Guido Faccani, Die Anfänge des Christentums auf dem Gebiet der heutigen Schweiz bis ins 4. Jh., in:...

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Orsolya Heinrich-Tamáska · Niklot Krohn Sebastian Ristow Christianisierung Europas Entstehung, Entwicklung und Konsolidierung im archäologischen Befund Christianisation of Europe: Archaeological evidence for it‘s creation, development and consolidation Internationale Tagung im Dezember 2010 in Bergisch-Gladbach

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Orsolya Heinrich-Tamáska · Niklot Krohn Sebastian Ristow

Christianisierung Europas

Entstehung, Entwicklung und Konsolidierung im archäologischen Befund

Christianisation of Europe: Archaeological evidence for it‘s creation,

development and consolidation

Internationale Tagung im Dezember 2010 in Bergisch-Gladbach

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

1. Auflage 2012© 2012 Verlag Schnell & Steiner GmbH, Leibnizstraße 13, 93055 RegensburgSatzherstellung: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. DonauUmschlaggestaltung: Anna Braungart, TübingenDruck: ISBN 978-3-7954-2652-1

Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlags ist esnicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf fototechnischem oderelektronischem Weg zu vervielfältigen.

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Raghnall Ó FloinnA review of Early Christianity in Ireland based on the most current archaeological research . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Achim ArbeiterFrühe monumentale Zeugnisse des Christentums auf der iberischen Halbinsel . . . 37

Laurent VerslypeThe development and consolidation of Christianity in Belgium and adjacent regions – An elementary overview . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

Sebastian RistowFrühes Christentum in Gallien und Germanien – Nachhaltige und unterbrochene Christianisierung in Spätantike und Frühmittelalter . . . . . . . . . 73

Niklot KrohnVon Heiden, Christen und Synkretisten. Begrifflichkeiten und Befundansprachen im Kontext der Erforschung des Christentums bei Alamannen, Bajuwaren und Thüringern – Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

Guido FaccaniDie Anfänge des Christentums auf dem Gebiet der heutigen Schweiz bis ins 4. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

Franz GlaserKontinuität und Diskontinuität der Christianisierung des Ostalpenraumes . . . . . . . 121

Sible de BlaauwErinnerungen als Zeugnisse der Christianisierung Roms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

Yuri A. MaranoThe Christianisation of Towns of Northern Italy (4th–6th century A.D.) . . . . . . . . . . 161

6 · Inhalt

Branka MigottiEarly Christian Archaeology of Dalmatia: The State of Research and Selected Problems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

Orsolya Heinrich-TamáskaFortleben, Abbruch und Neuanfang: Spuren des Christentums in Pannonien im 4.–9. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

Hana ChorvatovaForschungsstand und neue archäologische Funde zur Christianisierung der Slowakei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

Petr SommerDer frühe böhmische Staat und die Christianisierung seiner Gesellschaft . . . . . . . . 261

Mihailo MilinkovićVerbreitung des Christentums im zentralen Balkanraum von den Anfängen bis zum 11. Jahrhundert anhand der archäologischen Funde  – Forschungsgeschichte und Resultate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

Uwe FiedlerDer archäologische Niederschlag der Christianisierung des donaubulgarischen Reiches (864/65) – Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297

Alexandru MadgearuThe Significance of the Early Christian Artefacts in Post-Roman Dacia . . . . . . . . . . 299

Efthymios RizosThe Making of a Christian Society in the Late Antique Civil Diocese of Macedonia – Archaeological Evidence on Christianisation from Modern Greece . . 319

Annegret Plontke-LüningChristianisierung am Rande des Imperiums: Die Krim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343

Marko KiesselZum frühen Christentum in Zypern (4.–6. Jahrhundert). Forschungsüberblick und Überlegungen zur Chronologie der Kirchenbauten auf Grundlage ihrer Kapitellplastik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363

Inhalt · 7

Axel PollexChristianisierung im nordwestslawischen Raum. Aspekte der Übergangsphase . . . 383

Sunhild KleingärtnerNachweisbarkeit christlicher Institutionalisierung Dänemarks aufgrund archäologischer Belege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403

Bertil NilssonBirka – Sigtuna – Uppsala. Probleme der Christianisierung im Gebiet des Mälartals, Schweden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417

Göran TagessonVreta Kloster – manor, convent and an (im)possible baptistery. A contribution to the history of Christianisation and the making of a Christian kingdom in Sweden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435

Aneta BukowskaWhy do we use architectural remains rather than single artefacts as fundamental archaeological evidence for the Christianisation of Poland? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449

Przemysław SikoraDas Phänomen „Grabhügel“ im Prozess der Christianisierung der Ostslawen. Bemerkungen zu einigen Befunden mit sepulkralem Charakter – aus archäologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469

Marcus WüstWestliche Einflüsse auf den Verlauf der Christianisierung in Livland . . . . . . . . . . . . 483

Alexander MusinThe Christianisation of Eastern Europe in the Archaeological Perspective . . . . . . . . 497

Vorwort

Das vorliegende Buch veröffentlicht die Ergebnisse einer Tagung, die im Dezember 2010 in Bergisch Gladbach bei Köln stattfand. Es umfasst Themen aus den Ländern weiter Teile Europas und soll Anregung geben zu einem umspannenden internationalen Projekt, das die hier vorgelegten Forschungsfragen in Zukunft detailliert in den einzelnen Regio-nen untersuchen kann. Dass im Rahmen des Umfangs eines Buches nicht alle Länder berücksichtigt werden konnten und auch nicht alle Beiträge vollkommen gleich struktu-riert sind, nimmt nicht wunder. Die Herausgeber können weder auf die Hilfe eines schon bestehenden Forschungsprojektes oder -instituts zum Thema zurückgreifen, noch ein mehrbändiges Handbuch vorlegen. Gleichwohl glauben wir, mit den vorliegenden Bei-trägen die Fragen der vergleichbaren und unterschiedlichen Szenarien der Christianisie-rung in den einzelnen Teilen Europas deutlich vor Augen zu führen. Und obwohl die Erforschung des Christentums nach einer interdisziplinären Herangehensweise verlangt, haben wir uns im Rahmen der Tagung und diese Bandes bewusst auf die archäologische Quellen und auf die Methode der Archäologie konzentriert, um über unsere fachlichen Grenzen und Möglichkeiten einen Überblick zu gewinnen.

Als grundsätzlich bedeutsames Ergebnis erscheint die Tatsache, dass sich zu ganz un-terschiedlichen Zeiten unter ähnlichen Voraussetzungen dieselben Muster der Ausbrei-tung des christlichen Glaubens abgespielt haben, sei es durch Mission Einzelner, gewis-sermaßen durch langsames Einsickern, durch die gezielt beeinflusste Konversion ganzer Bevölkerungsteile oder durch die politisch gezielt und manchmal auch mit Waffengewalt durchgeführte Mission. Es zeigen sich ähnliche und unterschiedliche Szenarien der Erkennbarkeit von Christianisierungsprozessen in den archäologischen Funden und Befunden und den historischen Quellen. Oft müssen die Quellengattungen sich gegen-seitig stützen und Lücken im jeweiligen Überlieferungsbild ausfüllen. Methodisch muss dies mit Umsicht geschehen. Dabei zeigt sich, dass dieselben Fragestellungen in den unterschiedlichen Regionen mit ähnlichen Mitteln interpretiert werden müssen. Die weitere Verfeinerung der hier versammelten Forschungsansätze und Quellen muss künftigen Forschungen vorbehalten bleiben.

Überraschend ist möglicherweise für den einen oder anderen Leser, dass sich der Pro-zess, in dem Europa christlich wurde, über mehr als 1000 Jahre hinzog. Er verläuft im Groben von West nach Ost und von Süd nach Nord, zeigt aber auch immer wieder Brüche und Kontinuitäten. Keineswegs ist es aber ein glatter Weg, den die Ausbreitung des neuen Glaubens ging. Umso spannender erscheint es, die gewaltige Menge des Materials einer länderweisen Ordnung zu unterziehen. Die Vorgehensweise der Bündelung nach moder-nen Ländergrenzen trägt der momentanen europäischen Forschungslandschaft Rechnung und kann vielleicht in Zukunft durch länderübergreifende Zusammenarbeit noch zu stärkerer Synthese geführt werden.

10 · Vorwort

Wir danken allen Referenten und Autoren, die zum Gelingen des Bandes beigetragen haben, den Institutionen, die die Ausrichtung der Tagung durch ihre Förderung ermög-licht haben, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Universität zu Köln und der Thomas-Morus-Akademie des Erzbistums Köln. Persönlich danken wir von diesen Instituten besonders Thomas Fischer und Martina Hundt vom Archäologischen Institut sowie Hanns Gregor Nissing von der Akademie. Die Ausrichtung der Tagung wurde ferner großzügig gefördert durch das Geisteswissenschaftliche Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig (GWZO) und die Verlage Aschen-dorff in Münster und Dr. Kovač in Hamburg.

Dank gebührt auch dem Verlag Schnell und Steiner, namentlich Herrn Dr. Albrecht Weiland, für die Aufnahme des Projekts in sein Verlagsprogramm, die verlegerische Be-treuung des Bandes und das Lektorat. Ein besonderer Dank gilt dem GWZO, dem Erz-bistum Köln und dem Verlag Schnell und Steiner für freundliche Förderung.

Ferner danken die Herausgeber, die sich den Mühen der Redaktion selbst unterzogen haben, den Redakteuren der englischen Texte und Zusammenfassungen: Quentin Hutchinson, Seahouses/GB mit Dank an Audrey Hutchinson und Daniela Hofmann, Cardiff/GB für die Übertragungen der deutschen Zusammenfassungen ins Englische.

Wir hoffen, dass der Band als Fundament für künftige Forschungen reichlich herange-zogen und nicht nur in der Fachwelt Anklang finden wird. Wir erinnern uns gerne an die internationalen Begegnungen auf der Tagung, die stets von freundschaftlichem Respekt füreinander getragen waren und zu keiner Zeit von national motiviertem Denken beein-flusst worden sind.

Die Herausgeber im Februar 2012

vor allem auf die materiellen Zeugnisse bis in das 4. Jahrhundert beschränkt. Forschungen zu Grä­berfeldern werden nur wahlweise einbezogen; dazu: R. Windler u. a. (Hrsg.), Frühmittelalter. Die Schweiz vom Paläolithikum bis zum frühen Mittelalter 6 (Basel 2005) 145–231.

1 Das vorgetragene Referat trug den Titel: „Vom Städter zum Bauern – Spätantike Bischofstädte, frühe Seelsorgezentren und die Ausbildung der Pfarreistrukturen im ausgehenden ersten Jahr­tausend im Gebiet der heutigen Schweiz.“ Ange­sichts der Komplexität des Themas und des be­schränkten Platzes sind die Ausführungen hier

Guido Faccani

Die Anfänge des Christentums auf dem Gebiet der heutigen Schweiz bis ins 4. Jahrhundert

Einleitung

Die Schweiz teilt sich in vier verschiedensprachige Kulturregionen auf (Abb. 1): das ita­lienischsprachige Tessin im Süden, die französischsprachige Romandie im Westen, das deutschsprachige Gebiet vom Norden bis zum Süden sowie Graubünden mit einem deutsch­, romanisch­ und italienischsprachigen Bevölkerungsanteil im Osten1.

Die Differenzierung in die heutigen Sprachregionen setzt im Frühmittelalter bzw. be­reits in spätrömischer Zeit ein. Die kirchliche Organisation nimmt beschränkt auf die sprachliche Einteilung Rücksicht; in den meisten Diözesen finden sich mehrere Spra­chen. Zur Zeit der Reformation finden sich acht Diözesen (Abb. 2), heute bestehen in der Schweiz noch sechs. Die modernen Bistümer sind das Produkt eines langen historischen Prozesses, der mit dem Übergang vom Altertum zum Mittelalter einsetzt. Zum Teil las­sen sich noch Spuren der spätrömischen politischen Grenzziehungen erkennen, so be­sonders deutlich bei der Diözese Sitten (Kanton Wallis), die weitgehend der spätantiken Provinz Alpes Graiae et Poeninae (allerdings ohne den südlichen Teil) entspricht. Die Provinz gehörte zur spätantiken Diözese der Viennensis beziehungsweise Septem Provin-ciarum, die ihrerseits zur gallischen Präfektur gehörte – das Gebiet der heutigen Schweiz war damals auf diese gallische Präfektur und die Präfektur Italiae et Africae aufgeteilt.

Zur Forschungsgeschichte

Die Frage nach den Abläufen der Christianisierung, denen im Folgenden beschränkt auf die Schweiz und die ersten vier Jahrhunderte nachgegangen wird, bewegt seit alters her.

0 50 100 kmFranzösisch Deutsch Italienisch Rätoromanisch

98 · Guido Faccani

1 Die Sprachregionen der Schweiz. – Bild: Verf.

Bis in die Neuzeit glaubte man, trotz mangelhafter Quellenlage oder vollständigen Feh­lens von Nachweisen, die Wurzeln des Christentums bis zu apostolischen Glaubensboten zurückverfolgen zu können und so anhand der Sukzessionslisten über Beweise für das hohe Alter der Gemeinden zu verfügen. So ist spätestens im 13. Jahrhundert die Legende einer Missionierung Helvetiens durch den heiligen Beatus entstanden. In den Chroniken des 16. Jahrhunderts stellten die humanistischen Gelehrten erstmals historische Fakten der Christianisierung zusammen. Besonders einflussreich waren die Werke der beiden zuletzt in Zürich lebenden reformierten Theologen Josias Simmler (1530–1576) und Johannes Stumpf (1500–1577/78)2. In den Grundzügen korrekte Bischofslisten wurden rekonstruiert, eine wichtige Grundlage für jede Erforschung der Wurzeln der Christen­gemeinden.

Das Thema der Christianisierung erhielt in den noch konfessionell geprägten, z. T. in polemischem Ton verfassten kirchengeschichtlichen Monografien breiteren Raum, so z. B. in der vierbändigen, zwischen 1698 und 1729 verfassten Kirchengeschichte von Johann Jacob Hottinger (1652–1735)3. Die im 19. Jahrhundert erschienenen ersten histo­

2 J. Stumpf, Gemeiner loblicher Eydgnoschafft Stetten/ Landen und Voelckeren Chronick wir­diger thaten beschreybung … (Zürich 1547). –

I. Sim(m)ler, De republica Helvetiorum (Zürich 1576).

3 J.  J. Hottinger, Helvetische Kirchengeschich­ten, 4 Bde. (Zürich 1698–1729).

Acaunus/St-Maurice

Lousanna/Lausanne

Novidunum/Nyon

Aventicum/Avenches

Chasseron

Covatanne

Genava/Genf

Vindonissa/Windisch

Augusta Raurica-Castrum Rauracense/Augst-KaiseraugstBasilea/

Basel

Octodurus/Martigny

Curia/Chur

BellinzonaArcegno

ArdonSitten

Zillis

Acaunus/St-Maurice

Lousanna/Lausanne

Novidunum/Nyon

Aventicum/Avenches

Chasseron

Covatanne

Genava/Genf

Vindonissa/Windisch

Augusta Raurica-Castrum Rauracense/Augst-KaiseraugstBasilea/

Basel

Octodurus/Martigny

Curia/Chur

BellinzonaArcegno

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0 50 100 km

Konstanz

Basel

Lausanne

SittenGenf

Milano

Como

Chur

Besançon

Brixen

Aosta

Novara

Augsburg

Bergamo

Konstanz

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Bergamo

Besançon

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Bischofssitz0 50 100 km

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2 Die Bistümer der Schweiz mit ihren Sitzen am Ausgang des Mittelalters. – Bild: Verf.

3 Die wichtigsten im Text genannten Orte. – Bild: Verf.

100 · Guido Faccani

9 J. R. Rahn, Geschichte der bildenden Künste in der Schweiz. Von den ältesten Zeiten bis zum Schlusse des Mittelalters (Zürich 1876).

10 S. Guyer, Die christlichen Denkmäler des ersten Jahrtausends in der Schweiz (Leipzig 1907).

11 M. Besson, Recherches sur les origines des évê­chés de Genève, Lausanne, Sion et leurs premiers titulaires jusqu’au déclin du VIe siècle (Freiburg. i.  Üe. 1906); ders., Antiquités du Valais (Ve–Xe siècles) (Freiburg. i. Üe. 1910); ders., Nos origi­nes chrétiennes. Étude sur les commencements du christianisme en Suisse romande (Freiburg. i. Üe. 1921).

12 In dieser Tradition stehen auch die die dem Kan­ton Wallis gewidmeten grundlegenden Arbeiten des Archäologen und Historikers François­Olivi­er Dubuis (1921–2003) und des Historikers An­toine Lugon: F.­O. Dubuis/A. Lugon, Les premi­ers siècles d’un diocèse alpin: Recherches, acquis et questions sur l’évêché du Valais. Première par­tie: Les débuts du christianisme en Valais et les centres de son rayonnement. Vallesia 47, 1992,

4 Knappe Übersicht zur Forschungsgeschichte mit weiterführender Literatur: L. Vischer/L. Schen­ ker/R. Dellsperger (Hrsg.), Ökumenische Kir­chengeschichte der Schweiz (Freiburg i. Üe. 1994) 317 f.

5 R. Pfister, Kirchengeschichte der Schweiz Bd. 1. Von den Anfängen bis zum Ausgang des Mittel­alters (Zürich 1964); Vischer/Schenker/Dell­sperger 1994 (Anm. 4).

6 Helvetia Sacra, begründet von P. R. Henggeler OSB, weitergeführt von A. Bruckner, hrsg. vom Kuratorium der Helvetia Sacra, 28 Bde. (Bern 1972–2007).

7 Ausführliche Forschungsgeschichte mit Lit.: H. R. Sennhauser, Kirchenforschung und Mittelal­terarchäologie. In: Patrimonium. Denkmalpflege und archäologische Bauforschung in der Schweiz (Zürich 2010) 62–166.

8 J. D. Blavignac, Histoire de l’architecture sacrée du quatrième au dixième siècle dans les anciens évêchés de Genève, Lausanne et Sion. Texte et atlas (Paris 1853).

risch­kritischen Übersichten überwanden die konfessionellen Spannungen4. Darin und in den kirchenhistorischen Gesamtübersichten des 20. Jahrhunderts nimmt die Sachkul­tur stets einen eher kleinen Raum ein5. Grundlegend ist die 1972 begonnene, unlängst abgeschlossene Reihe „Helvetia Sacra“. Das in insgesamt 28 Bänden aufgeteilte Rüstzeug stellt die Geschichte von Diözesen, Stiften und Orden in der Schweiz mit umfassenden Literaturverweisen zusammen6.

Der hier zu verfolgende Ansatz, die kritische Erforschung der Etablierung des Chris­tentums ausgehend von materiellen archäologischen Zeugnissen wie Siedlungsbefunden, Sakralarchitektur, Paramenten, Gräbern und Kleinfunden, wurde erst im 20. Jahrhundert aufgenommen7. Bis dahin wurden zwar etliche Überblickswerke kirchlicher Architektur, Kunst und Gräberarchäologie veröffentlicht. Bei ersteren handelte es sich aber mehrheit­lich um stilgeschichtliche Werke. Erinnert sei an Schlüsselwerke wie die 1853 veröffent­lichte „Histoire de l’architecture sacrée du quatrième au dixième siècle“ des Genfer Archi­tekten Jean Daniel Blavignac (1817–1876)8, an die zwanzig Jahre später erschienene „Geschichte der bildenden Künste in der Schweiz“ des Zürcher Kunsthistorikers Johann Rudolf Rahn (1841–1912)9 und an „Die christlichen Denkmäler des ersten Jahrtausends in der Schweiz“ des Zürcher Architekturhistorikers Samuel Guyer (1879–1950)10.

Wegweisend für die archäologisch­historische Untersuchungsmethode waren die Studien des Historikers und späteren Bischofs von Freiburg i. Üe. Marius Besson (1876–1945)11, der in seinen Arbeiten über die Anfänge des Christentums in der Westschweiz eine enge Verknüpfung der Siedlungsgeschichte, Archäologie, Geschichte und Kirchen­geschichte betrieb12. Diesen Ansatz führte die erste betont archäologisch ausgerichtete

Die Anfänge des Christentums auf dem Gebiet der heutigen Schweiz bis ins 4. Jahrhundert · 101

östlichen Alpengebiet. Von der Spätantike bis in ottonische Zeit. Bayer. Akad. Wiss., Phil.­Hist. Kl. Abhandl. N. F. 123,1–2 (München 2003). – Zu Kirchenbauten über römischen Bauten und der Ablösung des Paganen durch das Christentum: B. Ita, Antiker Bau und frühmittelalterliche Kir­che. Historisch­kritischer Katalog schweizeri­scher Kirchen mit antiken Fundamenten, Geist und Werk der Zeiten 6 (Zürich 1961); St.  Eis­mann, Frühe Kirchen über römischen Grund­mauern. Untersuchungen zu ihren Erschei­nungsformen in Südwestdeutschland, Südbayern und der Schweiz. Freiburger Beitr. Arch. u. Gesch. des 1. Jts. 8 (Rahden/Westf. 2004).

17 W. Berschin/D. Geuenich/H. Steuer (Hrsg.), Mission und Christianisierung am Hoch­ und Oberrhein (6.–8.  Jahrhundert). Arch. u. Gesch. 10 (Stuttgart 2000); S. Lorenz/B. Scholkmann (Hrsg.), Die Alemannen und das Christentum. Zeugnisse eines kulturellen Umbruchs. Schr. Südwestdt. Landeskde. 48 Quart 2 = Veröff. Ale­mannischen Inst. 71 (Leinfelden­Echterdingen 2003); R.  Windler/M.  Fuchs (Hrsg.), De l’Antiquité Tardive au Haut Moyen Age (300–800) – Kontinuität und Neubeginn. Akten der Tagung vom 23. und 24. März 2001 in Bern. An­tiqua 35 (Basel 2002); „Villes et villages. Tombes et églises“. La Suisse de l’Antiquité Tardive et du haut Moyen Age. Actes du colloque tenu à l’Université de Fribourg du 27 au 29 septembre 2001 publiés avec la chaire d’archéologie palé­ochrétienne et byzantine de l’Université de Fri­bourg. Zeitschr. Arch. Kunstgesch. 59, 2002, 141–331.

1–61; dies., Les premiers siècles d’un diocèse al­pin. Recherches, acquis et questions sur l’évêché du Valais. Deuxième partie: Les cadres de la vie chrétienne locale jusqu’à la fin du XIIIe siècle. Vallesia 48, 1993, 1–74 ; dies., Les premiers sièc­les d’un diocèse alpin. Recherches, acquis et questions sur l’évêché de Sion. Troisième partie: Notes et documents pour servir à l’histoire des origines paroissiales. Vallesia 50, 1995, 1–196.

13 W.  Drack (Red.), Ur­ und frühgeschichtliche Archäologie der Schweiz 6. Das Frühmittelalter (Basel 1979); R. Moosbrugger, Die Schweiz zur Merowingerzeit, 2 Bde. Handbuch der Schweiz zur Römer­ und Merowingerzeit (Bern 1971). In­haltlich sind bei R. Moosbrugger die Grabfunde stark gewichtet.

14 Windler u. a. 2005 (Anm. 1). – An ein breiteres Publikum richtet sich folgende den gleichen Zeitraum abdeckende Übersicht: A. Furger u. a., Die Schweiz zwischen Antike und Mittel­alter, Archäologie und Geschichte des 4. bis 9. Jahrhunderts (Zürich 1996).

15 Windler u. a. 2005 (Anm. 1) 266–281.16 Schweiz insgesamt: F. Oswald/L. Schaefer/

H. R. Sennhauser, Vorromanische Kirchenbau­ten. Katalog der Denkmäler bis zum Ausgang der Ottonen. Veröff. Zentralinst. Kunstgesch. Mün­chen 3 (München 1966–1971); W. Jacobsen/L. Schaefer/H.  R. Sennhauser, Vorromanische Kirchenbauten. Katalog der Denkmäler bis zum Ausgang der Ottonen, Nachtragsband. Veröff. Zentralinst. Kunstgesch. München 3,2 (München 1991). – Östlicher Teil der Schweiz und Tessin: H.  R.  Sennhauser (Hrsg.), Frühe Kirchen im

Übersicht der Reihe „Ur­ und frühgeschichtliche Archäologie der Schweiz“ (UFAS) wei­ter, in welcher 1979 der Band 6 („Das Frühmittelalter“) erschien13. Die vollständig erneu­erte Ausgabe von UFAS VI wurde vor wenigen Jahren mit Band 6 des Überblickswerkes „Die Schweiz vom Paläolithikum bis zum frühen Mittelalter“ (SPM) abgeschlossen14. Unter dem Titel „Orte der frühen Kirche“ wurde in SPM 6 der archäologische For­schungsstand zusammengefasst und die Entwicklung des Christentums besonders in den der Kirchenarchäologie gewidmeten Teilen abgehandelt15. Werke wie SPM 6 sind kaum noch denkbar ohne die verschiedenen Corpora, z. B. zur Kirchenarchitektur16.

Vom wachsenden Interesse an der Übergangszeit von der Antike zum Mittelalter und der Frage nach der Etablierung des Christentums innerhalb der archäologischen For­schung zeugen mehrere im vergangenen Jahrzehnt erschienene Tagungsbände, in denen das Thema teilweise grenz­ bzw. epochen­ und fächerübergreifend angegangen wurde17.

102 · Guido Faccani

19 Während z. B. in Genava/Genf keine Siedlungs­verlagerung stattfand, gründeten die Römer ne­ben Octodurus/Martigny auf bis dahin unbebau­tem Terrain Forum Claudii Augusti/Vallensium.

20 Hottinger 1698 (Anm. 3) 2, II.21 Irenäus spricht in seiner zwischen 180 und 185

verfassten apologetischen Schrift adv. haer. 1,10,2 von Christengemeinden u. a. der Germanen und Kelten. Tertullian zählt in seinem ebenfalls apo­logetischen Werk adv. Iud, 7,4 u. a. Gallien und Germanien zu jenen römischen Gebieten, wo sich der christliche Glaube bereits ausgebreitet habe.

18 Generell zur Schweiz in römischer Zeit: W. Drack/R. Fellmann, Die Römer in der Schweiz (Stuttgart 1988); L.  Flutsch/U. Niffeler/ F. Rossi (Hrsg.), Die römische Zeit, Die Schweiz vom Paläolithikum bis zum frühen Mittelalter 5 (Basel 2002). – Zu Martigny: F. Wiblé, Martigny­la­Romaine, Fondation Pierre Gianadda éd. (Martigny 2008). – Zu Augst/Kaiseraugst: L. Berger (mit Beitr. v. Th. Hufschmid), Führer durch Augusta Raurica (Basel 61998). – Zu Genf: Ch.  Bonnet u. a., Les fouilles de la cathédrale Saint­Pierre: Le centre urbain de Genève de la protohistoire jusqu’au début de la christianisati­on. Mém. Doc. Soc. Hist. et Arch. Genève 64 (Genf 2009).

Bemerkungen zur Besiedlung der Schweiz in der Antike

Schnelligkeit und Intensität der Verbreitung staatlicher Verordnungen oder neuer Glau­bensinhalte hängen nicht zuletzt von der Besiedlung bzw. von der Dichte des Netzes der Siedlungen und Verkehrswege ab. Seit dem ausgehenden 1. Jahrhundert v. Chr. gehörte das Gebiet der heutigen Schweiz (Abb. 3) dem römischen Reich an und wurde in der Antike von einem intensiven Romanisierungsprozess erfasst18. Gutshöfe waren ver­gleichsweise breit gestreut, während sich an den Verkehrsrouten ländliche Siedlungen (vici) und städtische Agglomerationen bildeten. Letztere knüpften in unterschiedlicher Weise an keltische Vorgänger an19. Die Siedlungen waren in der deutsch­ und italienisch­sprachigen Schweiz bzw. in Graubünden mit Ausnahme des Raurikerhauptortes Augusta Raurica/Augst bzw. Kaiseraugst (Kanton Baselland bzw. Aargau) und dem Legionärsla­ger von Vindonissa/Windisch (Kanton Aargau) eher von ländlichem, kleinstädtischem Charakter. In der Westschweiz dagegen finden sich, neben den bedeutenden vici Genava/Genf, Lousanna/Lausanne und Eburodunum/Yverdon, mit Aventicum/Avenches, Novi-dunum/Nyon (alle Kanton Waadt) und Octodurus/Martigny (Kanton Wallis) gleich drei große städtische Orte, die den Status von Kolonien bzw. Zentralorten von Provinzen und Stammesgebieten hatten.

Die Quellen bis ins 3. Jahrhundert

„Wann und durch wen das Reich Gottes anfänglich in Gallien (dessen Theil Helvetia war) ausgerichtet worden seye, finden wir nichts, weder inner­ noch aussert der H. Schrift.“20

An dieser 1698 formulierten Feststellung des Zürcher Theologen Johann Jacob Hot­tinger hat sich bis heute nichts geändert. In den Textstellen des Bischofs Irenäus von Lyon (ca.  140–200, ab 177 Bischof) bzw. des afrikanischen Kirchenvaters Tertullian († um 220)21 ist das Gebiet der Schweiz möglicherweise mitgemeint, und insbesondere

Die Anfänge des Christentums auf dem Gebiet der heutigen Schweiz bis ins 4. Jahrhundert · 103

genannten Gebieten oder Völkerschaften min­destens als eine reale Möglichkeit ins Auge fas­sen, liegt Rätien ebenso wie das gesamte Gebiet der heutigen Schweiz völlig ausserhalb ihres Blickfeldes.“

22 Anders M. Durst, Die Anfänge der Kirche im Bistum Chur. In: Ders. (Hrsg.), Studien zur Ge­schichte des Bistums Chur (451–2001) (Frei­burg 2002) 13–58 bes. 21: „Aber während Kir­chenschriftsteller wie Irenäus und Tertullian die Ausbreitung des Christentums in den von Ihnen

für die Westschweiz scheint die Anwesenheit von Christen nicht unmöglich22, aber sicher ist das keineswegs.

Für die Ausbreitung des Christentums bis ins 4. Jahrhundert darf für das Gebiet der heutigen Schweiz gelten, was für das römische Reich allgemein angenommen wird: Aus­breitung und Etablierung der christlichen Religion waren langsame, allmähliche Vorgän­ge, die zudem je nach Gebiet unterschiedlich intensiv verliefen und sich wohl, vor allem in den Bergregionen, nur langsam vollzogen23. Der neue Glaube gelangte in das Gebiet der Helvetier und der anderen Stämme über die großen Weg­ bzw. Transportachsen: von Lyon über das Rhonetal nach Genf und weiter nach Nord­ und Südosten, von Ober­italien ins Wallis, ins Tessin und nach Graubünden.

4 Sitten (Kanton Wallis), Bauinschrift des Pontius Asclepiodotus. 377. Kalkstein; H. 47 cm. – Bild: François Wiblé, Martigny.

104 · Guido Faccani

TIVS ILLIS/QVAE PRISCAE STETERANT/ TALIS RESPVBLICA QVAERE/D(OMINO) N(OSTRO) GRATIANO AVG(VSTO) IIII ET MER(OBAVDE) CO(N)S(VLIBUS)/PONTIVS ASCLEPIODOTVS V(IR) P(ERFECTISSIMVS) P(RAESES) D(ONVM) D(EDIT) („In hinge­bungsvoller Pflichterfüllung hat Pontius als Prae­tor das kaiserliche Gebäude wiederhergestellt, viel prächtiger als jenes, das früher hier stand. Solche Männer suche dir, Staat! Unter dem vier­ten Konsulat unseres Herrn Kaisers Gratian und dem des Merobaudes. Pontius Asclepiodotus, Hochwohlgeboren, Statthalter, hat es geschenkt“). Die Datierung fußt auf der Angabe zum Konsulat von Kaiser Gratian und Merobaudes.

27 Die Akten des Konzils finden sich in: Sancti Am­brosii episcopi Mediolanensis opera 21. Epistulae (LXX–LXXVII), ed. M. Zelzer (Mailand 1988); zur Geschichte der Walliser Diözese: B. Anden­matten u. a., Das Bistum Sitten/L’Archidiocèse de Tarantaise. Helvetia Sacra 1,5 (Basel 2001) mit Lit.

23 Vgl. z. B. für die Raetia prima Durst 2002 (Anm. 22) 20–25.

24 F. Wiblé/Ch. Ebnöther (Red.), Vallis Poenina. Das Wallis in römischer Zeit. 1. Jh.–5. Jh. n. Chr. Kantonales Museum für Archäologie Sitten, 28. November 1998 bis 29. August 1999 (Sitten 1998) 125.

25 Die spätantiken und frühmittelalterlichen In­schriften der Schweiz liegen im „Corpus inscrip­tionum medii aevi Helvetiae“ (in den nachfol­genden Hinweisen abgekürzt als CIMAH): C.  Pfaff (Hrsg.), Corpus inscriptionum medii aevi Helvetiae – Die frühchristlichen und mittel­alterlichen Inschriften der Schweiz, 5 Bde. (Frei­burg i. Ue. 1977–1997).

26 Vgl. E. Howald/E. Meyer, Die römische Schweiz. Texte und Inschriften mit Übersetzung (Zürich 1941) Nr. 46; Ch. Jörg, Die Inschriften des Kantons Wallis bis 1300. CIMAH (Anm. 25) 1, 1977 Nr. 1: DEVOTIONE VIGENS/AVGVS­TAS PONTIUS AEDIS Α[Christogramm]ω/RESTITVIT PRAETOR/LONGE PRAESTAN­

Die Quellen des 4. Jahrhunderts

Als einzige der hier behandelten Regionen ist das Wallis im 3.  Jahrhundert nicht durch Alamanneneinfälle erschüttert worden24. Dies ließ zivile, politische, wirtschaftliche sowie auch religiöse Strukturen ohne Zäsur überdauern. Nicht zuletzt deshalb nimmt diese Diö­zese einen herausragenden Platz für die Erforschung der Christianisierung ein, zumal von hier auch die frühesten Zeugnisse christlicher Religionsausübung überliefert sind.

Schriftquellen

Das älteste epigrafische Zeugnis von Christen in der Schweiz trat bereits im 17. Jahrhun­dert in Sitten zutage25. Die Inschrift besagt, dass im Jahr 377 der Provinzverwalter (praeses) Pontius Asclepiodotus ein Gebäude (augustas aedis) erneuern ließ26 (Abb. 4). Zwar ist weder von Christen noch von einer Kirche die Rede. Doch am Ende der zweiten Zeile ist ein Christogramm eingraviert, das die Inschrift gleichsam christianisiert. Dass dieses grafische, öffentliche Bekenntnis zum Christentum dem originalen Zeichenbe­stand der Inschrift angehört, wird allgemein vorausgesetzt. Auch wenn dem tatsächlich so ist, bleibt es aber die Äußerung eines Einzelnen. Daran ändert auch das hohe Amt von Pontius Asclepiodotus nichts.

Die älteste sicher datierte Quelle, deren Inhalt nicht nur die Präsenz von Christen, son­dern auch eine – bischöflich verfasste – Gemeinde belegt, sind die Akten des Konzils von Aquileia des Jahres 381. An diesem Konzil nahm „Theodorus episcopus octodorensis“ teil27.

Die Anfänge des Christentums auf dem Gebiet der heutigen Schweiz bis ins 4. Jahrhundert · 105

5 Castrum Rauracense/Kaiseraugst (Kanton Aargau), Fundobjekte des 4.  Jh. 1: Ring; Bronze. 2: Ring; Silber . 3: Helmzier; Bronze. 4: Zahnstocher-Ohrlöffelchen aus dem 351/352 vergrabenen Silberschatz; Silber. 5: Eusstata-Stele aus der älteren Kastellnekropole (vgl. Abb.  13,7); Sandstein. 1–3: Mst. 2:1; 4: 20,8 cm lang; 5: 98 cm hoch. – Bild: Römerstadt Augusta Raurica.

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6 1: Basilea/Basel, Zwiebelknopffibel aus Grab 379 des Aeschenvorstadt-Friedhofes; Bronze, teilweise vergoldet; auf dem Scheitel des Bügels das Christogramm (Chi-Rho), untenstehend als Detail. 2 : Genava/Genf, Missorium Kaiser Valentinians I. (364–375) oder II. (375–392); Silber, teilweise vergoldet; Musée d’Art et d’Histoire. – 1: 7,8 cm lang; 2: Dm 27,7 cm. – Bild: 1: Zeichnung nach Moosbrugger 1971B (Anm. 13), 81 Abb.  138; Foto Peter Portner, Hist.Mus.Basel. 2: Jean-Marc Yersin, Musée d’art et d’histoire, Genf, inv. n° C 1241.

Die Anfänge des Christentums auf dem Gebiet der heutigen Schweiz bis ins 4. Jahrhundert · 107

7 Aventicum/Avenches (Kanton Waadt), Inventar eines Mädchengrabes aus der Westnekropole (vgl. Abb. 12,5) außerhalb der antiken Stadt. Höhe der Glasbecher 11 bzw. 12 cm. – Bild: Musée Romain Avenches.

108 · Guido Faccani

u. a. Tonlampen, mit Christogrammen nicht be­rücksichtigt.

31 Der Siegelring mit Schiff wurde südwestlich au­ßerhalb des Kastells gefunden, die anderen bei­den Funde stammen aus dem Gebiet beim Süd­tor im Innern des Kastells: K. Kob, Christen in Augusta Raurica: Ein weiterer Nachweis aus Kai­seraugst und eine Bestandesaufnahme. Jahresber. Augst u. Kaiseraugst 21, 2000, 119–125; P.­A. Schwarz, Zur ‚Topographie chrétienne‘ von Kai­seraugst (AG) im 4. bis 9. Jahrhundert. Zeitschr. Schweizer. Arch. u. Kunstgesch. 59, 2002, 153–168; vgl. auch Faccani 2012 (Anm. 30) 141.

32 Fibel: W. Kettler, Die Inschriften der Kantone Aargau, Basel­Stadt, Basel­Land und Solothurn bis 1300. CIMAH (Anm.  25) 3, 1992 Nr. 2. – Zahnstocher­Ohrlöffelchen: H. Cahn/A. M. Kaufmann (Red.), Der spätrömische Silber­schatz von Kaiseraugst. Basler Beitr. zur Ur­ u. Frühgesch. 9 (Derendingen 1984) Kat. 40.

28 Zu Martigny: Wiblé 2008 (Anm. 18); G. Facca­ni, Martigny (VS), Pfarrkirche Notre­Dame. Rö­mischer Gebäudekomplex, spätantike Bischof­skirche, mittelalterliche Pfarrkirche. Stud. Spä­tant. u. Frühmittelalter 2 (Hamburg 2010) 17–26.

29 Dazu: A.  Antonini, St­Maurice d’Agaune. In: RGA² XXVI (Berlin 2004) 138–143. O. Werme­linger (Hrsg.): Mauritius und die Thebäische Le­gion: Akten des internationalen Kolloquiums, Freiburg, Saint­Maurice, Martigny, 17.­20. Sep­tember 2003 = Saint Maurice et la légion Thébai­ne: actes du colloque international …, Paradosis 49 (Fribourg 2005).

30 Der für das Jahr 346 anhand von – sicherlich ge­fälschten – Konzilsakten angenommene Bischof Justinian von Castrum Rauracense/Kaiseraugst wird hier nicht in die Betrachtungen einbezogen; dazu: G. Faccani, Die Dorfkirche St. Gallus in Kaiseraugst/AG. Forsch. in Augst 42 (Basel 2012) 141–143. Bei den Kleinfunden sind Keramiken,

Bischof Theodor, der außerdem noch die Akten einer 393 in Mailand abgehaltenen Syno­de firmierte, residierte im heutigen Martigny, dem damaligen Octodurus, einst Hauptstadt der Alpenprovinz Alpes Poeninae28. Theodor war es, der noch im 4.  Jahrhundert die Thebäer­Martyrer in Acaunus, dem heutigen Saint­Maurice (Kanton Wallis), auffand, ihnen zu Ehren eine Kultstätte errichten ließ, und damit einen nach ganz Europa aus­strahlenden Martyrerkult begründete29.

Einzel- und Grabfunde

Mit der Sittener Inschrift und den beiden Konzilsakten ist der datierbare Quellenbestand für das 4. Jahrhundert bereits ausgeschöpft30. Zieht man dann die Klein­ und Grabfunde mit christlicher Ikonografie heran, treten nebst der Westschweiz weitere Regionen mit Nachweisen von Christen dazu. Funde mit eindeutig christlichen Motiven fehlen einzig im rätischen Raum.

Aus Castrum Rauracense/Kaiseraugst stammen Fingerringe mit christlichen Motiven (Schiff bzw. Schiff und Christogramm) und ein mit Chi­Rho versehenes Zierelement wohl eines Militärhelmes31 (Abb. 5,1–3). Während die Ringe christlichen Einzelpersonen gehörten, war das Zierelement Teil der Uniform einer Person in staatlichen Diensten – und ist damit kein Beleg für Christen vor Ort. Gleiches gilt für die Aussagekraft zur Frage nach der Christianisierung für ein Zahnstocher­Ohrlöffelchen mit Christogramm aus dem Kaiseraugster Silberschatz (Abb. 5,4), für eine Zwiebelknopffibel mit Christogramm aus Basel (Abb.  6.1) und für das in der Nähe von Genf zutage getretene missorium (Abb. 6.2) Valentinians I. (364–375) oder II. (375–392)32.

Die Anfänge des Christentums auf dem Gebiet der heutigen Schweiz bis ins 4. Jahrhundert · 109

34 E. Sauser, Anker. In: Lexikon der christlichen Ikonographie 1 (Rom 1990) Sp. 119.

35 Mittlerweile ist etwa 100  m östlich des Grabes eine Sargbestattung aus den 380er­Jahren gefun­den, bis auf hölzerne Schuhsohlen ohne Funde: J. Morel u. a., Chronique des fouilles archéolo­giques 2006. Bull. Pro Aventico 48, 2006, 110–113.

36 R. Degen, Zu einem frühchristlichen Grab aus Aventicum. In: Ders./W. Drack/R. Wyss (Hrsg.), Helvetia antiqua. Festschrift Emil Vogt (Zürich 1966) 253–270; Jörg 1984 (Anm. 32) Nr. 2, 3.

37 Jörg 1984 (Anm. 32) Nr. 2, 3.38 M. Bernasconi Reusser, Le iscrizioni dei can­

toni Ticino e Grigioni fino al 1300. CIMAH (Anm. 25) 5, 1997 Nr. 1, 2. – Ein 1854 bei Yver­don im Gebiet eines Gräberfeldes entdeckter Ring mit Christogramm auf der Ringplatte stammt wohl ebenfalls aus einem Grab: Jörg 1984 (Anm. 32) Nr. 8.

M.  A.  Guggisberg u. a. (Hrsg.), Der spätrömi­sche Silberschatz von Kaiseraugst. Die neuen Funde. Silber im Spannungsfeld von Geschichte, Politik und Gesellschaft der Spätantike. Forsch. in Augst 34 (Augst 2003). – Missorium: Ch. Jörg, Die Inschriften der Kantone Freiburg, Genf, Jura, Neuenburg und Waadt. CIMAH (Anm.  25) 2, 1984 Nr. 1; A.  Arbeiter, Der Kaiser mit dem Christogramm­Nimbus. Zur silbernen Largiti­onsschale Valentinians in Genf. Helvetia Arch. 39, 2008, 42–73.

33 O. Perler, Die Stele der Eustata von Kaiser­Augst. Die älteste christliche Inschrift der Schweiz? In: Festschr. Oskar Vasella zum 60. Ge­burtstag am 15. Mai 1964 überreicht von Schülern und Freunden, hrsg von der Vereinigung katholi­scher Historiker der Schweiz (Freiburg i. Ü. 1964) 1–8; P.­A.  Schwarz/L.  Berger (Hrsg.), Tituli Rauracenses 1. Testimonien und Aufsätze. Zu den Namen und ausgewählten Inschriften von Augst und Kaiseraugst. Forsch. in Augst 29 (Augst 2000) 107–113; Schwarz 2002 (Anm. 31) 155.

Auf der älteren, bis ca. 350 belegten Kastellnekropole beim Castrum Rauracense wurde die vermutlich ins 4. Jahrhundert datierende Grabstele der Eusstata gefunden33 (Abb. 5,5). Ihr Giebel trägt eine ankerförmige Strichritzung, deren Deutung z. B. als christliches „Sinnbild des Glaubens und der Hoffnung auf Rettung in der Auferstehung“34 bis heute umstritten ist.

Ein Mädchengrab, das 1872 auf der Westnekropole außerhalb des antiken Aventicum/Avenches freigelegt worden war35, barg u. a. zwei Glasbecher mit Inschrift36 (Abb.  7). Während die Datierung des Beigabenensembles ins 4.  Jahrhundert gesichert ist, bleibt die christliche Deutung der Inschriften auf den Rändern der Glasbecher: VIVAS IN DEO (Du mögest in Gott leben!) resp. [PIE] ZE[SES] (Trinke, mögest Du leben!) mit Fragezei­chen behaftet.37

Als Grabbeigaben sind gleichfalls zwei mit Christogrammen geschmückte Ringe der Zeit um 400 überliefert, die vor 40 Jahren bei Ausgrabungen in Arcegno und bei Bellin­zona im Kanton Tessin zutage traten38. Mit großer Wahrscheinlichkeit dürften diese Ringe die Bestatteten als Christen ausweisen.

Architektur

Waren die bisher genannten Quellen Zeugnisse der Präsenz von Einzelpersonen, allen­falls von christlichen Gemeinden unbekannter Größe, ist die archäologisch gefasste kirchliche Architektur ein eindeutiger Nachweis für ein etabliertes und organisiertes Christentum.

110 · Guido Faccani

8 Die ältesten Kirchen der Schweiz. 1: Octodurus/Martigny (Kanton Wallis), spätantiker Kirchenkomplex (2. Hälfte 4. Jh.). 2: Genava/Genf, Nordkirche (um 370) des groupe épiscopal. 3: Castrum Rauracense/Kaiseraugst (Kanton Aar-gau), spätantiker Apsissaal/Kirche (um 400). Schwarz: weiterverwendetes auf-gehendes römisches Mauerwerk. Grau: nicht mehr verwendetes römisches Mauerwerk. Rot: Neubau. Lage der Bau-ten: 1 vgl. Abb. 10,5; 2 vgl. Abb. 11,2; 3 vgl. Abb. 13,6. – Bild: 1: Verf. 2: Verf. nach Bonnet 1993 (Anm.  41) Umschlag in-nen. 3: Verf.

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Die Anfänge des Christentums auf dem Gebiet der heutigen Schweiz bis ins 4. Jahrhundert · 111

(Anm.  18); ders., Les fouilles de la cathédrale Saint­Pierre, tome 2, en collaboration avec A. Peillex, avec des contributions de M. Campag­nolo, G. Faccani et I. Plan, Mémoire et Docu­ments, publié par la Société d’Histoire et d’Archéologie de Genève (im Druck).

39 Die Datierung kann aufgrund der Funde nur zwischen das 3. und das 6. Jh. eingegrenzt wer­den: Faccani 2010 (Anm. 28) 102, 112, 114.

40 Faccani 2010 (Anm. 28) 97–116, 193–232.41 Ch. Bonnet, Les fouilles de l’ancien groupe

épiscopal de Genève (1976–1993). Cahiers Arch. genevoise 1 (Genf 1993); Bonnet 2009

Befundsituation und Sakraltopografie weisen die Kirchenanlage in Octodurus/Mar­tigny als Bau der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts aus39. Am Rande der Siedlung ent­stand in einem bestehenden kaiserzeitlichen Gebäudekomplex in mehreren Etappen ein auffällig bescheiden bemessenes Bauprogramm mit Kirche und Taufraum40 (Abb. 8,1;10,5). Die Frage, ob die älteren Bauten unter dem kleinen Kirchenkomplex noch vor ihrer Adaption durch An­ und Umbau kirchlich genutzt wurden, kann weder aufgrund archäologischer Indizien noch anhand schriftlicher Überlieferung beantwortet werden; eine abschließende Verknüpfung der zwar vorhandenen Schriftquellen mit den nur ungenügend datierten archäologischen Bauten ist nicht zulässig.

In Genava/Genf wuchs innerhalb der spätantiken Wehrmauer in mehreren Schritten eine großzügig angelegte Kirchenfamilie, deren Anfänge durch Funde um das Jahr 370 datiert werden können41 (Abb.  8,2;12,2). Ein Apsissaal mit südlich anschließendem Taufhaus bildete den Kern der eindeutig kirchlichen Anlage. Urzelle könnte aber ein noch älteres Raumensemble gewesen sein, das auf der Mittelachse des später errichte­ten Apsissaals innerhalb eines repräsentativen kaiserzeitlichen Baukomplexes einge­richtet wurde. Für die Bauten unter dem Apsissaal sind zwar (möglichweise liturgische) Raumunterteilungen und Einbauten (keine Altäre) bekannt, doch wegen fehlender eindeutig kirchlich­funktional interpretierbarer Befunde bleibt die Sachlage offen. Wie in Martigny stößt man auch hier bei der Interpretation an eine klassische Grenze, deren

9 Castrum Rauracense/Kaiseraugst (Kanton Aargau), spätantiker Apsisbau/Kirche (um 400, rot) und Apis-denbau (ca. 370, principia?, gelb) beim Südtor im Vergleich. Lage der Bauten vgl. Abb. 13,5–6. – Bild: Römerstadt Augusta Raurica und Verf.

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112 · Guido Faccani

42 Faccani 2012 (Anm. 30) 79–104, 145–177.43 Z. B. Apsisgrabhaus in der jüngeren Kastellnek­

ropole von Kaiseraugst, um 400: M. Martin, Das spätrömisch­frühmittelalterliche Gräberfeld von Kaiseraugst, Kt. Aargau (Text). Basler Beitr. Ur­ u. Frühgesch. 5A (Derendingen 1991) 201–209, 346.

44 F.­O. Dubuis, L’église St­Jean d’Ardon (fouilles 1959–1960). Zeitschr. Schweiz. Arch u. Kunst­

Überschreiten auf historisch und archäologisch unsicheres Terrain führt. Diese Über­legungen sind dennoch stets anzustellen, nur müssen resultierende Hypothesen für sich stehen bleiben.

Ein dritter, wiederum anders gearteter Fall der Installierung eines frühen kirchlichen Zentrums findet sich in Castrum Rauracense. Die Erstfunktion des nach 350, wohl aber noch im späten 4. Jahrhundert bzw. um 400 bei der Kastellmauer entstandenen Apsis­saals ist nicht zu bestimmen42 (Abb.  8,3;13,6). Ein Profanbau im Castrum Rauracense selbst hat übereinstimmende Abmessungen (Abb.  9;13,5). Seine kirchliche Funktion wird evident vor allem aus typologischen Gründen nach dem Anbau verschiedener Annexe. Dürfen wir darin vielleicht eines der ersten Seelsorgezentren erkennen, wie sie im 5. Jahrhundert in beachtlicher Zahl errichtet wurden?

Für die drei Beispiele, deren Alter wohl der oben gewählten Reihenfolge entspricht, sind keine Auftraggeber bekannt. Welche Personen die Initiative zum Bau ergriffen, was für eine Stellung sie im öffentlichen Leben hatten und woher sie – und damit im gewissen Sinne auch das Christentum – kamen, ist nicht bekannt. Allein für Genf darf zumindest angenommen werden, dass aufgrund der Lage, der frühen Datierung und der anspruchs­vollen Architektur des ersten Apsissaales mit einer einflussreichen und solventen Träger­schaft zu rechnen ist.

Weitere Kirchenbauten aus dem 4. Jahrhundert sind derzeit nicht bekannt. Hinzuwei­sen bleibt noch auf Grabhäuser, deren „Religionszugehörigkeit“ freilich meist nur aus dem Gesamtzusammenhang erschlossen werden kann43. Zu erinnern ist an kaiserzeit­liche private Grabhäuser, aus denen, wie z. B. in Ardon (Kanton Wallis), später (Eigen­)Kirchen hervorgingen44, was hier aber nicht näher erörtert wird.

Spätantike Sakraltopografie: Koexistenz der Religionen

In Octodurus/Martigny lässt sich eindrücklich nachvollziehen, wie in der zweiten Hälf­te des 4. Jahrhunderts verschiedene Religionsgemeinschaften ihren Glauben pflegten und ihre Sakralbauten unterhielten45 (Abb. 10). Während der staatliche Forumstempel dem Raster der insulae einbeschrieben war, befanden sich die übrigen Kultbauten au­ßerhalb. Drei bzw. vier gallo­römische Umgangstempel sind bislang ergraben, alle wur­

gesch. 21, 1961, 113–142. Bei der massiv ausge­mauerten Grube (époque Ia) im Zentrum des Grabhauses (époque 1b) handelt es sich der Ab­messungen wegen (50–60 cm lichte Seitenlänge) wohl um die mit Steinplatten ausgekleidete Gru­be für eine Aschenurne.

45 Faccani 2010 (Anm. 28); Wiblé 2008 (Anm. 18).

Die Anfänge des Christentums auf dem Gebiet der heutigen Schweiz bis ins 4. Jahrhundert · 113

47 Im Jahr 380 wurde das Christentum Staatsreligi­on, 391 erfolgte das Verbot der paganen Kulte.

46 A. Cole, Martigny (VS), le mithraeum. Inventar der Fundmünzen der Schweiz/Inventaire des trouvailles monétaires suisses 5 (Freiburg. i. Üe. 1999) 18.

den den Münzfunden zufolge mindestens bis in das 5.  Jahrhundert aufgesucht. Am Westrand der Siedlung kam ein Mithräum zum Vorschein, das noch um 360/70 erneu­ert wurde46. Das christliche Zentrum, das innerhalb einer villa suburbana entstanden war, lag nur wenige Schritte von den beiden fana im Norden der Siedlung entfernt. Somit waren zumindest drei religiöse Gemeinschaften, darunter die Christen, in der zweiten Hälfte des 4.  Jahrhunderts Nachbarn mit der Gemeinsamkeit, dass sie ihrer Religionsausübung außerhalb der insulae nachgingen. Das Nebeneinander der ver­schiedenen Glaubensgemeinschaften dauerte vielleicht mehrere Jahrzehnte über die staatlichen Erlasse von 380 bzw. 391 hinaus an, bis das Christentum ab dem 5. Jahrhun­dert zu dominieren und die anderen Religionen zu verdrängen begann47. Im Mithräum wurden im Verlauf des 5.  Jahrhunderts Altäre in eine Grube gesenkt und die alten paganen Heiligtümer dienten als Steinbrüche, was die Mauern der im 5. oder spätestens

10 Octodurus/Martigny (Kanton Wallis) in der Spätantike. 1: Forumstempel. 2: Tempel des 1. Jh. v. Chr. 3: kaiserzeitliche fana. 4: Mithräum. 5: Kirche (vgl. Abb. 8,1). – Bild: Office des Recherches Archéologiques, Martigny und Verf.

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48 Faccani 2010 (Anm. 28) 124.49 Ch. Bonnet/B. Privati, L’agglomération romai­

ne du 1er siècle avant J.­C. au IVe siècle après J.­C. In: A. Wininger­Labuda u. a., Genève, Saint Ger­vais: du bourg au quartier. Les monuments d’art et d’histoire du canton de Genève 2 = Die Kunst­denkmäler der Schweiz 97 (Basel 2001) 8–14 bes.

im 6.  Jahrhundert errichteten Doppelkirche zeigen: Hier sind Spolien vor allem aus dem Forum und auch aus dem zugehörenden Tempel erhalten48.

So klar wie in Octodurus ist die Befundlage sonst nirgends. In Genava/Genf ist ein Nebeneinander a priori bislang nicht auszuschließen. Denkbar wäre, dass anders als in Octodurus weit voneinander entfernt ein Vorgänger der heutigen Kathedrale und das pagane Heiligtum unter der Kirche St­Gervais zumindest kurze Zeit nebeneinander exis­tierten49 (Abb. 11). In Aventicum/Avenches klafft vor allem für die Zeit zwischen dem 4. und dem 11. Jahrhundert eine Forschungslücke, die Siedlungssituation des 4. Jahrhun­derts kann nur ansatzweise skizziert werden (Abb. 12). Schenkt man Ammianus Marcel­linus Glauben, so war die Hauptstadt der Helvetier halb verfallen und weitgehend verlas­sen50. Jüngste Forschungsergebnisse lassen aber vor allem im Bereich des paganen

11 Genava/Genf in der Spätantike. 1: spätantike Umfassungsmauer. 2: Kathedrale (ab ca.  370, vgl. Abb.  8,2). 3: St-Germain (5.  Jh.). 4: St-Gervais (5.  Jh.). 5: La Madeleine (5.  Jh.). 6: Hafen.– Bild: Service cantonal d’archéologie und Verf.

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13: „… l’on peut se demander si le sanctuaire n’est pas délaissé vers 350  …“. Die Befundlage lässt also einen Spielraum offen für die Datierung der Aufgabe des paganen Heiligtums.

50 Ammian., 15,11,12: „…  Aventicum, desertam quidem civitatem, sed non ignobilem quondam, ut aedificia semiruta nunc quoque demonstrant“.

Die Anfänge des Christentums auf dem Gebiet der heutigen Schweiz bis ins 4. Jahrhundert · 115

12 Aventicum/Avenches (Kanton Waadt) in der Spätantike. 1: Forum. 2: Theater. 3: Amphitheater. 4: kai-serzeitliche Tempel. 5: Westnekropole. 6: Kirche St-Martin (5. Jh.). 7: Kirche St-Symphorien (6. Jh.) 8: Kirche St-Thècle (Donatyre, 6. Jh). 9: mittelalterliche Stadt. – Bild: Musée Romain Avenches und Verf.

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52 Vgl. G. Faccani, Tempel, Kirche, Friedhof und Holzgebäude – bauliche Kontinuität zwischen dem 1. und 16./17. Jh. bei Grange­des­Dîmes in Avenches? Bull. Assoc. Pro Aventico 46, 2004, 7–65.

51 P. Blanc, Avenches/Aventicum dans l’Antiquité tardive et au haut­Moyen Age à la lumière des récentes découvertes archéologiques. Zeitschr. Schweizer. Arch. u. Kunstgesch. 59, 2002, 177–188 bes. 178–183.

Tempelquartiers westlich der kaiserzeitlichen insulae noch eine Siedlungstätigkeit erah­nen51. Hier entstanden spätestens im 5. bzw. 6. Jahrhundert unter Einbeziehung älterer Mauern bzw. eines Tempels christliche Sakralbauten52. Ein Nebeneinander verschiede­ ner Religionen ist derzeit nicht zu erkennen. Ebenso verhält es sich für das im ausgehen­den 3. und im 4. Jahrhundert von Unruhen heimgesuchte an der Rheingrenze liegende Augusta Raurica/Augst (Abb.  13). Hier trat die kaiserzeitliche Oberstadt, wo sich die

116 · Guido Faccani

13 Augsta Raurica/Augst (Kanton Baselland) und Castrum Rauracense/Kaiseraugst (Kanton Aargau) in der Spätantike. 1: Forum der Oberstadt. 2: Theater. 3: kaiserzeitliche Tempel. 4: enceinte réduite von Kastelen (letztes Viertel 3. Jh.). 5: Apsidenbau (principia? um 370, vgl. Abb. 9). 6: Kirche St. Gallus (um 400, vgl. Abb. 8,3). 7: ältere Kastellnekropole. 8: jüngere Kastellnekropole. – Bild: Römerstadt Augusta Raurica und Verf.

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14 Curia/Chur (Kanton Graubünden) in der Spätantike. 1: Wehrmauer. 2: spätantike Vorgängerin der heutigen Kathedrale. 3: Friedhofgelände. 4: sog. Andreasmemorie (ev. spätes 4./5.  Jh.). 5: Grabhaus St. Stephan (1. Hälfte 5.  Jh.) – Bild: Verf. nach W. SulSer/H. ClauSSen, Sankt Stephan in Chur. Frühchristliche Grabkammer und Friedhofs-kirche (Zürich 1978) 14.

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loque international d’Avenches 2–4 novembre 2006. Antiqua 43 (Basel 2008) 137–153.

56 R. Kaiser, Churrätien im frühen Mittelalter. Ende 5. bis Mitte 10. Jahrhundert (Basel ²2008). – Für die Frühzeit der Churer Diözese vgl. auch: Durst 2002 (Anm. 22).

57 J. Rageth, Römische Fundstellen Graubündens. Schriftenreihe des Rätischen Mus. Chur 47 (Chur 2004) 22.

58 Zur Bistumsgeschichte von Chur vgl.: A. Bruck­ner/K.  Bugmann, Schweizerische Kardinäle. Das Apostolische Gesandtschaftswesen in der Schweiz. Bistümer und Erzbistümer I (A­Ch). Helvetia Sacra 1,1 (Bern 1972) 449–619.

59 Hier werden vielleicht die Resultate der jüngsten, zwischen 2003 und 2007 durchgeführten Gra­bungen (örtl. Arch. Leitung: Manuel Janosa, Arch. Dienst Kt. Graubünden) weitere Präzisie­rungen erlauben.

60 Kaiser 2008 (Anm. 56) 82.

53 Datierung: M. Peter, Untersuchungen zu den Fundmünzen aus Augst und Kaiseraugst. Stud. Fundmünzen Ant. 17 (Berlin 2001) 155–161.

54 M. Peter, Kaiseraugst und das Oberrheingebiet um die Mitte des 4. Jahrhunderts. In: Guggisberg u. a. 2003 (Anm.  32) 215–223 bes. 217–219; R. Fellmann, Spätrömische Festungen und Posten im Bereich der Legio I Martia. In: C. Bridger/K.­J. Gilles (Hrsg.), Spätrömische Befestigungsanla­gen in den Rhein­ und Donauprovinzen. BAR Internat. Ser. 704 (Oxford 1998) 95–103.

55 Da keines der Heiligtümer bislang wissenschaft­lich bearbeitet ist, sind Aussagen zu einem mög­lichen Nebeneinander von Kirche im Kastell und Tempeln unmöglich; vgl. vorerst: Th.  Huf­schmid, Die Heiligtümer von Augusta Rauri­ca. Überlegungen zur Topographie und Interpre­tation. In: D. Castella/M.­F. Meylan Krause (Hrsg.), Topographie sacrée et rituels. Le cas d’Aventicum, capitale des Helvètes. Actes du col­

meisten Tempel befanden, ihre Bedeutung um 30053 an das am Rhein errichtete wehr­hafte Castrum Rauracense/Kaiseraugst ab54. Im Kastell ist bislang kein Tempel nachge­wiesen. Um den paganen Kulten nachzukommen, dürfte man also weiterhin die alten Tempel des „heiligen Bezirkes“ in der Oberstadt aufgesucht haben55.

Noch lückenhafter ist das Bild für die Provinz Raetia prima, dem Gebiet der Churer Diözese56. Während die pagane Sakraltopografie des Hauptortes Curia/Chur (Kanton Graubünden) nicht einmal annähernd bekannt ist57, wissen wir immerhin, dass spätes­tens seit dem mittleren 5. Jahrhundert ein Bischof in Chur residierte58 (Abb. 14). Da der älteste bislang bekannt gewordene Vorgänger unter der Kathedrale nicht ausreichend datiert ist, darf vorerst nicht ausgeschlossen werden, dass sich die Churer Christen­ gemeinde bereits im späten 4. Jahrhundert bischöflich organisierte. Wirtschaftlich und verkehrstechnisch wäre eine solche Entwicklung durchaus denkbar. Handelte es sich bei den Resten unter der Kathedrale tatsächlich noch um eine Kirche des 4. Jahrhunderts, wäre eine Entwicklung wie in Genf, oder eher wie in Kaiseraugst, anzunehmen, liegt doch der Churer Sakralbau auch im Innern bzw. nahe der spätantiken Wehrmauer59.

Nachleben der heidnischen Kulte

Die Etablierung des Christentums ist mit der Festigung der Strukturen im 5. und 6. Jahr­hundert nicht abgeschlossen. Immer wieder wird berichtet, dass die Landbevölkerung eigenen Kulten nachging, was die noch bis in karolingische Zeit ergehenden Verbote heidnischer Bräuche wie Zauberei und Wahrsagerei belegen60.

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63 T. Luginbühl, Sanctuaires et divinités en Helvé­tie occidentale. Éléments de réflexion sur la typo­logie et la localisation des lieux de culte gallo­ romain. In: D. Castella/M.­F. Meylan Krause (Hrsg.), Topographie sacrée et rituels. Le cas d’Aventicum, capitale des Helvètes. Actes du col­loque international d’Avenches 2–4 novembre 2006. Antiqua 43 (Basel 2008) 229–245.

61 A. Liver/J. Rageth, Neue Beiträge zur spätrö­mischen Kulthöhle von Zillis. Die Grabungen 1994/95. Zeitschr. Schweiz. Arch u. Kunstgesch. 58, 2001, 111–125; vgl. auch Kaiser 2008 (Anm. 56) 80–82.

62 Zur Kirche St. Martin: Sennhauser 2003 (Anm. 16) 203 f.

Mittlerweile sind zum Phänomen der sich über das 5. Jahrhundert hinaus haltenden paganen Kulte auch archäologische Fakten greifbar. Eines der eindrücklichsten Beispiele hierfür ist eine Höhle oberhalb des heutigen Ortes Zillis im Kanton Graubünden61 (Abb. 3). Hier wurden auf das 2. Jahrhundert n. Chr. zurückgehende Spuren erfasst, die vermutlich von praktizierten orientalischen Kulten herrühren. Die Unterbindung der Handlungen erfolgte gegen Ende des 6. oder im Laufe des 7. Jahrhunderts, als eine Kirche bereits etliche Jahrzehnte unweit der Höhle bestand62. Da bei der Höhle bis ins 8./9. Jahr­hundert Bestattungen vorgenommen wurden, die durch ihre Lage auf der Nord­Süd­Achse gegenüber den sonst geosteten christlichen Gräbern auffallen, kann aber eine Kon­tinuität der paganen Kulte bis in karolingische Zeit nicht ganz ausgeschlossen werden.

Ähnliches ist aus dem westlichen Teil der Schweiz im Gebiet des Lausanner Bistums bekannt geworden63. Das Heiligtum vom Chasseron bzw. die Grotten und Quellen von Covatanne im Kanton Waadt (Abb. 3) dürften nach Ausweis der Fundobjekte noch bis ins 7. Jahrhundert nicht nur zufällig, sondern zu gezielten Opferhandlungen aufgesucht worden sein. Das Nebeneinander von heidnischen Riten und christlicher Glaubenswelt überdauerte somit die Spätantike bis weit in die folgenden Epochen hinein.

Zusammenfassung

Für das 1.–3. Jahrhundert fehlen auf dem Gebiet der heutigen Schweiz Nachweise für die Präsenz von Christen. Einzelfunde des 4. Jahrhunderts aus den meisten Regionen belegen die nicht weiter erstaunliche Anwesenheit von Personen christlicher Konfession. Erst im Jahr 381 wird eine bereits bestehende bischöflich verfasste Christengemeinde in Octodu-rus/Martigny fassbar. Die ältesten materiellen Nachweise von Christengemeinden, also nicht Einzel­ oder Grabfunde, sondern kirchliche Architektur, sind in den großen antiken Orten überliefert, wo auch die administrativen Zentren der Christen aufgebaut wurden.

In diesen Zentralorten dürfte im ausgehenden 4. Jahrhundert die Koexistenz verschie­dener Religionsgemeinschaften, wenn nicht der Regelfall, so doch keine Seltenheit gewe­sen sein, wie der Fall von Octodurus anschaulich zeigt: Im ausgehenden 4. Jahrhundert bestanden neben dem Zentrum der christlichen Gemeinde mindestens vier weitere Heiligtümer.

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Wohl erst das 5. Jahrhundert markiert eine Zäsur. In ländlichen Gebieten ist aber das Weiterleben heidnischer Riten archäologisch nachgewiesen und die Schriftquellen zei­gen, dass sich das Christentum bis weit ins Frühmittelalter nicht vollständig durch gesetzt hatte.

Die moderne kritische Erforschung der materiellen Kultur des frühen Christentums setzt in der Schweiz bereits im mittleren 19. Jahrhundert ein. Die bisher geleistete wissen­schaftliche Arbeit bildet eine solide Grundlage für weitergehende zusammenfassende Forschungen zur Etablierung des Christentums. Dabei sollte verstärkt die Zusammen­arbeit besonders mit der Kirchengeschichte und religionsgeschichtlichen Forschungen zu paganen Heiligtümern gepflegt werden.

Summary

The beginnings of Christianity in what is now Switzerland, up to the 4th century

In the area of modern­day Switzerland, there is so far no evidence for the presence of Christians between the 1st­3rd centuries. However, isolated 4th century finds from most regions show that, unsurprisingly, Christian individuals were present. Yet it is only in AD 381 that an already existing, episcopally established Christian community in Octodurus (Martigny/VS) becomes visible. The earliest material remains of Christian communities, i. e. not single or grave finds but actual church architecture, come from the large ancient settlements, where Christian administrative centres were established.

By the late 4th century, the co­existence of different religious groups was probably the rule, or at least not the exception, in these central places, as the case of Octodurus eloquently shows. In the late 4th century there were at least four further sanctuaries in addition to the centre of the Christian congregation.

A marked­break probably only occurred in the 5th century. However, the survival of pagan rites is archaeologically attested in rural areas and the written sources show that Christianity was not fully established until well into the early Middle Ages.

In Switzerland, the modern critical study of the early Christian material culture began in the mid­19th century. The work carried out so far forms a solid foundation for further synthetic research on the establishment of Christianity. In this context, the collaboration with ecclesiastical history and with research into pagan shrines should be extended.

Dr. Guido Faccaniarchaeologiae fabrica et sculpturae mediaevalisGertrudstrasse 70CH-8003 Zü[email protected]