„DER MENSCH MIT GROßBUCHSTABEN“ – Entwürfe Neuer Menschlichkeit der konstruktivistischen...
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„DER MENSCH MIT GROßBUCHSTABEN“ – Entwürfe Neuer
Menschlich-keit der konstruktivistischen Fotografie in der
frühen Sowjetunion
Auf dem Feld der Ideengeschichte stellt das Konzept des Neuen
Menschen mehr als nur eine weit verbreitete Gedankenfigur dar, die
zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen geographischen
Räumen verschiedene Ausprägungen erfuhr. Der Neue Mensch erwies sich
oft als eine Reaktion auf krisenhafte Erscheinungen und Prozesse,
als einen radikalen Bruch mit bereits Etabliertem zugunsten einer
besseren Zukunft. Diskurse über eine neue Menschlichkeit traten oft
als säkulares Projekt rationaler Menschenvernunft besonders in
totalitären Gesellschaften auf.1 Der geistige Hintergrund solcher
Narrative kann bei den aufklärerischen Ideen eines teleologischen
Fortschritts und freien Willens gesucht werden. Diese Vorstellungen
entwickelten sich stark im Zuge der Industrialisierung und der
Professionalisierung verschiedener natur-, sozial- und
geisteswissenschaftlicher Fachdisziplinen weiter und wurden
zunehmend mit verschiedenen wissenschaftlichen Befunden belegt.2 So
erhielten die Erzählungen über den Neuen Menschen schnell einen
organischen Charakter und eine biopolitische und psychologische
Komponente, wie zum Beispiel durch Motive des Erbauens oder
Optimierens des Neuen Menschen mithilfe eugenischer Methoden.3
1 Vgl. Peter Fritzsche / Jochen Hellbeck: The new man in Stalinist Russiaand Nazi Germany. In: Geyer, Michael /Fitzpatrick, Sheila (Hg.): Beyondtotalitarianism: Stalinism and Nazism compared. Cambridge [a.a.] 2009, S.303ff.2 Beispiel hierfür wären die biologischen Diskurse im ausgehenden 19.Jahrhundert sowie die Verselbstständigung von Teildisziplinen wieHistologie, Embryologie usw., deren Deutungsmuster jedoch stark vonmetaphysischem Verständnis geprägt waren. Siehe dazu: Isabel Wünsche:Organic Visions and biological models in Russian avant-garde. In: Botar,Oliver / Ders. (Hg.): Biocentrism and Modernism. Farnham (u.a.) 2011., S.130ff. 3 Der organische Moment erscheint sehr zentrale für die Erzählung vom NeuenMenschen im sowjetischen Kontext. So begriffen sich zum Beispiel viele
1
Der Neue Mensch stellte ein besonders wichtiges Konzept in der
frühen Sowjetunion dar, welches eine enorm große Anzahl an
Projekten, Experimenten und Theorien aus den verschiedensten
Disziplinen von Philosophie über Pädagogik bis hin zur Histologie
hervorbrachte. In ihrem Kern beruhte die Vorstellung des Neuen
Menschen auf der Annahme einer Optimierung des Individuums durch
erzieherische Arbeit. Diese lebensreformischen Erziehungsansätze
umfassten ebenfalls ein breites Spektrum an theoretischen Grundlagen
und stammten nicht ausschließlich aus der Wissenschaft, sondern
enthielten auch Elemente aus der Populärkultur. Trotz der
unterschiedlichen Hintergründe setzten alle Konzepte die
proletarische Klasse in den Mittelpunkt und appellierten an die
Möglichkeiten ihrer Gestaltbarkeit. Im neuen kommunistischen
Zeitalter sollte sich der Neue Mensch, befreit von alten Zwängen,
frei entfalten und seine Welt mitformen können. Diese Vorstellung
schlug sich auch in der visuellen Kultur nieder. Die ikonographische
Darstellung des Neuen Menschen prägte die gesellschaftliche
Wahrnehmung über ihn, indem man sich in Rahmen von konkreten
Projekten mit dem Image dieses Neuen Menschen auseinandersetzte und
ein mehr oder minder kohärentes Bild propagierte. Dazu gehörten im
besonderen Maße die Arbeiten von konstruktivistischen Fotografen der
1920er und 1930er Jahre4. Die beteiligten Personen waren keine streng
organisierte Gruppe, sondern eine lose Gemeinschaft an Fotografen,
die jedoch Berührungspunkte über persönliche und/oder berufliche
Kontakte hatten und alle den Anspruch vertraten, die Umgestaltung
der Gesellschaft und die Formung des Neuen Menschen voranzutreiben.
Dies sollte über den Weg der visuellen Alphabetisierung des Volkes
geschehen. Mithilfe der Totalität der Fotografie erstellten sie eine
Künstler selbst als „Baumeister“ am Projekt der Neuen Menschlichkeit. Vgl.Rudolf Stumberger: Klassen-Bilder. Sozialdokumentarische Fotografie 1900 –1945. Konstanz 2007, S. 108.4 Zu den Akteuren, der Pediosierungsfrage usw., siehe Kapitel 3.
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eigene Wirklichkeit, in dessen Zentrum der Neue Mensch stand.
Demnach gilt als Ziel dieser Arbeit, die verschiedenen
Darstellungselemente der Figur des Neuen Menschen im Kontext
ausgewählter Fotoquellen des Konstruktivismus zu untersuchen. Das
Augenmerk dieser Analyse liegt auf dem universalen Charakter der
Figur, der jedoch einige Dichotomien in sich trug, zum Beispiel die
Opposition Individuum vs. Kollektiv und Natur vs. Kultur.
Die Quellengrundlage dieser Arbeit stellen die Fotos selbst, in
denen Elemente des Neuen Menschen ausgearbeitet werden. Im Kontext
der Analyse der konkreten Figur fungieren diese Bilder als
mentalitätshistorische Quellen, d.h. durch sie gelangt man an
Erkenntnisse über Diskurse und Deutungsangebote, die für die
damalige Zeit prägend waren und den sowjetischen Neuen Menschen
mitformten. Ergänzt werden diese durch Aussagen der Fotografen oder
der Vertreter des Regimes herangezogen. Leider sind nur sehr wenige
Ego-Dokumente der Künstler in Deutschland verfügbar, daher kommen
manche Zitate aus der Sekundärliteratur. Allgemein lässt sich auch
feststellen, dass sich vergleichsweise wenig Arbeiten sich mit den
Projekten des Neuen Menschen dieser Strömung der sowjetischen
Fotografie auseinandersetzen und diese vorwiegend eine
kunsthistorische oder medien-kulturwissenschaftliche Prägung haben,
zum Beispiel wie Rudolf Stumbergers „Klassen-Bilder.
Sozialdokumentarische Fotografie 1900 – 1945“. In den letzten Jahren
wurden jedoch auch historische Auseinandersetzungen mit einzelnen
Fotoprojekten veröffentlicht, in diesem Kontext wäre Nina Klinglers
Aufsatz "24 Stunden aus dem Leben einer Moskauer Arbeiterfamilie".
Eine Fotoreportage als historische Quelle“ zu erwähnen. Im Gegensatz
dazu sind sowohl der Neue Mensch als Konzept der frühen Sowjetunion,
als auch die frühsowjetischen visuellen Objekte Gegenstände breiter
Untersuchung: Nur beispielhaft können hier Groys und Hagemeisters
Band „Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu
3
Beginn des 20. Jahrhunderts“ und Valerie Kivelson „Picturing Russia.
Explorations in Visual Culture“ aufgeführt werden.
Die Arbeit verfolgt das Prinzip einer hermeneutisch-
analytischen Methode, die allerdings auch ein vergleichendes Element
enthält, denn die Analyse umfasst die Werke verschiedene Künstler,
die oft unabhängig voneinander arbeiteten. Zu Beginn werden die
zeitgenössischen Diskurse über den Neuen Menschen in der Sowjetunion
zusammengefasst aufgeführt, um die Einordnung der Beispiele im
späteren Verlauf der Arbeit zu verdeutlichen. In einem nächsten
Schritt wird die konstruktivistische Fotografie der 1920er und
1930er Jahre dargestellt. Es werden die Fragen nach den Akteuren,
dem Wesen und den Merkmalen dieser fotografischen Ausrichtung, aber
auch an der Periodisierung und dem politischen Bezugsrahmen
angegangen. Dadurch erhofft sich die Verfasserin, die Grundlage
eines reflektierten Umgangs mit den Quellen zu schaffen. Auf der
Basis der Erkenntnisse aus den ersten beiden Theoriekapiteln wird
die Analyse der Darstellungselemente des Neuen Menschen aufgebaut,
die im Wesentlichen drei Hauptpunkte behandeln wird: der neue Mensch
als urbaner Arbeit, seine Rolle als Arbeiter auf dem Land im Zuge
der Industrialisierung und Kollektivierung sowie sein Bild im
Kontext von Sport und Körperlichkeit.
1.Der Neue Menschen in der sowjetischen Kultur der
1920er und 1930er Jahre
Im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert war
Russland eins der wenigen Länder ist, in dem die Idee des Neuen
Menschen außerhalb kleineren literarischen oder wissenschaftlichen
Kreisen große Verbreitung fand. Obwohl die Ursprünge des russischen
und späteren sowjetischen Neuen Menschen bei der radikalen
Intelligenzija zu suchen sind, gewann dieses Projekt mit der Zeit
enorm an Popularität innerhalb einer breiteren Öffentlichkeit und4
erreichte seinen Höhepunkt in der Stalinära. Noch in der
vorrevolutionären Zeit wurde der Neue Mensch als ein
Heilsversprechen zur Befreiung von den Zwängen des zaristischen
Regimes und seiner politischen und sozialen Rückständigkeit sowie
ein Vollendung der historischen Entwicklung hin zum Kommunismus
gedeutet.5 Ihm wurde eine besondere historische Rolle sowie ein
besonderer Sinn für die eigene Verantwortung in der Geschichte
zugesprochen. Zu den geistigen Vätern des Konzepts im russischen und
sowjetrussischen Raum werden in erster Linie Marx, Lenin, Nikolai
Tschernyschewski, Maxim Gorki und andere Intellektuellen gezählt.
Während Autoren wie Tschernyschewski vor allem die Idee eines
rational und harmonisch mit sich selbst handelnden Individuums als
Allegorie der idealen Bewusstheit und Askese verflocht,6 fügte Gorki
mit seinen Werken die Komponente des „heroischen Neuen Menschen“
hinzu. Inspiriert vom nietzscheanischen Übermenschen leistete er
einen wichtigen Beitrag zur Bildung des sozialistischen Helden als
idealisierten Kämpfer gegen das „Kleinbürgertum“7. Für Gorki, wie für
viele andere auch, war der sowjetische „MENSCH mit Großbuchstaben“
notwendig in den Reihen des Proletariats zu suchen und als ein
Gesamtkunstwerk zu verstehen: eine Symbiose aus Medien,
Alltagskultur, Kunst, Wissenschaft und Politik. Neben Autoren, die
als „Ingenieure der Seele“ angesehen wurden8, arbeiteten auch
5 Vgl. Gottfried Küenzlen: Der Neue Mensch. Zur säkularenReligionsgeschichte der Moderne. München 1994, S.142ff.6 Im Werk Tschernyscheweski wird besonders stark die Rolle derEnthaltsamkeit und Keuschheit zur Stärkung des menschlichen Körpers undVerstands betont. Vgl. Derek Müller: Der Topos des Neuen Menschen in derrussischen und sowjetrussischen Geistesgeschichte. (-Geist und Werk derZeiten. Arbeiten aus dem Historischen Seminar der Universität Zürich; 90).Bern 1998, S. 45f. 7 Hans Günther: Der sozialistische Übermensch. M. Gorkij und der sowjetischeHeldenmythos. Stuttgart / Weimar 1993, S. 9. Wichtig an dieser Stelle wärezu betonen, dass Gorkij die nietzscheanischen Ideen nicht durchmarxistische verdrängte, sondern sie in die ideologischen Rahmenintegrierte. Siehe dazu: Ebd., S.72. 8 Müller, Der Topos, S.10.
5
konstruktivistische Fotografen, professionelle sowie Amateure,
Wissenschaftler, aber auch Laien in verschiedenen Disziplinen am
großen Projekt des Neuen Menschen. Vor diesem Hintergrund erscheinen
die Grenzen zwischen hoher und Populärkultur in Bezug auf diese
Narrative in der frühen Phase der Sowjetunion äußerst undeutlich.9
Gleichzeit blieb der Neue sowjetische Mensch als Erziehungsprojekt
an der Mitwirkung des Kollektivs gebunden. Erst in der Interaktion
mit der Gemeinschaft konnten sich sein harter Wille und seine Macht
entfalten. Überhaupt ließen sich die sozialistischen Helden nicht
schwer in die typische Eisen- und Stahlsymbolik der Zeit einordnen:
vom Stalins Pseudonym („Sta‘l“), über die Bezeichnung der
Bolschwiken als besonders „hart“ (vor allem in der Opposition zu den
„weichen“ Menschewiken) bis hin zu einem stets „vorwärts“
orientierten „Helden der Arbeit“ wie etwa den mythischen
Bergarbeiter Sergej Stachanow.10 Der Namensgeber der
Stoßarbeiterbewegung entwickelte sich zu einer emblematischen Figur
der Stalinzeit, die für die Überproduktion menschlicher Natur stand.
Die stählernen Körper und Seele des sowjetischen neuen Menschen
waren jedoch nicht nur das Ergebnis von Askese und Enthaltsamkeit,
sondern auch ein Ausdruck der idealisierten Symbiose zwischen Mensch
und Maschine. Nicht nur war der Körper als stark und von erheblicher
Ausdauer gedacht, die Nerven sollten ebenfalls wie aus „Stahl“
sein.11 Er wurde als ein Transformationsobjekt angesehen, das auf
Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse gestalt- und optimierbar
erschien. Verschiedene Vorhaben auf dem Feld der Biochemie,
Psychologie, Neurobiologie usw. verfolgten das Ziel, die Grenzen der
Natur zu überwinden und einen vollkommenen Menschen zu erschaffen.9 Vgl. Margarita Tupitsyn: The Soviet Photograph 1924 – 1937. New Haven(u.a.) 1996, S. 8. 10 Der Bergarbeiter überfüllte mithilfe von einigen Zuarbeitern seineArbeitsnorm um das Siebenfache. Sein Arbeitseinsatz wurde zum Mythosverklärt und zelebriert. Vgl. Günther, Der sozialistische Übermensch,S.196.11 Vgl. Fritzsche / Hellbeck, The new man, S.307.
6
Die Bluttransfusionsversuche Bogdanovs oder die Träume von
Überwindung der Sterblichkeit bei Federov sind nur als zwei
Beispiele unter zahlreichen Theorien, Versuchen und Methoden zu
nennen.12 Der Neue Mensch sollte die Loslösung von Gesetzen der Natur
und den Sieg der Wissenschaft symbolisieren; der Neue Prometheus in
den frühsowjetischen Phantasien brachte das elektrische Licht und
somit die säkulare Unabhängigkeit von göttlicher Bestimmung.13 Da das
Telos die Überwindung des Menschlichen im Menschen selbst war,
diente der Körper als Werkzeug, als Rädchen in der Gesamtheit der
sozialistischen Gesellschaft. Der eigene Einsatz für das Kollektiv
sollte die Neue Zeit einleiten. Insofern war seine eigene Existenz
nur dann von Bedeutung, wenn man sich für die Gemeinschaft opferte.
Erst mit dem absoluten Verzicht auf individuelles Glück konnte der
Schritt zwischen einem „Übergangsmenschen“ der Revolutions- und NEP-
Phase und dem „Neuen Menschen“ der Stalinzeit vollzogen werden.
Charakteristikum dieser Figur war auch die Überwindung der
Spontanität auf dem Weg zur absoluten Bewusstheit als Beweis der
Befreiung von jeglichen Naturgesetzten.14 Diese Vorstellung entsprach
dem allgemeinen euphorischen Zeitgeist am Vorabend des ersten
Fünfjahresplans.15 Die große Faszination für monumentale Bauprojekte,
aber auch über den gesamtwirtschaftlichen Aufschwung und
Übererfüllung des Plansolls fanden ihre konkreten Dimensionen in der
konstruktivistischen Fotografie, die die Darstellung des neuen
Lebens in den Städten und auf dem Land zu ihrem wichtigsten Projekt
12 Für eine Einführung in die verschiedenen Projekte zur Gestaltung desNeuen Menschen, siehe: Hagemeister, Michael: “Unser Körper muss unser Werksein.“ Beherrschung der Natur und Überwindung des Todes in russischenProjekten des frühen 20. Jahrhunderts. In: Groys, Boris / Dems. (Hg.): DieNeue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20.Jahrhunderts. Frankfurt am Main 2005, S. 19 – 68. 13 Vgl. Hubert Gassner: Der Neue Mensch. Zukunftsvisionen der NeuenAvantgarde. München 1994, S.154.14 Vgl. Müller, Der Topos, S.175 15 Vgl. Ebd, S. 204.
7
machte.16 Die Helden der Arbeit, so zum Beispiel die Teilnehmer an
der Stachanow-Bewegung, wurden nicht nur zum Gegenstand der
politischen Fotografie, sondern wurden auch mit materiellen
Vorteilen und Nähe zum Generalsekretär belohnt.17 In seiner Rede auf
der Ersten Unionsberatung der Stachanow-Bewegung hielt Stalin eine
Rede, in der der berühmte Abschnitt „Neue Menschen – neue technische
Formen“ enthalten war.18 Diese Rede verfestigte die Vorstellung vom
heroischen Neuen Menschen, dessen Individualismus in Form von
Gedanken, Gefühlen und Empfindungen zugunsten des Gemeinwohls und
der ständigen „vorwärts“-Bewegung zur Bekämpfung von inneren und
äußeren Feinden zurückgedrängt werden mussten. Diese vollkommene
körperlich-seelische Hingabe wurde als eine besondere Form des
„Enthusiasmus“ für das neue sowjetische Zeitalter propagiert und zum
Idealbild verklärt.19
2.Entwicklung der sowjetischen konstruktivistischen
Fotografie der 1920er und 1930er Jahre
2.1. Ästhetik Akteure Netzwerke
Seit der Einführung des fotografischen Verfahrens in Russland
zu Beginn der 1840er Jahre nahmen seine Entwicklungen ähnliche Züge
16 Seit der Proklamation des Sozialistischen Realismus als offizielleStilrichtung wurde die Auseinandersetzung mit diesem Thema quasiverpflichtend.17 Es wird berichtet, dass die Gehälter der Mitglieder der Stachanow-Bewegung bis zum Neunfache der üblichen Löhne entsprachen. Vor diesemHintergrund kann der Dualismus zwischen Individuum und Kollektiv nichtkomplett gelöst werden: zwar sollten einzelne Individuen als Exempel füralle andere dienen, doch ihre eigenen Bestrebungen konnten in der Realitätnicht komplett vernachlässigt werden. Siehe dazu: Robert Maier: DieStachanow-Bewegung 1935 – 1938. Der Stachanowismus als tragendes undverschärfendes Element der Stalinisierung der sowjetischen Gesellschaft.Stuttgart 1990, S. 66.18 Müller, Der Topos, S.214.19 Vgl. Günther, Der sozialistische Übermensch, S. 197.
8
wie in Europa ein.20 Bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert
etablierte sich die Ausrichtung der Kunstfotografie, die auf
Traditionen der romantischen Malerei und den poetischen
Impressionismus aufbaute und bis Ende der 1920er Jahre hinein ihre
Wirkung entfalten konnte. Diese Fotografie nahm jedoch schon in den
letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zunehmend realistische
Züge an: Dem Medium wurde ein enormer dokumentarischer Wert
beigemessen und man setzte es zuerst innerhalb der ethnografischen
Forschung, ab den 1890er Jahren auch zu sozialdokumentarischen
Zwecke ein. 21 Gegen Ende dieser Phase begann eine allmähliche
Abkopplung der Fotografie von den Konventionen der Malerei. Dies
stellte jedoch kein spezifisch russisches Phänomen, sondern vielmehr
eine internationale Entwicklung dar. Es wurden neue ästhetische
Formen und Konventionen mit besonderem Augenmerk auf der Schaffung
einer neuen Bildsprache unter Berufung auf die für dieses Medium
spezifischen Gestaltungsmöglichkeiten propagiert.22 Bereits in
vorrevolutionärer Zeit widmeten sich sowohl professionelle
Fotografen als auch Amateure der Aufgabe, verschiedene Aspekte des
Arbeiteralltages bildlich festzuhalten.23
Die Oktoberrevolution stellte vor diesem Hintergrund sowohl
eine einschneidende Zäsur, als auch ein verbindendes Element dar und
war zugleich Quelle schöpferischer Inspiration für Fotokünstler und
20 Vgl. Inka Graeve: Die frühe Moderne in der sowjetischen Photographie. In:Schönecker, Julia (Galerie Alex Lachmann) (Hg.): Sowjetische Photographieder 20er und 30er Jahre. Katalog zur Ausstellung: 26. April - 29. Juni1991. Köln 1991, S. 8. 21. Vgl. Stumberger, Klassen-Bilder, S. 97ff. 22 Vgl. Susanne Winkler: Piktorialismus / Modernismus / SozialistischerRealismus. Meisterwerke der sowjetischen Fotografie der 1920er-/1930erJahre. In: Ders. (Hg.): Sowjetische Fotografie der 1920er-/ 1930er-Jahre:von Piktorialismus und Modernismus zum Sozialistischen Realismus. Wien2002, S.7. 23 Diese Tendenz wurde in erster Linie durch die technischen Innovationen imBereich der Fotografie vorangetrieben: die Fotoapparate wurden immerkleiner und flexibler einsetzbar und die Blitzlichtverwendung mobiler. Vgl.Stumberger: Klassen-Bilder, S. 41.
9
andere Kulturschaffende. In der Zeit um 1917 entstand schlagartig
eine Art Netzwerk unter Malern, Fotografen, Filmschaffenden,
Architekten usw., die die Abbildung und die Neugestaltung der
sowjetischen Realität als Gebot der Stunde begriffen. 24 Diese
Künstler werden nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Anspruches,
unter Einbeziehung der fotografischen Kunst die proletarische
Wirklichkeit entstehen zu lassen, dem Konstruktivismus zugeordnet.25.
Fotoreporter traten als neue Akteure an der Grenze zwischen Politik
und Kunst auf, die sich aktiv an der Bildschöpfung der
Lebenswirklichkeit in der UdSSR beteiligen und radikalen Einfluss
auf das alltägliche Leben nahmen.26 Obwohl sich im Bereich der
ästhetischen Konventionen vorerst nicht viel änderte, brachte die
Revolution einen entscheidenden Unterschied mit sich: Von nun an
konzentrierten sich die Fotografen sich nicht mehr auf die
Missstände des proletarischen Lebens zum Zwecke von Kritik, um diese
zu beseitigen, sondern wandten sich der Darstellung einer
fortschrittlichen Zukunft zu.27 Die Industrialisierung und
Urbanisierung des Lebens, Kollektivierung und Technologisierung der
Landwirtschaften sowie der Neue sowjetische Mensch und sein Alltag
gehörten zu den wichtigsten Themen dieser Zeit.
Einhergehend mit den thematischen Veränderungen in der
Fotografie, die in der unmittelbar postrevolutionären Zeit
ausschlaggebend waren, entwickelte sich in der Mitte der 1920er
Jahre auch erste Bestrebungen zur Revolutionierung der Form.
Signifikante Impulse für die Entwicklung einer neuen Bildsprache
erhielt die frühe avantgardistische Fotografie der Sowjetunion durch
Aleksandr Rodtschenko. In seinen Texten propagierte er „das neue24 Vgl. Sergej Morosow: Die Fotopublizistik des schöpferischen Volkes. In:Dems. et al. (Hg.): Sowjetische Fotografen 1917 – 1940. 2. Aufl., Berlin(West) 1983, S. 5. 25 Vgl. Tupitsyn: The Soviet Photograph, S. 4f. Die Autorin betont stark dieRolle der Produktion als typisches Merkmal der sowjetischen Auslegung. 26 Vgl. Winkler, Piktorialismus, S. 7f. 27 Vgl. Stumberger, Klassen-Bilder, S. 98f.
10
Sehen“ und erklärte Krieg an die etablierten Sehegewohnheiten. Nach
seiner Vorstellung, müsse man „alltägliche, wohlbekannte Objekte von
völlig unerwarteten Situationen zeigen“, um sich dadurch besser an
die veränderten Voraussetzungen des neuen Zeitalters bzw. an den
beschleunigten Alltagsrhythmus anzupassen.28 Die Konventionen des
„Neuen Sehens“ resultierten zum großen Teil auf der Annahme, dass
die Kamera einen objektiven Blick auf die Realität als die
menschlichen Augen gewährleistet. Diese Vorstellung knüpfte stark an
das neue Medium Film und die Theoretiker, die sich mit ihm
befassten, so etwa an Dziga Vertov. Im „Kinoauge“ („Kinoglaz“)
erkannte er eine perfekte Symbiose zwischen Mensch und Maschine.29
Die Sozialfotografie und der Fotojournalismus galten als die
wichtigsten Formen dieser Zeit und richteten ihren Blick gegen die
vorrevolutionären Bildnormen, primär gegen den piktorialistischen
Kanon: die Schüsse sollten nicht "Wie ein Gemälde!" wirken, sondern
herausfordern sowie die Reaktionsgeschwindigkeit und die
Aufmerksamkeit maximieren.30 Experimentieren erwies sich als das
wichtigste Schlagwort für eine ganze Generation von
konstruktivistischen Fotokünstlern. Extreme Unter- und Übersichten,
schräge Blickwinkel in vertikalen, horizontalen und diagonalen
Kompositionen sowie spezifische Techniken bei der Arbeit mit Licht
waren nur ein Teil der spezifischen Merkmale der internationalen
avantgardistischen Fotografie.31 Im Gegensatz zum westlichen
Expressionismus der 1920er Jahre lehnten jedoch die sowjetischen28 Zitiert nach: Hubertus Gassner: Rodtschenko Fotografien. Mit einemVorwort von Aleksandr Lavrentjev. München 1982, S. 34. 29 Vgl. Bodo von Dewitz: „Wir sind verpflichtet zu experimentieren“. In:Dems. / Schuller-Procopovici, Karin (Hg.): Politische Bilder: sowjetischeFotografien; die Sammlung Daniele Mrázkowá = Political images. SovietPhotograohs. Göttingen 2009, S. 11. 30 Vgl. Aleksandr Rodtschenko: Wege der zeitgenössischen Fotografie. Aus:Nowy LEF, 1928, Vol.9. Abgedruckt in: Weiss, Evelyn (Hg.): AleksandrRodtschenko: Fotografien 1920 – 1938. Übersetzt von Ronte, Dieter / Ders. /Wienand, Michael. Köln 1978, S. 58. Der Piktorialismus verschwand im Laufeder 1930er Jahre allmählich als etablierte Stilrichtung.31 Vgl. Lawrentjew, Piktorialismus, S. 19.
11
Fotografen die Motive dekadenten Lebensstil ab, widmeten sich ganz
den revolutionären Idealen und verstanden sich als Chronisten und
Mitgestalter einer neuen Realität.32
Rodtschenko beeinflusste viele Künstler, die ungefähr zum
selben Zeitpunkt sich der Fotografie gewandt haben, darunter
besonders prominent waren Boris Ignatowitsch und Georgi Petrussow.33
Sie plädierten ebenfalls für die Vereinheitlichung von Inhalt und
Form, konzentrierten sich auf große industrielle Projekte und
versuchten, ihre eigene Begeisterung für den sowjetischen „Helden
der Arbeit“ durch extreme Blickwinkel und schräge Perspektiven
bildlich darzustellen. Viele dieser Akteure waren im
Künstlerkollektiv „Oktober“ („Oktjabr“) mit anderen Architekten,
Designer usw. organisiert. Andere hingegen, so etwa Arkadij
Schajchet, Maks Alpert u.a. gründeten eine Gegengruppe, die
„Russische Gesellschaft der proletarischen Fotoreporter“ (ROPF), die
die „Oktober“-Fotografen des Formalismus und der Imitierung
westlicher Dekadenz bezichtigten.34 Trotz Meinungsunterschieden
arbeiteten die meisten dieser Fotografen für dieselben
Zeitschriften. Die wichtigsten Organe der Konstruktivisten waren die
Zeitschriften „LEF“ („Linke Front der Kunst“), „Nowy LEF“,
„Sovetskoe Kino“, „Konofot“ und die 1930 vom Maxim Gorki gegründete
„UdSSR im Bau“, welche durch ihre fremdsprachigen Ausgaben die
sowjetischen Vorstellungen und Ideen auch außerhalb der
Landesgrenzen propagieren konnte.
2.2. Politische Entwicklungen
Neben den selbst auferlegten Aufgaben und Visionen der
konstruktivistischen Fotografen in Bezug auf die ästhetische Form
enthielten ihre Projekte meist auch politische Komponenten. Aufgrund
32 Vgl. Morosow, Die Fotopublizistik, S. 8.33 Vgl. Graeve, Die frühe Moderne, S.10ff.34 Vgl. Stumberger, Klassen-Bilder, S. 104f.
12
der hohen Analphabetenquote im Land schien es für Parteifunktionäre
erstrebenswert, das neue Medium für propagandistische Zwecke
einzusetzen.35 Der Fotografie wurden institutionelle Rahmen
verliehen, indem man zum Beispiel eine Kino-Foto-Abteilung bei der
Staatlichen Kommission für Volksbildung einrichtete,36 in
verschiedenen Reden die wichtige Rolle der Fotografie anpries37 und
ihre Funktionsweisen und Entfaltungsmöglichkeiten per Dekrete und
Anordnungen zu regeln versuchte.38 Die bildhafte Publizistik sollte
in den Dienst der Volksaufklärung und Erziehung gestellt werden.
Fotografien von jüngsten Ereignissen wurden zu propagandistischen
Zwecken in Schaufenstern (die so gennanten "Agit-Vitrinen") in der
größeren Städten ausgestellt, mobile "Agitationsschiffe" und
"Agitationseisenbahnen" verbreiteten sie im ganzen Land39. Das Bild
wurde praktisch vom Text abgelöst und fungierte in der Phase des
Kriegskommunismus (1918 – 1921) als ein selbstständiges Medium.40 Mit
der Einführung der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) entspannte sich
die wirtschaftliche Lage im Lande etwas, sodass neue Möglichkeiten
zur Zeitschriftengründung und für weitere Entwicklungen der
Fotoindustrie gegeben waren. Neben den Sprachorganen von
Künstlerkollektiven brachte auch das Volkskommisariat für Aufklärung
35 Vgl. Stumberger, Klassen-Bilder, S.100f. Ca. zwei Drittel der Gesamtbevölkerung konnten anfangs der 1920er Jahren weder lesen noch schreiben.36 Vgl., ebd., S. 99.37 Zum Beispiel sprach Lenin oft von der Fotografie als ein wichtiges Mediumfür die "Erziehung der Massen", Vgl. Daniela Mrazkowa / Vladimir Remes: DieSowjetunion zwischen den Kriegen. 175 Photographien aus den Jahren 1917 -1941. Oldenburg 1981, S.14.38 Vgl. Olga Sviblowa: "Die Kunst sollte von der Politik getrennt werden..."Aleksandr Rodtschenko. Moderne Fotografie in der frühen Sowjetunion. In:Winkler, Susanne (Hg.): Sowjetische Fotografie der 1920er-/1930er-Jahre:von Piktorialismus und Modernismus zum Sozialistischen Realismus. Wien2002, S. 14.39 Vgl. Stumberger, Klassen-Bilder, S.100.40 Aufgrund der Materialknappheit in der Phase des Kriegskommunismus (1918 –1921) war die Produktion von Fotos, ihre Qualität bzw. diepropagandistische Wirkung, die sie entfalten konnten, trotz allerBemühungen eher eingeschränkt. Siehe dazu: Ebd. S. 112.
13
(Narkompros) eine eigene Zeitschrift, " Sovetskoe Foto" ("Das
Sowjetische Foto“), heraus.
Als Anfangsphase der konstruktivistischen Fotografie in der
Sowjetunion wird die Einführung der NEP bzw. die ersten Manifeste
führender Fotokünstler anfangs der 1920er Jahre datiert. Ihr Zenit
wird hingegen an der stalinistischen Terrorswelle in der zweiten
Hälfte der 1930er bzw. bis zur „Erste(n) Allunionsausstellung der
Fotokunst“ 1937 verortet.41 Während in der Anfangszeit eher die
ästhetischen Diskussionen ausschlaggebend waren, wurden die Debatten
gegen Ende der 1920er Jahre zunehmend politisch-ideologischer Natur
und die Rolle der Fotografie für erzieherisch-kulturmissionierende
Zwecke immer deutlicher.42 Die Industrialisierung und die
Kollektivierung der Landwirtschaft gehörten bereits bei der
Einführung des ersten Fünfjahresplans im Jahr 1928 zu den
wichtigsten Themen der konstruktivistischen Fotografie. Zu diesem
Zeitpunkt entstand auch eine Reihe an Fotoprojekten über die
Errungenschaften der Industrie, etwa Rodtschenkos „Bau des
Weißmeerwasserkanals“, welches das Großinfrastrukturprojekt unter
einem zivilisatorisch-fortschrittlichen Gesichtspunkt glorifizierte.
Mit der Veränderung der wirtschaftlichen Ausrichtung des Landes
ging auch ein Wandel der Sozialstruktur einher. Urbanisierung und
Proletarisierung der Landbevölkerung, Verschlechterung der
Wohnumstände und Einbußen in der Lebensqualität in den Städten
gehörten zu den gesellschaftlichen Folgen der forcierten
„Aufholjagd“ gegenüber dem kapitalistischen System. 43 Um auf diese
Lage zu reagieren, konzentrierten sich viele Fotografen auf den
neuen „Helden der Arbeit“ mit seinem Pioniergeist und seiner
Begeisterungsfähigkeit für Großprojekte. In vielen Fotostrecken,
41 Vgl. Margarita Tupitsyn: Die Geschichtsschreibung der sowjetischenFotografie im In- und Ausland. In: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichteund Ästhetik der Fotografie. 1997, Vol. 17 (63), S. 52. 42 Vgl. Sviblowa, Die Kunst, S. 14.43 Vgl. Stumberger, Klassen-Bilder, S.106.
14
etwa das Fotoessay "Die Filipows - 24 Stunden aus dem Leben einer
Moskauer Arbeiterfamilie" zeichneten Arkadij Schajchet, Solomon
Tules und Maks Alpert das Idealbild des Neuen Menschen. Dieses
spiegelte den kollektiven Arbeitsalltag und die Ruhepausen in der
Großstadt wieder und lieferte somit Identifikationsmuster, ohne
dabei die „Industrialisierung“ und „Kollektivierung der Gefühle“ zu
unterlassen. Die Familie Filipow war in diesem Kontext austauschbar
und fungierte primär als ein Symbol.44
Um 1930 verschwand der Piktorialismus vollständig von der
Landkarte der Fotokunst in der Sowjetunion und die Fotoreportage
etablierte sich endgültig als wichtigste mediale Form.45 Mit der
„Resolution der Zentralkomitees vom 23. April 1932 über die
Umwandlung der literarisch-künstlerischen Organisationen“ erklärte
man die Stilrichtung des sozialistischen Realismus für verbindlich
und beschleunigte die Exklusion bestimmter Künstlern+. Rodtschenko
war bereits 1930 dem Formalismus bezichtigt und aus dem Oktober-
Kreis ausgeschlossen, viele anderen sahen sich gezwungen, von ihren
älteren Arbeiten Abstand zu nehmen und öffentlich Reue zu zeigen.46
Im Totalwesen der stalinistischen Herrschaft wurde die Utopie einer
durch und durch ästhetisierten Politik und einem organisierten
Alltag konsequent verfolgt.47 Auch wenn viele Künstler gewisse44 Vgl. Hubert Gassner: Rodtschenkos Fotografien. Mit einem Vorwort vonAleksandr Lavrentiev. München 1982, S. 96. 45 Die Kunstfotografie war in der sowjetischen Abteilung bei derinternationalen Stuttgarter Ausstellung „Film und Foto“ 1929 nicht mehrvertreten. Vgl. Rosalinde Sartorti: Bemerkungen zur sowjetischen Abteilungder Stuttgarter Ausstellung „Film und Foto“ 1929. In: Eskildsen, Ute /Horak, Jan-Christopher (Hg.): Film und Foto der zwanziger Jahre. Stuttgart1979, S. 187. 46 Die definitive Gleichschaltung erfolgte erst nach dem Kongress dersowjetischen Schriftstellern im Sommer 1934, doch die Ausschlussprozessegegenüber vieler Künstler setzten schon viel früher ein. Diese ergaben sichzum Teil auch durch offene Konkurrenzverhältnisse in der NEP-Phase zwischenRodtschenko und Vertretern der „Oktober“-Gruppe auf der einen undReportagefotografen wie Schajchet auf der anderen Seite. Siehe dazu:Stumberger, Klassen-Bilder, S.108ff, 114f.47 Vgl. Boris Groys: Am Nullpunkt: Positionen des russischen Avantgarde.Frankfurt am Main 2005, S. 32.
15
Strategien und modernere Gestaltungsprinzipien nicht aufgeben
wollten, hielten sie sich an einem strengen Regelwerk, das zunehmend
eine verklärte sowjetische Wirklichkeit mit bestimmten Vorstellungen
vom Neuen Menschen reproduzierte.
3.Elemente der Vision vom Neuen Menschen in der
frühsowjetischen konstruktivistischen Fotografie
3.1. Der Neue Mensch als urbaner Arbeiter am Beispiel des Fotoessays
"Die Filipows - 24 Stunden aus dem Leben einer Moskauer
Arbeiterfamilie"
Das propagandistische Fotoessay „Die Filipows - 24 Stunden aus
dem Leben einer Moskauer Arbeiterfamilie“ entstand als gemeinsames
Werk von drei Fotojournalisten: Arkadij Schajchet, Solomon Tules und
Maks Alpert. Es schilderte das Leben eines Metallarbeiters der
Fabrik „Roter Proletarier“ und seiner Familie. Die beiden
Hauptverantwortlichen für das Projekt, Schajchet und Alptert, hatten
bereits früher Erfahrung in der bildhaften Publizistik gesammelt.
Der ungelernte Schlosser Schajchet erstellte schon seit Anfang der
1920er Jahre Fotoreportagen für größere Zeitschriften wie „Ogonjok“
(„Flämmchen“) oder „Rabotschaja Gaseta“ („Arbeiterzeitung“).48 Zu
seinen bekanntesten Bildern, deren Hauptthema der zivilisatorische
Geist der frühen Sowjetzeit war, zählen das Portrait „Ein Waisenkind
wird gebadet“ (1924) und „Die Iljitsch-Birne“ (1925). Letzteres
präsentierte die erste Berührung einer ländlichen Familie mit der
Elektrizität durch die erschwingliche, nach Lenin benannte
Glühbirne.49 Maks Alpert hatte ebenfalls zu Beginn der 1920er Jahre
seine ersten Bildreportagen gemacht. Diese waren sehr stark in
Anlehnung an das neue Medium Film gehalten und erzählten meist eine
48 Für eine kurze Biografie von Arkadij Schajchet, siehe: von Dewitz /Schuller-Procopovici, Politische Bilder, S.124.49 Siehe Abbildung 1 und Abbildung 2.
16
komplette Geschichte. 1930 fotografierte er seine Kalmykow-Serie,
bei der er einen ländlichen Bauarbeiter auf einem der größten
frühsowjetischen Bauprojekten Magnitogorsk begleitete, wodurch er
als Chronist der Aufbauphase fungierte.50
Das gemeinsame Projekt „24 Stunden im Leben der Moskauer
Arbeiterfamilie Filipow“, bestehend aus 78 Fotografien, erschien im
September 1931 in einem Sonderheft der deutschsprachigen AIZ
(Arbeiter Illustrierte Zeitung).51 Die Fotostrecke wurde speziell für
das ausländische Publikum geplant und angefertigt mit dem Ziel, ein
idealisiertes Bild des Lebens einer durchschnittlichen
Arbeiterfamilie im ersten kommunistischen Staat der Welt zu
transportieren. Aus diesem Grund war das Projekt besonders wichtig
für die perteiführung und mit großen Erwartungen ihrerseits
behaftet.52 Es fand in der Tat große Resonanz im deutschsprachigen
Raum. Deutsche Fotografen bemühten sich sofort, eine direkte Antwort
aus dem Leben einer Berliner Arbeiterfamilie in die UdSSR zu senden,
die jedoch dort nie publiziert wurde.53 Die Autoren selbst äußerten
sich kurz nach der Veröffentlichung über ihre Intention, das Leben
der proletarischen Familie als ein organisches Ganzes in all seinen
Facetten darzustellen. Sie strebten an, durch das konkrete Beispiel
ein allgemeines Bild der Sowjetunion zu zeichnen. Hierbei übten sie
indirekte Kritik an der Arbeit Rodtschenkos und seiner Mitstreiter,
die eine eigene Wirklichkeit haben konstruieren wollen.54 Trotz der
Berufung auf die Prinzipien der realitätsnahen Fotoreportage stellte50 Vgl. Stumberger, Klassen-Bilder, S.117. Für Details zu dieser Serie, s. das darauffolgende Kapitel.51Vgl. Ursula Schulde: „Es wäre uns peinlich, schlechte Fotos zu schicken.Die Austauschbeziehungen zwischen deutschen und sowjetischenArbeiterfotografen 1926 bis 1933. In: Hesse, Wolfgang (Hg.): Die Eroberungder beobachtenden Maschinen: zur Arbeiterfotografie der Weimarer Republik(-.Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde; 37). Leipzig 2012,S.117.52 Vgl. Tupitsyn, The Soviet Photograph, S.85. 53 Vgl. Schulde, Die Austauschbeziehungen, S. 117f. 54 Vgl. Arkadij Schajchet / Maks Alpert: Kak my snimali Filippovyk (Wie wirdie Filipow fotografierten). In: Prolerarskoe Foto, 1931, Vol.4, S.46.
17
jeder Schnappschuss aus der Serie eine gemäldeähnliche Komposition
dar. Die Autoren verzichteten fast vollständig auf extrem schräge
Winkel und viel Dynamik in den Bildern, wählten dafür aber oft
Überperspektiven, Close-ups und portraitähnliche Stellungen.55
Das Fotoessay selbst transportierte Stalins Worte aus seiner
Rede an die Stachanow-Bewegung, dass der Aufbau des Kommunismus dem
gewöhnlichen Menschen sowohl zu geistiger Freiheit, als auch zu
materieller Prosperität verhelfen würde.56 Es gewährte Einblicke in
das Familien- und Arbeitsleben der Filipows, aber auch in ihrer
Freizeit und gewöhnlichen Beschäftigungen außerhalb des
Arbeitsplatzes. Alle Details deuteten auf eine moderne und hohe
Lebensqualität. Die Familienmitglieder wurden oft in Ausbildungs-und
Kultureinrichtungen oder beim Einkaufen abgelichtet und der Leser
wurde mit vielen Essens- und Ruheszenen konfrontiert, deren
Grundstimmung von einem entspannten Alltag zeugte. Die Autoren
zeigten die moderne Behausung der Familie und setzten das Bild des
neuen Wohnblocks in grafische Relation zu einer alten Mietkaserne,
in der die Filipows bis 1929 gewohnt haben durften.57 Um
Authentizität zu stiften, gaben sie auch die genaue Adresse des
neuen Apartments mit an. Aufnahmen vom Wohnungsinneren sollten den
Eindruck von geräumigen und modernen Lebensräumen bestätigen.
Gleichzeitig lieferte die AIZ als Beweis für den Regelcharakter
dieser Art von Unterkünften auch die Information, dass zu diesem
Zeitpunkt 56 000 Moskauer Arbeiterfamilien in derartigen Häusern
wohnten.58
55 Weil man durch diese Ästhetik stark an die bürgerliche Fotografie dervorrevolutionären Zeit erinnert fühlte, bildete das einer der Hauptpunkteüber die Kritik am Essay. Vgl. Tupitsyn, The Soviet Photograph, S. 91ff.56 Rede abgedruckt in: Josef Wissarionowitsch Stalin: Werke: Band 14,Februar 1934 - April 1945. 2. Aufl., Dortmund 1976. S. 42.57 Vgl. Abbildung 3.58 Vgl. Stumberger, Klassen-Bilder, S. 193.
18
Als Titelbild der deutschen Ausgabe wählte man ein Foto der
beiden Töchter der Familie posierend mit Tennisschlägern.59 Die
munter in die Kamera lächelnden jungen Frauen suggerieren ein Bild
von gesunder Lebensfreude und guter Lebensqualität. Sie übten eine
Sportart wie Tennis aus, welche in der kapitalistischen Welt für die
Arbeiterschichten nicht zugänglich war. Überhaupt zeichnete die
Serie ein im Einklang mit der Ideologie stehendes Bild der
emanzipierten Frau. Die jungen Töchter werden als Vertreterinnen der
Generation einer neuen, befreiten Weiblichkeit präsentiert.
Freizeitaktivitäten wie Tennisspielen oder ein scheinbar
ungezwungener Spaziergang mit jungen Männern60 schienen für die
jungen Frauen geradezu natürlich zu sein. Im Gegensatz zu ihnen
bildete man die Mutter in eine Art Übergangsrolle ab: Durch moderne
soziale Einrichtungen wie Kindergärten wurde ihr ermöglicht, eine
Schule für Analphabeten zu besuchen61, womit sie das Verpasste
nachholen und die Mutterschaft mit einer gesellschaftsrelevanten
Tätigkeit verbinden konnte. Allgemein spielte die Bildung eine sehr
wichtige Rolle für den Diskurs um Familie Filipow: Die Kinder wurden
bei Lesen und Schreiben abgebildet,62 der Vater Filipow beim Besuch
von Vorträgen und einige Male auch beim Zeitungslesen. Zusätzlich
wurde der deutsche Leser informiert, dass die Arbeiter der
Metallfabrik bei der Gestaltung ihrer Sprachorgane einbezogen
wurden, wodurch man den kreativen Geist der sowjetischen Arbeiter zu
verfestigen suchte.63 Das Familienoberhaupt diente in diesem Kontext
nicht nur als Exempel für den kultivierten Arbeiter, sondern erhielt
auch andere Aspekte des sozialistischen „Held der Arbeit“. Man
fotografierte ihn oft in Interaktion mit Maschinen, wobei die
Lichtästhetik bei manchen Schüssen eine Verschmelzung der
59 Vgl. Abbildung 4. 60 Vgl. Abbildung 5. 61 Vgl. Abbildung 6.62 Vgl. Abbildung 7.63 Vgl. Stumberger, Klassen-Bilder, S. 195.
19
menschlichen Konturen mit jenen der Maschine erlaubte und somit den
Eindruck einer harmonischen Symbiose erzeugte.64 Der Familienvater
wurde als ein moderner Mensch dargestellt, der nicht nur vertieft an
der neuen Technik arbeitet, sondern sie bei jeder Gelegenheit in
Anspruch nimmt. Ein kleines Foto zeigte ihn in der elektrischen
Tram, wieder eine Zeitung am Lesen.65 Dieses Bild sollte beim
ausländischen Publikum den Eindruck von einer technologisierten,
modernen Gesellschaft entstehen lassen, sondern auch dass die
Arbeiterklasse die dominierende Gesellschaftsschicht darstellte66.
Der Leser wurde zudem in die Arbeitsatmosphäre der neuen Fabrik
eingeführt. Die zwei Generationen Männer der Familie waren in der
Fabrik beschäftigt, ihre Stoßarbeiterausweise sowie Lohnabrechnung
mit genauen Angaben über die Höhe der Gehälter hat man dem
ausländischen Publikum auch zur Verfügung gestellt.67 Diese
Beglaubigungstrategien sollten nicht nur dazu dienen, die
Authentizität der Darstellung zu steigern, sondern auch die
Vorstellung zu festigen, dass es hierbei nicht um Ausnahmefälle
handelte. Die Fotoserie etablierte ein Gegenmodell zur
kapitalistischen Wirklichkeit, welches sich mit Vollbeschäftigung
und guter Lebensqualität auszeichnen sollte. Man versuchte, einen
deutlichen Kontrast zu den krisenhaften Folgen der
Weltwirtschaftskrise in Europa und Nordamerika herzustellen, auch
wenn es zu vermuten gilt, dass die gezeichneten Lebensumstände nicht
für die Mehrheit der sowjetischen Arbeiter zutrafen.68 Obwohl die
64 Vgl. Abbildung 8. 65 Vgl. Abbildung 9.66 Die Anzahl und Dichte der Mitfahrenden sowie ihre relativ ähnlichen äußerlichen Attributen stimulierten diese visuelle Wahrnehmung. 67 Vgl. Arbeiter Illustrierte Zeitung (AIZ), 1931, Vol. 38, S.752f.68 Vgl. Stumberger, Klassen-Bilder, S.119. Der Autor äußert die Vermutung,dass die gezeichnete Welt der Familie Filipow womöglich für manche Arbeiterin den größeren Städten zu Wirklichkeit werden konnte. Zugleicht verweister jedoch auf die sehr unterschiedliche Situation auf dem Land, vor allemvor dem Hintergrund der negativen Effekte von der Kollektivierung derLandwirtschaft.
20
allgemeine Resonanz in Deutschland recht positiv ausfiel, gab es
eine Reihe an Intellektuellen, die in die Sowjetunion reisten, und
von einem diametral unterschiedlichen Alltagsbild zeugten. Beate
Groß, die Lebensgefährtin des AIZ-Gründers Willi Münzenberg,
zeichnete in ihren Memoiren ein katastrophales Bild der
Wohnverhältnisse in Moskau zu diesem Zeitpunkt,69 so eben wie der
Journalist Hans Siemens, der das sowjetische Paradies als in erster
Linie als Produkt der (Bild-)Presse identifizierte.70 Die unterwartet
große Resonanz (wenn auch vorwiegend positive) zwang jedoch zu
Reaktion in der UdSSR, sodass das Sprachorgan des Zentralkomitees
der KPdSU, Pravda (Gerechtigkeit), einen anonymen Artikel über die
Wichtigkeit solcher Art von Fotoformate veröffentlichte. Eine
Selektion von 44 Aufnahmen wurde im Dezember 1931 in Proletarskoe Foto
(Das Proletarische Foto) nachgedruckt, sodass sich die Menschen in
der Sowjetunion auch ein Bild vom Alltag eines Großstadtarbeiters
machen konnten. Man ließ jedoch gut die Hälfte der Fotos weg, etwa
das Titelbild der beiden Töchter mit den Tennisschlägern, und fügte
andere Abbildungen von Belegen wie Kassenzettel, Anträgen usw.
hinzu, um die Glaubwürdigkeit der Fotoserie auch beim einheimischen
Publikum aufrechtzuerhalten.71
3.2. Der Neue Mensch im Zeichen von Industrialisierung und
Kollektivierung
In der Forschung der letzten Jahrzehnte wurde oft die These
von der Dominanz der Körperlichkeit in der frühsowjetischen und
69 Vgl. Erika Wolf: "As at the Filippovs": The Foreign Origins of the SovietNarrative Photographic Essay. In: Ribalta, Jorge (Hg.): The WorkerPhotography Movement [1926-1939]: Essays and documents. Madrid: MuseoNacional Centro de Arta Reina Sofia 2011, S.124f. 70 Vgl. Hans Siemens: Russland. Ja und Nein. Berlin 1931, S. 258ff. 71 Vgl. Peter Jahn (Hg.): Dokument und Konstrukt. Arkadij Schachet.Fotografie zwischen N.E.P. und dem Großen Vaterländischen Krieg. Berlin2001, S. 21.
21
stalinistischen Kultur ausarbeitet.72 Die Fortschrittsträume der
frühen Sowjetunion schlugen sich in den Vorstellungen von der
Formbarkeit des menschlichen Körpers nieder, wobei diese stets auch
an spirituelle Transformationen gekoppelt war.73 Die Idee von der
Beherrschbarkeit und Möglichkeiten zur Gestaltung und Erziehung des
Neuen Menschen erschienen in der Aufbauphase vielen besonders
attraktiv. Die bereits im Kapitel 2 erwähnten Projekte, seien sie
literarisch, (natur-)wissenschaftlich oder künstlerisch, schlossen
sich sehr oft an die Utopie von einer Mensch-Maschine-Verschmelzung
an. Vor dem Hintergrund einer forcierten Industrialisierung und des
Kults der neuen Technik intensivierte man Ende der 1920er Jahre
zusätzlich die Projekte zur Herstellung solcher Hybride.74 Man
träumte offen von einer Symbiose von gesundem und vitalem Körper,
psychischer Stärke, Enthusiasmus und Intelligenz. Dieser Idealtypus
des modernen „Helden der Arbeit“ rekurrierte in erster Linie auf die
Idee eines kultivierten und wissbegierigen Proletariers im Gesicht
der Stachanow-Bewegung.75 Diese Bilder implizierten jedoch sehr oft
eine gewisse Heteronormativität: die Idealvorstellung vom „Helden
der Arbeit“ zelebrierte eine vollkommene Maskulinität, geprägt durch
Jugendlichkeit, Stärke und äußerlicher Attraktivität.76 Auch wenn
diese manchmal Platz für die weiblichen Pendants machte, wie etwa in72 Siehe zum Beispiel: Toby Clark: The ‚New Man’s‘ Body: A Motif in EarlySoviet Culture. In: Brown, Matthew / Taylor, Brandon (Hg.): Art of theSoviets: Painting, Sculpture, and Architecture in a One-party State, 1917 –1922. Manchester 1993, S. 33 – 51; Petra Becker: Körperzeichen -Zeichenkörper: zu einer Physiologie der russischen und sowjetischen Kulturdes 20. Jahrhunderts. Bochum 2002, Conze, Susanne / Gaus, Gunda (Hg.):Körper macht Geschichte - Geschichte macht Körper: Körpergeschichte alsSozialgeschichte. Bielefeld 1999; Keith A. Livers: Constructing StalinistBody: Fictional Represenatations of Corporeality in the Stalinist 1930s.Lanham 2003 u.v.a.m.73 Vgl. Lilya Kaganovsky: How the Soviet Man was Unmade. Cultural Fantasyand Male Subjectivity under Stalin (-Pitt Series in Russian and EastEuropean Studies ed. By Jonathan Harries). Pittsburgh 2008, S.5.74 Vgl. Clark, The ‚New Man‘s’ Body, S. 36.75 Vgl. Victoria E. Bonnell: Iconography of power: Soviet political postersunder Lenin and Stalin. Berkeley 1997, S. 39.76 Bonnell: Iconography of power, S, 42.
22
Vera Muchinas monumentaler Plastik „Arbeiter und Kolchosbäuerin“,
blieb ihre dominante Prägung in vielen konstruktivistischen
Fotoprojekten der 1920er und 1930er Jahre spürbar.
Davon zeugen zum Beispiel viele Fotografien von Arkadij
Schajchet. Zahlreiche seiner Werke gehörten zum kulturellen
Bildgedächtnis77 der sowjetischen Bevölkerung und tragen bis heute
noch kanonischen Status.78 Dazu zählt auch sein Schnappschuss
„Komsomolze am Steuerrad einer Papiermühle“ aus dem Jahr 1929.79 Der
Fotograf hatte das Ziel, den Aufbau der neuen sowjetischen
Wirtschaft authentisch und gleichzeitig einprägsam dazustellen. Um
die Dynamik des Zeitalters bildlich festzuhalten, wählte er oft
extreme Unter- und Übersichten, wie im Falle des „Komsomolze am
Steuerrad einer Papiermühle“.80 Die Untersicht erzeugt die
Vorstellung einer überwältigenden Größe der Maschine. Der im
Vergleich zum Lenkrad kleiner wirkende Arbeiter wurde aber dadurch
wie auf einem Podest situiert, und wirkt somit erhaben und nahezu
unerreichbar. Sein athletischer Körper und konzentrierter
Gesichtsausdruck bestätigen die meisten Vorstellungen vom idealen
„Helden der Arbeit“ und hinterlassen den Eindruck einer
Beherrschbarkeit der Maschine. Die gewählte Position erlaubte eine
Vermischung der Linien und Konturen des menschlichen Körpers und
denen der Maschine, als wären sie ineinander verwachsen.
Diese Hybridisierung von Mensch und Maschine erfolgte auf der
Ebene des Fotografischen nicht nur durch die Positionierung der
Kamera, sondern auch mithilfe von Schattierungen. Diese Techniken
findet man oft zum Beispiel in Rodtschenkos Bilderserie vom Bau des
Weißmeer-Ostsee-Kanals. Zwischen 1931 und 1933 reiste der Fotograf77 Zum Konzept des kulturellen Gedächtnisses, siehe: Aleida Assmann: Derlange Schatten der Vergangenheit: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik.2. Aufl., Müchen 2006. 78 Vgl. Jahn, Dokument und Konstrukt, S. 13. Wichtig zu erwähnen ist jedoch,dass die bekanntesten Fotos Schajchets aus dem Zweiten Weltkrieg stammen. 79 Vgl. Abbildung 10. 80 Vgl. Jahn, Dokument und Konstrukt, S.25.
23
drei Mal zu der Baustelle und sammelte genug Material für eine
Sonderausgabe der „UdSSR im Bau“.81 Hierbei entwickelte er sein
Interesse an der Transformation der Menschen entlang der
Transformation der Natur weiter. Der Konstruktivist gab sich
fasziniert von der Beherrschung und Bezwingung der Naturgesetzte und
betrachtete die gigantischen Bauarbeiten, die das Leben von
Tausenden Strafgefangen kosteten, mit Begeisterung. Dieses Projekt
eines „erziehenden Vollzuges“ charakterisierte er als „Zivilisierung
der Natur“ und „Beseitigung der Überreste der Vergangenheit“82, wobei
es aus seinen Worten nicht klar wird, ob er damit die
infrastrukturelle Rückständigkeit des ehemaligen Zarenreiches oder
den geistigen Zustand der Gefangenen meinte. Beeindruckt von den
schnellen Schritten, mit denen das Projekt vorankam, inszenierte er
den kollektiven Enthusiasmus, welchen er selbst für das rasche
Arbeitstempo verantwortlich machte.83 Mit seinem Hang zur
Linearisierung und Organisierung der Architektur konzentrierte er
sich auf den Bau selbst, während seine Heroen zu einer bewegenden
Menschenmasse stilisiert wurden.84 Durch die Übersichten und die
weiten Perspektiven der Bilder sind weder Gesichter noch andere
Erkennungsmerkmale der Arbeiter ersichtlich. Rodtschenko
interessierte sich auch nicht für die Einzelschicksale, er war
fasziniert von der kollektiven Leistung und inszenierte seine Neuen
Menschen als Teile eines Ganzen, eines ungeheureres industrielles
System. Die einzelnen Arbeiter in diesem System erscheinen auch ohne
weiteres austauschbar, da keiner von ihnen durch individuelle
Zeichnung hervorstach.
81 Vgl. Gassner, Rodtschenko, S.104.82 Rodtschenko zitiert nach: ebd., S.10583 Rodtschenko: „Ein gigantischer Wille brachte hier am Kanal die Überresteder Vergangenheit zusammen. Und dieser Wille entfachte in den Menscheneinen Enthusiasmus, den ich in Moskau nicht gesehen hatte. Die Leutebrannten förmlich, opferten sich, beseitigte heroisch alleSchwierigkeiten“. Zitiert nach: Gassner, Rodtschenko, S.104. 84 Vgl. Abbildungen 11 und 12.
24
Neben den verklärenden und utopischen Elementen dieser Art von
Fotografie gab es auch realpolitische Faktoren zur Abbildung von
Industrialisierung- und Kollektivierungsaktionen, die sie bedingten.
Durch die Darstellung großer Industrie- und Infrastrukturprojekte
erhoffte man sich unter anderem, auch Arbeiter aus der
Landbevölkerung anzuwerben.85 In der Anfangsphase der Fünfjahrespläne
kam es zu Veränderungen der Sozialstruktur der Arbeiterschaft:
Allein im Jahr 1931 schlossen sich mehr als 4.1 Millionen Bauern der
industrielle Produktion an, während viele alte Arbeiter Arbeit als
technische Experten und Ähnliches fanden.86 Das Bild des sowjetischen
Arbeiters wurde unklarer im Vergleich zu der unmittelbaren
Postrevolutionszeit, weshalb man versuchte, durch neue bildliche
Darstellungen seine Konturen zu verdeutlichen. Diese
Wandlungsprozesse wurden von Fotografen wie Maks Alpert begleitet.
In der Bildserie „Der Riese und der Erbauer“ hielt Alpert die Reise
des jungen Bauern Wiktor Kalmikow und seine Arbeit am
Großinfrastrukturprojekt Magnitogorsk fest. Diese Fotoreportage
vereinte in sich einen organisatorischen, agitatorischen und
erzieherischen Moment.87 Einerseits informierte sie über das Erbauen
einer Industrie- und Arbeiterstadt jenseits Urals als ein großes
Projekt der Aufbauphase sowie als Ergebnis kollektiver Leistung.
Innerhalb der Serie finden sich Schüsse, die mit zum Beispiel
Rodtschenkos Fotos vom Weißmeer-Ostsee-Kanal überaus ähnlich
ausfielen.88 Andererseits enthielt dieses Werk den individuellen
Charakter Wiktor Kalmikow, der stellvertretend für den Neuen
Arbeiter stand. Durch seine Individualisierung statuierte man ein
Exempel für die Aufstiegsmöglichkeiten, die die neue sowjetische
Planwirtschaft lieferte. Der junge Bauer wurde unter anderem in der
85 Vgl. Stumberger, Klassen-Bilder, S.116.86 Vgl. Bonnell, Iconography of Power, S.37.87 Vgl. Stumberger, Klassen-Bilder, S.116.88 Vgl. Abbildung 13.
25
Abendschule für Analphabeten abgebildet,89 wodurch man auf die
zivilisatorische Mission des Kommunismus und die potenziellen
Chancen, die damit verbunden waren, hinwies. Gleichzeitig könnte
dieses Bild auch als ein Verweis auf das katastrophale Ausmaß an
unqualifizierten Arbeitskräften, die aus der Landwirtschaft kamen,
gelten: 43% der männlichen und mehr als 65% der weiblichen
Bevölkerung waren zu Anfang der 1930er Jahre als Analphabet
kategorisiert.90 Aus diesem Grund wies die Fotoserie ein zusätzlicher
Vorteil auf, dass die ikonographische Darstellung mit ihrer
Eindeutigkeit jedem unabhängig vom Bildungsstatus zugänglich war.
Neben der Integration der weit entfernten Provinzen in die
Systeme des zentralisierten Staates war die Einbeziehung der
bäuerlichen Bevölkerung auch ein besonders wichtiges Thema sowohl in
der Politik als auch der konstruktivistischen Fotografie am Vorabend
des ersten Fünfjahresplans. Die fortschreitende Kollektivierung des
Landes brachte fatale Folgen mit sich, die jedoch kaum Platz in der
fotografischen Darstellung fanden. Die enteigneten Kulaken
existierten praktisch kaum auf den Seiten der Illustrierten.91
Stattdessen zeichnete man das Bild einer wohlhabenden
Landbevölkerung, die sich erfolgreich an die Gesellschaftsprinzipien
des Kommunismus gewöhnte. Die Grundelemente der neuen Menschlichkeit
fanden sich an in diesen Bildern wieder: die kollektive Arbeit, aber
auch Bildung in Form von neuen Schulen und Medien sowie politische
Partizipation und Bewusstheit für die Geschehnisse waren einige der
zentralen Elemente der Darstellung. In der Fotografie Georgi
Petrussow bekam das Publikum Einblicke in ein idealisiertes
bäuerliches Leben. Besonders prominent war das Foto einer
Wanderbibliothek, die sich große Aufmerksamkeit seitens einiger
89 Vgl. Abbildung 14. 90 Daten aus Richard Lorenz: Sozialgeschichte der Sowjetunion 1. 1917-1945.3. Aufl., Frankfurt am Main 1981, S. 238. 91 Eins davon stammte von der Kamera von Arkadij Schajchet. Siehe Abbildung15.
26
Bäuerinnen erfreute.92 Der Fotograf bildete die technologisierten
Erntephase ab: die Traktorkonvois waren ein sehr verbreitetes
Motiv93, welches man auch bei anderen Fotografen wie zum Beispiel
Rodtschenko oder Ignatowitsch finden konnte. Als Zeichen der
gelungenen Integration und Übernahme der Idealen einer neuen,
bewussten Menschlichkeit zeugten die politischen Symbole im Bild:
die sowjetischen Sterne und die Fahne, die man mit auf die Arbeit
nahm. Diese glorifizierenden Bilder trugen zur Vorstellung eines
universalen Typus des Neuen Menschen bei, der für alle sozialen
Schichten anwendbar zu sein schien.
3.3. Sport und Körperlichkeit in den fotografischen
Darstellungen des Neuen Menschen
Neben den Bildern von marschierenden Arbeitern und Bauern
gehörten auch die Fotos von großen Sportparaden zu den wichtigsten
Inszenierungen von Massenveranstaltungen in der Sowjetunion. Der
sowjetische Sportler stellte eine entscheidende Variation des Neuen
Menschen dar, sodass er auch bei den konstruktivistischen
Fotografen der frühen Sowjetunion große Beachtung fand. Der vitale
Körper wurde als politisches Projekt angesehen, als die äußere
Erscheinungsform des gesunden Verstandes und der politischen
Aufgeklärtheit.94 Um seine Physis intakt zu halten, musste man sich
an bestimmte hygienische Vorstellungen halten und seinen Körper
durch Übungen „erziehen“. Die Beherrschung der eigenen Gestalt
gehörte zu den disziplinierenden und ordnungsschaffenden
Organisationsmechanismen der sowjetischen Gesellschaft. Der
stählerne Körper wurde in der Regel als das Erscheinungsbild der
Nerven aus Stahl gedeutet. In den erzieherischen Diskursen betonte
92 Vgl. Abbildung 16. 93 Vgl. Abbildung 17. 94 Vgl. Tricia Starks: Body Soviet: Propaganda, Hygiene, and theRevolutionary State. Madison 2008, S.5.
27
man stets die große Bedeutung von zum Beispiel gymnastischen
Übungen zur Steigerung der ökonomischen Effizienz von Arbeitskraft.
Alexei Gastew, einer der wichtigsten Theoretiker der Optimierung
von Arbeitsprozessen in der frühen Phase der Sowjetunion und
Gründer des Zentralinstituts für Arbeit (CIT), propagierte diese
These.95 Vor diesem Hintergrund sind die nackten Körper in den
Fotografien Boris Ignatowitsch‘ aus dem Moskauer Schwimmbad in
einem desexualistierten Kontext zu deuten: Der Autor produzierte
Bilder einer vollkommenen Männlichkeit und Vitalität, die jedoch in
seinen anderen Werken als perfekte Arbeiter und tüchtige Bauern
weiterentwickelt wurden.96 Ignatowitsch richtet sein Fokus im
erwähnten Bild auf eine Figur im Vordergrund, ohne jedoch die
anderen Männer im Hintergrund komplett auszublenden. Da man auf dem
Foto zum einen keine Gesichter erkennen kann, zum anderen alle
Männer eine ähnliche Statur haben, bekommt der Zuschauer ein
idealtypisches Bild sowjetischem Körperkults zu sehen, ohne sich
von der Vorstellung eines universalen (und durch Erziehung durchaus
erreichbaren) Leitbilds loszulösen.
Die ikonografische Darstellung von Sport und Körperlichkeit in
der konstruktivistischen Fotografie der 1920er und 1930er Jahre
enthielt die immanente Dichotomie zwischen Individuum und
Kollektiv. In den großen sportlichen Paraden bildete man die
programmatische Vorstellung vom Neuen Menschen ab. Unabhängig
davon, ob es sich um einzelne Gesichte oder ganze Menschenreihen
handelte, reproduzierte man automatisch die idealtypische
sowjetische Ordnung. Ein Vergleich zwischen Bildern von
95 So schrieb er zum Beispiel: „Der Körper muss erzogen werden wie einArbeitsinstrument. Jeder muss Gymnastik treiben. Das gibt dem KörperGewandtheit und Konstruktivistin, erzieht jeden Menschen und die gesamtePsyche zum höchsten Nutzeffekt.“ Zitiert nach: Gassner, RodtschenkoFotografien, S.43. Zu Gastews Ideen und Wirkung, siehe: Hellebust, Rolf:Aleksei Gastev and the Metallization of the Revolutionary Body. In: SlavicReview, 1997 Vol. 56 (3), S. 500 – 518. 96 Vgl. Abbildung 18 und Schönecker, Sowjetische Photographie S. 35 – 40.
28
unterschiedlichen Fotografen zeigt, dass die Menschenreihen
komplett unabhängig von Sportart, Geschlecht und zum Teil sogar
Alter sehr ähnlich aussehen. Zwischen Schajchets „Jungen Sportler
auf dem Weg zum Wettbewerb“ aus dem Jahr 1932 und Rodtschenkos
„Parade des Sportclubs Dinamo“, entstanden erst drei Jahre später,
sind weder in der Ästhetik noch in der Form große Unterschiede
auszumachen, obwohl die beiden Künstler verschiedene ästhetische
Richtungen und Ziele verfolgten.97 In den gegliederten Formationen
wirken die Sportler wie perfekt angepasste Teile eines Ganzen. Die
absolute Gleichheit erreicht durch Synchronie in den Bewegungen und
im Erscheinungsbild sollte stellvertretend für eine perfekt
funktionierende Ordnung stehen. Diese „Mechanisierung“ und
„disziplinierte Gleichschaltung der Bewegungen“ sollte auch zur
Optimierung der der Arbeitsprozesse und ihre Organisationsformen.98
Die Besetzung und Beherrschung der individuellen Freizeit erlaubte
ein zusätzliches Maß an Sozialdisziplinierung. Die Kultur- und
Erholungsparks wurden ebenfalls zu solchen Zwecken eingerichtet:
diese Orte sollten eine Alternative für die Gestaltung der Freizeit
anbieten und von als schädlich angesehen Aktivitäten, wie etwa
Alkoholkonsum oder Besuch in der Kirche, ablenken.99 Vor diesem
Hintergrund vereinte die Vorstellung vom Neuen Menschen als
Sportler auch eine zweite Dichotomie in sich: nämlich diese der
Opposition zwischen Beherrschtsein und selbst Beherrschen.
Einerseits stellte man die Förderung der eigenen Physis bzw. die
Teilnahme an großen sportlichen Paraden bildlich als eine
Manifestation der Befreiung von den Zwängen der Natur dar.
Andererseits aber wurde diese physische Optimierung automatisch für
politische Zwecke gedacht: das Regime erwartete von den körperlich
97 Vgl. Abbildung 19 und 20. 98 Vgl. Gassner, Rodtschenko Fotografien, S. 44.99 Vgl. Alison Rowley: Sport in the Service of the State. Images of PhysicalCulture and Soviet Woman, 1917 – 1941. In: The International Journal of theHistory of Sport, 2006, Vol. 23 (8), S. 1319f.
29
gesunden Arbeitern ein bessere Leistung und Abdeckung der Ausfälle
der anderen.100
4.Fazit
Das Bild des sowjetischen Neuen Menschen gehörte zu den größten
Projekte des fotografischen Konstruktivismus. Die Künstler
versuchten sowohl die Sehegewohnheiten ihres Publikums zu
revolutionieren, als auch das Image einer optimierten Menschlichkeit
in ihren Werken zu zeichnen. Maks Alpert, Boris Ignatowitsch, Georgi
Petrussow, Arkadij Schajchet, Solomon Tules und Aleksandr Rodschenko
waren einige der wichtigsten Vertreter der konstruktivistischen
Fotografie und beschäftigten sich in ihren Werken mit verschiedenen
Aspekten dieser Neuen Menschlichkeit, ohne sich den Zwängen der
politischen, wirtschaftlichen und sozio-kulturellen Entwicklungen
komplett entziehen zu können. Somit erschufen sie idealtypische
Bilder des Neuen sowjetischen Menschen, die nicht vom offiziellen
politischen Kurs abwichen.
Das Ziel dieser Arbeit war, die Elemente dieser Bilder zu
untersuchen und sie vor dem Kontext der zeitgenössischen
politischen, kulturellen, ästhetischen u.a. Diskursen zu
analysieren. In einem ersten Schritt wurden die Diskurse um den
Neuen Menschen in der Sowjetunion ausarbeitet, um eine theoretische
Grundlage zu schaffen und die Beispiele aus den Quellen besser
einordnen zu können. Im zweiten Schritt beschäftigte man sich mit
dem sowjetischen Konstruktivismus: die ästhetischen, personellen,
aber auch die politisch-sozialen und wirtschaftlichen
Rahmenbedingungen standen im Fokus und lieferten den zweiten
historisch-theoretischen Bezugsrahmen für die Quellenanalyse. Diese
wurde im Rahmen des vierten Kapitels abgehandelt, das wiederum in
drei Unterkapitel unterteilt wurde. Im ersten Unterkapitel machte
100 Vgl. Rowley, Sport, S. 1331.30
das Fotoessay „Die Filipows - 24 Stunden aus dem Leben einer
Moskauer Arbeiterfamilie“ das Gegenstand der Untersuchung aus.
Anhand dieser ursprünglich für ausländisches Publikum bestimmten
Quelle konnte man die wichtigsten Elemente des Neuen Menschen im
urbanen Kontext ausarbeiten. Im zweiten Kapitel ging es um die
Darstellung des Neuen sowjetischen Menschen im Zeichen der
Industrialisierung und Kollektivierung und im letzten setzte man
sich mit den idealtypischen Vorstellungen von Körperlichkeit und
Sport in Bezug auf den Neuen Menschen auseinander. Abschließend
lässt sich feststellen, dass der Neue sowjetische Mensch eine
Gesellschaftsutopie darstellt, welche primär in den Kontexten von
Arbeit und Sport anzusiedeln ist. Die konstruktivistischen
Fotografen zeichneten da Bild eines jungen, gesunden, kräftigen,
optimistisch-enthusiastischer, aber dennoch rationalen Neuen Mensch.
Trotz der augenscheinlichen Kohärenz dieser Figur bleiben einige
Dichotomien wie etwa das Verhältnis zwischen Individuum und
Kollektiv nicht ganz gelöst. Des Weiteren wären auch andere Aspekte,
wie etwa das Verhältnis von Weiblichkeit und dem Neuen Menschen
interessant zu verfolgen. Leider sprengen diese den vorgegebenen
Rahmen der Arbeit und könnten daher erst in einer weiteren
Auseinandersetzung behandelt werden.
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