Fallende Ost-Blöcke. Tetris oder Wie die Sowjetunion den Game Boy zum Superstar machte

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Transcript of Fallende Ost-Blöcke. Tetris oder Wie die Sowjetunion den Game Boy zum Superstar machte

57. JAHRGANG/HEFT 5/MAI 2007

Der Osten im Westen – Importe der Populärkultur

Birgit Menzel Ulrich Schmid

Der Osten im Westen Importe der Populärkultur

3

Dorothea Redepenning

Broadway cum Rachmaninov Komponisten aus Osteuropa in Hollywood

23

Horst-Jürgen Gerigk

Zwei Russen in Amerika Irving Berlin und Dimitri Tiomkin

43

Katharina Kucher Vom Flüchtlingslager in die Konzertsäle

Die Geschichte des Don Kosaken Chores

57 Helena Srubar Zauber aus dem Osten

Pan Tau erobert die deutschen Bildschirme

69 Ilja Karenovics Fallende Ost-Blöcke

Tetris oder Wie die Sowjetunion den Game Boy zum Superstar machte

83 Ulrich Schmid Interkulturelle Inkompetenz

Borat parodiert westliche Osteuropaklischees

95 Ellen Rutten Tanz um den roten Stern

Russendisko zwischen Ostalgie und SozArt

109 Mirja Lecke Exportschlager!

Die russische Mädchenband t.A.T.u.

125 Holger Gemba Ruslana

Interkulturelles Marketing aus den Karpaten

137 Adrian Wanner Ein Russe in New York

Gary Shteyngart und der Immigrant Chic

151 Maria Rubins In fremden Zungen

Milan Kunderas und Andreï Makines französische Prosa

169

OSTEUROPA, 5/2007: Abstracts

Andrea Meyer-Fraatz

Balkan-Beat, Eskimos und ein polnisches Sahnetörtchen Östliches in Emir Kusturicas Arizona Dream

189 Tom Jürgens Unser täglich Sibirien gib uns heute

Imaginäre Geographie als deutsche Popkultur

201 Andrej Rogačevskij Marks statt Marx

Osteuropa, der Supermarkt und das britische Gesundheitssystem

215 Andrea Huterer Wir armen Schlawiner

Klagelied eines slavischen Lehnworts

229 Karlheinz Kasper „Rom liegt irgendwo in Rußland. . .“

Russische Literatur in deutschen Übersetzungen 2006

235 Bücher und Zeitschriften

Reinhard Lauer: Aleksandr Puškin. Eine Biographie Ulrich Schmid 261

Bodo Zelinsky, Hg.: Der russische Roman Elisabeth Cheauré 262

Christoph Garstka: Das Herrscherlob in Russland. Kathe-rina II., Lenin und Stalin im russischen Gedicht

Andreas Guski

263

Lev Ozerov: Na rasstojanii duši. Ganz nah – nur eine Seele weit Ulrich Schmid 265

Benjamin Specht: Die Lyrik Bella Achmadulinas Karlheinz Kasper 266

Reinhard Ibler, Hg.: Der russische Gedichtzyklus Karlheinz Kasper 267

Vladimir B. Kataev: Igra v oskolki. – Alicja Wołodźko-Butkiewicz: Od pieriestrojki do laboratoriow netliteratury

Rolf-Dieter Kluge

269

Dostoevsky Studies. The Journal of the International Dostoevsky Society. Vol. IX

Frank Göbler

273

Matthias Schwartz: Die Erfindung des Kosmos. Zur sowjetischen Science Fiction und populärwissenschaftli-chen Publizistik

Karlheinz Kasper

274

Neil Stewart: „Glimmerings of Wit“: Laurence Sterne und die russische Literatur von 1790 bis 1840

Wolfgang Schriek

276

Dagmar Burkhart: Eine Geschichte der Ehre Norbert P. Franz 277

Christa Ebert: „Die Seele hat kein Geschlecht“ Elisabeth Cheauré 278

Manon de Courten: History, Sophia and the Russian Nation. A Reassessment of Vladimir Solov’ëv’s Views on History and his Social Commitment

Ulrich Herbeck

279

Novejšaja istorija otečestvennogo kino: 1986–2000, Bde. I–VII. Herausgegeben von Ljubov’ Arkus

Nele Saß

281

Abstracts 283

OSTEUROPA, 57. Jg., 5/2007, S. xxx-xxx

Ilja Karenovics•

Fallende Ost-Blöcke Tetris oder Wie die Sowjetunion den Game Boy zum Superstar machte

Wohl kein anderes Computerspiel kann es punkto Erfolg und Bekannt-heit mit Tetris aufnehmen. Weitaus weniger bekannt ist, daß das Kno-belspiel die Erfindung eines russischen – damals noch sowjetischen – Mathematikers aus dem Jahr des Regierungsantritts von Michail Gorba-čev ist. Seine Geschichte kann in mehrfacher Hinsicht als symbolisch für die Zeit der „Perestrojka“ gelten: Mit Tetris nimmt die „Russen-Popkultur“ im Westen ihren Anfang – aber auch der kommerzielle Welterfolg von Nintendos Handheld-Konsole Game Boy. Hinter den Kulissen dieser Ge-schichte spielte sich ein internationaler Wirtschaftskrimi ab, in dem Ak-teure und Institutionen der zusammenbrechenden Sowjetunion eine Hauptrolle spielen.

Am 27. Mai 1987 drang der 19jährige Deutsche Matthias Rust mit seiner Cessna, von MiG-23-Kampfjets eskortiert, in den sowjetischen Luftraum ein. Als er schließlich friedlich über dem Kreml seine Runden zog, brachte er zwar keine Türme zum Ein-sturz wie knapp anderthalb Jahrzehnte später die Unglücksmaschinen vom 11. Sep-tember in New York. Aber auch nach seinem Flug war bald „nichts mehr, wie es einmal war“. Denn Matthias Rust – so sieht er es jedenfalls selbst – trug nicht nur symbolisch zumindest ein wenig zum Fall des „Ostblocks“ bei, der schon bald besie-gelt sein sollte: Zwei Minister und über 2000 Offiziere konnte der Noch-Staatschef Michail Gorbačev dank des skandalösen Vorfalls entlassen.2 Bald darauf verzichtete in Moskau der 16jährige Schüler Vadim Gerasimov, ohne die Folgen zu überblicken, schriftlich auf alle Rechtsansprüche an Tetris. Er hatte das 1985 entstandene russische Computerspiel für das Betriebssystem des 1981 auf den Markt gekommenen „Personal Computer“ (PC) der Firma International Business Machines Corporation (IBM) mit Sitz in Armonk im US-amerikanischen Bundesstaat New York umgeschrieben. – Wenig später erschien eine US-Version von Tetris im Handel, in deren Hintergrund unter anderem ein trickfilm-animierter Matthias Rust beim Anflug auf den Roten Platz zu sehen war. 2005 ist Tetris 20 Jahre alt geworden – als weltweit bekanntestes und beliebtestes Com-puterspiel aller Zeiten. In der Praxis ist es in der Zwischenzeit keineswegs ausgestorben,

——— • Ilja Karenovics (1973), lic. phil., Assistent am Slavischen Seminar der Universität Basel. 2 „What happened next? Interview by Carl Wilkinson”,

<http://observer.guardian.co.uk/magazine/story/0,11913,819972,00.html>.

sondern nach wie vor auf allen Plattformen3 präsent, unter anderem als eines der ver-breitetsten Handy-Spiele. In der Datenwelt der Computerunterhaltung verhält es sich somit offenbar ähnlich wie in der Evolution der natürlichen Lebewesen: Koexistieren hier die ältesten Einzeller mit den komplexesten Organismen, haben dort Klassiker aus den Anfängen des Informationszeitalters – wie Tetris oder das noch ältere Spiel Pac-Man, das demnächst verfilmt (!) werden soll – neben den neuesten Trends – wie etwa der aktuell virulenten Internet-Parallelwelt „Second Life“4 – erfolgreich überlebt. Im einen wie im anderen Fall scheint es sich dabei um grundlegende, eben „genial einfa-che“ Erfindungen zu handeln, die in ihrer Art keiner grundsätzlichen Verbesserung mehr bedürfen. So ist es in der Tat schwer vorstellbar, daß es heute noch irgend jemanden geben sollte, der Tetris nicht – bewußt oder unbewußt – schon einmal begegnet wäre: jenem Bildschirmspiel, bei dem von oben herab nach dem Zufallsprinzip abwechselnd und in zunehmendem Tempo unterschiedlich geformte und verschiedenfarbige „Klötz-chen“ fallen, die es durch vorausschauendes Navigieren während ihres Falls so zu drehen und horizontal zu verschieben gilt, daß durch ihre Kombination am unteren Rand lückenfrei geschlossene Reihen entstehen. Gelingt dies, wird die betreffende Zeile gelöscht – das bringt Punkte; gelingt es nicht, türmen sich die Spielsteine zu einer Mauer mit Löchern aufeinander, bis wieder eine geschlossene Zeile gelöscht werden kann und das Ganze dadurch nach unten „absackt“ – oder bis der oberste Stein nicht mehr fallen kann, womit das Spiel zu Ende ist. Sehr viel weniger bekannt sind – auch in Rußland – der auf den ersten Blick überra-schende Ursprung und die verwickelte Erfolgsgeschichte des Spieleklassikers, die aber – nicht zuletzt auch im Internet – ausführlich dokumentiert ist.

Polyominos, Pentaminos, Tetraminos …

Im Jahr 1954 veröffentlichte der amerikanische Mathematiker Solomon W. Golomb in der Zeitschrift The American Mathematical Monthly einen Artikel, in dem er das Wort „Pentomino“ prägte. Pentominos sind eine Untergruppe der so genannten Poly-ominos5 (von griech. „poly“ = viel und „Domino“), die Golomb später durch eine Buchpublikation weltweit bekannt machte.6 Als Polyominos werden Flächen bezeich-net, die aus n zusammenhängenden Quadraten bestehen. Pentominos bestehen also aus fünf Quadraten gleicher Größe, die über jeweils eine oder mehrere Quadratseiten auf deren ganzen Länge miteinander verbunden sind. „Pentomino“ (gelegentlich – z. B. in Rußland – „Pentamino“) heißt auch ein Gedulds-spiel, dessen Spielsteine Pentominos sind.7 Es gibt 12 unterschiedliche Steine, deren Formen entstehen, wenn man sämtliche Kombinationsmöglichkeiten der fünf Quadra-——— 3 Im Internet z. B. unter <www.gamesff.com/classic/tetris.html>. 4 Vgl. die Titelgeschichte des Spiegel 8/2007: „Alles im Wunderland“ (17.2.2007, S. 150). 5 Salomon W. Golomb: “Checkerboards and Polyominoes”, in: The American Mathematical

Monthly, Vol. 61, No. 10, December, 1954. 6 Solomon W. Golomb: Polyominoes [1967], Revised edition, Princeton University Press,

1994 (russ. Ausgabe: Polimino, М.: Мир, 1975). 7 Maria Koth, Notburga Grosser: Das Pentomino-Buch. Köln 2004. – <www.mathematische-basteleien.de/pentominos.htm>.

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te ausschöpft (Rotations- und Reflexionssymmetrien werden nicht als eigene Steine gewertet, würden die spiegelsymmetrischen Varianten der Steine F, L, N, P, Y und Z berücksichtigt, erhöhte sich die Zahl auf 18). Zur Vereinfachung der Kommunikation wurden die Steine nach den Buchstaben benannt, denen sie nach ähneln: F, I, L, N, P, T, U, V, W, X, Y Z, wobei aufgrund der quadratischen Grundelemente natürlich stets nur rechte Winkel auftreten. Je nach ihrer geometrischen Form können die Steine durch Drehen (um 90º) und/oder Umdrehen bzw. Spiegeln auf acht (L, N, P, F, Y), vier (T, V, U, W, Z), zwei (I) oder eine (X) Art ausgerichtet werden. Das Ziel des Spiels besteht nun darin, mit allen 12 oder weniger (9) Steinen vorgege-bene Figuren zu legen: im einfachsten Fall rechteckige, geschlossene Flächen, deren Feldzahl entsprechend jener der 12 Steine (12 x 5 Quadrate) 60 beträgt: also 5 x 12, 6 x 10, 4 x 15 oder 3 x 20. In jedem Fall ist die Anzahl der möglichen Lösungen, deren Ermittlung eine eigene, sehr viel komplexere (computer-) mathematische Auf-gabe darstellt, ganz unterschiedlich (1010, 2339, 368 bzw. 2), in komplizierten Fällen sogar unbekannt;8 die erste Zahl, jene für das 6 x 10-Feld, wurde 1965 von John Flet-cher ermittelt.9 Andere Varianten sehen das Auslegen quadratischer Flächen (8 x 8, 7 x 7) mit vorgegebenen Lücken vor; und schließlich gibt es auch Flächen in der Form einzelner Pentamino-Steine, zu deren Lösung nur 9 Steine benötigt werden, oder gänzlich andere geometrische Figuren (Dreiecke, Sechsecke etc.). Es existieren darüber hinaus zahlreiche Varianten: mit dreidimensionalen Steinen („Pentakuben“), in ebener oder Turm- bzw. Boxenbauweise, für zwei oder mehr Spieler (die z. B. abwechselnd legen müssen), mit anderen Polyominos (etwa Hexaminos) etc. Die einfachste Form, die dasselbe Prinzip nutzt, ist das von dem britischen Psychologen Edward de Bono entwickelte „L-Spiel“, ein Brettspiel für zwei Spieler mit je einem L-förmigen Stein und einem einfachen Quadratstein.10 Seit den späten 1980er Jahren sind verschiedene Umsetzungen von Pentomino für den Computer entstanden (Pentix u. a.), die neueste davon 2006 unter dem Namen „Dwi-ce“ bzw. „Alexey’s Dwice“. Alexey (Aleksej) ist der Vorname des Dwice-Schöpfers Aleksej Leonidovič Pážitnov, jenes russischen Programmierers, dem ziemlich genau 20 Jahre (und etwa 25 Computerspiele bzw. -Varianten) zuvor mit der Erfindung des Tetramino-Computerspiels Tetris ein Welterfolg gelungen war.

Tetris

Pažitnov, 1956 als Sohn eines Theaterkritikers und einer Journalistin geboren, studier-te Mathematik und hatte nach seinem Studium als Dozent am Luftfahrtinstitut in Moskau gelehrt.11 Bald schon hatte er sich von der Mathematik aufs Programmieren verlegt. Mitte der 1980er Jahre arbeiteten Pažitnov und sein Freund Dmitrij Pav-lovskij als Programmierer im Moskauer Rechenzentrum der Russischen Akademie der Wissenschaften. Pažitnov forschte über Probleme der künstlichen Intelligenz und ——— 8 Gerard’s Universal Polyomino Solver, <www.xs4all.nl/~gp/PolyominoSolver/Polyomino.html>. 9 John G. Fletcher: A program to solve the pentomino problem by the recursive use of macros,

in: Communications of the ACM 8 (1965), S. 621ff. 10 <www.edwdebono.com/debono/lgame.htm>. 11 David Sheff: Nintendo – “Game Boy”. Ein japanisches Unternehmen erobert die Welt.

München 1993, S. 370ff.

der Spracherkennung. In diesem Zusammenhang beschäftigte er sich auch mit Ge-duldsspielen bzw. entwickelte „psychologische Spiele“, die er für den Computer um-setzte. Pavlovskij, der ebenfalls Computerspiele schrieb, wurde auf den 16jährigen Vadim Gerasimov aufmerksam, der gerade ein Programm zur Verzeichnisverschlüs-selung für Microsofts PC-Betriebssystem MS-DOS schrieb. Der computertechnisch begabte Schüler war über seinen Informatiklehrer an das Rechenzentrum gelangt, wo er auf dem PC schnell programmieren lernte.12 Er schrieb einige von Pavlovskijs Spie-len, deren Quellcode er erhielt, für den PC um und wurde so bald auch mit Pažitnov bekannt. Die drei beschlossen, gemeinsam Computerspiele zu entwickeln – Gerasi-mov war als Programmierer für die Übersetzung der Spiele in die PC-Welt zuständig, aber auch für die Graphik. Der Plan war, mit Hilfe eines eigens ausgearbeiteten Entwicklungssystems auf der Grundlage der von „echten Programmierern“ damals geschmähten Programmierspra-che (Turbo-) Pascal13 bereits bestehende Spiele für den PC zu konvertieren, neue hinzu zu erfinden und so ein gutes Dutzend PC-Spiele zu entwickeln. Dies gelang – inklusive Farbe und Ton – auch innerhalb einiger Monate; das ganze Set bezeichneten die Moskauer Informatiker als „Computer-Jahrmarkt“. Die beiden älteren Program-mierer beabsichtigten, die Spiele nach Möglichkeit sogar zu verkaufen. Dies war insofern ungewöhnlich, als es damals in der Sowjetunion bis kurz vor dem Ende des Systems kein Recht an geistigem Eigentum gab – alle Produkte der Programmierer waren Eigentum des Rechenzentrums der Akademie der Wissenschaften. Private Verkäufe waren ohnehin äußerst unüblich, aber immerhin hatte Pažitnov bereits frü-her ein paar seiner psychologischen Spiele verkauft. Das Spiel Anix (= „Antixonix“, eine von der Moskauer Gruppe programmierte Neuauflage von „Xonix“) etwa wurde im Rechenzentrum der Akademie und bald auch außerhalb zu einem großen Erfolg. Noch konnte freilich niemand ahnen, was noch kommen würde. Als Mathematiker hatte Pažitnov von Golombs Pentomino-Rätseln gelesen. Er kaufte ein solches Spiel und erkannte sofort, welche Herausforderung an schnelles Denken und rasche Reaktion es sein würde, diese komplizierte Aufgabe im Spiel virtuell zu lösen. Pažitnovs ursprünglicher Plan, ein Pentomino-Spiel für den Computer zu ent-wickeln, war zunächst an der unzureichenden Rechenleistung des verwendeten sowje-tischen Computermodells Elektronika-60 (DVK-2M) gescheitert, das es nicht schaff-te, die Pentominos virtuell in der richtigen Weise zu drehen. Die Spielsteine mußten daher mathematisch um ein Quadrat erleichtert und zu Tetraminos degradiert werden. Pažitnov hatte bereits ein Spiel, in dem unterschiedlich geformte Tetraminos mit Hilfe der Cursor-Pfeile auf dem Bildschirm verschoben werden konnten. Nun wollte er ein erfolgversprechendes Spiel entwickeln, in dem die Tetramino-Spielsteine zufallsgene-riert und mit zunehmender Geschwindigkeit von oben herab in ein rechtwinkliges „Glas“ fielen und sich am Boden aufstapelten: Das Ergebnis war Tetris, man schrieb das Frühjahr 1985. Die Tetraminos hatten gegenüber Pentominos den Vorteil, daß hier nur sieben For-men möglich sind (I, J, L, O, S, T, Z) – und sieben ist einer gängigen psychologischen Theorie zufolge die Zahl, die sich das menschliche Gehirn gerade noch mühelos mer-——— 12 Vadim Gerasimov: Tetris Story, – <http://vadim.oversigma.com/Tetris.htm>. 13 Siehe das Pamphlet „Real Programmers Don’t Use Pascal“ aus dem Jahr 1983, auf das Gera-

simov verweist, – <www.pbm.com/~lindahl/real.programmers.html>.

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ken kann:14 etwa siebenstellige Telefonnummern; der Spieler merkt sich die verschie-denen Tetris-Spielsteine also relativ leicht und erkennt sie dann im Fallen auf Anhieb. Der Name – auch er ein Einfall Pažitnovs – sollte offenbar eine Kombination von „Tetramino“ und „Tennis“ suggerieren, wie Gerasimov berichtet, dem die Bezeich-nung für das russische Ohr wenig geeignet erschien, aber Pažitnov bestand darauf. Die erste Version des Spiels für Elektronika-60 war schwarzweiß: Die Spielsteine wur-den nur in ihren Umrissen durch Striche angedeutet. Gerasimov portierte das Spiel in zweiwöchiger Arbeit mit seinem Entwicklungssystem auf den PC. Nun erschienen die Spielsteine flächig und in Farbe. Was noch fehlte, war eine Punktestandtafel. Noch während einiger Jahre wurde Tetris in der Folge von Gerasimov und Pažitnov mit neuen Features ausgestattet, auch eine Version für zwei Spieler entstand: die Spielsteine des zweiten Spielers „fallen“ hier von unten, beide treffen sich in der Mitte. Da befand sich Tetris allerdings längst außerhalb ihres alleinigen Verfügungsbereichs.

Internationaler Rechte-Poker

Die Spielesammlung ließ sich nicht verkaufen, wie es sich die Moskauer Tüftler er-hofft hatten. Daher wurden die Spiele zunächst auf Disketten an Freunde verschenkt, und zumindest Tetris, dessen Suchtpotential rasch zutage trat, verbreitete sich wieder-um sehr schnell – „wie ein Steppenbrand“, so Pažitnov.15 Noch im selben Jahr 1985 gewann das Spiel den zweiten Preis bei einem Wettbewerb für Computerspiele in Zelenodol’sk. Pažitnov, der längst an anderen Spielen arbeitete, erkundigte sich bei seinem Vorgesetzten gelegentlich, ob sich das Spiel nicht im Ausland vermarkten ließe und wurde darauf hingewiesen, daß Privatgeschäfte im Kommunismus nicht vorgesehen seien. Der Leiter der Gruppe schickte aber dennoch eine Kopie von Tetris an das Budapester Institut für Computer-Wissenschaft (SZKI). Während das Spiel von den ungarischen Programmierern auf verschiedene Plattformen wie Apple und Com-modore übertragen wurde, zeigte sich die britische Software-Firma Andromeda, deren in Ungarn geborener und 1956 geflohener Chef Robert Stein gerade zu Besuch in Budapest war, an den Rechten der PC-Version von Tetris interessiert; sie beabsichtig-te, Pažitnov die Rechte abzukaufen. Pažitnov beschloß nun, alle anderen Spiele auf-zugeben, und nur noch an Tetris festzuhalten; aufgrund dieser folgenschweren Ent-scheidung kam es zum Zerwürfnis mit Pavlovskij und die Gruppe löste sich auf. Das Geschäft mit Pažitnov, der in gebrochenem Englisch via Telex selbst mit Stein zu verhandeln begann, weil es an der Akademie niemanden gab, der unmittelbar dafür zuständig war, kam dann allerdings nicht zustande: Nach längerem Gefeilsche mit den geschäftlich und verhandlungstechnisch mangels Erfahrung hoffnungslos über-forderten Russen – die Sache war immerhin bis zur Lizenzabteilung der Akademie der Wissenschaften („Licenznauka“) gediehen – und diversen Mißverständnissen gab Stein entnervt auf. Später bereute er, überhaupt verhandelt und das Spiel nicht gleich etwa als Produkt der Ungarn ausgegeben zu haben – in der damaligen politischen und

——— 14 Sheff, Nintendo [Fn. 11], S. 373f. 15 Ebd., S. 375.

rechtlichen Situation wären die Russen machtlos gewesen. Nun beschloß er, das Spiel ohne Lizenz herauszubringen. 16 Steins Firma Andromeda hatte die Rechte – mit Ausnahme jener für Spielhallenauto-maten und Taschenversionen – in der Zwischenzeit allerdings schon etwas übereilt Mirrorsoft (die Softwarefirma von Maxwell Communications) und ihrer amerikani-schen Schwesterfirma Spectrum HoloByte angeboten. Nun ergriff Spectrum HoloByte die Chance und brachte das Spiel ohne Vertrag 1986 in den USA für den PC von IBM heraus – Tetris entwickelte sich schnell zum Verkaufsschlager und bestätigte die in es gesetzten Hoffnungen vollauf. 1987 bestand die Firma Andromeda auf ihren Rechten an dem Spiel für den PC und kompatible Heimcomputer; sie versuchte diese Rechte erneut in Moskau zu erstehen. Mit Spectrum Holobyte – die Amerikaner wußten nichts von den Hintergründen – wurde nun ein Vertrag geschlossen, in dem Stein versicherte, der Inhaber sämtlicher Rechte zu sein, obwohl er noch immer keine Vereinbarung mit Moskau abgeschlos-sen hatte. Die Sache flog in einem TV-Interview mit dem amerikanischen Sender CBS über das „erste Videospiel von jenseits des Eisernen Vorhangs“ auf, in dem Stein zugab, daß Pažitnov der Autor war. Dieser hatte im Zusammenhang mit einem seiner neuen Spiele inzwischen Kontakt mit einer in Zwischenzeit entstandenen sowjetischen Organisation namens Ėlektro-norgtechnika (Ėlorg), deren Zweck im Import und Export von Hard- und Software bestand und die sich nun auch für Tetris für zuständig erklärte. Pažitnov wurde vor-geworfen, mißverständlich und schlecht verhandelt zu haben. Ėlorg erklärte alle bis-herigen Gespräche für nichtig und übernahm die Verhandlungen mit Stein. Nach monatelangem Hin und Her einigte man sich 1988 und Steins Andromeda bekam die Rechte „für verschiedene Computertypen“. Stein informierte die Amerikaner, daß in ihrem Vertrag nicht die Rechte für Münzspiel- und Taschengeräte enthalten seien. Tetris war 1988 das bestverkaufte Spiel in Großbritannien und in den USA und ge-wann diverse Preise. Mittlerweile beanspruchten bereits mehrere Firmen die Rechte für diverse Computersysteme, Spielkonsolen und elektronische Spielzeuge für sich. Zum Teil hatte auch diese Rechte wieder Stein voreilig angeboten und wollte sie nun hektisch von den Russen einfordern, die verärgert waren, weil sie auch nach sechs Monaten noch kein Geld gesehen hatten. Spectrum Holobyte und Mirrorsoft versuch-ten, ihre Rechte – die aufgrund des ursprünglichen Vertrags vermeintlich auch die Münzautomatenversionen umfaßten – gewinnbringend weiter zu veräußern, und zwar jede der beiden Firmen, die beide zu Maxwell gehörten, unabhängig voneinander: Der Spiele-Designer Henk Rogers wollte diverse Tetris-Rechte für Japan kaufen, die Spectrum Holobyte bei Stein erworben zu haben glaubte, der allerdings gar nicht vollumfänglich darüber verfügte. Parallel dazu hatte Mirrorsoft Rechte an Tengen, eine Atari-Tochter für Konsolenspiele, verkauft, die unter dem Namen TETЯIS eine Version für Nintendos Videospielsystem Nintendo Entertainment System (NES) auf den Markt brachte. Es kam zum Streit, der Schlamassel war perfekt. Im Poker um die Rechte für Münz-spielautomaten und Handgeräte trafen die Unterhändler unabgesprochen in Moskau

——— 16 Ebd., S. 380f.

Fallende Ost-Blöcke 7

aufeinander.17 Hier erst erfuhr auch Rogers, daß die Russen nie die Rechte für Video- und Münzspielautomaten, sondern lediglich für PCs verkauft hatten. Rogers brachte Nintendo als potenten Konkurrenten für Andromeda und Mirrorsoft ins Spiel und half den mittlerweile sehr verhandlungsgewandten Russen, Steins Ansprüche zu begren-zen, der nun immerhin die Münzautomaten-Rechte bekam. An den ganzen langwierigen Verhandlungen nahm Pažitnov auf Seiten der Ėlorg teil, er befreundete sich in dieser Zeit persönlich mit Henk Rogers. Finanziell hatte er nichts von dem Geschäft, denn er hatte – so sah man es in Moskau – im Dienste des Staates erfunden. Nintendo bekam schließlich über Rogers die Rechte für die Video- und die Handgeräte-Version: Von der konkurrierenden Tengen-Version konnten nur 50 000 Exemplare verkauft werden, bevor das Spiel zurückgezogen werden mußte, denn in einem bis 1993 dauernden Rechtsstreit sicherte sich Nintendo die alleinigen Rechte für das NES und seine Spielkonsole Famicom.

Psychologie und Mathematik

Nintendo18 hatte nach der epochemachenden Entwicklung der Handheld-Konsole Game Boy dringend nach einem Spiel wie Tetris gesucht. Das eben erst erfundene Gerät und das neu erworbene Spiel schienen ideal zu einander zu passen. Und in der Tat, die Symbiose von Spielkonsole und Software fiel zum größten beiderseitigen Nutzen aus: Auf dem Game Boy, der so groß war wie ein Walkman, trat Tetris end-gültig seinen vielmillionenfachen Siegeszug an – und Tetris wiederum machte das Gerät zum Kultobjekt vom Kinderzimmer bis ins Managerbüro, selbst der amerikani-sche Präsident George Bush sen. wurde bald Game-Boy-spielend im Krankenzimmer gezeigt. Von Japan ausgehend wurde die ganze Welt seit 1989 binnen kürzester Zeit „tetrisiert“. Tetris existiert bis heute in unzähligen Varianten19 für alle nur erdenklichen Plattfor-men, bis hin zu Handys, PDAs und graphischen Taschenrechnern. In den meisten Versionen kann der Spieler durch einen Tastendruck den endgültigen Fall eines be-reits richtig positionierten Fragments herbeiführen. Schnell sprachen sich Theorien herum, die wohl nicht zuletzt elterlichen Vorbehalten gegen Videospiele entgegenwirken sollten: Tetris fördere die Intelligenz und verbes-sere das Fahrverhalten. Tatsächlich hatte bereits Pažitnovs Moskauer Freund Vladimir Pochilko Tetris als erster klinischer Psychologe für psychologische Experimente eingesetzt. In seinem Institut mußte er allerdings alle Kopien von Tetris vernichten, nachdem dort keiner mehr gearbeitet hatte, was den Suchteffekt des Spiels – sein Erfinder Pažitnov verglich ihn mit der musikalischen Wirkung eines „Ohrwurms“ – eindrucksvoll illustriert: ——— 17 Sheff beschreibt die überaus verwickelte Geschichte ausführlich. Sheff, Nintendo [Fn. 11],

S. 387ff. – Siehe auch die BBC-Dokumentation von 2003/2004 unter <www.arcor.de/vod/bbc/vod_1_2.jsp?rubrik=05&vid=16570>.

18 Zur Erfolgsgeschichte des Unternehmens vgl. Sheff, Nintendo [Fn. 11], passim. 19 Ausführlich siehe z. B. den Artikel „Tetris“ in der englischen Version der Online-

Enzyklopädie Wikipedia: <http://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Tetris&oldid= 116289965> sowie „List of Tetris Variants“: <http://en.wikipedia.org/w/index.php?title= List_of_Tetris_variants&oldid=116006869>.

Der Hauptteil ist der visuelle Durchblick. Man trifft eine Sehentscheidung, und es geschieht fast augenblicklich. Durchblick bedeutet Emotion: kleine, aber viele davon, alle zwei, drei Sekunden. Der zweite Mechanismus ist die unfertige Handlung. In Tetris gibt es viele unfertige Handlungen, [die] einen zwingen, weiterzumachen, und die einen sehr süchtig machen. Das dritte ist die Automatisierung: Nach ein paar Stunden wird die Tätigkeit automatisch, sie wird zur Gewohnheit, zum Antrieb, sie zu wiederholen.20

Pažitnovs Ohrwurm-Vergleich hat sich im Visuellen übrigens exakt bestätigt: Als „Tetris-Effekt“ wird die Wirkung von ausreichend lang und aufmerksam durchgeführ-ten visuellen Aktivitäten (wie z. B. das Spielen von Tetris oder vergleichbaren Spie-len, aber auch etwa das Sortieren von Zellen am Mikroskop) bezeichnet, die dazu führen, daß der Betroffene diese Aktivität danach unwillkürlich im Wachen oder Schlafen (Traum) fortsetzt: Im Falle von Tetris kombiniert er Tetris-artig Objekte, die ihm im Alltag begegnen – wie dies Homer Simpson in einer Folge der US-Zeichentrickserie Die Simpsons demonstriert, der Möbelstücke, aber auch seine zu-rechtgebogene Familie als Tetris-Spielsteine ins Auto packt –,21 oder er sieht die Spielsteine am Rand seines Sichtfelds bzw. bei geschlossenen Augen weiterhin fallen. Dies ist sogar bei Menschen der Fall, die sich aufgrund einer anterograden Amnesie gar nicht mehr daran erinnern, Tetris gespielt zu haben, weshalb der Effekt als eigene Gedächtnisform postuliert wurde, die mit dem prozeduralen oder Verhaltensgedächt-nis zusammenhängt.22 Richard Haier vom Irvine’s Department of Psychiatry and Human Behavior in Kali-fornien untersuchte 1991 die enorme Lernkurve, die Tetris-Spieler durchlaufen und fand heraus, daß das Gehirn beim Spiel auf fortgeschrittenen (schnelleren) Levels weniger Energie benötigt: Nach achtwöchtigem täglichem Training versiebenfacht sich die Spielleistung, während gleichzeitig die zerebrale Glukose-Metabolismus-Rate wieder auf Normalniveau sinkt, was eine erhöhte Effizienz der Hirnleistung für diese Aufgabe anzeigt.23 Auch die Mathematiker-Kollegen von Pažitnov haben sich des Spiels, das ihrem Fach entstammt, selbstverständlich angenommen und etwa in Dissertationen erforscht, ob man Tetris unendlich spielen kann. Die Antwort lautet: Nein.24 Normalerweise verliert ein Spieler, wenn seine Reaktionsgeschwindigkeit oder die der Tastentechnik dem zunehmenden Tempo des Spiels nicht mehr gewachsen ist. Aber selbst unter theore-——— 20 Jeffrey Goldsmith: This Is Your Brain on Tetris. Did Alexey Pajitnov invent a pharma-

tronic?“ [may 1994], – <www.wired.com/wired/archive/2.05/tetris.html?pg=2&topic=>. 21 The Simpsons tetris, <www.youtube.com/watch?v=EVR91_iNMTk>. 22 R. Stickgold, et al.: Replaying the game: Hypnagogic images in normals and amnesics, in:

Science 290 (2000), S. 350ff., <www.sciencemag.org/cgi/content/abstract/290/5490/350>. 23 Goldsmith, This Is Your Brain [Fn. 20]. – R. Haier et al.: Regional glucose metabolic changes

after learning a complex visuospatial/motor task: a positron emission tomographic study. Department of Psychiatry and Human Behavior, University of California, Irvine, Irvine, CA (U.S.A.), 1991, <www.ucihs.uci.edu/pediatrics/faculty/neurology/haier/pdf/50.pdf>.

24 John Bruzustowski: Can You Win at Tetris? [1988], <www.iam.ubc.ca/theses/Brzustowski/brzustowski.html>. – Heidi Burgiel: How to Lose at Tetris, <www.geom.uiuc.edu/java/tetris/tetris.ps>. – Vgl. auch Erik D. Demaine, Susan Hohenberger, David Liben-Nowell: Tetris is Hard, Even to Approximate, <http://arxiv.org/abs/cs.CC/0210020>.

Fallende Ost-Blöcke 9

tisch idealen Bedingungen würde er irgendwann verlieren, da die letztlich immer zu große Anzahl S- und Z-förmiger Spielsteine ihn irgendwann zwänge, in einer der unteren Ecken Lücken zu lassen.

„From Moscow with Love“

Pažitnovs Kollege Pavlovskij emigrierte 1990 nach Großbritannien. Pažitnov selbst konnte, während die Sowjetunion zerfiel, über diverse Joint-Ventures bescheidene Einkünfte und Vorschüsse für seine Spiele erzielen. 1991 zog er wie sein Freund Pochilko in die USA, wo er bis 2005 für Microsoft tätig war und bis heute lebt. Als 1996 die ehemals sowjetischen Rechte verfielen, gründete er mit Henk Rogers die Tetris Company mit Sitz auf Hawaii25. Da in den USA keine geistigen Eigentums-, sondern höchstens Patentrechte auf Spiele angemeldet werden können, sicherte sich die Firma nach aufsehenerregenden, aber erfolglosen Versuchen, Tetris-Spiele-Hersteller abzumahnen, wenigstens die Namensrechte an der Bezeichnung Tetris. So existieren heute „Klone“ des Spiels unter ganz anderen Namen und solche, die lizen-ziert den Namen Tetris führen. Pažitnov hat an Tetris nie wirklich verdient, jedenfalls keine Summen, die auch nur annähernd in irgendeinem Verhältnis zu Popularität und Absatz gestanden hätten. Sein neuestes Spiel ist das bereits erwähnte Pentomino-Spiel Dwice. Dem jungen „Hacker“ Vadim Gerasimov – er arbeitete später am MIT in den USA und lebt heute als Wissenschaftler in Australien – war in der Zeit der Moskauer Ver-handlungen von Pažitnov ein Papier vorgelegt worden, in dem festgehalten wurde, daß sein Beitrag lediglich im Übertragen des Spiels auf den PC bestanden habe und er auf alle Rechte an Tetris verzichte sowie die Verhandlungen gänzlich Pažitnov über-lasse. Dieser hatte ihm gegenüber vom großen Geld gesprochen, das freilich auch Gerasimov nie sehen sollte – vielmehr verschwand sein Name bald aus dem Spiel. Bitter resümiert er:

Tetris ist nicht nur eines der besten Beispiele für ein Computerspiel, sondern auch eines der schlechtesten Beispiele für ein Geschäftsspiel, in das Akteure aus verschiedenen Ländern und Gesellschaften verstrickt sind.26

Vor allem aber markiert Tetris den Beginn einer eigentümlichen „Russen-Popkultur“ zur Zeit der „Gorbi-Mania“ im sogenannten „Westen“ um die Mitte der 1980er Jahre, deren bislang letztes Produkt der Cohen-Film Borat ist.27 Die erste, von Spectrum Holobyte im Westen vermarktete Tetris-Version wurde in Anspielung an den Bond-Filmtitel als „Liebesgrüße aus Moskau“ beworben und in roter Verpackung verkauft. Der kyrillische Schriftzug TETPIC darauf war mit Hammer und Sichel im letzten Buchstaben C gestaltet, darunter war die Basiliuskathedrale zu sehen. [hier Abbil-dung xxx– Red.] In den Spielhintergrund hatten die Programmierer Kriegsszenen montiert – und natürlich Matthias Rust beim Landeanflug auf den Roten Platz. Der weltberühmte „Kremlflieger“ galt dem ZK der KPdSU freilich als Terrorist (und als

——— 25 < www.tetris.com>. 26 Gerasimov, Tetris Story [Fn. 12]. 27 Siehe dazu den Beitrag von Ulrich Schmid in diesem Heft, S. xxx–xxx.

Blamage), weshalb die Ėlorg-Verantwortlichen für diese Aufmachung wenig Humor übrig hatten, als sie in einer britischen Computerzeitschrift davon lasen. Man übte Druck auf Robert Stein von Andromeda aus, der in den USA eine Entfernung Rusts aus dem Spiel zu bewirken versuchte. Pažitnov hingegen amüsierte sich durchaus, er störte sich nur an den Schlachtenszenen – dem Zeitgeist entsprechend sah er sein Spiel als friedliche Brücke zwischen Ost und West.28 Andere Versionen modifizierten verschiedene Buchstaben im Namen des Spiels „ky-rillisierend“, was an den Schriftzug der US-Ladenkette Toys "Я" Us erinnerte (der allerdings ein von Kinderhand verdrehtes R suggerieren soll). Auf dem Game Boy war das Spiel in der zweiten Version (1.1) unter anderem von einer Musik (wählbar als „Music A“) untermalt, die seinen Erfolg zweifelsohne unterstützte und dadurch ihrerseits endgültig weltberühmt wurde. Es handelt sich um eine verpoppte Version29 des mittlerweile tatsächlich als Tetris-Lied oder Tetris-Theme bekannteren russischen Lieds Korobejniki (Die Hausierer). Das eingängige Lied im Volkston wird acceleran-do zum Text eines Gedichts des Dichters Nikolaj A. Nekrassov (1821–1878) gesun-gen, das 1861 in der vom russischen Nationaldichter Puškin begründeten Zeitschrift Sovremennik (Der Zeitgenosse) abgedruckt worden war: „Hej, randvoll ist mein Bauchladen [. . .]“. In Rußland hat es den Bekanntheitsgrad eines Volkslieds – im Rest der Welt ist es mittlerweile Teil der Popkultur; auch Borat dient es als ein Leit-motiv für die Hauptfigur. Die Funktion, Klischees über Rußland in den Westen zu transportieren, hatte das Lied indessen bereits in den 1930er Jahren, als es in der bün-dischen Jugend zur Verherrlichung des Kosakenlebens gesungen wurde.30 In Ninten-dos aktueller Spielversion Tetris DS erscheint das Thema auf dem Level 20 wieder. Ähnlich ist die Musik auch bei anderen der ersten – und zahlreichen aktuellen – Tetris-Varianten gehalten: „Music A“ in der Version für Nintendos NES war der „Tanz der Zuckerfee“31 aus Čajkovskijs Balletmusik „Nußknacker“, und als „Music B“ in der Tengen-Version erklang „Kalinka“, das 1860 von A. I. Larionov kompo-nierte weltweit wohl bekannteste russische Lied – Inbegriff populärer Vorstellungen von russischer Folklore in der ganzen Welt.32 Tetris, das Computerspiel, das aus dem Osten kam, als zwischen Ost und West plötzlich alles möglich schien, wirkt wie die Widerlegung eines bekannten Witzes aus der End-zeit der Sowjetunion: „Wir haben die größten Traktoren, die größten Panzer und die größten Mikrochips“. Eine sowjetische Erfindung eroberte die Welt, die auf einer für genuin „westlich“ gehaltenen Technik beruhte – und das solchermaßen beglückte Pub-likum bekam kaum etwas von der ersten und letzten Lektion in angewandtem Kapita-lismus mit, die der auf Profit bedachten Sowjetmacht gleichzeitig hinter den Kulissen zuteil wurde: Der von der Gruppe Scorpions besungene „Wind of Change“ hob die jahrzehntelang festgemauerten Gegensätze für einen Augenblick lang auf – im „Spiel“, fast so, wie es Friedrich Schiller beschrieben hat.

——— 28 Sheff, Nintendo [Fn. 11]S. 385. 29 Zu hören z. B. auf <www.tetris.com>. 30 <www.kaikracht.de/balalaika/songs/koro_txt.htm>. 31 Szene 14c aus dem 2. Akt / 3. Bild: Variation II des „Pas de deux“. 32 Ganz anders hingegen „Music C“ der Game-Boy-Version: das Menuett aus J. S. Bachs

Französischer Suite Nr. 3 h-moll (BWV 814).

Fallende Ost-Blöcke 11

Bis heute ist er als Erinnerung an jene Zeit ungebrochen erfolgreich: der Mauerbau für jedermann, bei dem der gewinnt, der durch perfekt geschlossene Reihen am längs-ten keine Mauern entstehen läßt – im Grunde nichts anderes als eine konstantes Trai-ning in Perestrojka („Umbau“) bis zum „Game over“. Der Vorteil am Spiel ist, daß man, auch nach 20 Jahren, immer wieder von vorn beginnen kann, wenn etwas schief läuft. Und das tut es – die Mathematiker und die Politiker beweisen es uns – früher oder später immer.