Hoffnung und Ungewissheit als Formen der Präambel - Präambelinterpretation und "Laws of Form" von...

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Ulrich Hösch (Hrsg.) Zeit und Ungewissheit im Recht

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Ulrich Hösch (Hrsg.)

Zeit und Ungewissheit im Recht

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Liber amicorum zum 70. Geburtstag von Wilfried Berg

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Zeit und Ungewissheit im Recht

herausgegeben von

apl. Prof. Dr. Ulrich Hösch

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek | Die Deut-sche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überwww.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-415-04711-2

© 2011 Richard Boorberg Verlag

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Vorwort

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Vorwort

Zeit und Ungewissheit sind bestimmende Faktoren des menschlichen Lebens. Der Geehrte hat in seinemWerk vielfach auf den ungewissen Ausgang menschlichen Wirkens hingewiesen. Es ist keine fünf Jahreher, als er in seiner Abschiedsvorlesung erneut ungelöste Probleme im Zusammenhang mit der Nutzungder Kernenergie aufgriff. Die Frage, welche Restrisiken von wem in welchem Verfahren auf welcherGrundlage für noch tolerierbar erklärt werden dürfen, hat – dies zeigt das Begehren der Bürger an Mit-sprache – eine zutiefst gesellschaftliche Wurzel. Sie weist aber auch die Grenzen der dritten Gewalt auf.Denn Restrisiken sind nicht beweisbar im Sinne einer mit den herkömmlichen Beweismitteln feststellba-ren Tatsache. Sie beruhen auf vielfältigen ineinander verschachtelten und aufeinander aufbauendenPrognosen, deren Validität Grundlage der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung sein soll. Der Geehrtehat sein Schaffen und Wirken in vielfältiger Weise diesem „scheinbar wenig spektakulären“, dafür abergrundsätzlichen Problem gewidmet. Er hat selbst am Beispiel der Zonenrandförderung erfahren müssen,dass eine „Prognose“, die das Grundgesetz im Hinblick auf die Wiedervereinigung gemacht hat undderen Validität zweifelhaft geworden war, doch eingetreten ist und damit die Probleme der Zonenrand-förderung „gelöst“ hat. Der Ungewissheit hat er etwas gegenübergestellt, das zeitlos elegant, aber dochunscheinbar daher kommt – die Pflichterfüllung. Er hat seine Aufgaben selbst erfüllt, ohne zu fragen,wie viel mehr er durch Verteilung von Arbeit auf andere leisten könnte. Er hat das Maß seiner Kräftenicht verkannt und sich den Herausforderungen der Umwelt dadurch gestellt, dass er seine Aufgabeerfüllt hat. Es ist nicht notwendig, diese Tugend durch weitere wertschätzende Worte aufzuwerten. Esentspricht seiner Einstellung, sein Tun nicht durch Adjektive zu bewerten. Er hat es einfach getan. Dafürsind ihm viele dankbar und gratulieren aus tiefstem Herzem zu diesem schönen Festtag.

Der Herausgeber ist allen Mitwirkenden dankbar, dass sie ihm die Ungewissheit, ob und wann ihre Bei-träge kommen, in einer Weise genommen haben, dass dieses Liber amicorum zeitgerecht erscheinenkonnte. Besonderer Dank gebührt dem Universitätsverein, der Oberfranken Stiftung und der Verwal-tungs- und Wirtschaftsakademie (VWA) Nürnberg, die durch großzügige finanzielle Unterstützung dieHerstellung des Liber amicorum ermöglicht haben.

München, im November 2011Ulrich Hösch

Vorwort

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Vorwort

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Vorwort

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Inhalt

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Inhalt

Vorwort 5

Häberle, Peter Kleine Laudatio auf Wilfried Berg – bayerischer Schwabe – Rheinländer– Münsterländer – oder Oberfranke? 14

Dragunski, Robert Zeit und Ungewissheit im Gerichtsprozess – Verzinsung desKostenerstattungsanspruchs 20

Eymann, Torsten Die Ungewissheit der Anwender im Internet der Zukunft 32

Gitter, Wolfgang Die Vererblichkeit des Beihilfeanspruchs 44

Gundel, Jörg Die Begrenzung der zeitlichen Wirkung bei der Feststellung vonVerstößen gegen EU-Recht: Neuer allgemeiner Rechtsgrundsatz oderEinfallstor für Einschränkungen des Vorrang-Anspruchs? 54

Höhler, Sebastian Ungewissheit im Budgetrecht 78

Hösch, Ulrich Erfolgsprognose bei Kohärenzsicherungsmaßnahmen 100

Huber, Peter M. Die Modernisierung des Vergaberechts als Testfall desWettbewerbsföderalismus– Zum Entwurf eines Thüringer Vergabe- undMittelstandsförderungsgesetzes – 120

Kaiser, Lorenz Das Recht in der Technik – Die Technik im Recht– In der Technik hat der Kaiser sein Recht verloren – 138

Kautz, Steffen Die Bewältigung des Zweifels– Über den rechtlichen Umgang mit fachwissenschaftlichenErkenntnissen und Erkenntnislücken, dargestellt am Beispiel desNaturschutzrechts in der Planfeststellung – 160

Keck, Theodor Zeit-Komponenten und Ungewissheits-Faktoren im Beamtenrecht 182

Kotzur, Markus Zeitlichkeit und Ungleichzeitigkeiten im Völkerrecht 198

Inhalt

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Kulow, Arnd-Christian Hoffnung und Ungewissheit als Formen der Präambel– Präambelinterpretation und „Laws of Form“ von GeorgeSpencer-Brown – 216

Leible, Stefan Verjährung im Internationalen Vertragsrecht 234

Maier, Jörg Zeit und Ungewissheit als Dimensionen und Hemmnisse inRaumplanung und Raumordnungspolitik 248

Möstl, Markus Gefahr und Gefahrenvorfeld in der Rechtsprechung desBundesverfassungsgerichts und des BayerischenVerfassungsgerichtshofs 268

Oberender, Peter / Schwegel, Das Problem der Unsicherheit und ihre Bewältigung bei derPhilipp Entscheidungsfindung 284

Otto, Harro Über Analogie und Auslegung 300

Oxenknecht-Witzsch, Die Figur des verständigen Arbeitgebers – ein Leitbild imRenate Arbeitsrecht? 320

Rixen, Stephan Wer wird Konkurrent?– Zur Problematik der Konkurrentenklage im öffentlichenWirtschaftsrecht am Beispiel der apothekengewerberechtlichenVersandhandelserlaubnis (§ 11a ApoG) – 334

Salzwedel, Jürgen Wahltaktische Kalküls in Gesetzestexten 352

Spellenberg, Ulrich Der Beweis durch rechtsgeschäftliche Urkunden im deutschen undfranzösischen Recht 360

Spreng, Nicole Zeitenwende am europäischen Gasmarkt 382

Streinz, Rudolf Freies Mandat und Fraktionszusammenschluss– Das Recht der Bundestagsabgeordneten zum Zusammenschluss inFraktionen aus dem freien Mandat – 398

Weber-Grellet, Heinrich Ungewissheiten im (Steuer-)Recht 416

Inhalt

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Weck, Bernhard „Sichere Wahrheit erkannte kein Mensch und wird keiner erkennen…“– Die Ungewissheit juristischer Entscheidungen im Spiegelbelletristischer Texte, Metaphern und Parabeln – 434

Weck, Nora Spott wider den Zeitgeist: Juristen in der satirischen Karikatur 456

Weiß, Nicole Kommunale Wasserversorgung – Ungewissheit über zukünftige(ordnungspolitische) Strukturen 472

Werner, Jan Mobilität und Ungewissheit 488

Wiesend, Gabriele Restanten (cursus brevis) 514

Windthorst, Kay Die Flugsicherung im Spiegel von Europarecht und Grundgesetz 522

Wißmann, Hinnerk Verbraucherschutz als Aufgabe staatlicher Regulierung– Grundfragen der intradisziplinären Systembildung im Wirtschafts-recht – 556

Inhalt

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1 Die vom Herausgeber freundlicherweise vorgeschlagene Themenstellung, nämlich zu Hoffnung, Ungewissheit und Präambeln zuschreiben, brachte mich zurück zu meinem Dissertationsthema (Inhalte und Funktionen der Präambel des EG-Vertrages), brachtemich aber auch zurück in die Bayreuther Assistentenzeiten. Ich hatte das seltene Glück, von zwei großen Lehrern, Herrn Profes-sor Dr. h.c. mult. Peter Häberle und Herrn Professor Dr. Wilfried Berg, lernen zu dürfen. Ersterem verdanke ich das Thema und diekulturwissenschaftliche Perspektive auf das Recht. Herrn Professor Berg danke ich von Herzen für die freundliche Aufnahme anseinem Lehrstuhl und die stetige Ermutigung und Bestätigung auf meinem Lebens- und Berufsweg.

Hoffnung und Ungewissheit als Formen der Präambel– Präambelinterpretation und „Laws of Form“ von George Spencer-Brown –

Arnd-Christian Kulow1

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Denken heißt überschreiten.

Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung

A. Einleitung – Fragestellung

Präambeln, hier verstanden als Präambeln von verfassungsstaatlichen Verfassungen, sind ein formalunterscheidbarer Bestandteil eben dieser Verfassungen. Sie lassen sich traditionell systematisch alseigene Textform, die vor dem „eigentlichen“ Verfassungstext steht und inhaltlich als „Verfassungskon-zentrat“2 oder auch „Verfassung der Verfassung“3 beschreiben. Gleichzeitig greifen sie aber auch überdie Verfassung hinaus und bilden „eine Essenz des Kontextes der Verfassung“4. Sie enthalten kognitiveund voluntative Elemente und können daher als „doppelter Verfassungsvorsatz“ bezeichnet werden5.Als solch ein Verfassungsvorsatz ist die Präambel immer auch auf eine ungewisse Zukunft ausgerichtet.Dagegen setzen Präambeln, Ziele, Wünsche, Hoffnungen6, kurz: „Vorsätze“.7

Verfassungen und deren Präambeln als weltweites Phänomen verfasster Staaten fordern zur tieferen kul-turwissenschaftlich angeleiteten Bearbeitung heraus. Viele Fragen zu Funktionen und Inhalten von Prä-ambeln, insbesondere auch ihren normativen Wirkungen sind letztlich nicht völlig befriedigend geklärt.Dies liegt daran, dass schon eine adäquate funktionale Beschreibung von Präambeln offenbar rasch inParadoxien zu münden scheint. Die Kennzeichnung der Präambel als „Verfassung der Verfassung“8 lässt

2 Häberle, Peter, Europäische Rechtskultur, 1994, S. 128.3 Häberle, Peter, Europäische Rechtskultur, 1994, S. 128.4 Häberle, Peter, Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates,

1992, S. 198.5 Kulow, Arnd-Christian, Inhalte und Funktionen der Präambel des EG-Vertrages, 1997, S. 166; Vgl. auch Krawietz, Werner, Juridi-

sche Kommunikation im modernen Rechtssystem in rechtstheoretischer Perspektive, in: Brugger, Winfried/Neumann, Ulfrid/Kirste, Stephan, Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, 2008, der auf S. 190 gegenüber der kognitiven Bedeutung insbesondereauch die Bedeutung von Rechtskommunikation für die „normative, evaluative und volitive Orientierung des menschlichen Verhal-tens.“ betont. [Hervorhebungen i. Orig.].

6 Häberle, Peter, Europäische Rechtskultur, 1994, S. 128.7 Kulow, Arnd-Christian, a. a.O., S. 166.8 Häberle, Peter, Europäische Rechtskultur, 1994, S. 128.

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einen infiniten Regress aufscheinen. Sowohl das funktionale Ausgreifen der Präambel als „Essenz desKontextes der Verfassung“9 (in Raum und Zeit) als auch das Kondensieren der Präambel zum „Verfas-sungskonzentrat“ zeigt stark gegenläufige Funktionen an.

Die Antwort zu der mit dem Titel des Beitrags aufgeworfenen Frage ist vom sicheren Grund einer onto-logisierenden und objektivierenden traditionellen Sprachverwendung rasch zu umreißen: Präambelnbeziehen sich auf eine ungewisse Zukunft. Eben dieser Ungewissheit kann mit Hoffnung oder Ver-trauen10 begegnet werden. Hoffnungs- und Ungewissheitsaspekte sind damit zumindest implizit jederVerfassungspräambel immanent11.

Eine derart die Funktion von Präambeln betonende Präambeltheorie legt nahe, darüber nachzudenken,die Zeitdimension selbst in den Begriff, in die Form der Präambel zu verankern. Eine solche Untersu-chung der bisherigen Funktionsbeschreibungen von Präambeln vorzunehmen, heißt daher, den Blick aufdie Grenzziehungen und Unterschiedsbildungen12 selbst zu lenken, die eine solche dogmatische Konzep-tualisierung der Präambel konstituieren. Bietet die ontologisierende und objektivierende Betrachtung eineher statisches Bild, das vermittelt, was die Präambel „ist“ oder sein kann, so lädt eine differenztheore-tische13 (Meta-)Perspektive zum Nachdenken darüber ein, wie eine solche Begriffs- und Formbildung alsOperation eines Beobachters14 erfasst werden kann.

9 Häberle, Peter, Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates,1992, S. 198.

10 Zur Abgrenzung von Hoffnung und Vertrauen: Luhmann, Niklas, Vertrauen, 2. Aufl., 1973, S. 24/25.11 Häberle, Peter, Europäische Rechtskultur, 1994, S. 128: „Die Präambelkultur entspricht dem verfassungsstaatlichen Typus mit

ihren drei Funktionen: einstimmende Feiertagssprache zum Zwecke der Bürgerintegration (vergleichbar dem Prolog im Theateroder Präludium und der Ouvertüre in der Musik), Verarbeitung der Staats- und nationalen Geschichte, Konzentrat des wesentli-chen Verfassungsinhalts („Verfassung in der Verfassung“) und Entwurf von Zukunftshoffnungen, Zielen und Wünschen eines Vol-kes.“.

12 Um „Informationen“ im Sinne von Gregory Bateson zu generieren: vgl. dazu ders., Ökologie des Geistes, 4. Aufl., 1992, S. 582:„Was wir tatsächlich mit Information meinen – die elementare Informationseinheit –, ist ein Unterschied, der einen Unterschiedausmacht, …“.

13 Teubner, Gunther, Verfassungen ohne Staat? Zur Konstitutionalisierung transnationaler Regimes, -Internetfassung S. 20- (dem-nächst in: Klaus Günther und Stefan Kadelbach (Hrsg.), Recht ohne Staat, 2011): „Wissenschaft gewinnt ihre Autonomie erstdann, wenn es gelingt, über die am Wahrheitscode orientierten Erkenntnisoperationen eine zweite Erkenntnisebene einzuzie-hen, auf der die Erkenntnisoperationen erster Ordnung ihrerseits mit methodischen und erkenntnistheoretischen Operationenauf ihren Wahrheitswert geprüft werden.“

14 Vgl. dazu Searle, R. John, Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit, 2011, S. 23: „Funktionen sind,kurzum, niemalsimmanent, sondern immer beobachterrelativ.“ [kursiv. i. Orig.]

Hoffnung und Ungewissheit als Formen der Präambel

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Als Werkzeug soll dabei der Formkalkül aus den „Laws of Form“ 15 von George Spencer-Brown dienen.Dieser Kalkül ist ein operativer, protologisch16 fundierter Kalkül. Er zeichnet sich durch einen eigenenFormbegriff aus, der die Grenzziehung und den Kontext von Begriffs- und Formbildung mit in denFormbegriff integriert. Im Folgenden wird daher zunächst die „Form der Präambel“ im Sinne des Spen-cer-Brownschen Formkalküls betrachtet. Anschließend werden Hoffnung und Ungewissheit als „For-men der Präambel“ vorgeschlagen und aus dem Formkalkül eine erste Definition für eine Präambelinter-pretation in der Zeitdimension entwickelt. Eine kurze Sichtung des Ertrags und ein Ausblick schließenden Beitrag ab.

B. Die Form und Formen der Präambel17 nach dem Indikationenkalkülvon Spencer-Brown

I. Die differenztheoretische Perspektive – der Indikationenkalkül

Die von Häberle erarbeiteten Beschreibungen von Präambeln als „Verfassung der Verfassung“18 oderauch als „Essenz des Kontextes der Verfassung“19 sowie die „Brückenfunktion“20 in der Zeit beziehenihre Dynamik aus einem Spannungsverhältnis zur traditionellen ontologisierenden und objektivierendenjuristischen Begriffsbildung. Legt man nämlich das überkommene Verständnis von Form und Inhalt, alseines der Abstrahierung von den jeweils konkreten Inhalten und ein Herausarbeiten des Allgemeinenzugrunde, so lassen sich zunächst formal (vor dem restlichen Verfassungstext stehend) und inhaltlich21

bestimmbare Textbereiche von Verfassungen als typisch für die Präambelform bezeichnen. Häberles

15 Spencer-Brown, George, The Laws of Form, revised fifth English edition, 2009.16 von Kibéd, Matthias Varga/Matzka, Rudolf, Motive und Grundgedanken der „Gesetze der Form“ in: Baecker, Dirk (Hrsg.), Kalkül

der Form, 1993, S. 58 f.17 Der Verfasser orientiert sich hiermit explizit an der Überschrift und Vorgehensweise von Dirk Baecker in: ders., Form und Formen

der Kommunikation, 2007.18 Häberle, Peter, Europäische Rechtskultur, 1994, S. 128.19 Häberle, Peter, Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates,

1992, S. 198.20 Häberle, Peter, a. a.O., S. 196.21 Vgl. nur Häberle, Peter, Europäische Rechtskultur, 1994, S. 128

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oben angeführte schlagwortartig abstrahierenden Zuspitzungen irritieren gleichwohl, brechen sie dochdie isolierte und abgegrenzte Präambelform auf, indem sie Funktionen und wechselseitige Beziehungenunterstellen. Für die mit ontologisierenden Begriffen implizit verbundene statische zweiwertige22 Logikeines Entweder-oder und eines ausgeschlossenen Dritten sind diese dynamischen, Paradoxien implizie-renden Begriffe23 nicht mehr befriedigend fassbar. Dies ist aber nicht den Begriffsbildungen anzulasten,im Gegenteil, der Befund zeigt lediglich, dass hier die Beschreibungsfähigkeit einer binären Logik an ihreGrenzen kommt.24 Da die binäre Logik auch nur ein, wenn auch in rechtswissenschaftlichen Kontextenoft implizit metadogmatisch angewendeter Kalkül ist, können ja durchaus Alternativen erprobt werden.Der Form- oder auch Indikationenkalkül von Spencer-Brown25 bietet einen solchen alternativen Kalkül,der als einwertige „,protologische‘ Ebene“26 der zweiwertigen Logik vorgelagert ist27. Er operiert miteinem Formbegriff, der zum Begriff die Abgrenzung und das Abgegrenzte, sowie den fundierenden Kon-text hinzunimmt. Erst alle vier Bestandteile machen die „Form“ im Spencer-Brownschen Sinne aus. „ImGegensatz zur Umgangssprache wird also nicht vom Kontext abstrahiert, wenn von Form gesprochenwird.“28 Hierdurch wird der Formbegriff selbstbezüglich29 und auch dynamisch, denn die „Form“ ent-steht, indem ein Beobachter Unterscheidungen trifft und diese bezeichnet. Die Beobachterabhängigkeitjeglicher Begriffs- und Modellbildung und damit ein operatives, konstruktivistisches Vorverständnis istdabei der Ausgangspunkt des Spencer-Brownschen Ansatzes30.

Der Rückgriff gerade auf den Indikationenkalkül Spencer-Browns ist erklärungsbedürftig. Spencer-Brown veröffentlichte im Jahr 1969 sein Buch „The Laws of Form“ (i.F.: LoF, Indikationenkalkül,

22 Vgl. etwa Hoyningen-Huene, Paul, Formale Logik, 1998, S. 31, der allerdings betont, dass die Zweiwertigkeit nur als „Festlegungdes Sprachgebrauchs“ (S. 32) zu verstehen ist.

23 Zur Kritik an unnötig und künstlich erzeugten Paradoxien im Recht: Bung, Jochen, Das Brett des Karneades – Zur Metakritik derParadoxologie, in: Brugger, Winfried/Neumann, Ulfrid/Kirste, Stephan, Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, 2008, insbeson-dere S. 88 mit Verweis auf J. Habermas und die Kontextabhängigkeit jeden kommunikativen Handelns.

24 Näher dazu Luhmann, Niklas, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1992, 148 f.25 Hier zugrundegelegt: Spencer-Brown, George, The Laws of Form, revised fifth English edition, 2009.26 von Kibéd, Matthias Varga/Matzka, Rudolf, Motive und Grundgedanken der „Gesetze der Form“ in: Baecker, Dirk (Hrsg.), Kalkül

der Form, 1993, S. 58 f.27 Dies zeigt sich daran, dass der Indikationenkalkül als zweiwertige Logik interpretierbar ist.28 Simon, Fritz B., Mathematik und Erkenntnis: Eine Möglichkeit, die „Laws of Form“ zu lesen, in: Baecker, Dirk (Hrsg.), Kalkül der

Form, 1993, S. 46.29 Lau, Felix, Die Form der Paradoxie, 3. Aufl., 2008, S. 52.30 Vgl. auch Luhmann, Niklas, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1992, S. 150: „Aber eigentlich ist alles Konstruktion eines Beob-

achters für andere Beobachter.“

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Formkalkül). In ihm versucht Spencer-Brown eine formal strenge Begründung von Arithmetik, Algebraund Logik. Seit dem Erscheinen der LoF und der Rezension des Werkes durch Heinz von Foerster31

haben die LoF neben großer Anerkennung, namentlich durch Niklas Luhmann32, auch Skepsis undAblehnung erfahren.33 Interessant für die vorliegende Fragestellung werden die LoF, weil sie zwar einer-seits formal stringent konzipiert sind, andererseits, um mit Dirk Baecker zu sprechen, in der Lage sind,mit dem „Unbestimmten, aber Bestimmbaren zu rechnen“34. Die Konzeption der LoF als mathemati-scher Kalkül, auf dessen Basis Arithmetik und Algebra sowie Logik konstruiert und überprüft werdenkönnen, zeigt, dass die Aufgabe der herkömmlichen zweiwertigen Logik und Formbildung nicht denVerzicht auf rationale Überprüfbarkeit der Ergebnisse bedeutet. Im Gegenteil, der Spencer-BrownscheFormkalkül ist wesentlich leichter durchschaubar und einfacher als die herkömmliche Logik. Da er die-ser vorgelagert35 ist, kommt er mit nur einem Operator, nämlich dem cross36 , aus. Der Kalkül basiertauf nur einer Definition und zwei Axiomen, von denen sich alles Weitere ableiten lässt. Die grundlegen-den Operationen sind dadurch im wahrsten Sinne des Wortes leicht einsehbar.

Ausgangspunkt ist die folgende Übereinkunft:

„We take as given the idea of distinction and the idea of indication, and that we cannot make an indi-cation without drawing a distinction. We take, therefore, the form of distinction for the form.“37

31 von Foerster, Heinz, Whole Earth Catalog Frühling 1969, S. 14, in: übersetzt und abgedruckt in: Baecker, Dirk (Hrsg.), Kalkül derForm, 1993, S. 9 ff.

32 Baecker, Dirk, Form und Formen der Kommunikation, 2007, S. 12: „Niklas Luhmann machte die Idee der Zweiseitenform mit ihrerMöglichkeit, den Einschluss des Ausgeschlossenen zu denken, zu einer tragenden Säule der Letztfassung seiner Gesellschafts-theorie.“

33 Näher hierzu: Baecker, Dirk, Form und Formen der Kommunikation, 2007, S. 11 f.; Esposito, Elena, Zwei-Seiten-Formen in derSprache, in: Baecker, Dirk (Hrsg.) Probleme der Form, 1993, S. 88 f. und Fußnote 4.

34 Baecker, Dirk, Form und Formen der Kommunikation, 2007, S. 12; Der Begriff des „Rechnens“ ist hier zu lesen als „Er-rechnenvon Realität“ im Sinne der radikal-konstruktivistischen Ansätze etwa eines Heinz von Foersters, vgl. dazu auch von Foerster,Heinz, Über das Konstruieren von Wirklichkeiten, S. 34, in: ders., Wissen und Gewissen (hrsg. von Siegfried J. Schmidt), 1993.

35 von Kibéd, Matthias Varga/Matzka, Rudolf, Motive und Grundgedanken der „Gesetze der Form“ in: Baecker, Dirk (Hrsg.), Kalkülder Form, 1993, S. 58 f.

36 Diese Vorgehensweise, logische Zusammenhänge durch aussagekräftige Symbole zu zeigen, findet sich bspw. schon bei demMathematiker, Logiker und Philosophen Charles Saunders Peirce (1839–1914) mit seinem ‚Sign of Illation‘ (Schlussfolgerungszei-chen) so Louis H. Kauffman in: ders., The Mathematics of Charles Saunders Peirce, Cybernetics & Human Knowing, Vol. 8, no.1–2,2001, 79 (93): „Spencer-Brown’s work can be seen a spart of a continuous progression that began with Peirce’s ExistentialGraphs. In essence what Spencer-Brown adds to the existential graphs [sic!] is the use of the unmarked state. …“.

37 Spencer-Brown, George, Laws of Form, 2009, S. 1: „ Wir nehmen als gegeben die Idee der Unterscheidung und die Idee des Hin-weisens (Bezeichnens, Anzeigen) und dass wir nicht hinweisen (bezeichnen, anzeigen) können, ohne eine Unterscheidung zu voll-

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Lässt man sich auf die „Idee der Unterscheidung“ ein, dann wird deutlich, dass jede Unterscheidung denVollzug eines Unterscheidungsprozesses voraussetzt38. Das Ergebnis dieses Vollzuges ist die „Unterschei-dung“ (Distinction). Die einzige Definition der LoF lautet daher:

„Distinction is perfect continence.“39

Diese Definition ist unterschiedlich übersetzt worden. Die beiden gebräuchlichsten lauten:

„Unterscheidung ist perfekte Be-Inhaltung.“40 „Unterscheidung ist vollkommener Zusammen-hang.“41

Spencer-Brown selbst gibt als Beispiel für eine Unterscheidung den Kreis in einer Ebene an.42

ziehen (zu treffen). Wir nehmen daher die Form der Unterscheidung als die Form.“ [Übersetzung ACK.]; vgl. auch Lau, Felix, DieForm der Paradoxie, S. 34. vgl. auch Bateson, Gregory, Ökologie des Geistes, 4. Aufl., 1992, S. 582, Fn 12; Luhmann, Niklas, DieGesellschaft der Gesellschaft, 1998, S. 69: „Beobachten heißt einfach (und so werden wir den Begriff im Folgenden durchwegverwenden): Unterscheiden und Bezeichnen.“; Bemerkenswert zum Verhältnis von Wahrnehmung von Unterschieden und Zeit:Guyau, Jean-Marie (1854–1888), Die Entstehung des Zeitbegriffs, (hrsg. von Hans Hablitzel und Frank Naumann), 1993, S. 43,„Schaffen Sie diese Wahrnehmung der Unterschiede ab, und Sie schaffen die Zeit ab.“ [Kursiv i. Orig.]

38 Schönwälder-Kuntze, Tatjana und Wille Katrin, in: Schönwälder-Kuntze, Tatjana/Wille, Katrin/Hölscher, Thomas, George SpencerBrown – Eine Einführung in die „Laws of Form“, 2. Aufl., 2009, S. 69.

39 Spencer-Brown, George, Laws of Form, 2009, S. 1.40 Lau, Felix, Die Form der Paradoxie, 3. Auflage 2008, S. 40.41 von Kibéd, Matthias Varga/Matzka, Rudolf, Motive und Grundgedanken der „Gesetze der Form“ in: Baecker, Dirk (Hrsg.), Kalkül

der Form, 1993, S. 60, mit dem Hinweis, dass „perfect“ unter Berücksichtigung der lateinischen Wurzel auch als „vollzogen“ zulesen wäre. Demnach würde auch die Übersetzung „Unterscheidung ist vollzogener Zusammenhang“ möglich sein.

42 Spencer-Brown, George, Laws of Form, 2009, S. 65 (Notes Chapter 2): „… since we happen to know that a circle in such a space[flat piece of paper, ACK] does in fact draw a distinction.“; Der Mathematiker Louis H. Kauffman in: ders., The Mathematics ofCharles Saunders Peirce, Cybernetics & Human Knowing, Vol. 8, no.1–2, 2001, 79 (80), weist darauf hin, dass schon C. S. Peirce(vgl. FN 36) für seine „Existential Graphs“ Kreise, Ovale und Buchstaben verwendet hat, um basale logische Zusammenhänge zuzeigen.

Innen Außen

Abbildung 1

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In der Notation des Kalküls wird als Zeichen für eine solche Unterscheidung das cross verwendet. Mitseiner Vertikalen zieht es eine Grenze, die Horizontale zeigt die markierte Innenseite an.

Damit kann dieser Operator alle vier Elemente des Formbegriffs abbilden. Als solchermaßen beobach-terzentrierte Erkenntnistheorie43 der menschlichen Erfahrung wird sie hier am Thema erprobt.44 Diessoll nicht stilisiert oder dramatisiert werden, eher geht es darum, was die Notation zeigt45: die Kontext-abhängigkeit und -bezogenheit von Unterscheidungen.

Spencer-Brown generiert ausgehend vom Bild des Kreises zwei Axiome. Zum einen das sogenannte„Law of calling“ und zum anderen das „Law of crossing“. Ruft man sich noch einmal Abbildung 1 insGedächtnis, so erkennt man, dass man die Innenseite des Kreises auf zwei Arten bezeichnen kann: durchdas „Nennen“ (calling) oder durch das Überqueren (crossing) der Grenze (Kreislinie). Hieraus leitetSpencer-Brown seine beiden Axiome ab:

„Axiom I. The law of calling.The value of a call made again is the value of the call. […]“46

„Axiom II. The law of crossing.The value of a crossing made again is not the value of the crossing. […]“47

43 Simon, Fritz B., Mathematik und Erkenntnis: Eine Möglichkeit, die „Laws of Form“ zu lesen, in: Baecker, Dirk (Hrsg.), Kalkül derForm, 1993,S. 39 f.

44 Vgl. hierzu kritisch: Bung, Jochen, Das Brett des Karneades – Zur Metakritik der Paradoxologie, in: Brugger, Winfried/Neumann,Ulfrid/Kirste, Stephan, Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, 2008, S. 79: „Irgendwann muss man sich einmal darüber beruhigthaben, das jede Erklärung Nichterklärtes einschliesst, …“.

45 Vgl. für den Syllogismus: Lege, Joachim, Was Juristen wirklich tun – Jurisprudential Realism, in: Brugger, Winfried/Neumann,Ulfrid/Kirste, Stephan, Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, 2008, S. 228, FN 68.

46 Spencer-Brown, George, Laws of Form, 2009, S. 2; Lau, Felix, Die Form der Paradoxie, 3. Auflage 2008, S. 43: „Der Wert einer wie-derholten Nennung ist der Wert der Nennung.“

47 Spencer-Brown, George, Laws of Form, 2009, S. 2; Lau, Felix, Die Form der Paradoxie, 3. Auflage 2008, S. 44: „Der Wert einesnochmaligen Kreuzens ist nicht der Wert des Kreuzens.“

Innenseite unmarkierte Außenseite

Abbildung 2

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Anhand von Abbildung 1 wird sehr rasch deutlich, was Spencer-Brown meint: Nennt man die Innenseitemehrmals, ändert das nichts an der Innenseite. Es vermehrt sie nicht. Anders beim „crossing“. Quertman die Grenze und quert dann gleich wieder zurück, so ist man wieder außerhalb – als wäre man nieim Innenbereich gewesen. Es bleibt beim unmarkierten Zustand.

Mithilfe der Notation können die Axiome angewendet werden.48

Die Notation zeigt in Abbildung 3, dass eine wiederholte Nennung (zu sehen an den zwei crosses) gleich-zusetzen ist mit einer Nennung. Es könnten daher statt zwei beliebig viele crosses links des Gleichheits-zeichens stehen: das Ergebnis wäre immer ein cross, also der markierte Zustand.

In Abbildung 3 wird auch deutlich, dass zwei ineinander stehende crosses (sie kann man sich auch alszwei ineinandergeschachtelte Kreise denken) immer zu einem nicht markierten Zustand führen. Dieswird einfach durch das Fehlen des crosses deutlich gemacht.

Aus diesen beiden Anwendungen der Grundaxiome entwickelt Spencer-Brown in den LoF zunächst eineArithmetik, indem er zeigt, dass jeder Ausdruck (beliebige endliche Anzahl von neben- oder übereinan-dergestellten crosses) entweder auf einen markierten oder einen unmarkierten Zustand zurückführbarist.

Im Weiteren ersetzt Spencer-Brown arithmetische Ausdrücke durch Variablen und schafft so eineAlgebra. Diese lässt sich auf die traditionelle Aussagenlogik anwenden, eine Logik, die auch Juristen bei-spielweise in der Form des Justizsyllogismus bekannt ist. Mit Simon49 kann dies an der Figur der Nega-tion gezeigt werden. Der markierte Zustand wird mit „wahr“ im Sinne der Aussagenlogik interpretiert

48 von Kibéd, Matthias Varga/Matzka, Rudolf, Motive und Grundgedanken der „Gesetze der Form“ in: Baecker, Dirk (Hrsg.), Kalkülder Form, 1993, S. 74.

49 Beispiel bei: Simon, Fritz B., Mathematik und Erkenntnis: Eine Möglichkeit, die „Laws of Form“ zu lesen, in: Baecker, Dirk(Hrsg.), Kalkül der Form, 1993, S. 51 f.

Law of calling: = .

Law of crossing: = .

Abbildung 3

Hoffnung und Ungewissheit als Formen der Präambel

225

und der nicht-markierte Zustand mit „falsch“. Nicht-a würde als a notiert. Diese Notation schafft dieMöglichkeit, Paradoxien der Aussagenlogik leicht darzustellen:

Etwa der Satz (s): „Dieser Satz ist falsch.“

liest sich in der Notation:

Hierdurch entsteht eine Selbstbezüglichkeit, da s auf beiden Seiten der Gleichung auftaucht. Setzt mannun für s ein cross bzw. kein cross, so wird die Paradoxie anschaulich:

Im Ergebnis entsteht in jedem Fall eine Paradoxie.50

Diese Selbstbezüglichkeit, bei der die Form wieder in die Form (s wieder in s) eingeführt wird, nenntSpencer-Brown „re-entry“ (Wiedereintritt). Im vorliegenden Beispiel wird „zwangsläufig die Außenseitein die Innenseite eingeführt, das heißt die Form – und mit ihr die Unterscheidung, das heißt die Ent-scheidbarkeit – kann sich auflösen.“51 Logisch interpretiert handelt es sich, wie gesagt, um eine Parado-xie. Im Sinne des Kalküls ist zunächst nicht mehr entscheidbar, ob es sich bei der Form in Abbildung 5letztlich um einen markierten oder unmarkierten Zustand handelt. Spencer-Brown löst solche Parado-

50 Vgl. zum diesem Beispiel: Kauffman, Louis H., Das Prinzip der Unterscheidung, in: Baecker, Dirk (Hrsg.), Schlüsselwerke der Sys-temtheorie, S. 181.

51 Simon, Fritz B., a. a.O., S. 52.

s = s , (s ist NICHT -s.)

Abbildung 4

Es sei s = führt zu = führt zu: = .

(Die zwei übereinander geschachtelten crosses fallen durch Axiom 2 [Law of crossing] weg.)

Es sei s = führt zu = bleibt: = .

Abbildung 5

Arnd-Christian Kulow

226

xien auf: „er postuliert neben dem markierten und unmarkierten Raum, Zustand oder Inhalt einen drit-ten, imaginären Bestandteil der Form: die Zeit.“52 Der stete paradoxe Wechsel der Zustände in Abbil-dung 6 erfordert Zeit und kreiert Zeit. Mit der Unterscheidung s = s entsteht „gewissermaßen ein‚erster‘ Raum“53. „,Erste‘ Zeit ist Oszillation, noch ohne die Qualität der Dauer. Oszillation wird alsProzess der Wertveränderung beschrieben: …“54, hier zwischen den Werten „markiert“ und „unmar-kiert“.

In der Notation der LoF wird dieses re-entry der Form in die Form durch folgendes Symbol ausgedrückt:

Das Symbol weist nur darauf hin, dass das re-entry den gegenwärtigen Beobachter und einen wahr-nehmbaren Text und Kontext braucht.55

Im Folgenden soll es daher darum gehen, diese Zusammenhänge auf die Interpretation der Präambel alsForm, und Hoffnung im Kontext von Ungewissheit als (Präambeltext-)Formen der Zukunft versuchs-weise zu übertragen.

II. Die Form der Präambel

Beobachtung bedeutet zu unterscheiden und zu bezeichnen.56 In diesem Sinne ist zunächst die Präambelvom übrigen Verfassungstext zu unterscheiden und als Präambel zu bezeichnen.

Sequentiell sprachlich formuliert würde es etwa heißen:

„Die Präambel steht vor dem restlichen Verfassungstext.“

52 Simon, Fritz B., a. a.O., S. 53.53 Wille, Katrin, in: Schönwälder-Kuntze, Tatjana/Wille, Katrin/Hölscher, Thomas, George Spencer Brown – Eine Einführung in die

„Laws of Form“, 2. Aufl., 2009, S. 182.54 Wille,Katrin, a. a.O., S. 18255 Kauffman, Louis H., Self-reference and recursive forms, in: J. Social Bio. Struct. 1987, 10, 53 (58): „True re-entry can never

occur on the page of symbols. It requires presence, the presence of text and context, of reader and what can be read. In thissense, re-entry in language and the referring of the self are one.“

56 Luhmann,Niklas, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 26 f.

Abbildung 6

Hoffnung und Ungewissheit als Formen der Präambel

227

Hiermit werden zwei „Wesenheiten“ beschrieben. Die Präambel einerseits – der restliche oder eigentli-che Verfassungstext andererseits.

Vorsichtig in die Begrifflichkeit des Formkalküls übertragen bedeutet dies:

„Unterscheide57und bezeichne in einer Verfassung die Präambel und den (restlichen) Verfassungstext.Setze den Begriff der Präambel gleich mit der Unterscheidung und Bezeichnung.“

Die Form der Präambel enthält damit strukturell zunächst den Begriff der Präambel, der gleichgesetztwerden kann mit der Abgrenzung der Präambel vom restlichen Verfassungstext. Als Gleichung58 in derNotation der LoF ausgedrückt sähe dies so aus:

Da es hier allerdings nicht um das „Wesen“ der Präambel wie es „wirklich“ „ist“ gehen soll, sondernum deren Erzeugung in einem Beobachter, könnte man dieses Unterscheiden und Bezeichnen „Interpre-tation“ (I) nennen. Zur Klarheit wäre dann deutlicher zu notieren:

Damit bezieht die durch den beobachtenden Interpreten oder interpretierenden Beobachter jeweils aktu-ell aus dem Textdatum konstruierte Präambel ihre Identität konstitutiv aus der operativen Abgrenzungzum Verfassungstext. Dieser wird aber gleichzeitig und paradox dadurch untrennbar mit der Präambelverbunden. Dies wird der wechselseitigen Bezogenheit interpretatorischer Bemühungen gerecht, weilnun die Interpretation der Präambel wieder in die interpretatorische Form eingeführt wird. Dieser „Wie-dereintritt“ der Form in der Form wird in den LoF wie oben bereits ausgeführt „re-entry“ genannt. Das

57 Hier zeigt sich der operative Charakter des Kalküls. Es geht um Operationen, die Unterscheidungen und Bezeichnungen hervor-bringen.

58 Lies: „Die Form der Präambel ist die Präambel in Abgrenzung zum restlichen Verfassungstext.“

Präambel = Präambel Verfassungstext

Abbildung 7

PräambelI = PräambelI VerfassungstextI

Abbildung 8

Arnd-Christian Kulow

228

Diktum von der Präambel als „Verfassung der Verfassung“59 kann jetzt differenztheoretisch nachvollzo-gen und verstanden werden. Dieses Verständnis wird erkauft mit dem Preis einer Paradoxie. Das zuBestimmende steht nach dem Muster „x=x+1“ nun auf beiden Seiten der Gleichung. In einer nur räum-lichen Dimension entgeht man dieser Paradoxie nicht. Die Gleichung ist nicht lösbar. Definitorisch wäre– bliebe man hier stehen – nicht viel gewonnen. Nimmt man jedoch die Zeitdimension hinzu undbegreift mit den LoF die Interpretation als operativ, nämlich immerwährendes unterscheiden undbezeichnen, dann wird die nach klassischem Dogmatikverständnis einfach vorausgesetzte Zeitdimen-sion „… generiert, im striktesten Sinne konstruiert …“60. Damit wird die Zeit sichtbar(er) und rationalfassbar(er) als wenn sie als „quasi-apriorische Essenz“61 nur still mitgedacht wird.

Die zirkuläre und infinite Verwobenheit von Präambelinterpreten, Präambeltext und restlichem Verfas-sungstext wird nun selbstbezüglich abbildbar, nachvollziehbar und mit entsprechenden Inhalten auchder Sache nach kritisierbar gemacht. Dies soll nun am Beispiel von Ungewissheit und Hoffnung kurzdemonstriert werden.

III. Hoffnung und Ungewissheit als Formen der Präambel

„Das Recht der modernen Gesellschaft muß nach all dem, und gerade darin erweist es sich als geselll-schaftsabhängig, ohne feststehende Zukunft auskommen. Weder können Naturparameter, soweit sei dieGesellschaft betreffen, als konstant angenommen werden (obwohl man natürlich davon ausgehen kann,daß die Sonne noch lange scheinen wird); noch können Werte, soweit sie Entscheidungen instruieren,also als Kollisionsregeln funktionieren sollen, in die Zukunft projiziert werden. Alle Zukunft stellt sichim Medium des (mehr oder weniger) Wahrscheinlichen und des (mehr oder weniger) Unwahrscheinli-chen dar. Das aber heißt, daß Zukunftseinschätzungen divergieren können und es auch keine Generalli-

59 Häberle, Peter, Europäische Rechtskultur, 1994, S. 12860 Hölscher, Thomas, in: Schönwälder-Kuntze, Tatjana/Wille, Katrin/Hölscher, Thomas, George Spencer Brown – Eine Einführung in

die „Laws of Form“, 2. Aufl., 2009, S. 266.61 Hölscher, Thomas, a. a.O.; Esposito, Elena, Ein zweiwertiger nicht-selbständiger Kalkül, in: Baecker, Dirk (Hrsg.), Kalkül der Form,

1993, S. 108, die explizit bei der Formel x=x+1 an die Programmierung von Zählschleifen in Computersprachen (üblicherweisemit der Variablen i also i=i+1 notiert) erinnert.: „Dabei handelt es sich um eine typische ‚Funktion ihrer selbst‘: Der Wert derVariablen i ist abhängig vom Wert i. […] Das Gleichheitszeichen bezeichnet nicht eine Identität sondern eine Operation derAnweisung […] Die Zeit kommt als Entparadoxisierungsfaktor ins Spiel.“ [Kursiv i.Orig.]

Hoffnung und Ungewissheit als Formen der Präambel

229

nie wie ‚Heilsgeschichte‘, ‚Fortschritt‘ oder ‚Weltuntergang‘ mehr gibt, an die man sich haltenkönnte.“62

Präambeln betreiben somit „kontrafaktische Stabilisierung von Zukunftsprojektionen“63 in dem siekognitiv-voluntativ „Ziele, Wünsche, Hoffnungen“64 auf die Zukunft projizieren. In der Notation desIndikationenkalküls könnte dies so dargestellt werden:

Dies kann gelesen werden als:

Präambelinterpretation ist die Interpretation der Präambel in Abgrenzung und Abhängigkeit von derInterpretation des restlichen Verfassungstextes vor dem Hintergrund von Zukunft im Kontext vonUngewissheit.

Dabei setzt die Präambel „Hoffnungen“ gegen die Ungewissheit. Dies lässt sich in einer erweitertenNotation etwa so darstellen:

Hoffnung als kontrafaktische Projektion zielt nicht auf Wahrscheinlichkeiten, sondern eher auf Uto-pie65, ist also als Fiktion zu lesen. Elena Esposito hat die Normativität von Wahrscheinlichkeitstheo-rien66 ausgeleuchtet und die Nützlichkeit von Fiktionen, weil sie „oft auf ausgesprochen raffinierteWeise auf die Realität zurück [wirken].“67 Die Fiktion, so Esposito, „konstruiert eine kohärente Weltauf der Grundlage ausdrücklich imaginärer Prämissen.“68 Die von den Interpreten als Beobachternerlebte Ungewissheit angesichts der Frage nach der (ungewissen) Zukunft kann mit Hoffnung beantwor-tet werden. Freilich sind beides stets Konstruktionsleistungen von Beobachtern in der Gegenwart. Dies

62 Luhmann, Niklas, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 559 f.63 Luhmann, Niklas, a. a.O., S. 559 f.64 Häberle, Peter, Europäische Rechtskultur, 1994, S. 128.65 Häberle, Peter, Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates,

1992, S. 196.:“konkret-utopischer Überschuß“.66 Esposito, Elena, Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität, 2007, S. 54.67 Esposito, Elena, a. a.O., S. 54.68 Esposito, Elena, a. a.O., S. 55/56.

PräambelI = PräambelI VerfassungstextI Zukunft Ungewissheit

Abbildung 9

Arnd-Christian Kulow

230

bringt eine treffende Unterscheidung von Esposito auf den Punkt, indem Sie zwischen der gegenwärti-gen Zukunft und der zukünftigen Gegenwart trennt.69

Damit kann die um Hoffnung erweiterte Form der Präambel aus Abbildung 9 in Abbildung 10 nun sogelesen werden:

Präambelinterpretation ist die permanente Interpretation der Präambel in Abgrenzung und Abhän-gigkeit von der Interpretation des restlichen Verfassungstextes vor dem Hintergrund einer „gegen-wärtigen Zukunft“70 in Abgrenzung und Abhängigkeit einer „zukünftigen Gegenwart“71, abgegrenztund abhängig von Hoffnungen, im Kontext von Ungewissheit.

Im Unterschied zu einem ontologisierenden Konzept, das die Hoffnung etwa als Wesensbestandteil vonPräambeln definieren würde, kann die Notation des Indikationenkalküls die Paradoxie des Getrennt-und-doch-verbunden-Seins der vielfältigen Aspekte von Präambelinterpretation adäquat fassen72.

Die Präambel steht immer im Zusammenhang mit dem Verfassungstext im engeren Sinne. Dieser wie-derum kann in den Kontext der Zeit und damit der Zukunft als gegenwärtige Zukunft gestellt werden.Jedoch ist die Präambel mit dem Verfassungstext intensiv verbunden und dieser mit ihr vor dem Kontextder gegenwärtigen Zukunft. In der Notation des Formkalküls kann gezeigt werden, wie die Präambel alsbspw. „Verfassung der Verfassung“ in die Form wieder eintritt (re-entry, vgl. oben). Dies wäre nach derklassischen zweiwertigen Logik nicht zulässig, da sich die Präambel durch sich selbst definieren würde.Im Formkalkül ist eine solche Form möglich, weil hier die Zeit hinzugenommen wird. Man lässt in

69 Esposito, Elena, a. a.O., S. 56/57.70 Esposito, Elena, a. a.O., S. 57.71 Esposito, Elena, a. a.O., S. 57.72 Baecker, Dirk, Form und Formen der Kommunikation, 2007, S. 68: „Das ist der Grund, warum wir hier auf Spencer Browns Form-

begriff zurückgreifen: Dieser Begriff ist wie kein anderer Begriff in der Lage, eine Unterscheidung als Zusammenhang des Unter-schiedenen zu beobachten und die Herstellung dieses Zusammenhangs nicht etwa auf einen schon gegebenen Kosmos, dasSchicksal oder die Natur zurückführen, sondern auf die kontingente Operation, die Praxis eines Beobachters, der diesen Unter-schied trifft, aber auch einen anderen treffen könnte.“

PräambelI = PräambelI VerfassungstextI zukünftige Gegenwart Hoffnung Ungewissheit

Abbildung 10

Hoffnung und Ungewissheit als Formen der Präambel

231

einem solchen Fall den Wert oszillieren.73 Bezogen auf Interpretationsvorgänge kann dies als Anweisungzur ständigen selbstbezüglichen Wiederinterpretation von Präambeltexten durch die Rechtskommunika-tion verstanden werden.

C. Zusammenfassung

Was ist damit praktisch gewonnen?

Präambelinterpretation kann als Beobachten der Präambel durch einen Beobachter beschrieben werden.Auf einer ganz allgemeinen und abstrakten Stufe trifft dieser dabei Unterscheidungen und bezeichnetdiese. Der Indikationenkalkül von Spencer-Brown kann durch Wiedereinführung der Unterscheidung indie Unterscheidung (re-entry) operational verstandenes beobachtendes Interpretieren oder interpretie-rendes Beobachten von Präambeln in der Zeit fassen und formal beschreiben. Das Verhältnis von Prä-ambelinterpretation zur Interpretation des restlichen Verfassungstextes lässt sich am besten als perma-nent und „zirkulär“ beschreiben. Die Präambel wirkt in den Text, und der Text wirkt auf die Präambelzurück. Beschreibungen der Präambel als „Verfassung der Verfassung“ oder als „Verfassungskonzen-trat“ drücken dieses Verhältnis aus. Die mit traditioneller Logik fundierte Interpretationslehre kanndiese im Kern die Sache treffenden Beschreibungen nur mit Schwierigkeiten abbilden. Die vorstehendenErörterungen sollten gezeigt haben, dass dies mit dem Indikationenkalkül von Spencer-Brown leichterund auch formal befriedigender möglich ist.

Dieser Kalkül kann aber eine noch viel tiefer gehende Funktion erfüllen. In seiner der traditionellenLogik vorgelagerten Abstraktheit kann man die „Laws of Form“ auch als einen wissenschaftlichenUrsprungsmythos lesen.74 So wie der (fiktionale) „Urzustand“ in John Rawls‘ „Theorie der Gerechtig-keit“75 elementare Gerechtigkeitspostulate zeigen und erklären kann, kann die (fiktionale) „Unterschei-dung“ von Spencer-Brown die Konstruktionsleistung der Präambelinterpretation und deren Bedeutungim Kontext von autopoietischen sozialen Systemen betonen, zeigen und formalisieren. Dadurch wird diePräambel in ihrer Bedeutung für die Interpretation des restlichen Verfassungstextes aufgewertet. Die for-

73 Esposito, Elena, Ein zweiwertiger nicht-selbständiger Kalkül, in: Baecker, Dirk (Hrsg.), Kalkül der Form, 1993, S. 108 f.74 Hölscher, Thomas, in: Schönwälder-Kuntze, Tatjana/Wille, Katrin/Hölscher, Thomas, George Spencer Brown – Eine Einführung in

die „Laws of Form“, 2. Aufl., 2009, S. 270.75 Hölscher, Thomas, a. a.O.,S. 270.

Arnd-Christian Kulow

232

male Darstellung von scheinbaren Paradoxien erlaubt einen weiter ausgreifenden Diskurs über Präam-belinhalte vor allem auch in der Zeitdimension. Nicht zuletzt durch die sehr spannenden Verfassungs-entwicklungen in durch den Islam geprägten Ländern wird deutlich, dass wir kulturübergreifendeBeschreibungen auch von juristischen Konzepten brauchen. Ursprungsmythen können dabei helfen,transkulturell akzeptable Grundkonzepte zu entwickeln, die eben auch für nicht christlich-abendlän-disch geprägte Rezipienten annehmbar und brauchbar sind76. In diesem Sinne wären vielleicht auchHoffnung und Ungewissheit als Formen der Präambel annehmbar.

76 Nicht von ungefähr zitiert Spencer-Brown zu Beginn der „Laws of Form“ den dritten Vers aus dem ersten Kapitel von Laotse’s TaoTe King: „Ohne Name ist der Anfang des Himmels und der Erde“; vgl. dazu Schönwälder-Kuntze, Tatjana/Wille, Katrin/Hölscher,Thomas, George Spencer Brown – Eine Einführung in die „Laws of Form“, 2. Aufl., 2009, S. 65.