Gibt es eine jüdische Theologie der Hebräischen Bibel? — Altes Testament und Moderne 14 (2001)

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Altes Testament und Moderne herausgegeben von Bernd Janowski (Tübingen) Andreas Schille (Richmond) Hans-Peter Müller t Michael Welker (Heidelberg) Erich Zenger (Münster) Band 14 LIT

Transcript of Gibt es eine jüdische Theologie der Hebräischen Bibel? — Altes Testament und Moderne 14 (2001)

Altes Testament und Moderne

herausgegeben von

Bernd Janowski (Tübingen)

Andreas Schille (Richmond)

Hans-Peter Müller t Michael Welker (Heidelberg)

Erich Zenger (Münster)

Band 14

LIT

Paul Hanson, Bernd Janowski, Michael Welker (Hg.)

BIBLISCHE THEOLOGIE

Beiträge des Symposiums

»Das Alte Testament und die Kultur der Modeme«

anlässlich des 100. Geburtstags

Gerhard von Rads (1901 - 1971) Heidelberg, 18. - 21. Oktober 2001

von Magne Sreb�, Seizo Sekine, James Barr, Frank Crüsemann,

Shimon Gesundheit, Erich Zenger, Phyllis A. Bird, Dorothea Erbete-Küster, Samuel Vollenweider,

Hendrik L. Bosman, Christoph Schwöbel und Carl S. Ehrlich

LTT

Inhaltsverzeichnis

I.

Magne Stebo Der Weg der Biblischen Theologie von Gabler zu von Rad . . . . . . . . . . . . „„ . . . . . „ . . . . . .

Seizo Sekine Biblische Theologie vs. Dogmatische Theologie? Response auf den Vortrag VOI). Magne Sreb0 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

II.

James ßa17 Some Problems in the Search for a Pan-Biblical Theology . . . . . . . . . . . . . . . . . „ . . . . . . . . . . . . 3 1

Frank Crüsemann Über die Schrift hinaus? Response auf James Barr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . „„..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

III.

Shimon Gesundheit Gibt es eine jüdische Theologi� der Hebräischen Bibel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . 53

Erich Zenger Ist das Projekt »Theologie der Hebräischen Bibel/des Alten Testaments« überhaupt bibelgemäß? ' Response auf den Vortrag von Shimon Gesundheit . . . . „ . . . „ . . . . . . „ . . . . . . . „ . . . . . . . . . . „.. 65

IV.

Phyllis A. Bird Old Testament Theology and the God of the Fathers Refleccions on Biblical Theology from a North American Feminist Perspective .. „ . . . . . . . . „ . . . . „„ ..... „.„ . . „ . . „ . . . „ . . . „ .. „ . . „ . . . . . . . 69

Dorothea Erbele-Küster lYer Gott der Väter und Mütter: Eine Reaktion aus der Perspektive einer deutschsprachigen Theologin Response auf Phyllis A. Bird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

X Inhal! sverzeichn.is

V.

Samuel Vollenwezder Vom israelitischen zum christologischen Monotheismus Überlegungen zum Verhältnis zwischen dem Glauben an den einen Gott und dem Glauben an Jesus Christus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

Hendrik Bosmrm Monotheism and Trinity Beyond Arithmetic Response to Samuel Vollenweider . . . . . . . . . . . . . . . „ • • • . . . . . . . . • .• • . „.„ .. „ . . . „ . . . . . . . „.„ . . . . . . . . . ... . 135

VI.

Chnstoph Schwöbel Der Gott der Geschichte und der Gott der Weisheit Systematisch-theologische Etwägungen im

Anschluss an Gerhard von Rad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

Carl S. Ehrlich Gott der Geschichte und der Weisheit Response auf Christoph Schwöbel . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . 155

Autorinnen, Autoren und Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . ... . . . 161

Gibt es eine jüdische Theologie der Hebräischen Bibel?

Shimon Gesundheit -Jerusalem

Jüdische Wissenschaftler scheinen sich nahezu einig darüber zu sein, dass es keine jüdische Theologie der Hebräischen Bibel gibt.1 In diesem Beitrag soll versucht werden, dieser opinio communis eine positive Antwort gegenüber zu stellen. Doch zuerst seien im Folgenden einige verbreitete Begründungen für die allgemein akzeptierte Antwort, dass es eine jüdische Theologie der Hebräischen Bibel nicht gibt, grob zusammengefasst:2

1. Es gibt keine jüdische Theologie, weil es sie nicht gibt, d.h., weil es keine Bücher über eine jüdische Theologie der Hebräischen Bibel gibt. So urteilt Matitiahu Tsevat in seinem Artikel »Theologie des Alten Testaments - eine jüdische Sicht«.3 - Auch diese Annahme, dass es keine Bücher über eine jüdi­sche Theologie gibt, möchte ich im Folgenden bestreiten. Ebenso möchte ich am Rande andeuten, weshalb jüdisch-theologische Schriften manchmal nicht als solche erkannt wurden.

2. Es gibt keine jüdische Theologie der Hebräischen Bibel, weil sich Juden fürbiblische Theologie nicht interessieren, da der Forschungsbereich der bibli­schen Theologie von christlichen Konzeptionen und z.T. anti-jüdischen Vorurteilen dominiert sei. Diese provokative Antwort ist von Jon Levenson aus Harvard gegeben worden,4 obwohl er selbst einige wertvolle theologische Bücher geschrieben hat.5

Anders I. Kalimi, Religionsgeschichte Israels oder Theologie des Alten Testaments? Das jüdische Interesse an der Biblischen Theologie,JBTh 10 (1995), 45-68; s. auch die in Anm. 6 erwähnten Arbeiten M.A. Sweeneys und M.Z. Brettlcrs.

2 Einen kritischen Überblick der jüdischen Stellungnahmen bietet J. Barr, The Concept of Biblical Theology: An Old Testament Perspecrive, Minneapolis 1999, 286-311.

3 M. Tsevar, Theologie des Alten Testaments - eine jüdische Sicht, in: M. Klopfenstein u.a. (Hgg.), Mitte der Schrift? Ein jüdisch-christliches Gespräch: Texte des Berner Symposions vom 6.-12. Januar 1985, JudChr 11, Bern 1987, 329-341; s. besonders 329: »Es gibt keine jüdische Theologie des Alten Testaments - keine, wenn man, wie es wohl geboten ist, von einem kleinen, vereinzelten Anlauf absieht. Eine Darstellung dieses Gegenstandes in der Sicht ,des Judentums käme einer Zoologie des Einhorns gleich.« Eine englische Version von Tsevats Artikel und eine Erwiderung B.W. Andersons erschien in HBT 8 (1986), 33-50.51-59.

4 J.D. Levenson, Warum Juden sich nicht für biblische Theologie interessieren, EvTh 51 (1991), 402-430. Erstveröffentlichung: Ders„ Why Jews Are Not Inrerested in Biblical

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3. Es gibt keine jüdische Theologie der Hebräischen Bibe� aber es muss sie geben, d.h. jüdische Bibelforscher sollten sich endlich mit diesem bisher von protestantischer Seite dominierten Wissenschaftsbereich intensiv beschäfti­gen. So folgert Moshe Goshen-Gottstein in einigen seiner letzten Artikel zu diesem Thema. 6

4. Es gibt keine jüdische Theologie der Hebräischen Bibe� genauso wenig wie es eine jüdische Physik gibt und es darf sie auch in Zukunft nicht geben, weil sie nicht wissenschaftlich wäre. So urteilt Meir Weiss in seinem Beitrag »Zur Frage einer jüdischen Hermeneutik in der Tanach-Forschung«.7

5. Es gibt keine jüdische Theologie der Hebräischen Bibel und es darf sie auch nicht geben, weil sie mit Judentum nichts mehr zu tun hätte, wenn sie sich vom Midrasch lösen würde. Dieses Urteil scheint aus Jakob Neusners pole­mischem Buch »Jews and Christians. The Myth of a Common Tradition« hervorzugehen.8

111eology, in:]. Neusner u.a„ Judaic Perspectives on Ancient Israel, Philadelphia 1987, 281-307. Wiederabdruck in: J.D. Levenson, Tue Hebrew Bible, the Old Testament, and Histori­cal Criticism,Jews and Christians in Biblical Studies, Louisville 1993, 33-61.

5 J .D. Lcvenson, Sinai and Zion, Minneapolis 1985; ders„ Creation and the Persisrence of Evil: The Jewish Dxama of Divine Omnipotence, San Francisco 1988; ders„ The Death and Res­urrection of the Beloved Son: The Sublimation of Cluld Sacrifice in Judaism and Christian­ity, New Haven 1993.

6 M.H. Goshen-Gottstein, Christianity,Judaism and Modem Bible Study, VT.S 28 (1975), 69-88; ders„Jewish Biblical Theology and the Study ofBiblical Religion, Tarbiz 50 (1981), 37-52 01ebräisch); ders„ Tanakh Theology: Tue Religion of the Old Testament and the Place of Jewish Biblical Theology, in: P.D. Miller (Hg.), Ancient Israelite Religion, FS F.M. Cross, Philadelphia 1987, 617-644. Im Sinne Goshen-Gottsteins und in Antithese zu J.D. Leven­son fordert M.A. Sweeney ein jüdisches Engagement an der theologischen Forschung der Hebräischen Bibel; s. ders„ \Xlhy Jews Should Be Interested in Biblical Theology, CCAR.J 44 (1997), 67-75. Ebenso meint M.Z. Brettler in seiner schriftlichen Version seines Referats, gehalten an einer von M. Fishbane und T. Frymer-Kensky organisierten »conference on Jew­ish theology« (University of Chicago, 19.-20. Mai 1997), dass allein die Tatsache des Zustan­dekommens einer solchen Konferenz und das große Interesse der Teilnehmerlnnen an den diskutierten 111emen die Revision J .D. Levensons Artikel »Why Jews Are Not Interested in Biblical 111eology« (s. Anm. 4) e� Jahrzehnt nach seiner Erstveröffentlichung im Sinne von »\Xlhy Jews Were not Interested in Biblical 111eology« notwendig machen; s. M.Z. Brettler,

Biblical History and Jewish Biblical 111eology, JR 77 (1997), 565. 7 M. Weiss, Zur Frage einer jüdischen Hermeneutik in der Tanach-Forschung, in:

Klopfenstein u.a. (Hgg.), Mitte der Schrift? (s. Anm. 3), 29-43; s. besonders 42f. Ähnlich urteilt Tsevat, 111eologie (s. Anm. 3), 335.

8 J. Neusner, Jews and Christians: The Myth of a Common Tradition, London/Philadelphia 1991; s. auch ders„ Tue Role of Scripture in the Torah- Is Judaism a »Biblical Religion«?, in: H. Merklein u.a. (1-Igg.), Bibel in jüdischer und christlicher Tradition, BBB 88, Bonn 1993, 192-211. Nichtsdestoweniger erschien in der von Neusner u.a. editierten Encyclopaedia of Judaism (Bd. 3, Leiden u.a. 2000, 1436-1447) ein elfseitiger Lexikonartikel über »Biblical Theology - The Religious System of the Ancient Israelite Scriptures« von K. -J. Illman.

Gibt es eine jüdische Theologie der Hebräischen Bibel? 55

Ich möchte meine positive Antwort zur Frage einer jüdischen Theologie mit einem Zitat einer Passage aus dem Buch Leo Adlers »Der Mensch in der Sicht der Bibel« beginnen. Meine Absicht ist dabei zweifach: Erstens ist Leo Adlers Buch ein Beispiel und ein deutliches Lebenszeichen für die Vitalität einer enga­gierten jüdischen biblischen Theologie aus moderner Zeit. Zweitens ist der fol­gende Abschnitt geeignet, in das konzeptionelle Problem einer jüdischen bibli­schen Theologie einzuführen:

»Meine Absicht ist es, die alte Bibel aus der jüdischen Sicht darzutun. Ich ge­he dabei von der Frage aus, was im Mittelpunkt der biblischen Betrachtung steht; ob es der Mensch ist oder Gott, welcher den zentralen Gegenstand der biblischen Erläuterung bildet. Das scheint mll: die fundamentale Frage nach dem Wesen der Bibel zu sein. Nehmen wir an, dass es das Göttliche ist, worum es sich in der Bibel zuerst und zuletzt handelt, dann ist die Bibel eine Lehre von Gott, eine Theologie im wahrsten Sinne des Wortes. Setzen wir dagegen den Menschen als den Hauptgegenstand der biblischen Betrachtung, so ist die Bibel eine Lehre vom Menschen, etwas wie eine Anthropologie aus der Perspektive Gottes. Je nachdem wir entweder Gott oder den Menschen im Brennpunkt der Bibel sehen, wandelt sich der Grundcharakter der Bibel von einer an das Philo­sophische angrenzenden Theorie von Gott zu einer mehr von psychologischen Faktoren bestimmten Darstellung der Menschnatur.

Die Konsequenzen dieser beiden Betrachtungsweisen gehen ebenso ins Äu­ßerste wie ins Antinomische. Worüber will uns die Bibel Aufschluß geben? Will sie uns mit dem Göttlichen bekanntmachen oder mit dem Menschlichen? Was ist das Gegebene und was ist das Gesuchte? Lehrt uns die Bibel, was wir von Gott zu glauben haben, oder will sie uns den Menschen verdeutlichen, indem sie uns dartut, was Gott vom Menschen denkt, wie wir uns selbst denken und er­kennen müssen? Theologie oder Anthropologie, das ist die Frage, an der die Deutung der Bibel hängt, eine Frage von nicht nur religionsgeschichtlichem Charakter, sondern von tiefgreifenden historisch-praktischen Auswirkungen.

Zweitausend Jahre überlieferten jüdischen Denkens lassen keinen Zweifel darüber, dass es der Mensch ist, der nach jüdischer Auffassung von der Bibel erforscht und aufgesucht wird . . .

Der Gott der Bibel hat sich Israel nicht sowohl in seinem Wesen offenbart als in seinen für den Menschen bestimmten Gesetzen . . .

Deshalb gibt es in den Büchern der alten Bibel noch nicht einmal ein Wort für den Begriff des Glaubens an sich. Das hebräische Wort emrma bedeutet Treue. Weil emuna Treue und nicht nur Glauben bedeutet, wird sie auch als Attribut Gottes gebraucht. Diese die Lebenspraxis kennzeichnende biblische emuna macht die menschliche Tat zum Maßstab der Religion. Mehr als Gott sich de

"m Menschen offenbart hat, ist es der Mensch, der zum Träger der göttli­

chen Offenbarung geschaffen wurde. Darin liegt das Wesenhafte der jüdischen Interpretation der Bibel. Es ist ein Denken, welches dem Menschen zugewandt ist, indem es den Menschen im Lichte Gottes schaut, statt Gott im Lichte der

1 1

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Menschen. Judentum lehrt nicht sowohl den Glauben des Menschen an Gott als das Urteil Gottes über den Menschen.«9

1. Anthropologie versus Theologie

Wenn Leo Adlers Behauptung richtig ist, dass es nach jüdischer Auffassung in der Bibel mehr um den Menschen als um Gott geht, dann wird eine jüdische Theologie der Bibel - in den Worten Adlers - wohl eher Anthropologie als Theologie sein. Tatsächlich war Theologie im Judentum stets eine beinah esote­rische Beschäftigung. Ebenso konzentrierte sich das talmudisch-halachische Schaffen der letzten anderthalb Jahrtausende mehr auf den Menschen und auf seine zwischenmenschlichen rechtlichen Beziehungen als auf die kultischen Verpflichtungen gegenüber Gott. Wenn Theologie im engen Sinn als eine Lehre von Gott aufgefaßt wird, dann scheint es richtig zu sein, dass sich Juden aus einer sozusagen anthropologisch orientierten geistigen Tradition nur in Aus­nahmefällen mit Theologie beschäftigten.10 Wenn aber das Nachdenken über den Sinn und die Aufgabe des Menschen oder über den Sinn der Beziehung des Menschen zu Gott oder über den Sinn und die Bedeutung des Landes Israel und ähnliche Themenkreise in einem breiteren Sinn als Theologie bezeichnet werden dürfen, dann haben sich Juden sehr wohl mit Theologie beschäftigt.11

2. Assoziative Konzeption versus systematische Ordnung

Als zweites Moment möchte ich kurz auf das in der Diskussion der letzten Jahre hin und wieder erscheinende Argument eingehen, dass Talmud und Midrasch nicht systematisch, sondern assoziativ konzipiert seien und dass der jüdischen Geistesgeschichte jede Systematik grundsätzlich fremd sei. Die Frage eines Ge­samtentwurfs einer biblischen Theologie oder die »christliche« Frage nach der sogenannten »Mitte der Bibel« stelle sich demgemäß dem jüdischen Denken gar nicht.12 Dieses Urteil scheint allerdings zu pauschal und undifferenziert zu

9 L. Adler, Der Mensch in der Sicht der Bibel, München/Basel 1965, 11-15. 10 Also z.B. die philosophisch-theologischen Werke eines Sa'adja Gaon [Sa'adja ben Joseph

Gaon, 882-942] oder eines Mairnonides (Mose ben Maimon, 1135-1204] oder auf der ande­ren Seite die mystisch-kabbalistischen Schriften.

11 In diesem Sinn versteht neuerdings M.A. Sweeney (The Emerging Field of Jewish Biblical Theology, in: z. Garber [Hg.], Academic Approaches to Teaching Jewish Studies, Lan­ham/New York/Oxford 2000, 83-105, besonders 85.98) seinen Ansatz zu einer jüdischen Theologie der Hebräischen Bibel; s. auch ders„ Why Jews Should Be Interested (s. Anm. 6), 67-75.

12 S. etwa J.D. Levenson, Biblische Theologie, 421-426. Zw: christlich-theologischen For­schungsgeschichte der Suche nach einer Mitte der Bibel s. H. Graf Reventlow, Hauptprob-

Gibt es eine jüdische Theologie der Hebräischen Bibel? 57

sein.13 Ebenso werden dabei die wichtigen philosophischen Werke von Sa'adja Gaon, Maimonides und anderen jüdischen Philosophen im arabisch-spanischen Europa und Nahen Osten des Mittelalters außer Acht gelassen. Denn diesen Gelehrten war eine systematische Theologie keinesfalls fremd. Im Gegenteil, ihre Werke dürfen in gewissem Sinne geradezu als monumentale Beispiele einer systematischen jüdischen Theologie der Bibel dienen. Darüber hinaus kann be­reits der Prozess der Kanonisierung des Tanachs und seiner Kategorien (Tora, Nevi'im und Ketuvim) nicht verstanden werden, ohne die inhärenten systemati­schen und dogmatischen Intentionen dieses Vorgangs wahrzunehmen.14

Ebenso sollten auch talmudische Quellen wie z.B. Bawli Makkot 23b-24a be­rücksichtigt werden, wo nach der Mitte des biblischen Gesetzes gefragt wird. Bemerkenswerterweise wird hier allerdings keine endgültige Antwort gegeben. Vielmehr wird die Suche nach der Mitte des biblischen Gesetzes als dynami­scher innerbiblischer Prozess dargestellt: 15

Rabbi Simlaj trug vor: 613 Vorschriften sind Mosche überliefert worden; 365 Verbote, ent­sprechend den Tagen des Sonnenjahres und 248 Gebote, entsprechend den Gliedern des Menschen...

·

David kam und brachte sie auf elf, denn es steht geschrieben (Ps 15,lff): »Ein Psalm Davids: HERR, wer darf in deinem Zelt weilen, wer darf auf deinem heiligen Berg wohnen? (1) Wer makellos wandelt und (2) Gerechtigkeit übt und (3) Wahrheit redet in seinem Herzen, (4) nicht verleumdet mit seiner Zunge, (5) seinem Freund nichts Böses tut und (6) seinen Nächsten nicht schmäht; (T) der Verwerfliche ist verachtet in seinen Augen und (8) die den HERRN fürchten, ehrt er; (9) er schwört zu seinem Schaden und ändert es nicht; (10) sein Geld gibt er nicht für Zins und (11) Bestechung gegen den Unschuldigen nimmt er nicht an. Wer solches tut, wird nimmermehr wanken« ... Jescha'ajahu kam und brachte sie auf sechs, denn es steht geschrieben Qes 33,15f): »(1) Wer in Rechtschaffenheit wandelt und (2) aufrichtig redet, (3) wer Gewinn durch Erpressung ver­schmäht, (4) wer Bestechung mit den Händen abwehrt, (5) wer sein Ohr verstopft, dass er nicht von Blutvergießen höre und (6) seine Augen verschließt, dass er nichts Böses sehe« ... »der wird auf Höhen wohnen«. Micha kam und brachte sie auf dr.ei, denn es steht geschrieben (Mi 6,8): »Er hat dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert, nämlich (1) Recht tun, (2) Wohltätig­keit lieben und demütig mit deinem Gott wandeln« ...

lerne der alrtestamentlichen Theologie im 20. Jahrhundert, EdF 173, Darmstadt 1982, 138-147.

13 Dabei wird auch die Komplexität des christlichen Standpunkts übersehen; s. B. Janowski, Der eine Gott der beiden Testamente: Grundfragen einer Biblischen Theologie, in: Ders., Die rettende Gerechtigkeit: Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 2, Neukirchen­Vluyn 1999, 273-281. G. von Rad war beispielsweise der Meinung, dass, anders als das Neue Testament, das Alte Testament »keine l\llirte« habe; s. ders., Theologie des Alten Testaments, Bd. 2, München s1968, 386. Zur kontroversen Diskussion dieser Frage zwischen G. von Rad und W. Zimmerli s. Janowski, a.a.O., 275ff.

14 Darauf hat zu Recht Bernd Janowski hingewiesen; s. Janowski, a.a.O., 274. 15 Für eine deutsche Übersetzung s. L. Goldschmidt, Der Babylonische Talmud, Bd. 9, Berlin

1934, 233ff.

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Jescha'ajahu kam nochmals und brachte sie auf zwei, denn es steht geschrieben Ges 56,1): »(1) Wahret Recht und (2) übt Gerechtigkeit« ... Arnos kam und brachte sie auf eines, denn es steht geschrieben (Arnos 5,4): »Suchet mich, so werdet ihr leben«. Raw Nachman bar Jizchak wandte ein: Vielleicht bezieht sich »Suchet mich« auf die ganze Tora (also auf alle Gebote). Vielmehr kam Habakuk und brachte sie auf eines, denn es steht geschrieben (Hab 2,4): » ... der Gerechte wird durch seine Ehrlichkeit16 leben«.

Heinrich Graetz schreibt dazu: »Es ist dieses der erste Versuch, sämtliche Ge­setze des Judentums auf Prinzipien zurückzuführen.«17

In diesem Zusammenhang sollten auch Anekdoten und Aussprüche zur Fra­ge, was der eine große allgemeine Grundsatz der Tora (klal gadol batora) - oder ähnliche Formulierungen - sei, beachtet werden:

Abermals ereignete es sich, dass ein Nichtjude vor Schamaj trat und zu ihm sprach: Mache mich zum Proselyten unter der Bedingung, dass du mich die ganze Tora lehrst, während ich auf einem Fuße stehe. Da stieß er ihn fort mit der Elle, die er in dt:r Hand hatte. Darauf kam er zu Hillel und dieser machte ihn zum Proselyten und sprach zu ihm: Was dir nicht lieb ist,

16 M.E. interpretiert Raw Nachman bar Jizchak das Wort emzma (Hab 2,4) hier im Sinne von Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit, also als eine ethische Eigenschaft, welche sich, wie die. an­deren zusammenfassenden Prinzipien der Gesetze, vor allem auf das soziale zwischen­menschliche Verhalten bezieht. emuna in der Bedeutung von Glauben oder Treue zu Gott käme gemäß Raw Nachman der Idee des abgelehnten Amosverses nahe �>Suchet mich, so werdet ilu leben«), welcher eine allgemeine Verpflichtung zu Gott und seiner Tora - also zu allen Geboten - ausdrücke. (Man vergleiche zur Auslegung des Begriffs emrma als soziale Rechtschaffenheit dagegen die paulinische Auslegung in Röm 1, 17 und Gai 3, 11 ). Eine Raw Nachmans ähnliche Auslegung findet sich in der aramäischen Übersetzung, wo emuna mit dem aramäischen Wort kuschta (= Wahrheit, Gradheit, Recht; s. G.H. Dalman, r\ramäisch-Neuhebräisches Handwörterbuch zu Targum, Talmud und Midrasch, Göttingen 1938, 393) wiedergegeben wird; s. A. Sperber, The Bible in Aramaic, Bd. 3, Leiden 21992, 461; Cf. auch K.J. Cathcart/R.P. Gordon, The Targum of the Minor Prophets, Wtlmington 1989, 151 und Anm. 18. Es darf zugestanden werden, dass die Auslegung des Wortes emuna im Sinne von Rechtschaffenheit und Redlichkeit im biblischen Hebräisch zumindest möglich ist (z.B. Spr 12,22; s. L. Koehler/W. Baumgartner, Hebräisches und Aramäisches Lexikon zum Alten Testament, Bd. 1, Leiden 31967:c61); Cf. auch F.I. Andersen, Habbakuk, AB 25, New York 2001, 215: »In any case, 'emuna does not mean >trustingness< as a spiritual virtue of which a human being is capable. As ascribed to a human being, 'bmina describes reliability in carrying out a task, steadfastness in relationships, being worthy of someone else's trust.«

17 Geschichte der Juden, Bd. 4, Berlin 1996 (= 41908), 242; ähnlich W. Bacher, Die Agada der Palästinensischen Amoräer, Bd. 1, Straßburg 1892, 557f; E.E. Urbach, The Sages: Their Concepts and Beliefs, Cambridge (MA) 1987, 343ff. Dagegen scheint die Hypothese Paul Billerbecks abwegig, dass es sich hier um »die völlige Entwertung des Glaubens, von dem 'Hab 2,4 die Rede ist« (sie!), handle, welche »eine polemische Spitze gegen die Bedeutung des Glaubens auf christlicher Seite enthalte«; s. P. Billerbeck, Die Briefe des Neuen Testaments und die Offenbarung Johannis erläutert aus Talmud und Midrasch (Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd. 3), München 1926, 543f.

Gibt es eine jüdische Theologie dex Hebräischen Bibel? 59

das tue auch deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze Tora und alles andere ist nur die Er­läuterung; geh und lerne sie.18

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst (Lev 19,18). - Rabbi Akiwa sagt: Das ist ein großer allgemeiner Grundsatz der Tora. Ben Asai sagt: Dies ist das Buch der Geburtsfolge des Menschen. Als Gott den Menschen schuf, machte er ihn nach dem Bilde Gottes (Gen 5,1). -Das ist ein größerer allgemeiner Grundsatz als jener.19

Bar Kappara trug vor: Welches ist ein kleiner Schriftabschnitt, von welchem alle wesentli­chen Bestandteile der Tora abhängen? - Auf all deinen Wegen erkenne ihn und er wird deine Pfade ebnen (Spr 3,6). 20

Angesichts dieses Sachverhalts kann also die These, dass jede Art von Systema­tik oder die Frage nach einer Mitte der Bibel der jüdischen Geistesgeschichte völlig fremd seien, nicht aufrecht erhalten werden. Andererseits ist ebensowenig abzustreiten, dass philosophische und systematische Geistesrichtungen im tradi­tionellen Judentum vom Mittelalter bis in die Neuzeit immer peripherer wurden. Dieser Umstand hängt mit der Tatsache zusammen, dass methodische Errun­genschaften der Wissenschaft zur Zeit der Renaissanc,e und der Aufklärung nur in begrenztem Ausmaß vom traditionellen Judentum absorbiert wurden, da die­ses bis zu seiner politischen Emanzipation aus den Akademien Europas ausge­schlossen war. Folgerichtig begannen dann die ersten Anfange einer biblisch­theologischen wissenschaftlichen Disziplin gerade im akademisch offenen Re­formjudentum.

3. Tanach versus Altes Testament

Erst in jüngster Zeit wird von christlicher Seite ein ernster Versuch gemacht, das Alte Testament auch aus sich selbst und nicht nur aus dem Neuen Testament verstehen zu lernen. Man spricht also nicht mehr ausschließlich vom »Alten Testament«, sondern auch von der »Hebräischen« oder »Jüdischen Bibel«, vom »Tanach«, vom »Ersten Testament« oder von der »Alten Bibel«. Dadurch wird zum ersten Mal ein Freiraum geschaffen, in welchem sich jüdische Forscher einer biblischen Theologie bewegen können.21

18 Bawli Schabbat 31a; zitiert aus der deutschen Übersetzung von Goldschmidt, Talmud (s. Anm. 15), Bd. 1, 521f.

19 Sifra Kedoschim 2, 4; deutsche Übersetzung: J. Winter, Sifra: Halachischer Midrasch zu Leviticus, Breslau 1938, 507.

20 Bawli Berachot 63a; deutsche Übersetzung: Goldschmidt, Talmud (s. Anm. 15), Bd. 1, 285. 21 S. E. Zenger, Das Erste Testament. Die jüdische Bibel und die Christen, Düsseldorf 21992;

R. Rcndtorff, Old Testament Theology, Tanakh Theology, or Biblical Theology? Reflections in an Ecumenical Context, Bib. 73 (1992), 441-451; N. Lohfink, Eine Bibel - zwei Testa­mente, in: Ch. Dohmen/Th. Söding (Hgg.), Eine Bibel - zwei Testamente: Positionen bibli-

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4. Sofa Scn'ptura versus Midrasch

Ein weiterer Gesichtspunkt ist die jüdische Parallele zum christlichen Problem, das Alte Testament auch aus sich selbst und nicht nur aus dem Neuen Testa­ment zu verstehen. Mutatis mutandis lautet diese Frage auf jüdischer Seite: Sind Juden bereit, die Bibel auch aus sich selbst, also ohne Midrasch und Talmud zu lesen? Dieses Problem war zweifellos eine der großen Hürden, die der wissen­schaftlichen und theologischen Erarbeitung des Tanach durch jüdische Gelehrte im Wege stand. Wenn der Mut aufgebracht wurde, den Tanach auch aus sich selbst zu begreifen, brachten jüdische Gelehrte wertvolle Beiträge zur philologi­schen und exegetisch-theologischen Erforschung der Hebräischen Bibel hervor. So geschah es im goldenen Zeitalter der jüdischen Exegese des Mittelalters,22 in der modernen jüdisch-wissenschaftlichen23 und in der jüdisch-neuorthodoxen24 Forschung.

Die Beschäftigung mit jüdischer Theologie war und ist für den Juden eine Herausforderung mit offensichtlich widerspruchsvollen Voraussetzungen: Eine jüdische Theologie erfordert einerseits eine gewisse Identifizierung mit dem jüdi­schen Glauben - oder mit der »community of faith« des jüdischen Kanons, um es mit den Worten Childs' zu sagen - und anderseits eine Bereitschaft, die jüdi­sche Bibel aus sich selbst und nicht einfach aus der jüdischen Tradition des Mi­drasch und der klassischen jüdischen Exegese zu verstehen. Diese wider­spruchsvollen Eintrittsbedingungen in eine Zunft jüdischer Theologen der Bibel haben offenbar die meisten jüdischen Gelehrten eher abgestoßen als angezogen.

Erstaunlicherweise finden wir diese widerspruchsvollen Voraussetzungen ge­rade bei einigen der großen jüdischen Exegeten des Mittelalters, in der Blütezeit der jüdischen Exegese, erfüllt. In der Schule des Raschi (Rabbi Schlomo Jizcha­ki, 1040-1105, Troyes, Mainz und Worms) beginnt eine eigentlich revolutionäre Bewegung, die Bibel intensiv zu studieren und zu kommentieren. Kommentato-

scher Theologie (UTB 1893), Paderborn 1995, 9-16; für weitere Literatur s. Janowski, Der eine Gott (s. Anm. 13), 249f.

22 S. die zusammenfassende Darstellung von A. Grossman, The School of Litera! Jewish Exe­gcsis in Northem France, in: M. Stl!b0 (Hg.), Hebrew Bible/Old Testament: The History of its Interpretation, Volume 1/2: The Middle Ages, Göttingen 2000, 321-371.

23 S. z.B. D. Neumark, The Philosophy of the Bible, Cincinnati 1918; A.j. Heschel, Die Prophetie, Kxakau 1936; M. Bubcr, Königtum Go!!es, Berlin 1932; ders„ Der Glaube der Propheten, Zürich 1950; Y. Kaufmann, The Religion of Israel, translated and abridged by Moshe Greenberg, Chicago 1960; Sh. Talmon, Gesammelte Aufsätze, 3 Bde„ Neukirchen-

- Vluyn 1988-1995; M. Greenberg, Stud.ies in the Bible and Jewish Thought, Philadelphia 1995; ders„ On the Bible and Judaism: A Collcction of Writings, Tel Aviv 1984; Levenson (s. die in Anm. 5 zitierten Werke); S. Japhet, The Ideology of the Book of Chronicles and its Place in Biblical Thought, Frankfurt a.M./New York 21997.

24 S. z.B. J. Soloveitchik, The Lonely Man of Faith, New York 1997 (erstveröffentlicht 1965); M. Breucr, Pirqe Mo'adot, 2 Bde„ Jerusalem 1986 (hebräisch); ders„ Pirqe Bereshit, 2 Bde„ r\lon Shevut 1998 Q1ebräisch).

Gibt es eine jüdische Theologie der Hebräischen Bibel? 61

rcn wie Raschi, Raschbam (Rabbi Shemuel ben Me'ir, 1080-1160), Rabbi Sche­maja ( 1060-1130), Rabbi Josef Kara ( 1050- 1 125) und Rabbi Josef Bechor Schor ( 1 1 30-1200) sind in Talmud und Midrasch bewandert. Einige dieser Gelehrten beschäftigen sich auch intensiv mit der Kommentierung des Talmud. Doch in ihren Bibelkommentaren schieben sie die Exegese des Talmud und der Midra­schim erstaunlicherweise bewusst beiseite, wenn sie diese als Hindernis zur Er­schließung des Peschat (des wörtlichen oder ursprünglichen Sinn des biblischen Textes) empfinden. In diesen Fällen versuchen sie die Bibel möglichst aus sich selbst und oft in scharfem Gegensatz zur jüdischen Tradition zu verstehen.25 Ein Höhepunkt dieser Tendenz sei durch folgendes Zitat aus Rabbi Josef Karas (ca. 1050-1 125) Kommentar zum Samuel buch (I Sam 1, 17) illustriert:

Doch wisse: Als die Prophetie niedergeschrieben wurde, wurde sie als vollkommen(e Pro­phetie) niedergeschrieben, einschließlich ihrer Bedeutung und alles Notwendige, um die kommenden Generationen nicht an ihr straucheln zu lassen. Von ihrer Stelle (d.h. von ihrem Text an einer gewissen Stelle) fehlt (also) nichts. Man braucht (deshalb) nie einen Beweis von einer anderen Stelle zu bringen, auch nicht einen M.idrasch. Denn die Tora ist in vollkom­mener Weise überliefert worden w1d in vollkommener Weise niedergeschrieben worden; nichts fehlt in ihr. Der M.idrasch unserer Weisen ist Ga) nur zur Verherrlichung und Aus­schmückung der Tora besrinlmt. Wer aber den einfachen Sinn eines Verses nicht kennt und

sich zum I\1idrasch dieser Angelegenheit (dieses Verses) hinwendet, gleicht einem von der Welle des Flusses überfluteten und von tiefem Wasser überschwemmten, der nach allem greift, was in seine Hand kommt, um sich zu retten. Wenn er aber sein Herz zum Wort Gottes hingewendet hätte, hätte er die (wirkliche) Bedeutung der Sache und ihren einfachen Sinn erforscht und härte dabei den Vers erfüllt »Suchst du nach ihm wie nach Silber, spürst wie verscharrten Schätzen ihm nach, dann wirst du die Furcht des HERRN verstehen, wirst die Erkenntnis Gottes finden« (Sprüche 2,4f).

Dieses anti-midraschische hermeneutische Credo stammt wohlbetont nicht von einem Karäer, sondern von einem prominenten, die Halacha praktizierenden Rabbiner, welcher allem Anschein nach auch einen nicht geringfügigen Einfluss auf seinen Lehrer und Kollegen Raschi - die größte rabbinische Autorität seiner Zeit - ausübte. Über die Beweggründe und den soziologisch-historischen Hin­tergrund der Peschat-Exegese sind sich die Forscher nicht einig. Das Haupthin­dernis zur Klärung der Frage, wie diese jüdischen Gelehrten die offensichtliche Spannung zwischen streng halachischem Lebenswandel und intellektuell unab­hängiger Bibelexegese überwanden, ist die peinliche Tatsache, dass sich die

25 Diese verallgemeinernde Beschreibung der färchat-Bewegung gilt prinzipiell für alle aufge­zählten Gelehrten, die sich allerdings methodisch voneinander unterscheiden, da ilue her­meneutischen Entscheidungen, was als Peschat gelten darf, verschieden ausfallen; für Einzel­heiten s. die in Anm. 22 zitierte Arbeit A. Grossmans und die dort zusammengestellte weiterführende Literatur.

62 Shimon Gesundheit

Peschat-Exegeten selbst nicht dazu äußerten.26 Man kann sich dem Eindruck nicht entziehen, dass diese Exegeten diese Spannung vielleicht gar nicht als sol­che empfanden. Sie verstanden offenbar die religiöse Pflicht des Tora-Studiums (mizwal limud tora) als kompromisslose philologische Wahrheitssuche, um den ursprünglichen Sinn der Bibel zu ergründen. Ihre tiefe Verwurzelung in der jüdi­schen Tradition und ihr intensiv betriebenes Studium sowohl der schriftlichen als auch der mündlichen Tora (Talmud und Midrasch) bewahrte sie allem An­schein nach vor dem Gedanken, praktische Konsequenzen aus ihrer Bibelexege­se zu ziehen.27 Ausschlaggebend für unseren Zusammenhang ist jedenfalls, dass die exegetische und theologische Erforschung der Bibel ohne Midrasch und Talmud schon in der jüdischen Tradition des Mittelalters verankert ist.

5. Soziologische, politische und psychologische Faktoren28

Abgesehen von grundsätzlichen und konzeptionellen Momenten sind aber auch soziologische, politische und psychologische Faktoren verantwortlich für den Umstand, dass die Existenz einer jüdischen Theologie überhaupt in Frage ge­stellt wird. Die wichtigsten dieser Faktoren sollen hier kurz erläutert werden:

1. Ein Studium biblischer Theologie an den Universitäten Europas war bis heute immer nur als Teil einer christlichen theologischen Ausbildung mög­lich. Jüdische Studenten waren also von vornherein davon ausgeschlossen. Ebenso waren praktisch keine jüdischen Fachkollegen an der wissenschaftli­chen Diskussion über biblisch-theologische Themen beteiligt. Es gab nur sehr wenige persönliche Verbindungslinien zu jüdischen Gelehrten und ihre Werke über biblische Theologie wurden kaum zur Kenntnis genommen. So blieb beispielsweise Leo Adlers eingangs zitiertes Buch so gut wie unbekannt, obwohl es 'l 965 im Ernst Reinhardt V erlag in München/Basel erschienen ist. Ebenso wurde Yehezkel Kaufmanns achtbändiges Werk toledot ha'emuna hai isre'elit29 auch nach der Übersetzung Moshe Greenbergs ins Englische im

26 Obgleich die bewusste Trennung von f?eschat und Midrasch in den methodischen Grundsatz­erklärungen dieser Exegeten klar dargelegt wird, kommt eine Reflexion über die Spannung von unhalachischer Exegese und halachischer Lebenspraxis nie ausdrücklich zur Sprache.

27 Ähnlich urteilt E.E. Urbach (Tue Tosaphists: Their History, Writings and Methods, Jerusa­lem [hebräisch) 41980, 48) über die Peschat-Exegese Raschbams. Der These E. Touitous (Tue Method in RaShBaM's Commentary on the Halakhic Parts of the Torah [hebräisch), in: Sh. Ettinger u.a. [Hgg.), Milet - Everyman's University Srudies in J ewish History and Culrure, Bd. 2, Tel Aviv 1985, 275-288), dass Raschbams Peschat-Exegesr: nur ein taktisches Mittel seiner Polemik gegen die christologische Bibelauslegung sei, kann ich keinesfalls beipflichten.

28 Die folgenden Aspekte sind zum großen Teil bereits in den Arbeiten Moshe Goshen­Gottsteins (s. Anm. 6) und Isaak Kalimis (s. Anm. 1) berücksichtigt worden; s. auch Barr, Concept, 286-311 (s. Anm. 2).

29 Tel Aviv 1937.

Gibt es eine jüdische Theologie der Hebräischen Bibel? 63

Jahr 1960 kaum gelesen,30 bis es von Thomas Krapf in seiner Dissertation aus dem Jahr 1992 wiederentdeckt wurde.31

2. Umgekehrt werden jüdische ·Bibelwissenschaftler in moderner Zeit an sälntla­ren akademischen Institutionen ausgebildet,32 welche historisch-kritisch, also religionsgeschichtlich und nicht religiös-theologisch ausgerichtet sind. Dies ist einer der Gründe, weshalb sich heute die meisten jüdischen Bibelwissen­schaftler mit der Geschichte, Sprache, Exegese und Umwelt der Bibel be­schäftigen und nur wenige an der theologischen Forschung interessiert sind.

3. Es wird heute im allgemeinen anerkannt, dass die christliche theologische Forschung bis zur Zeit nach dem Holocaust von antijudaistischen oder z.T. sogar von antisemitischen Vorurteilen nicht frei war.33 Dieser Umstand hielt jüdische Gelehrte vor der Zeit des zweiten Weltkriegs entweder .von vorn­herein von der Beschäftigung mit biblischer Theologie ab oder veranlasste sie, ihr wissenschaftliches Schaffen apologetisch bzw. polemisch auszurich­ten, da die Auseinandersetzung mit der Bibelkritik - in den Worten Benno Jacobs - als »die eigentliche Lebensfrage für das Judentum«34 empfunden wurde. Die »bedingungslose Anerkennung« der Bibelkritik wäre in den Au­gen Jacobs »der reine Selbstmord« für das Judentum.35 Diese verständliche Über-Reaktion auf jüdischer Seite hat das In-Gang-Kommen eines sachli­chen Dialogs freilich nicht begünstigt. Im besten Fall wurde Polemik mit Gegen-Polemik und Apologetik mit verachtendem Spott beantwortet; im schlechten Fall wurden die Werke jüdischer Bibelwissenschaftler ignoriert oder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Ich denke dabei an Beispiele wie Benno Jacobs »Quellenscheidung und Exegese im Pentateuch«36 oder David Z. Hoffmanns »Die wichtigsten Instanzen gegen die Graf-Wellhau­sensche Hypothese«.37

30 Yehezkel Kaufmann, Religion (s. Anm. 23); s. auch ders„ Tue Babylonian Caprivity and Deutero-Isaiah, translated by C.W. Efroymson, New York 1970.

31 Th. Krapf, Die Priesterschrift und die vorexilische Zeit: Yehezkel Kaufmanns vernach­lässigter Beitrag zur Geschichte der biblischen Religion, Freiburg (Schweiz) 1992. S. auch ders., Yehezkel Kaufmann: Ein Lebens- und Erkenntnisweg zur Theologie der hebräischen Bibel, Berlin 1990.

32 Ausnahmen sind die akademischen Institutionen des Reformjudentums und der konser-vativen Bewegung. :

33 S. beispielsweise C. Klein, Theologie und Anti-Judaismus, München 1975. Für weitere Lite­ratur s. Kalimi, Religionsgeschichte (s. Anm. 1), 53.

34 B. Jacob, Erwiderung auf S. Jampels Buchbesprechung, MGWJ 55 (1911), 118f. 35 Ders., Unsere Bibel in Wissenschaft und Unterricht (Vortrag gehalten in der wissen­

' schaftlichen Vereinigung jüdischer Schulmänner zu Berlin), Berlin 1898, 7. S. auch mein Vorwort zur Neuauflage von Benno Jacobs Genesiskommentar: B. Jacob, Das Buch Gene­sis, Stuttgart (1934) 2000, 4-7.

36 Leipzig 1916. 37 Berlin 1903-1916.

64 Shimoa Gesundheit

4. Ein weiterer Grund, weshalb biblisch-theologische Werke jüdischer Autoren nicht immer als solche erkannt werden, ist eine gewisse Scheu auf jüdischer Seite, das »christliche« Wort Theologie zu gebrauchen. Yehezkel Kaufmann hat sein monumentales Werk »Die Geschichte des israelitischen Glaubens« (toledot ha'emuna hajisre'elit) genannt. Wer diese acht Bände aber nicht nur von außen betrachtet, stellt fest, dass dort von Religionsgeschichte sehr we­nig die Rede ist und dass Kaufmanns Werk in Wirklichkeit nichts anderes als eine Theologie der Hebräischen Bibel ist. David Neumark nannte seine Theologie der Hebräischen Bibel »The Philosophy of the Bible« (Cincinnati 19 18). Neumark denkt in den Kategorien der Graf-Wellhausenschen Urkun­den-Hypothese und ist vorrangig an den theologischen Aussagen der einzel­nen Urkunden interessiert. Und um schließlich ein neueres Beispiel anzufü­gen: Sara Japhet hat die englische Überarbeitung ihrer Dissertation unter dem Namen »The Ideology of the Book of Chronicles and its Place in Biblical Thought« (Frankfurt a.M. u.a. 1989) veröffentlicht, welche nichts anderes als eine Theologie - freilich im weiten Sinne des Wortes - der Chronikbücher ist.

*

Die Frage, ob es eine jüdische Theologie der Hebräischen Bibel gebe, muss po­sitiv beantwortet werden. Allerdings wurden die Werke jüdischer Theologie nicht immer als solche erkannt. Jüdische Autoren ziehen es vor, über die Welt­anschauung, Philosophie, Ideologie oder die Geschichte des Glaubens zu spre­chen, auch wenn es sich in Tat und Wahrheit um Theologie - im breiten Sinne des Wortes - handelt. Dennoch scheint die jüdische Theologie eher am Men­schen, an seinen Pflichten gegenüber Gott und seiner Umwelt interessiert zu sein als an einer abstrakten Gotteslehre. Insofern diese Einschätzung für die Werke jüdischer Autoren zutrifft, wäre damit ein mögliches Kriterium gegeben, diese Theologien als jüdisch zu bezeichnen.38 - War doch auch im Talmud und im nachtalmudischen Schrifttum diese betont anthropologische Fragestellung dominierend. Nichtsdestoweniger ist� die Bereitschaft jüdischer Gelehrter, die Bibel exegetisch und theologisch aus sich selbst und nicht nur aus der Sicht des Midrasch und Talmud zu erforschen, schon im Mittelalter belegt.

38 S. dazu die in Anm. 6 und 11 zitierten Arbeiten Sweeneys.

Ist das Projekt »Theologie der Hebräischen Bibel/ des Alten Testaments«

überhaupt bibelgemäß?

Response auf den Vortrag von Shimon Gesundheit

Erich Zenger - Münster

Shimon Gesundheit hat uns eindrucksvoll die jüdische Skepsis gegenüber dem wissenschaftlichen Projekt »Theologie des Alten Testaments« bzw. »Biblische Theologie« dargelegt. Die Gründe, die von namhaften jüdischen Bibelwissen­schaftlern für ihre Auffassung vorgebracht werden, dass es keine jüdische Theologie der Hebräischen Bibel gibt und geben kann, sind gewichtig und be­denkenswert. Zwar hat Sh. Gesundheit zugleich erläutert, dass es vereinzelt Stu­dien und Publikationen jüdischer Gelehrter gab und gibt, die de facto von ihrer Anlage und ihrer Zielsetzung her wenigstens partiell dem sehr nahe kommen, was die christliche Exegese »Theologie der Hebräischen Bibel« nennen würde. Darüber hinaus hat er deutlich gemacht, dass und warum diese Gelehrten die Titulatur »Theologie« für ihre Projekte abgelehnt haben bzw. ablehnen würden. Ich gestehe: Angesichts der Polyvalenz des Begriffs »Theologie« und vor allem angesichts seiner Verwendung in der christlichen Dogmatik gerade im Blick auf die »Gotteslehre«, wo manche Dogmatiker über das »Innenleben« Gottes mehr zu wissen scheinen als über sich selbst, kann ich die jüdische Reserve gegenüber dem Begriff »Theologie« im Kontext biblischer Aussagen durchaus nachvollzie­hen. Zumindest Alttestamentler müssen die christlichen Systematiker immer wieder daran erinnern, dass die Texte der Hebräischen Bibel/des Alten Testa­ments nichts über »Gott in sich« sagen, sondern >>nur« über Gottes Zugewandt­heit zu seinem Volk Israel und zur Welt als seiner Schöpfung reden. Eigentlich müsste das für eine Dogmatik, die um die Anliegen der theologia negativa weiß und die den Begriff Gottgeheimnis kreiert hat, eine pure Selbstverständlichkeit sem.

Ich kann und will hier nicht die Begriffsgeschichte von »Theologie« skizzie­ren. Aber es ist keine Frage: Das Projekt »Theologie des Alten Testaments« ist ein typisches Produkt der christlichen Theologie. Es ist entstanden, als die kriti­sche Exegese das festgefügte Gebäude der christlichen Lehre mehr und mehr erschütterte. Gegen die verwirrende Flut der vielen Einzelbeobachtungen und angesichts der vielfältigen Infragestellung scheinbar unumstößlicher Wahrheiten durch die historisch-kritische Exegese »erfand« man die »Theologie des Alten

66 Erich Zenger

Testaments« bzw. die »Biblische Theologie«, die systematisieren und festhalten sollte, was man als die (geoffenbarte) Wahrheit der Bibel lehren konnte und wollte. So verwundert es nicht, dass manche Theologien des Alten Testaments sogar in ihrem Aufbau sich an den Traktaten der christlichen Dogmatik orien­tierten und dass nicht wenige »Theologien« zumindest am Schluss ihrer Dar­stellung die »Christologie« als eigentlichen hermeneutischen Schlüssel des Alten Testaments präsentierten. Dass jüdische Bibelwissenschaftler angesichts dieser Forschungslage skeptisch sind, wenn sie ein analoges Projekt »Theologie der Hebräischen Bibel« entwickeln sollen, ist m.E. nicht verwunderlich. Die jüdische Skepsis gegenüber dem Projekt »Theologie de.r Bibel« kann dabei ja auch auf die Proteste christlicher Alttestamentler gegen die dogmatischen Nivellierungen der biblischen Aussagen, insbesondere gegen die Marginalisierung bzw. Diskriminie­rung des Alten Testaments in der christlichen Tradition, hinweisen. Freilich könnte man andererseits schon allein die Bezeichnung »Theologie des Alten Tes­taments«, wenn man sie so versteht, dass das Alte Testament das »Buch von Gott« und nicht das »Buch von Jesus Christus« ist, als für die christliche Bibel­lektüre höchst wichtige Verständnisanweisung begreifen und verteidigen.

Die jüdische Rückfrage nach Sinnhaftigkeit und Möglichkeit des Projekts »Theologie der Hebräischen Bibel/des Alten Testaments« ist allerdings noch viel grundsätzlicher. Während die christliche Bibelwissenschaft in den letzten Jahren zu unserem Thema vor allem um die zwei Fragen kreisten: »Wie ist das Verhält­nis von >Religionsgeschichte Israels< und >Theologie des Alten Testaments< zu bestimmen?« und »Wie muss eine Theologie des Alten Testaments angelegt und aufgebaut sein?«, fragen die jüdischen Bibelwissenschaftler ganz grundsätzlich: »Ist ein wie inuner gestaltetes Projekt Theologie der Hebräischen Bibel/ des Al­ten Testaments überhaupt bibelgemäß? Sind alle wie inuner gearteten Versuche, die Vielfalt und die Vielgestaltigkeit der biblischen Stimmen nachträglich zu sys­tematisieren, nicht eine Preisgabe des Propriums der jüdischen bzw. der christli­chen Bibel?« Um es mit einem Vergleich aus einem anderen Literaturbereich zu verdeutlichen: Wäre es nicht eine Zerstörung der Lyrik von Paul Celan und Nelly Sachs oder der Dramen von William Shakespeare und Friedrich Schiller, wenn man diese Texte in ein Lehrbuch umschreiben würde?

Die jüdische Rückfrage hat zugleich einen jahrhundertelangen Umgang mit der Bibel im Rücken, der die Polysemie der biblischen Texte, ja sogar der ein­zelnen biblischen Wörter als hermeneutisches Basisaxiom praktizierte und ver­teidigte. Jon D. Levenson hat diese grundsätzliche Problematik in seinem pole­mischen Beitrag »Warum Juden sich nicht für biblische Theologie interessieren« folgendermaßen auf den Punkt gebracht: »Die Bemühung, eine systematische, einheitliche theologische Aussage aus den unsystematischen und polydoxen , Materialien in der Hebräischen Bibel zu konstruieren, entspricht dem Christen­tum mehr als dem Judentum, da systematische Theoloßie im allgemeinen in der Kirche beherrschender und mehr beheimatet ist als in der Jeschiva und in der Synagoge . . . Der hartnäckige rabbinische Widerstand dagegen, das Besondere im

»Theologie der Hebräischen Bibel/des Alten Testaments« 67

Allgemeinen verloren gehen zu lassen, steht im starken Kontrast zu der allge­meinen Tendenz der christlichen Exegese ... Deshalb ist es unwahrscheinlich, dass die Suche nach der einen großen Idee, die die Hebräische Bibel durchdringt und zusammenhält, Judet;l interessiert. Statt dessen wird jüdische biblische Theologie, wie sie es schon immer war, also eine Sammlung von Einzelbeo­bachtungen sein, die dem Text beigefügt und seiner jeweiligen Besonderheit untergeordnet waren. Wie Gershom Scholem es ausgedrückt hat: > • • • Nicht das System, sondern der Kommentar ist die legitime Form, unter der die Wahrheit entwickelt werden kann«< Q.D. Levenson, Warum Juden sich nicht für biblische Theologie interessieren, EvTh 51 [1991], 421.423). In der Tat: Die umfangreiche Midraschliteratur ist kein Lehrsystem, sondern der grandiose Versuch, das (nie definierte) »Ganze« der Bibel in1 Fragment zu vermitteln - meist in lebensprak­tischer (halachischer) Absicht und nie mit dem Anspruch einer ewig gültigen Wahrheit oder »Gottestheorie«.

Trotzdem muss gegen J.D. Levenson und die Gegner des Projekts »Theolo­gie der Hebräischen Bibel« ein Zweifaches betont werden:

1 . Zwar ist die Hebräische Bibel kein systematisches Lehrbuch, aber sie ist gleichwohl keine Anthologie und Aphorismensammlung. Sie verdankt ihre schlussendlich vorliegende Textgestalt (ich verzichte hier auf die Darstellung der Komplexität der verschiedenen Text- und Buchformen in der jüdischen und christlichen Überlieferung) einer in den Textkomplexen selbst erkennbaren Systematisierung. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Die Tora hat eine Gesamt­konzeption, die als solche kommentiert und interpretiert werden kann. Und auch der Psalter ist nicht nur eine planlose Aneinanderreihung von Einzelpsalmen, sondern präsentiert sich als eine Buchkomposition, die als solche ausgelegt wer­den kann. Wenn dies geschieht, ist dies keine nachträgliche Systematisierung, sondern eine te:xtgemäße Interpretation.

2. Geht man davon aus, ·dass die Bibel ein literarisches Werk ist, das als

solches mit den Methoden der Literaturwissenschaft interpretiert werden kann, ist eine systematisierende und zusammenfassende Gesamtinterpretation zumin­dest der erkennbaren literarischen Großkomplexe wie z.B. Tora, Propheten, Psalmen eine legitime wissenschaftliche Aufgabe. Eine solche Gesamtinterpretati­on darf sich freilich nicht an die Stelle des interpretierten Textes setzen, sondern muss dazu dienen wollen, die Texte selbst tiefer und besser zu verstehen. Und diese Gesamtinterpretation muss um ihren hermeneutisch situativen Charakter und um ihre Subjektivität wissen.

·

Werden diese beiden Gesichtspunkte akzeptiert und beachtet, erscheint mir das Projekt »Theologie der Hebräischen Bibel/des Alten Testaments« grundsätzlich möglich und unbedingt wünschenswert. Ob man es »Theologie« nennen sollte, lasse ich offen, zumal ich keine Alternativbezeichnung weiß. Eines freilich weiß ich und konstatiere es im Rahmen des Jubiläums, das wir in diesen Tagen bege­hen, mit besonderer Freude: Die »Theologie des Alten Testaments«, die uns

68 Erich Zenger

Gerhard von Rad geschenkt hat, kommt in methodischer Hinsicht den von mir skizzierten Überlegungen sehr nahe. Dieses opus magnum ist nicht nur ein litera­risches Meisterwerk, sondern es ist eine dem Alten Testament kongeniale Gesamtinterpretation aus der subjektiven Sicht eines begnadeten Theologen. Es wäre, um zur Frage des Vortrags von Shimon Gesundheit zurückzukehren, wundervoll, wenn es irgendwann ein analoges Werk eines jüdischen Bibelwis­senschaftlers geben würde - mit einer dann durchaus anders akzentuierenden systematisierenden »Nachgestaltung« des biblischen Buchzusammenhangs. Dass dann stärker, als dies bei G. von Rad der Fall ist, die Bibel als »Lebensbuch« profiliert würde, wäre eine jüdische Sicht, die auch für eine christliche Lektüre der Bibel und der einzelnen biblischen Texte hilfreich wäre.