 Zu

seinen bekanntesten Bildern, deren Hauptthema der zivilisatorische

Geist der frühen Sowjetzeit war, zählen das Portrait „Ein Waisenkind

wird gebadet“ (1924) und „Die Iljitsch-Birne“ (1925). Letzteres

präsentierte die erste Berührung einer ländlichen Familie mit der

Elektrizität durch die erschwingliche, nach Lenin benannte

Glühbirne.49 Maks Alpert hatte ebenfalls zu Beginn der 1920er Jahre

seine ersten Bildreportagen gemacht. Diese waren sehr stark in

Anlehnung an das neue Medium Film gehalten und erzählten meist eine

48 Für eine kurze Biografie von Arkadij Schajchet, siehe: von Dewitz /Schuller-Procopovici, Politische Bilder, S.124.49 Siehe Abbildung 1 und Abbildung 2.

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komplette Geschichte. 1930 fotografierte er seine Kalmykow-Serie,

bei der er einen ländlichen Bauarbeiter auf einem der größten

frühsowjetischen Bauprojekten Magnitogorsk begleitete, wodurch er

als Chronist der Aufbauphase fungierte.50

Das gemeinsame Projekt „24 Stunden im Leben der Moskauer

Arbeiterfamilie Filipow“, bestehend aus 78 Fotografien, erschien im

September 1931 in einem Sonderheft der deutschsprachigen AIZ

(Arbeiter Illustrierte Zeitung).51 Die Fotostrecke wurde speziell für

das ausländische Publikum geplant und angefertigt mit dem Ziel, ein

idealisiertes Bild des Lebens einer durchschnittlichen

Arbeiterfamilie im ersten kommunistischen Staat der Welt zu

transportieren. Aus diesem Grund war das Projekt besonders wichtig

für die perteiführung und mit großen Erwartungen ihrerseits

behaftet.52 Es fand in der Tat große Resonanz im deutschsprachigen

Raum. Deutsche Fotografen bemühten sich sofort, eine direkte Antwort

aus dem Leben einer Berliner Arbeiterfamilie in die UdSSR zu senden,

die jedoch dort nie publiziert wurde.53 Die Autoren selbst äußerten

sich kurz nach der Veröffentlichung über ihre Intention, das Leben

der proletarischen Familie als ein organisches Ganzes in all seinen

Facetten darzustellen. Sie strebten an, durch das konkrete Beispiel

ein allgemeines Bild der Sowjetunion zu zeichnen. Hierbei übten sie

indirekte Kritik an der Arbeit Rodtschenkos und seiner Mitstreiter,

die eine eigene Wirklichkeit haben konstruieren wollen.54 Trotz der

Berufung auf die Prinzipien der realitätsnahen Fotoreportage stellte50 Vgl. Stumberger, Klassen-Bilder, S.117. Für Details zu dieser Serie, s. das darauffolgende Kapitel.51Vgl. Ursula Schulde: „Es wäre uns peinlich, schlechte Fotos zu schicken.Die Austauschbeziehungen zwischen deutschen und sowjetischenArbeiterfotografen 1926 bis 1933. In: Hesse, Wolfgang (Hg.): Die Eroberungder beobachtenden Maschinen: zur Arbeiterfotografie der Weimarer Republik(-.Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde; 37). Leipzig 2012,S.117.52 Vgl. Tupitsyn, The Soviet Photograph, S.85. 53 Vgl. Schulde, Die Austauschbeziehungen, S. 117f. 54 Vgl. Arkadij Schajchet / Maks Alpert: Kak my snimali Filippovyk (Wie wirdie Filipow fotografierten). In: Prolerarskoe Foto, 1931, Vol.4, S.46.

17

jeder Schnappschuss aus der Serie eine gemäldeähnliche Komposition

dar. Die Autoren verzichteten fast vollständig auf extrem schräge

Winkel und viel Dynamik in den Bildern, wählten dafür aber oft

Überperspektiven, Close-ups und portraitähnliche Stellungen.55

Das Fotoessay selbst transportierte Stalins Worte aus seiner

Rede an die Stachanow-Bewegung, dass der Aufbau des Kommunismus dem

gewöhnlichen Menschen sowohl zu geistiger Freiheit, als auch zu

materieller Prosperität verhelfen würde.56 Es gewährte Einblicke in

das Familien- und Arbeitsleben der Filipows, aber auch in ihrer

Freizeit und gewöhnlichen Beschäftigungen außerhalb des

Arbeitsplatzes. Alle Details deuteten auf eine moderne und hohe

Lebensqualität. Die Familienmitglieder wurden oft in Ausbildungs-und

Kultureinrichtungen oder beim Einkaufen abgelichtet und der Leser

wurde mit vielen Essens- und Ruheszenen konfrontiert, deren

Grundstimmung von einem entspannten Alltag zeugte. Die Autoren

zeigten die moderne Behausung der Familie und setzten das Bild des

neuen Wohnblocks in grafische Relation zu einer alten Mietkaserne,

in der die Filipows bis 1929 gewohnt haben durften.57 Um

Authentizität zu stiften, gaben sie auch die genaue Adresse des

neuen Apartments mit an. Aufnahmen vom Wohnungsinneren sollten den

Eindruck von geräumigen und modernen Lebensräumen bestätigen.

Gleichzeitig lieferte die AIZ als Beweis für den Regelcharakter

dieser Art von Unterkünften auch die Information, dass zu diesem

Zeitpunkt 56 000 Moskauer Arbeiterfamilien in derartigen Häusern

wohnten.58

55 Weil man durch diese Ästhetik stark an die bürgerliche Fotografie dervorrevolutionären Zeit erinnert fühlte, bildete das einer der Hauptpunkteüber die Kritik am Essay. Vgl. Tupitsyn, The Soviet Photograph, S. 91ff.56 Rede abgedruckt in: Josef Wissarionowitsch Stalin: Werke: Band 14,Februar 1934 - April 1945. 2. Aufl., Dortmund 1976. S. 42.57 Vgl. Abbildung 3.58 Vgl. Stumberger, Klassen-Bilder, S. 193.

18

Als Titelbild der deutschen Ausgabe wählte man ein Foto der

beiden Töchter der Familie posierend mit Tennisschlägern.59 Die

munter in die Kamera lächelnden jungen Frauen suggerieren ein Bild

von gesunder Lebensfreude und guter Lebensqualität. Sie übten eine

Sportart wie Tennis aus, welche in der kapitalistischen Welt für die

Arbeiterschichten nicht zugänglich war. Überhaupt zeichnete die

Serie ein im Einklang mit der Ideologie stehendes Bild der

emanzipierten Frau. Die jungen Töchter werden als Vertreterinnen der

Generation einer neuen, befreiten Weiblichkeit präsentiert.

Freizeitaktivitäten wie Tennisspielen oder ein scheinbar

ungezwungener Spaziergang mit jungen Männern60 schienen für die

jungen Frauen geradezu natürlich zu sein. Im Gegensatz zu ihnen

bildete man die Mutter in eine Art Übergangsrolle ab: Durch moderne

soziale Einrichtungen wie Kindergärten wurde ihr ermöglicht, eine

Schule für Analphabeten zu besuchen61, womit sie das Verpasste

nachholen und die Mutterschaft mit einer gesellschaftsrelevanten

Tätigkeit verbinden konnte. Allgemein spielte die Bildung eine sehr

wichtige Rolle für den Diskurs um Familie Filipow: Die Kinder wurden

bei Lesen und Schreiben abgebildet,62 der Vater Filipow beim Besuch

von Vorträgen und einige Male auch beim Zeitungslesen. Zusätzlich

wurde der deutsche Leser informiert, dass die Arbeiter der

Metallfabrik bei der Gestaltung ihrer Sprachorgane einbezogen

wurden, wodurch man den kreativen Geist der sowjetischen Arbeiter zu

verfestigen suchte.63 Das Familienoberhaupt diente in diesem Kontext

nicht nur als Exempel für den kultivierten Arbeiter, sondern erhielt

auch andere Aspekte des sozialistischen „Held der Arbeit“. Man

fotografierte ihn oft in Interaktion mit Maschinen, wobei die

Lichtästhetik bei manchen Schüssen eine Verschmelzung der

59 Vgl. Abbildung 4. 60 Vgl. Abbildung 5. 61 Vgl. Abbildung 6.62 Vgl. Abbildung 7.63 Vgl. Stumberger, Klassen-Bilder, S. 195.

19

menschlichen Konturen mit jenen der Maschine erlaubte und somit den

Eindruck einer harmonischen Symbiose erzeugte.64 Der Familienvater

wurde als ein moderner Mensch dargestellt, der nicht nur vertieft an

der neuen Technik arbeitet, sondern sie bei jeder Gelegenheit in

Anspruch nimmt. Ein kleines Foto zeigte ihn in der elektrischen

Tram, wieder eine Zeitung am Lesen.65 Dieses Bild sollte beim

ausländischen Publikum den Eindruck von einer technologisierten,

modernen Gesellschaft entstehen lassen, sondern auch dass die

Arbeiterklasse die dominierende Gesellschaftsschicht darstellte66.

Der Leser wurde zudem in die Arbeitsatmosphäre der neuen Fabrik

eingeführt. Die zwei Generationen Männer der Familie waren in der

Fabrik beschäftigt, ihre Stoßarbeiterausweise sowie Lohnabrechnung

mit genauen Angaben über die Höhe der Gehälter hat man dem

ausländischen Publikum auch zur Verfügung gestellt.67 Diese

Beglaubigungstrategien sollten nicht nur dazu dienen, die

Authentizität der Darstellung zu steigern, sondern auch die

Vorstellung zu festigen, dass es hierbei nicht um Ausnahmefälle

handelte. Die Fotoserie etablierte ein Gegenmodell zur

kapitalistischen Wirklichkeit, welches sich mit Vollbeschäftigung

und guter Lebensqualität auszeichnen sollte. Man versuchte, einen

deutlichen Kontrast zu den krisenhaften Folgen der

Weltwirtschaftskrise in Europa und Nordamerika herzustellen, auch

wenn es zu vermuten gilt, dass die gezeichneten Lebensumstände nicht

für die Mehrheit der sowjetischen Arbeiter zutrafen.68 Obwohl die

64 Vgl. Abbildung 8. 65 Vgl. Abbildung 9.66 Die Anzahl und Dichte der Mitfahrenden sowie ihre relativ ähnlichen äußerlichen Attributen stimulierten diese visuelle Wahrnehmung. 67 Vgl. Arbeiter Illustrierte Zeitung (AIZ), 1931, Vol. 38, S.752f.68 Vgl. Stumberger, Klassen-Bilder, S.119. Der Autor äußert die Vermutung,dass die gezeichnete Welt der Familie Filipow womöglich für manche Arbeiterin den größeren Städten zu Wirklichkeit werden konnte. Zugleicht verweister jedoch auf die sehr unterschiedliche Situation auf dem Land, vor allemvor dem Hintergrund der negativen Effekte von der Kollektivierung derLandwirtschaft.

20

allgemeine Resonanz in Deutschland recht positiv ausfiel, gab es

eine Reihe an Intellektuellen, die in die Sowjetunion reisten, und

von einem diametral unterschiedlichen Alltagsbild zeugten. Beate

Groß, die Lebensgefährtin des AIZ-Gründers Willi Münzenberg,

zeichnete in ihren Memoiren ein katastrophales Bild der

Wohnverhältnisse in Moskau zu diesem Zeitpunkt,69 so eben wie der

Journalist Hans Siemens, der das sowjetische Paradies als in erster

Linie als Produkt der (Bild-)Presse identifizierte.70 Die unterwartet

große Resonanz (wenn auch vorwiegend positive) zwang jedoch zu

Reaktion in der UdSSR, sodass das Sprachorgan des Zentralkomitees

der KPdSU, Pravda (Gerechtigkeit), einen anonymen Artikel über die

Wichtigkeit solcher Art von Fotoformate veröffentlichte. Eine

Selektion von 44 Aufnahmen wurde im Dezember 1931 in Proletarskoe Foto

(Das Proletarische Foto) nachgedruckt, sodass sich die Menschen in

der Sowjetunion auch ein Bild vom Alltag eines Großstadtarbeiters

machen konnten. Man ließ jedoch gut die Hälfte der Fotos weg, etwa

das Titelbild der beiden Töchter mit den Tennisschlägern, und fügte

andere Abbildungen von Belegen wie Kassenzettel, Anträgen usw.

hinzu, um die Glaubwürdigkeit der Fotoserie auch beim einheimischen

Publikum aufrechtzuerhalten.71

3.2. Der Neue Mensch im Zeichen von Industrialisierung und

Kollektivierung

In der Forschung der letzten Jahrzehnte wurde oft die These

von der Dominanz der Körperlichkeit in der frühsowjetischen und

69 Vgl. Erika Wolf: "As at the Filippovs": The Foreign Origins of the SovietNarrative Photographic Essay. In: Ribalta, Jorge (Hg.): The WorkerPhotography Movement [1926-1939]: Essays and documents. Madrid: MuseoNacional Centro de Arta Reina Sofia 2011, S.124f. 70 Vgl. Hans Siemens: Russland. Ja und Nein. Berlin 1931, S. 258ff. 71 Vgl. Peter Jahn (Hg.): Dokument und Konstrukt. Arkadij Schachet.Fotografie zwischen N.E.P. und dem Großen Vaterländischen Krieg. Berlin2001, S. 21.

21

stalinistischen Kultur ausarbeitet.72 Die Fortschrittsträume der

frühen Sowjetunion schlugen sich in den Vorstellungen von der

Formbarkeit des menschlichen Körpers nieder, wobei diese stets auch

an spirituelle Transformationen gekoppelt war.73 Die Idee von der

Beherrschbarkeit und Möglichkeiten zur Gestaltung und Erziehung des

Neuen Menschen erschienen in der Aufbauphase vielen besonders

attraktiv. Die bereits im Kapitel 2 erwähnten Projekte, seien sie

literarisch, (natur-)wissenschaftlich oder künstlerisch, schlossen

sich sehr oft an die Utopie von einer Mensch-Maschine-Verschmelzung

an. Vor dem Hintergrund einer forcierten Industrialisierung und des

Kults der neuen Technik intensivierte man Ende der 1920er Jahre

zusätzlich die Projekte zur Herstellung solcher Hybride.74 Man

träumte offen von einer Symbiose von gesundem und vitalem Körper,

psychischer Stärke, Enthusiasmus und Intelligenz. Dieser Idealtypus

des modernen „Helden der Arbeit“ rekurrierte in erster Linie auf die

Idee eines kultivierten und wissbegierigen Proletariers im Gesicht

der Stachanow-Bewegung.75 Diese Bilder implizierten jedoch sehr oft

eine gewisse Heteronormativität: die Idealvorstellung vom „Helden

der Arbeit“ zelebrierte eine vollkommene Maskulinität, geprägt durch

Jugendlichkeit, Stärke und äußerlicher Attraktivität.76 Auch wenn

diese manchmal Platz für die weiblichen Pendants machte, wie etwa in72 Siehe zum Beispiel: Toby Clark: The ‚New Man’s‘ Body: A Motif in EarlySoviet Culture. In: Brown, Matthew / Taylor, Brandon (Hg.): Art of theSoviets: Painting, Sculpture, and Architecture in a One-party State, 1917 –1922. Manchester 1993, S. 33 – 51; Petra Becker: Körperzeichen -Zeichenkörper: zu einer Physiologie der russischen und sowjetischen Kulturdes 20. Jahrhunderts. Bochum 2002, Conze, Susanne / Gaus, Gunda (Hg.):Körper macht Geschichte - Geschichte macht Körper: Körpergeschichte alsSozialgeschichte. Bielefeld 1999; Keith A. Livers: Constructing StalinistBody: Fictional Represenatations of Corporeality in the Stalinist 1930s.Lanham 2003 u.v.a.m.73 Vgl. Lilya Kaganovsky: How the Soviet Man was Unmade. Cultural Fantasyand Male Subjectivity under Stalin (-Pitt Series in Russian and EastEuropean Studies ed. By Jonathan Harries). Pittsburgh 2008, S.5.74 Vgl. Clark, The ‚New Man‘s’ Body, S. 36.75 Vgl. Victoria E. Bonnell: Iconography of power: Soviet political postersunder Lenin and Stalin. Berkeley 1997, S. 39.76 Bonnell: Iconography of power, S, 42.

22

Vera Muchinas monumentaler Plastik „Arbeiter und Kolchosbäuerin“,

blieb ihre dominante Prägung in vielen konstruktivistischen

Fotoprojekten der 1920er und 1930er Jahre spürbar.

Davon zeugen zum Beispiel viele Fotografien von Arkadij

Schajchet. Zahlreiche seiner Werke gehörten zum kulturellen

Bildgedächtnis77 der sowjetischen Bevölkerung und tragen bis heute

noch kanonischen Status.78 Dazu zählt auch sein Schnappschuss

„Komsomolze am Steuerrad einer Papiermühle“ aus dem Jahr 1929.79 Der

Fotograf hatte das Ziel, den Aufbau der neuen sowjetischen

Wirtschaft authentisch und gleichzeitig einprägsam dazustellen. Um

die Dynamik des Zeitalters bildlich festzuhalten, wählte er oft

extreme Unter- und Übersichten, wie im Falle des „Komsomolze am

Steuerrad einer Papiermühle“.80 Die Untersicht erzeugt die

Vorstellung einer überwältigenden Größe der Maschine. Der im

Vergleich zum Lenkrad kleiner wirkende Arbeiter wurde aber dadurch

wie auf einem Podest situiert, und wirkt somit erhaben und nahezu

unerreichbar. Sein athletischer Körper und konzentrierter

Gesichtsausdruck bestätigen die meisten Vorstellungen vom idealen

„Helden der Arbeit“ und hinterlassen den Eindruck einer

Beherrschbarkeit der Maschine. Die gewählte Position erlaubte eine

Vermischung der Linien und Konturen des menschlichen Körpers und

denen der Maschine, als wären sie ineinander verwachsen.

Diese Hybridisierung von Mensch und Maschine erfolgte auf der

Ebene des Fotografischen nicht nur durch die Positionierung der

Kamera, sondern auch mithilfe von Schattierungen. Diese Techniken

findet man oft zum Beispiel in Rodtschenkos Bilderserie vom Bau des

Weißmeer-Ostsee-Kanals. Zwischen 1931 und 1933 reiste der Fotograf77 Zum Konzept des kulturellen Gedächtnisses, siehe: Aleida Assmann: Derlange Schatten der Vergangenheit: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik.2. Aufl., Müchen 2006. 78 Vgl. Jahn, Dokument und Konstrukt, S. 13. Wichtig zu erwähnen ist jedoch,dass die bekanntesten Fotos Schajchets aus dem Zweiten Weltkrieg stammen. 79 Vgl. Abbildung 10. 80 Vgl. Jahn, Dokument und Konstrukt, S.25.

23

drei Mal zu der Baustelle und sammelte genug Material für eine

Sonderausgabe der „UdSSR im Bau“.81 Hierbei entwickelte er sein

Interesse an der Transformation der Menschen entlang der

Transformation der Natur weiter. Der Konstruktivist gab sich

fasziniert von der Beherrschung und Bezwingung der Naturgesetzte und

betrachtete die gigantischen Bauarbeiten, die das Leben von

Tausenden Strafgefangen kosteten, mit Begeisterung. Dieses Projekt

eines „erziehenden Vollzuges“ charakterisierte er als „Zivilisierung

der Natur“ und „Beseitigung der Überreste der Vergangenheit“82, wobei

es aus seinen Worten nicht klar wird, ob er damit die

infrastrukturelle Rückständigkeit des ehemaligen Zarenreiches oder

den geistigen Zustand der Gefangenen meinte. Beeindruckt von den

schnellen Schritten, mit denen das Projekt vorankam, inszenierte er

den kollektiven Enthusiasmus, welchen er selbst für das rasche

Arbeitstempo verantwortlich machte.83 Mit seinem Hang zur

Linearisierung und Organisierung der Architektur konzentrierte er

sich auf den Bau selbst, während seine Heroen zu einer bewegenden

Menschenmasse stilisiert wurden.84 Durch die Übersichten und die

weiten Perspektiven der Bilder sind weder Gesichter noch andere

Erkennungsmerkmale der Arbeiter ersichtlich. Rodtschenko

interessierte sich auch nicht für die Einzelschicksale, er war

fasziniert von der kollektiven Leistung und inszenierte seine Neuen

Menschen als Teile eines Ganzen, eines ungeheureres industrielles

System. Die einzelnen Arbeiter in diesem System erscheinen auch ohne

weiteres austauschbar, da keiner von ihnen durch individuelle

Zeichnung hervorstach.

81 Vgl. Gassner, Rodtschenko, S.104.82 Rodtschenko zitiert nach: ebd., S.10583 Rodtschenko: „Ein gigantischer Wille brachte hier am Kanal die Überresteder Vergangenheit zusammen. Und dieser Wille entfachte in den Menscheneinen Enthusiasmus, den ich in Moskau nicht gesehen hatte. Die Leutebrannten förmlich, opferten sich, beseitigte heroisch alleSchwierigkeiten“. Zitiert nach: Gassner, Rodtschenko, S.104. 84 Vgl. Abbildungen 11 und 12.

24

Neben den verklärenden und utopischen Elementen dieser Art von

Fotografie gab es auch realpolitische Faktoren zur Abbildung von

Industrialisierung- und Kollektivierungsaktionen, die sie bedingten.

Durch die Darstellung großer Industrie- und Infrastrukturprojekte

erhoffte man sich unter anderem, auch Arbeiter aus der

Landbevölkerung anzuwerben.85 In der Anfangsphase der Fünfjahrespläne

kam es zu Veränderungen der Sozialstruktur der Arbeiterschaft:

Allein im Jahr 1931 schlossen sich mehr als 4.1 Millionen Bauern der

industrielle Produktion an, während viele alte Arbeiter Arbeit als

technische Experten und Ähnliches fanden.86 Das Bild des sowjetischen

Arbeiters wurde unklarer im Vergleich zu der unmittelbaren

Postrevolutionszeit, weshalb man versuchte, durch neue bildliche

Darstellungen seine Konturen zu verdeutlichen. Diese

Wandlungsprozesse wurden von Fotografen wie Maks Alpert begleitet.

In der Bildserie „Der Riese und der Erbauer“ hielt Alpert die Reise

des jungen Bauern Wiktor Kalmikow und seine Arbeit am

Großinfrastrukturprojekt Magnitogorsk fest. Diese Fotoreportage

vereinte in sich einen organisatorischen, agitatorischen und

erzieherischen Moment.87 Einerseits informierte sie über das Erbauen

einer Industrie- und Arbeiterstadt jenseits Urals als ein großes

Projekt der Aufbauphase sowie als Ergebnis kollektiver Leistung.

Innerhalb der Serie finden sich Schüsse, die mit zum Beispiel

Rodtschenkos Fotos vom Weißmeer-Ostsee-Kanal überaus ähnlich

ausfielen.88 Andererseits enthielt dieses Werk den individuellen

Charakter Wiktor Kalmikow, der stellvertretend für den Neuen

Arbeiter stand. Durch seine Individualisierung statuierte man ein

Exempel für die Aufstiegsmöglichkeiten, die die neue sowjetische

Planwirtschaft lieferte. Der junge Bauer wurde unter anderem in der

85 Vgl. Stumberger, Klassen-Bilder, S.116.86 Vgl. Bonnell, Iconography of Power, S.37.87 Vgl. Stumberger, Klassen-Bilder, S.116.88 Vgl. Abbildung 13.

25

Abendschule für Analphabeten abgebildet,89 wodurch man auf die

zivilisatorische Mission des Kommunismus und die potenziellen

Chancen, die damit verbunden waren, hinwies. Gleichzeitig könnte

dieses Bild auch als ein Verweis auf das katastrophale Ausmaß an

unqualifizierten Arbeitskräften, die aus der Landwirtschaft kamen,

gelten: 43% der männlichen und mehr als 65% der weiblichen

Bevölkerung waren zu Anfang der 1930er Jahre als Analphabet

kategorisiert.90 Aus diesem Grund wies die Fotoserie ein zusätzlicher

Vorteil auf, dass die ikonographische Darstellung mit ihrer

Eindeutigkeit jedem unabhängig vom Bildungsstatus zugänglich war.

Neben der Integration der weit entfernten Provinzen in die

Systeme des zentralisierten Staates war die Einbeziehung der

bäuerlichen Bevölkerung auch ein besonders wichtiges Thema sowohl in

der Politik als auch der konstruktivistischen Fotografie am Vorabend

des ersten Fünfjahresplans. Die fortschreitende Kollektivierung des

Landes brachte fatale Folgen mit sich, die jedoch kaum Platz in der

fotografischen Darstellung fanden. Die enteigneten Kulaken

existierten praktisch kaum auf den Seiten der Illustrierten.91

Stattdessen zeichnete man das Bild einer wohlhabenden

Landbevölkerung, die sich erfolgreich an die Gesellschaftsprinzipien

des Kommunismus gewöhnte. Die Grundelemente der neuen Menschlichkeit

fanden sich an in diesen Bildern wieder: die kollektive Arbeit, aber

auch Bildung in Form von neuen Schulen und Medien sowie politische

Partizipation und Bewusstheit für die Geschehnisse waren einige der

zentralen Elemente der Darstellung. In der Fotografie Georgi

Petrussow bekam das Publikum Einblicke in ein idealisiertes

bäuerliches Leben. Besonders prominent war das Foto einer

Wanderbibliothek, die sich große Aufmerksamkeit seitens einiger

89 Vgl. Abbildung 14. 90 Daten aus Richard Lorenz: Sozialgeschichte der Sowjetunion 1. 1917-1945.3. Aufl., Frankfurt am Main 1981, S. 238. 91 Eins davon stammte von der Kamera von Arkadij Schajchet. Siehe Abbildung15.

26

Bäuerinnen erfreute.92 Der Fotograf bildete die technologisierten

Erntephase ab: die Traktorkonvois waren ein sehr verbreitetes

Motiv93, welches man auch bei anderen Fotografen wie zum Beispiel

Rodtschenko oder Ignatowitsch finden konnte. Als Zeichen der

gelungenen Integration und Übernahme der Idealen einer neuen,

bewussten Menschlichkeit zeugten die politischen Symbole im Bild:

die sowjetischen Sterne und die Fahne, die man mit auf die Arbeit

nahm. Diese glorifizierenden Bilder trugen zur Vorstellung eines

universalen Typus des Neuen Menschen bei, der für alle sozialen

Schichten anwendbar zu sein schien.

3.3. Sport und Körperlichkeit in den fotografischen

Darstellungen des Neuen Menschen

Neben den Bildern von marschierenden Arbeitern und Bauern

gehörten auch die Fotos von großen Sportparaden zu den wichtigsten

Inszenierungen von Massenveranstaltungen in der Sowjetunion. Der

sowjetische Sportler stellte eine entscheidende Variation des Neuen

Menschen dar, sodass er auch bei den konstruktivistischen

Fotografen der frühen Sowjetunion große Beachtung fand. Der vitale

Körper wurde als politisches Projekt angesehen, als die äußere

Erscheinungsform des gesunden Verstandes und der politischen

Aufgeklärtheit.94 Um seine Physis intakt zu halten, musste man sich

an bestimmte hygienische Vorstellungen halten und seinen Körper

durch Übungen „erziehen“. Die Beherrschung der eigenen Gestalt

gehörte zu den disziplinierenden und ordnungsschaffenden

Organisationsmechanismen der sowjetischen Gesellschaft. Der

stählerne Körper wurde in der Regel als das Erscheinungsbild der

Nerven aus Stahl gedeutet. In den erzieherischen Diskursen betonte

92 Vgl. Abbildung 16. 93 Vgl. Abbildung 17. 94 Vgl. Tricia Starks: Body Soviet: Propaganda, Hygiene, and theRevolutionary State. Madison 2008, S.5.

27

man stets die große Bedeutung von zum Beispiel gymnastischen

Übungen zur Steigerung der ökonomischen Effizienz von Arbeitskraft.

Alexei Gastew, einer der wichtigsten Theoretiker der Optimierung

von Arbeitsprozessen in der frühen Phase der Sowjetunion und

Gründer des Zentralinstituts für Arbeit (CIT), propagierte diese

These.95 Vor diesem Hintergrund sind die nackten Körper in den

Fotografien Boris Ignatowitsch‘ aus dem Moskauer Schwimmbad in

einem desexualistierten Kontext zu deuten: Der Autor produzierte

Bilder einer vollkommenen Männlichkeit und Vitalität, die jedoch in

seinen anderen Werken als perfekte Arbeiter und tüchtige Bauern

weiterentwickelt wurden.96 Ignatowitsch richtet sein Fokus im

erwähnten Bild auf eine Figur im Vordergrund, ohne jedoch die

anderen Männer im Hintergrund komplett auszublenden. Da man auf dem

Foto zum einen keine Gesichter erkennen kann, zum anderen alle

Männer eine ähnliche Statur haben, bekommt der Zuschauer ein

idealtypisches Bild sowjetischem Körperkults zu sehen, ohne sich

von der Vorstellung eines universalen (und durch Erziehung durchaus

erreichbaren) Leitbilds loszulösen.

Die ikonografische Darstellung von Sport und Körperlichkeit in

der konstruktivistischen Fotografie der 1920er und 1930er Jahre

enthielt die immanente Dichotomie zwischen Individuum und

Kollektiv. In den großen sportlichen Paraden bildete man die

programmatische Vorstellung vom Neuen Menschen ab. Unabhängig

davon, ob es sich um einzelne Gesichte oder ganze Menschenreihen

handelte, reproduzierte man automatisch die idealtypische

sowjetische Ordnung. Ein Vergleich zwischen Bildern von

95 So schrieb er zum Beispiel: „Der Körper muss erzogen werden wie einArbeitsinstrument. Jeder muss Gymnastik treiben. Das gibt dem KörperGewandtheit und Konstruktivistin, erzieht jeden Menschen und die gesamtePsyche zum höchsten Nutzeffekt.“ Zitiert nach: Gassner, RodtschenkoFotografien, S.43. Zu Gastews Ideen und Wirkung, siehe: Hellebust, Rolf:Aleksei Gastev and the Metallization of the Revolutionary Body. In: SlavicReview, 1997 Vol. 56 (3), S. 500 – 518. 96 Vgl. Abbildung 18 und Schönecker, Sowjetische Photographie S. 35 – 40.

28

unterschiedlichen Fotografen zeigt, dass die Menschenreihen

komplett unabhängig von Sportart, Geschlecht und zum Teil sogar

Alter sehr ähnlich aussehen. Zwischen Schajchets „Jungen Sportler

auf dem Weg zum Wettbewerb“ aus dem Jahr 1932 und Rodtschenkos

„Parade des Sportclubs Dinamo“, entstanden erst drei Jahre später,

sind weder in der Ästhetik noch in der Form große Unterschiede

auszumachen, obwohl die beiden Künstler verschiedene ästhetische

Richtungen und Ziele verfolgten.97 In den gegliederten Formationen

wirken die Sportler wie perfekt angepasste Teile eines Ganzen. Die

absolute Gleichheit erreicht durch Synchronie in den Bewegungen und

im Erscheinungsbild sollte stellvertretend für eine perfekt

funktionierende Ordnung stehen. Diese „Mechanisierung“ und

„disziplinierte Gleichschaltung der Bewegungen“ sollte auch zur

Optimierung der der Arbeitsprozesse und ihre Organisationsformen.98

Die Besetzung und Beherrschung der individuellen Freizeit erlaubte

ein zusätzliches Maß an Sozialdisziplinierung. Die Kultur- und

Erholungsparks wurden ebenfalls zu solchen Zwecken eingerichtet:

diese Orte sollten eine Alternative für die Gestaltung der Freizeit

anbieten und von als schädlich angesehen Aktivitäten, wie etwa

Alkoholkonsum oder Besuch in der Kirche, ablenken.99 Vor diesem

Hintergrund vereinte die Vorstellung vom Neuen Menschen als

Sportler auch eine zweite Dichotomie in sich: nämlich diese der

Opposition zwischen Beherrschtsein und selbst Beherrschen.

Einerseits stellte man die Förderung der eigenen Physis bzw. die

Teilnahme an großen sportlichen Paraden bildlich als eine

Manifestation der Befreiung von den Zwängen der Natur dar.

Andererseits aber wurde diese physische Optimierung automatisch für

politische Zwecke gedacht: das Regime erwartete von den körperlich

97 Vgl. Abbildung 19 und 20. 98 Vgl. Gassner, Rodtschenko Fotografien, S. 44.99 Vgl. Alison Rowley: Sport in the Service of the State. Images of PhysicalCulture and Soviet Woman, 1917 – 1941. In: The International Journal of theHistory of Sport, 2006, Vol. 23 (8), S. 1319f.

29

gesunden Arbeitern ein bessere Leistung und Abdeckung der Ausfälle

der anderen.100

4.Fazit

Das Bild des sowjetischen Neuen Menschen gehörte zu den größten

Projekte des fotografischen Konstruktivismus. Die Künstler

versuchten sowohl die Sehegewohnheiten ihres Publikums zu

revolutionieren, als auch das Image einer optimierten Menschlichkeit

in ihren Werken zu zeichnen. Maks Alpert, Boris Ignatowitsch, Georgi

Petrussow, Arkadij Schajchet, Solomon Tules und Aleksandr Rodschenko

waren einige der wichtigsten Vertreter der konstruktivistischen

Fotografie und beschäftigten sich in ihren Werken mit verschiedenen

Aspekten dieser Neuen Menschlichkeit, ohne sich den Zwängen der

politischen, wirtschaftlichen und sozio-kulturellen Entwicklungen

komplett entziehen zu können. Somit erschufen sie idealtypische

Bilder des Neuen sowjetischen Menschen, die nicht vom offiziellen

politischen Kurs abwichen.

Das Ziel dieser Arbeit war, die Elemente dieser Bilder zu

untersuchen und sie vor dem Kontext der zeitgenössischen

politischen, kulturellen, ästhetischen u.a. Diskursen zu

analysieren. In einem ersten Schritt wurden die Diskurse um den

Neuen Menschen in der Sowjetunion ausarbeitet, um eine theoretische

Grundlage zu schaffen und die Beispiele aus den Quellen besser

einordnen zu können. Im zweiten Schritt beschäftigte man sich mit

dem sowjetischen Konstruktivismus: die ästhetischen, personellen,

aber auch die politisch-sozialen und wirtschaftlichen

Rahmenbedingungen standen im Fokus und lieferten den zweiten

historisch-theoretischen Bezugsrahmen für die Quellenanalyse. Diese

wurde im Rahmen des vierten Kapitels abgehandelt, das wiederum in

drei Unterkapitel unterteilt wurde. Im ersten Unterkapitel machte

100 Vgl. Rowley, Sport, S. 1331.30

das Fotoessay „Die Filipows - 24 Stunden aus dem Leben einer

Moskauer Arbeiterfamilie“ das Gegenstand der Untersuchung aus.

Anhand dieser ursprünglich für ausländisches Publikum bestimmten

Quelle konnte man die wichtigsten Elemente des Neuen Menschen im

urbanen Kontext ausarbeiten. Im zweiten Kapitel ging es um die

Darstellung des Neuen sowjetischen Menschen im Zeichen der

Industrialisierung und Kollektivierung und im letzten setzte man

sich mit den idealtypischen Vorstellungen von Körperlichkeit und

Sport in Bezug auf den Neuen Menschen auseinander. Abschließend

lässt sich feststellen, dass der Neue sowjetische Mensch eine

Gesellschaftsutopie darstellt, welche primär in den Kontexten von

Arbeit und Sport anzusiedeln ist. Die konstruktivistischen

Fotografen zeichneten da Bild eines jungen, gesunden, kräftigen,

optimistisch-enthusiastischer, aber dennoch rationalen Neuen Mensch.

Trotz der augenscheinlichen Kohärenz dieser Figur bleiben einige

Dichotomien wie etwa das Verhältnis zwischen Individuum und

Kollektiv nicht ganz gelöst. Des Weiteren wären auch andere Aspekte,

wie etwa das Verhältnis von Weiblichkeit und dem Neuen Menschen

interessant zu verfolgen. Leider sprengen diese den vorgegebenen

Rahmen der Arbeit und könnten daher erst in einer weiteren

Auseinandersetzung behandelt werden.

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