(ed.) Leib/Seele – Geist/Buchstabe. Dualismen in der Ästhetik und den Künsten um 1800 und 1900

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Inhalt Markus Dauss & Ralf Haekel Einleitung................................................................................................................... 7 I. Anthropologischer Dualismus Monika Sproll »aus der Seele heraus charakterisieren« – Herders Theorie des Charakters in seiner Abhandlung Vom Erkennen und Empfinden der Menschlichen Seele (1778) ...................................................... 37 Harald Neumeyer Traum-Literatur um 1800 – Körperreize, Psychenbilder und die Macht des Wortes .................................................................................... 59 Ralf Haekel Die Seele als ästhetische Kategorie – Edward Youngs Night Thoughts und William Blakes The Four Zoas .............................................. 81 Susanne Scholz »The Soul is in the Race« – Visionen des Leib-Seele- Verhältnisses bei Robert Louis Stevenson .......................................................... 103 II. Semiotischer Dualismus Stephan Pabst Werthers Ossian – Zur Aporetik des Authentischen ......................................... 121 Christiane Frey Der Weg allen Fleisches – Geist und Buchstabe in Moritz’ Andreas Hardknopf ................................................................................................ 147

Transcript of (ed.) Leib/Seele – Geist/Buchstabe. Dualismen in der Ästhetik und den Künsten um 1800 und 1900

Inhalt Markus Dauss & Ralf Haekel Einleitung................................................................................................................... 7

I. Anthropologischer Dualismus Monika Sproll »aus der Seele heraus charakterisieren« – Herders Theorie des Charakters in seiner Abhandlung Vom Erkennen und Empfinden der Menschlichen Seele (1778) ...................................................... 37 Harald Neumeyer Traum-Literatur um 1800 – Körperreize, Psychenbilder und die Macht des Wortes .................................................................................... 59 Ralf Haekel Die Seele als ästhetische Kategorie – Edward Youngs Night Thoughts und William Blakes The Four Zoas .............................................. 81 Susanne Scholz »The Soul is in the Race« – Visionen des Leib-Seele- Verhältnisses bei Robert Louis Stevenson .......................................................... 103

II. Semiotischer Dualismus Stephan Pabst Werthers Ossian – Zur Aporetik des Authentischen ......................................... 121 Christiane Frey Der Weg allen Fleisches – Geist und Buchstabe in Moritz’ Andreas Hardknopf ................................................................................................ 147

Christine Lubkoll Kunstgrammatik und Hieroglyphenschrift – Die Sonatenform als klassizistisch-romantisches Zeichenmodell ......................................................... 169 Markus Dauss Buchstaben – Architektur / Buchstabenarchitektur ........................................... 183 Rainer Metzger Das göttliche Alphabet – Buchstäblichkeit bei Johann Caspar Lavater ............ 209 Herbert Grabes Das Verhältnis des Geistigen zur Materie in Kandinskys Das Geistige in der Kunst ...................................................................................... 221

III. Leib/Seele – Geist/Buchstabe Hans Sanders Die Zeichen des Körpers lesen – Zur Strategie der Verführung in Choderlos’ Les liaisons dangereuses ...................................................................... 235 Roland Borgards Improvisation, Verbot, Genie – Zur Improvisationsästhetik bei Sonnenfels, Goethe, Spalding, Moritz und Novalis ............................................ 257 Caroline Welsh 1800/1900 – Ästhetische und psychische Stimmungen im Wandel dualistischer Modelle ............................................................................................ 269 Till Dembeck Phono-Graphie – Schallaufzeichnung und kultureller Vergleich 1800/1900 ............................................................................................. 293 Maximilian Bergengruen Das göttliche Ende der Nerven – Hermann Bahrs Die gute Schule zwischen Psychopathologie und Mystik ............................................................. 317 Franziska Bomski Die dialogische Identität in Robert Musils Novelle Die Amsel ......................... 339

Markus Dauss & Ralf Haekel

Einleitung

»In all speech, words and sense are as the body, and the soul.« Ben Jonson

Die beiden Begriffspaare, die Gegenstand der im vorliegenden Band versammel-ten Aufsätze sind, haben unterschiedliche Ursprünge und Traditionslinien – und stehen doch zueinander in einem engen, beziehungs- und spannungsreichen Verhältnis. Auf der einen Seite das Paar Leib und Seele, dessen Ausgangspunkt in der platonischen Philosophie liegt und dessen Verhältnis seit Descartes in veränderter Form als ein Grundproblem der neuzeitlichen Philosophie verhan-delt wird. Auf der anderen Seite das Begriffspaar Geist und Buchstabe, das auf den zweiten Korintherbrief zurückgeht – »Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig«1 – und das in der hermeneutischen, anthropologischen und poetologischen Diskussion der Neuzeit aktualisiert wird. Zueinander in Beziehung gesetzt werden in den vorliegenden Aufsätzen somit eine dualistische Anthropologie und eine dualistische Zeichentheorie. Mit dem Menschen und den Zeichen stehen mithin zwei Paradigmen der ästhetischen Erfindung der Moderne im Zentrum des Bandes.

Historisch sind beide Dualismen in der Ausprägung, wie sie um 1800 und um 1900 diskutiert und problematisiert werden, Produkte des 17. und 18. Jahrhunderts oder, um mit Michel Foucault zu sprechen, der »Episteme der Repräsentation«. Nach Foucault war die Renaissance noch von einer »Episteme der Ähnlichkeit« geprägt, die zwischen den Worten und den Dingen bestand, woraus er ein ternäres Modell des sprachlichen Zeichens ableitet, »weil sie sich des formalen Gebietes der Zeichen, dann des Inhalts, der durch diese Zeichen signalisiert wird, und der Ähnlichkeit bedient, die diese Zeichen mit den bezeichneten Dingen verbinden.«2 Die Episteme der Klassik löst dieses ternäre durch ein binäres Zeichenmodell ab, wonach zwischen den Dingen und den sie bezeichnenden Wörtern kein wesentliches, sondern ein arbiträres Verhältnis

1 2 Kor 3,6. 2 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, übers.

v. Ulrich Köppen, Frankfurt am Main 1995, S. 74.

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besteht: Zeichen repräsentieren die Dinge.3 Für das Verhältnis von Leib und Seele sowie für dasjenige von Geist und Buchstabe hat das weitreichende Konse-quenzen, da die Konzentration auf den zu vermittelnden Sinn die Einheit von Materie und Inhalt sprengt. Dies hat zur Folge, dass die Materialität des Körpers bzw. des Zeichens in den Hintergrund gedrängt wird: War in der aristotelischen Tradition die Seele die Form des menschlichen Körpers und stellte mit ihm über die vegetativen und sensitiven Fakultäten eine Einheit dar, so treten beide seit Descartes radikal auseinander. Dadurch kann in der mechanistischen Tradition der Körper zur Maschine werden, der von der Seele gelenkt wird. Auch wird die paradigmatische Stellung der Physiognomik im 18. Jahrhundert, nach der Körper und Gesicht Ausdruck der Seele sind, verständlich, wenn man sie vor dem Hintergrund des Leib/Seele-Dualismus betrachtet. Das Auseinandertreten von Geist und Buchstabe schließlich stellt den Sinn und den Inhalt des sprachlich Dargestellten über die Materialität des Zeichens: Die Sprache »ist nicht mehr Ort der Findung einer in Gott garantierten Wirklichkeit, sondern wird zu einem durch den Menschen zu konstruierenden Instrument bloßer Wiedergabe anders-wo gefundener und dort zu Realität gewordener Wirklichkeitserkenntnis.«4

Für die Dualismen Geist/Buchstabe und Leib/Seele hat die Episteme der Repräsentation deswegen eine besondere Bedeutung, weil ihre Gültigkeit um 1800, nach Foucault dem Beginn der Moderne, brüchig wird. Die historische Epochenschwelle von der Mitte des 18. zur Mitte des 19. Jahrhunderts, von Koselleck als »Sattelzeit«5 bezeichnet, markiert in vielerlei Hinsicht den Beginn der Moderne bei gleichzeitigem Fortbestehen der Tradition. Um 1800 kommt es zur Ausprägung des modernen Wissenschaftssystems mit der Trennung von Natur- und Geisteswissenschaft und dem Entstehen der Biologie als Wissen-schaft des Lebens. Zugleich, und das ist vor allem für das Leib/Seele-Verhältnis ausschlaggebend, werden traditionelle christlich-platonische Seelenvorstellungen nicht zugunsten etwa eines monistisch-organischen Lebensbegriffs verabschie-det. Vielmehr besteht – als Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen – ein zunächst noch marginalisiertes biologisch-materialistisches Verständnis neben einem traditionellen Substanzdualismus fort.

Der Dualismus von Leib und Seele um 1800 steht in der Tradition von Descartes und denkt ebenso wie derjenige von Geist und Buchstabe zwei vonei-

3 Andreas Mahler hat die Signifikanz dieses Epochenwechsels insbesondere für die englische

Literatur und Kultur des 17. und 18. Jahrhunderts herausgearbeitet: vgl. Andreas Mahler, »Die Materialität der Transparenz. Sprache, Politik und Literatur in der englischen Aufklä-rung«, in: Klaus Garber, Heinz Wismann und Winfried Siebers (Hg.), Europäische Sozietäts-bewegung und demokratische Tradition. Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung, Tübingen 1996, S. 721-754.

4 Ebd., S. 728. 5 Vgl. zur Begriff der Sattelzeit Reinhart Koselleck, »Einleitung«, in: Otto Brunner, Werner

Conze und Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 1972, S. xiii-xxvii, hier S. xv; ders., »Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit«, in: Reinhart Koselleck und Reinhart Herzog (Hg.), Epochenschwelle und Epochenbewusstsein, München 1987. S. 269-282.

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nander grundsätzlich verschiedene Substanzen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts ändert sich dieses Denken, was vor allem im Hinblick auf die beiden Dualismen um 1900 augenfällig wird. Dort verändern sich die Dualismen nicht nur – Leib und Seele werden zunehmend zu Gehirn und Bewusstsein –, sondern das Ver-hältnis wird auf einer Metaebene theoretisiert: Die Psychoanalyse ist Reflexion über die Bedingungen des Verhältnisses von Leib und Seele, genau wie das von der Semiotik eingeführte Begriffspaar von signifié und signifiant als theoretische Reflexion über das Verhältnis von Geist und Buchstabe begriffen werden kann. Wie eng beide Begriffspaare – und damit Psychologie und Semiotik – aufeinan-der bezogen sind, wird besonders bei Freud und, im noch einmal gesteigerten Maße, bei Lacan deutlich.

Die hier versammelten Aufsätze besitzen einen nicht allein thematisch, sondern auch zeitlich zweifachen Fokus, zum einen auf der Sattelzeit um 1800 und zum anderen auf der Klassischen Moderne um 1900. Dualistische Systeme sind immer von einer inneren Spannung geprägt und rufen zugleich Versuche hervor, diese monistisch zu überwinden, sei es in idealistischen oder materialis-tischen Entwürfen. Daher ist der dualistischen Anordnung immer schon eine potentielle historische Entwicklung eingeschrieben. Die zeitliche Spanne zwischen 1800 und 1900, die von den vorliegenden Aufsätze abgedeckt wird, lässt die den Diskursen des Klassizismus und der Romantik inhärenten Moderni-sierungstendenzen klar zu Tage treten. Sie bestimmen auch die Neurelationie-rung von Anthropologie und Zeichenkonzeption noch um 1900. Hierbei wird vor allem eines deutlich: Den Begriffspaaren Leib/Seele und Geist/Buchstabe schließen sich unmittelbar weitere Dualismen, wie Innen/Außen, Inhalt bzw. Wesen/Form oder Nachricht/Medium, an, die nicht allein die Produktion von Kunst und Literatur, sondern auch ihre Theoretisierung entscheidend geprägt haben. Die historische Entwicklung einer dualistischen Anthropologie wie einer dualistischen Zeichentheorie von der Aufklärung bis zur Moderne kann im Rahmen dieser Einleitung natürlich in keiner Weise befriedigend dargestellt werden. Eine – wenn auch nur punktuelle – Rekonstruktion dieser Verbindungs-bögen, wie sie die versammelten Aufsätze unternehmen, will aber zugleich systematische Bezüge zu aktuellen Diskursen und Theoriedebatten herstellen: Dekonstruktivistische Reformulierungen der Psychoanalyse und der Sprach-philosophie befragen nicht nur die konstitutive Rolle von Sprache, sondern auch von Schriftlichkeit überhaupt. Diese Theoriebildung ist ohne kritischen Rückgriff auf die Konstellation von Leib und Seele bzw. Geist und Buchstaben um 1800 und um 1900 nicht denkbar.

Im Folgenden wollen wir anhand je einer Problemkonstellation die paradig-matische Stellung des jeweiligen Dualismus um 1800 und um 1900 erläutern. Auf Descartes und Du Bois-Reymond zum Leib/Seele-Dualismus folgen Hamann, Humboldt sowie Freud zum Dualismus von Geist und Buchstabe.

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1. Leib und Seele a. René Descartes Der neuzeitliche Leib/Seele-Dualismus, wie er für die Zeit um 1800 prägend ist, geht in seiner Radikalität auf René Descartes’ Trennung von res extensa und res cogitans zurück. Einander gegenüber gestellt werden die unstoffliche Substanz der Seele und die materielle, d.h. durch Ausdehnung definierte, Substanz des Körpers. Descartes unternimmt in den Meditationes de prima philosophia den Versuch, die »Existenz Gottes [und] die Verschiedenheit der Seele vom Körper«6 zu beweisen. Der radikale Zweifel an allem sinnlich Wahrnehmbaren und damit Körperlichen führt zu seiner Definition der Seele als reinem Denken. Damit wendet sich Descartes gegen die vorherrschende aristotelisch-scholastische Tradition, nach der die menschliche Seele drei Fakultäten besitzt: eine vegetative, eine sensitive und eine rationale. Die Konzentration und Reduktion auf das Ich, das »genaugenommen lediglich ein denkendes Ding«7 ist, führt nun dazu, dass die zuvor der Seele zugerechneten Bereiche der Lebenskraft und der Sinnes-wahrnehmung, aber auch der Erinnerung dem Bereich des Körperlichen und damit auch des wissenschaftlich Untersuchbaren zugeschrieben werden. Die Seele dagegen kann sich bei Descartes als reines Denken nur ihrer eigenen Tätigkeit gewiss sein und ist daher notwendig selbstreflexiv. Die neuzeitliche Seele wird damit zum reflexiven Bewusstsein bzw. zum unkörperlichen Geist. Die Frage, die sich aus dieser Reduktion ergibt und damit den Kern des Leib/Seele-Problems darstellt, ist die des Verhältnisses der beiden wesentlich verschiedenen Substanzen und damit ihrer wechselseitigen Vermittlung: Wie können ein materieller Körper und eine immaterielle Seele überhaupt mit einan-der in Kontakt treten und kommunizieren? Wie können einerseits Sinnesdaten ins Bewusstsein gelangen und andererseits bewusste Entscheidungen zu Hand-lungen des Körpers führen?

Dieses Vermittlungsproblem und der damit einhergehende Dualismus von Körper und Seele existieren allerdings nicht erst seit der Neuzeit. Der antike Kerntext, in dem die unsterbliche Seele und der sterbliche Körper einander entgegengesetzt werden, ist Platons Phaidon.8 Im Zentrum dieses Dialogs steht der Beweis der Unsterblichkeit der Seele. Sokrates stellt dabei vor allem die Immaterialität der Seele, die ihrem Wesen nach dem Göttlichen näher als dem Irdischen ist, in Gegensatz zum vergänglichen stofflichen Körper. Das cartesia-nische Leib/Seele-Problem hingegen ist, anders als bei Platon, bei dem die Seele durch die körperlichen Sinne getrogen wird und erst nach dem Tod ihre freie Entfaltung erfährt, nicht eines der Unsterblichkeit – auch wenn Descartes ursprünglich den Beweis dafür angestrebt hat –, sondern eines der Erkenntnis.

6 René Descartes, Meditationes de Prima Philosophia / Meditationen über die Erste Philosophie,

übers. v. Gerhart Schmidt, Stuttgart 1986, S. 43. 7 Ebd., S. 83. 8 Platon, Phaidon, übers. v. Friedrich Schleiermacher, Stuttgart 1987.

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Allerdings ist der cartesianische Dualismus, der von der strikten Trennung der beiden Substanzen ausgeht, nicht notwendig kongruent mit den eigentlichen Zielen von Descartes’ Philosophie, der es letztlich darauf ankommt, den Men-schen als eine Einheit von Leib und Seele zu begreifen. Denn die Affekte zeigen dem Ich, dass Körper und Seele aufs Engste miteinander verbunden sind:

Weiter lehrt mich die Natur durch die Empfindungen des Schmerzes, des Hungers, Durstes usw., ich sei meinem Leibe nicht nur zugesellt wie ein Schiffer dem Schiff, sondern sei aufs innigste mit ihm vereint, durchdringe ihn gleichsam und bilde mit ihm ein einheitliches Ganzes.9

Als Ort, an dem sich Leib und Seele treffen, identifiziert Descartes die Zirbeldrüse, weil sie allein nicht in beiden Hirnhemisphären je einmal vorhanden ist. Descartes betrachtet also diese Drüse als das Seelenorgan, in dem die immaterielle Seele und der materielle Körper mittels der feinstofflichen spiritus, der Lebensgeister, miteinander in Verbindung treten. Diese Form der Kommu-nikation der Substanzen wurde schon von Descartes’ Zeitgenossen scharf kritisiert. Denn die Vermittlung von stofflicher und unstofflicher Substanz ist – trotz des Seelenorgans und der feinstofflichen spiritus – logisch unmöglich und bedarf der Vermittlung eines allmächtigen Gottes, weswegen Descartes’ als unbefriedigend aufgefasste Lösung im 17. und 18. Jahrhundert um weitere Theorien ergänzt wurde. Gottfried Wilhelm Leibniz’ Konzept der prästabilierten Harmonie ist dabei genau so zu nennen wie die empiristische Vermittlungs-theorie von John Locke. Daneben stehen monistische Alternativen, wie etwa der radikale Materialismus von Julien de la Mettrie oder des Baron d’Holbach oder der radikale Idealismus von George Berkeley, die immer auch Auseinanderset-zungen mit dem dualistischen Paradigma sind. Doch Descartes’ Versuch der Vermittlung von Körper und Seele wurde im 17. und 18. Jahrhundert nicht nur scharf kritisiert, sondern fand auch zahlreiche Anhänger, wie die verschiedenen anatomischen Versuche, das ›Seelenorgan‹ zu lokalisieren, verdeutlichen.10

Funktionsweise und Akzentuierung des commercium animae et corporis, das sowohl die Unterscheidung als auch die Vermittlung von Seele und Leib implizieren kann, stellen seitdem den Hauptansatzpunkt der Auseinanderset-zung dar. Gerade die im 17. und 18. Jahrhundert in diesem Sektor angestoßenen Umstellungsprozesse haben um 1800 die Ausbildung des modernen Wissens vom Menschen in den Humanwissenschaften entscheidend beeinflusst. Albrecht Koschorke spricht davon, dass »der Begriff der Seele immer mehr seinen metaphysischen Status einbüßt und sich in eine psychologisch-psychiatrische

9 Descartes, Meditationen (wie Anm. 6), S. 195. 10 Vgl. hierzu Michael Hagner, Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn,

Frankfurt 2000, S. 25-87.

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Nenngröße verwandelt«.11 Der Materialismus als ein Pol des Streitfeldes verab-schiedet dabei die Vorstellung von einer substantiellen immateriellen Seele als Lebensgrundlage des Menschen, was sich am deutlichsten anhand der Ablösung des Seelenorgans durch das Gehirn und das Nervensystem im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert nachvollziehen lässt. Diese Umstellung hat weitrei-chende Konsequenzen für die Ästhetik, da Eigenschaften und Potenziale, die zuvor vor allem der menschlichen Seele zugesprochen wurden, zunehmend in den Bereich der Kunst verlagert werden. Insbesondere die romantische Imagina-tion übernimmt dabei zentrale Eigenschaften der Seele wie Überzeitlichkeit, Immaterialität und Nähe zum Göttlichen.12

Der Idealismus als antagonistischer Pol hingegen stellt das Selbstbewusst-sein ins Zentrum und lässt der Welt der sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände eine sekundäre Bedeutung zukommen, was die Ablösung des Seelenbegriffs zu-gunsten des Geist-Paradigmas zumal in Deutschland befördert. Zugleich kommt es in der Romantik zu einer Renaissance platonischer und neuplatonischer See-lenvorstellungen, die dem Schönen und seiner Theorie erneut eine zentrale Rolle zukommen lassen.13

Die zentrale Rolle der Imagination in der ästhetischen Theorie des 18. Jahrhunderts findet sich wiederum vorbereitet in Descartes’ Anthropologie. In der Vermittlung der Substanzen ist bei Descartes nicht nur das Seelenorgan selbst, sondern auch die Seelenfakultät der Imagination von immenser Bedeu-tung.14 Die Imagination, neben dem Empfindungsvermögen »das gewisse Ver-mögen von eigentümlicher Denkweise«,15 ist zwischen Geist und Körper ange-siedelt. Sie ist gewissermaßen auf psychischer Ebene, was die Zirbeldrüse auf physiologischer ist, eine zwischen Körper und Seele vermittelnde Instanz:

11 Albrecht Koschorke, »Wissenschaften des Arbiträren. Die Revolutionierung der Sinnes-

physiologie und die Entstehung der modernen Hermeneutik um 1800«, in: Joseph Vogl (Hg.), Poetologien des Wissens um 1800, München 1999, S. 19-52, hier S. 33.

12 Vgl. Thomas McFarland, Originality and Imagination, Baltimore, London 1985, S. 150; Walter Sparn, »Fromme Seele, wahre Empfindung und ihre Aufklärung. Eine historische Anfrage an das Paradigma der Subjektivität«, in: Dietrich Korsch und Jörg Dierken (Hg.), Subjektivität im Kontext. Erkundungen im Gespräch mit Dieter Henrich, Tübingen 2004, S. 29-48; Ralf Haekel, »›And IMAGINATION the SOUL that is every where‹. Erkenntnis-theorie und Ästhetik bei Samuel Taylor Coleridge«, in: Astrid Bauereisen, Stephan Pabst und Achim Vesper (Hg.), Kunst und Wissen. Beziehungen zwischen Erkenntnistheorie und Ästhetik im 18. und 19. Jahrhundert, Würzburg 2008, S. 193-214.

13 Vgl. etwa zur höchst komplexen Rezeption des Neuplatonismus in England Eckhard Lob-sien, »Der Entzug des Schönen. Neuplatonische Ästhetik bei Samuel Taylor Coleridge«, in: Verena Olejniczak Lobsien und Claudia Olk (Hg.), Neuplatonismus und Ästhetik. Zur Transformationsgeschichte des Schönen, Berlin, New York 2007, S. 185-211.

14 Vgl. Véronique M. Fóti, »The Cartesian Imagination«, in: Philosophical and Phenomenolo–gical Research 46 (1986), S. 631-642; Dennis L. Sepper, Descartes’s Imagination. Proportion, Images, and the Activity of Thinking, Berkeley 1996.

15 Descartes, Meditationen (wie Anm. 6), S. 189.

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Denn was ist die Einbildungskraft genauer besehen anderes als eine Anwendung des Erkenntnisvermögens auf den Körper, der ihr innig gegenwärtig ist und mithin existiert.16

Die Vermittlungsrolle, die die Imagination zwischen dem Intellekt und den Sinnen einnimmt, verdeutlicht auch ihre Bedeutung für die Entstehung einer auf der Imagination basierenden Ästhetik im 18. Jahrhundert. b. Übergänge Wenn man nun, im Kontrast dazu, das Verhältnis von Leib und Seele um 1900 betrachtet, fällt auf, dass mit Seele nicht mehr eine vom Körper unabhängige Substanz gemeint ist, sondern das dem Körper immanente Bewusstsein. Michel Foucault hat den Übergang von der klassischen zur modernen Episteme bekanntermaßen mit der Entdeckung des Menschen als diesseitig und sterblich gleichgesetzt: »Vor dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts existierte der Mensch nicht.«17 Die Konzentration auf das Unsterblich-Seelische vor dem Sterblich-Leiblichen betrachtet Foucault noch als charakteristisch für das klassische Zeitalter:

Und so ergab sich die negative Beziehung bis ins Unendliche – ob sie nun als Schöpfung, Fall, Verbindung der Seele mit dem Körper, Bestimmung innerhalb des unendlichen Seins, besonderer Gesichtspunkt in der Totali-tät oder Verbindung der Repräsentation mit dem Eindruck begriffen wurde – als der Empirizität des Menschen und der Kenntnis, die er davon erhalten kann, vorzeitig.18

Der Mensch gerät jetzt vor allem in seiner Endlichkeit in den Blickpunkt; er ist nicht mehr über die unsterbliche Seele an die Transzendenz gebunden, sondern in seiner Kreatürlichkeit sterblich. Dies wirkt sich auch auf die wissenschaft-lichen Disziplinen aus:

So zeichnet sich im Zentrum der Empirizität selbst die Verpflichtung ab, zu einer Analytik der Endlichkeit hinaufzusteigen oder, wenn man will, hinabzusteigen, in der das Sein des Menschen alle Formen in ihrer Positivität begründen kann, die ihm zeigen, daß er nicht unendlich ist.19

Im Laufe des 19. Jahrhunderts setzt sich demnach mit dem organischen Menschenbild der Biologie auch die Erkenntnis durch, dass das Bewusstsein

16 Ebd., S. 177. 17 Foucault, Die Ordnung der Dinge (wie Anm. 2), S. 373 [Hervorh. i. Orig.]. Dieser Befund,

so sehr er auf die Differenzen zwischen 1800 und 1900 zutrifft, ist historisch zu relativieren. Um 1800 ist keineswegs ein plötzlicher Paradigmenwechsel zu konstatieren, was vor allem anhand der Persistenz einer traditionellen Seelenvorstellung bis weit ins 19. Jahrhundert hinein deutlich wird.

18 Ebd., S. 382. 19 Ebd., S. 380 f.

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nicht auf eine vom Körper unabhängige Seele, sondern auf die Tätigkeit des Gehirns und des zentralen Nervensystems zurückzuführen ist.20 Damit verän-dert sich auch die Natur des Dualismus von Leib und Seele. Betraf das Leib/ Seele-Problem zuvor die Unvereinbarkeit zweier gegensätzlicher Substanzen, so betrifft das moderne Problem das Verhältnis von Gehirn und Bewusstsein.

Da das Bewusstsein dem Verständnis der modernen Naturwissenschaften nach unzweifelhaft ein Produkt des Gehirns und seiner Aktivität ist, verlagert sich der Dualismus nach innen und wird gleichsam der Materie immanent. Der psychophysische Parallelismus – und damit die Absage an ein Ursache-Wirkung-Modell –21 löst also im ausgehenden 19. Jahrhundert den Substanzdualismus des 18. Jahrhunderts ab, und der Seelenbegriff meint nun zunehmend nicht mehr nur den Geist und das Bewusstsein, sondern das gesamte Feld, das vom modernen Begriff der Psyche bezeichnet wird. Erst über diese Verlagerung der Seele ins Körperliche erschließen sich beispielsweise die Vorstellungen des Unbewussten und der Neurosen in Theorie und Kunst um 1900, da die Psychoanalyse als moderne Seelenkunde eine dezidierte Abkehr vom neurologisch-physiologischen Paradigma darstellt. Von der Umdeutung des Leib/Seele-Dualismus ins Körper-liche im Laufe des 19. Jahrhunderts handelt der folgende Abschnitt.

c. Emil Du Bois-Reymond Ein Text, der die Wandlung des Leib/Seele Problems in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts exemplarisch verdeutlicht, ist Emil Du Bois-Reymonds Über die Grenzen des Naturerkennens.22 Der 1872 gehaltene Vortrag veranschaulicht, dass es sich beim Leib/Seele-Problem der Moderne nicht um das ungeklärte Verhältnis zweier Substanzen, sondern um die naturwissenschaftliche Erklärung des Bewusstseins handelt. Der Physiologe Du Bois-Reymond, Sekretär der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, will in der Rede nach-weisen, dass es bei allem Fortschritt innerhalb der Naturwissenschaft, deren Siegeszug schon zu Beginn der Rede hervorgehoben wird, zwei Bereiche gibt, die sich der Erkenntnis immer verweigern werden: die Natur von Kraft und Materie einerseits und des Bewusstseins andererseits. Das »Naturerkennen«, das er als »naturwissenschaftliches Erkennen oder Erkennen der Körperwelt mit Hilfe und im Sinne der theoretischen Naturwissenschaft«23 definiert, ist demnach nicht in

20 Diese Vorstellung setzte sich, entgegen der verbreiteten Meinung, noch nicht im 18. Jahr-

hundert durch. Edward S. Reed hat nachgewiesen, dass um 1800 eine physiologische, also säkulare und immanente Seelenvorstellung zwar durchaus existiert, aber gegenüber der klassisch-dualistischen Vorstellung eine Minderheitenposition darstellt. (Vgl. Edward S. Reed, From Soul to Mind. The Emergence of Psychology from Erasmus Darwin to William James, New Haven, London 1997, S. 4 f.)

21 Vgl. zum Begriff des psychophysischen Parallelismus den Aufsatz von Caroline Welsh in diesem Band.

22 Emil Du Bois-Reymond, »Über die Grenzen des Naturerkennens«, in: Reden von Emil du Bois-Reymond in zwei Bänden, Bd. 1, hg. v. Estelle du Bois-Reymond, Leipzig 1912, S. 441-473.

23 Ebd., S. 441 f.

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der Lage, bestimmte Grenzen zu überschreiten. Dies begründet Du Bois-Reymond damit, dass selbst ein absoluter Geist im Sinne von Laplace, der fähig wäre, die Weltformel als Ganze zu begreifen, nur die mechanischen und mathe-matischen Gleichnisse verarbeiten könne. Der Grund liegt in der Beschränkung der menschlichen Erkenntnis auf die Verarbeitung von Sinneswahrnehmungen: »Sie [die Widersprüche des Naturerkennens. R.H. & M.D.] wurzeln in unserem Unvermögen, etwas anderes als mit den äußeren Sinnen entweder, oder mit dem inneren Sinn Erfahrenes uns vorzustellen.«24 Denn selbst die detaillierteste naturwissenschaftliche Beschreibung der mit den psychischen Phänomenen zusammen fallenden physischen Vorgänge vermag es nicht zu erklären, warum aus letzteren erstere entstehen:

Mit einem Wort, der gelungenste Beweis, daß keine Wechselwirkung von Körper und Seele möglich sei, läßt dem Zweifel Raum, ob nicht die Prämissen willkürlich seien, und ob nicht Bewusstsein einfach als Wirkung der Materie gedacht und vielleicht begriffen werden könne. [...] Was aber die geistigen Vorgänge selber betrifft, so zeigt sich, daß sie bei astronomi-scher Kenntnis des Seelenorgans uns ganz ebenso unbegreiflich wären wie jetzt. Im Besitze dieser Kenntnis ständen wir vor ihnen wie heute als vor einem völlig Unvermittelten. Die astronomische Kenntnis des Gehirnes, die höchste, die wir davon erlangen können, enthüllt uns darin nichts als bewegte Materie. Durch keine zu ersinnende Anordnung oder Bewegung materieller Teilchen aber läßt sich eine Brücke ins Reich des Bewusstseins schlagen.25

Es sind vor allem die qualitativen Bewusstseinserfahrungen wie Schmerz, Lust sowie die Sinnesempfindungen von Geruch oder Geschmack, die Du Bois-Reymond hier als nicht auf naturwissenschaftliche Erklärungen reduzierbar hervorhebt, auch wenn er ihre physisch-neuronale Basis anerkennt. Das Problem des Bewusstseins, wie es in Über die Grenzen des Naturerkennens dargestellt wird, ist damit im Kern mit demjenigen identisch, dem sich die Mehrzahl der heutigen Bewusstseinstheorien stellen.26 Die von den Neurowissenschaften regelmäßig gemachten Versprechen, das Geheimnis des Bewusstseins in Kürze enthüllen zu können, vermögen nicht darüber hinwegzutäuschen, dass auch die genauesten Beobachtungen der Hirn- und Nerventätigkeit keineswegs begreif-lich machen kann, wie genau diese mit dem Phänomen des Bewusstseins zusam-menhängen. Michael Pauen bemerkt dazu:

Zum Problem wird diese Beziehung [von neuronalen Eigenschaften und Bewusstseinseigenschaften, R.H. & M.D.] vor allem aufgrund eines Dilemmas: Auf der einen Seite deuten unsere empirischen, insbesondere natürlich unsere neurobiologischen Erkenntnisse darauf hin, daß ein sehr

24 Ebd., S. 448. 25 Ebd., S. 455; 457. 26 Vgl. Michael Pauen, Was ist der Mensch? Die Entdeckung der Natur des Geistes, München

2007, S. 82.

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enges Verhältnis zwischen diesen Eigenschaften besteht. Auf der anderen Seite ist jedoch schwer zu erkennen, was die Aktivitäten jener grauen, einförmigen Masse von Nervenzellen, mit der sich die Neurobiologie befaßt, mit unserem inhaltlich und qualitätiv höchst ausdifferenzierten Bewußtsein zu tun haben soll.27

Letztlich lässt sich die genaue Natur der Verbindung von Gehirn und Bewusst-sein, daran hat sich grundsätzlich seit dem 19. Jahrhundert nichts geändert, nicht erklären. Dieses unsichere Verhältnis wird denn auch in der Kunst der Klassi-schen Moderne reflektiert: Die Verlagerung des Dualismus von Leib und Seele in die Innenwelt des Körpers hat um 1900 unmittelbare Folgen für die Kunst im Allgemeinen und für die Literatur im Besonderen. Die fantastische Literatur ist ein Beispiel dafür, dass die Seele um 1900 als – letztlich nicht ergründbare – Psyche begriffen wird. Die Unentscheidbarkeit etwa, ob die Geister in Henry James’ The Turn of the Screw tatsächlich erscheinen oder nur Produkte der Psyche des Kindermädchens sind, macht deutlich, dass die Seele um 1900 auch in der Fiktion ein Gebiet ist, dessen sich das Subjekt nicht mehr sicher sein kann.

Denn, um ein letztes Mal Foucault heranzuziehen, die Wendung des Leib/Seele-Dualismus von der Transzendenz zur Immanenz führt nicht zu einer rationalen Ergründung des cartesianischen cogito:

Das Cogito führt nicht zu einer Seinsbestätigung, sondern es eröffnet den Weg zu einer ganzen Reihe von Fragen, wo es sich um die Frage des Seins handelt: Was muß ich sein, der ich denke und der ich mein Denken bin, damit ich das bin, was ich nicht denke, damit mein Denken das ist, was ich nicht bin?28

Wie in diesen paradoxen Wendungen deutlich wird, ist die Frage nach dem Ich eine nach den unergründeten Bereichen des Denkens, mithin eine Frage nach dem Unbewussten:

Daß es [das Privileg der reflexiven Erkenntnis, R.H. & M.D.] aber durch die Tatsache selbst einem objektiven Denken gegeben war, den Menschen in seiner Gesamtheit zu durchlaufen um den Preis, darin das zu entdecken, was genau nie seiner Reflexion, nicht einmal seinem Bewusstsein gegeben werden konnte: dunkle Mechanismen, gestaltlose Determinationen, eine ganze Schattenlandschaft, die man direkt oder indirekt das Unbewusste genannt hat. Ist das Unbewußte nicht das, was sich notwendig dem wissenschaftlichen Denken gibt, das der Mensch auf sich selbst anwendet, wenn er aufhört, sich in der Form der Reflexion zu denken?29

27 Michael Pauen, Grundprobleme der Philosophie des Geistes. Eine Einführung, Frankfurt am

Main 2001, S. 35. 28 Foucault, Die Ordnung der Dinge (wie Anm. 2), S. 391 f. 29 Ebd., S. 393.

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Die zentrale Bedeutung Freuds in diesem Zusammenhang betrifft vor allem seine Scharnierfunktion zwischen Anthropologie und Zeichentheorie, weshalb unter anderem die Traumdeutung Gegenstand des folgenden Kapitels sein wird. Denn auch der Zusammenhang der Bewusstseinsproblematik mit dem Dualismus von Geist und Buchstabe verdeutlicht, dass es im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer Immanentisierung von zuvor transzendenten Vorstellungen gekommen ist. Saussures 1916 posthum veröffentlichter Cours de linguistique générale verlagert den anthropologischen Dualismus in das Zeichen selbst hinein, indem er es in signifiant und signifié, Bezeichnendes und Bezeichnetes, aufspaltet. Ebenso wie das Bewusstsein ins Gehirn verlagert wird, wird um 1900 bei Saussure der Dualismus von Geist und Buchstabe innerhalb des Zeichens verortet: In gewisser Weise entspricht dadurch der moderne Dualismus von Gehirn und Bewusstsein dem Dualismus von signifiant und signifié. Dass diese heuristische Gleichung vor allem in der Erkenntnis, dass das Unbewusste wie eine Sprache organisiert sei, psychoanalytisch über Freud auf Lacan weist, soll im folgenden Abschnitt thematisiert werden. II. Geist und Buchstabe

Die moderne Verschiebung des anthropologischen Dualismus in die Zeichen-konzeption hinein bekräftigt die Leitthese des Bandes: Dem dualistischen Ver-hältnis von leiblich-materieller und seelisch-immaterieller Substanz entspricht auf semiotischer Ebene der Topos vom tötenden Buchstaben und lebenspenden-den Geist. Diese theologische Grundunterscheidung gewinnt ab dem 18. Jahr-hundert im Zuge der Ablösung bzw. Transformation der klassischen Rhetorik eine tragende Bedeutung.30 Auch jenseits des rhetorischen Diskurses im engeren Sinne und der theologischen Schriftkultur wird jetzt die Geist erschließende Rolle des Buchstäblichen, des Literalen, diskutiert. Dies manifestiert sich vor allem in der Ausbildung der modernen Hermeneutik als Paradigma geisteswis-senschaftlicher Methodik:31 Auch sie geht vom toten Buchstaben aus und positioniert den lebendigen Leser als gleichberechtigten Produzenten von Sinn neben den Autor. Aber auch auf der Produktionsseite stellt die Poetologie um 1800 die Frage nach dem Status des sprachlichen bzw. schriftlichen Zeichens:32

30 Dietmar Till, Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetorik-

theorie im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 2002; mit besonderem Augenmerk für die Konsequenzen in der Ästhetik: Eberhard Ostermann, Die Authentizität des Ästhetischen. Studien zur ästhetischen Transformation der Rhetorik, München 2002.

31 Zur Geschichte der Hermeneutik neuerdings Jörg Schönert und Friedrich Vollhardt (Hg.), Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen, Berlin u.a. 2005.

32 Goethe beispielsweise denkt intensiv über den ›Buchstaben der Natur‹ und in engem Anschluss dazu den ›der Kunst‹ nach. Vgl. Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main 1981, S. 214-232. Zur Übertragung theologischer Hermeneutik in die

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Die Beschreibungs- und Darstellungskraft von schriftlichen Zeichensystemen wird experimentell ausgetestet. Vor allem deren tradierte metaphysische An-bindung kommt nun im Rahmen regelrechter – aber nicht immer mehr regelge-rechter – poetischer Versuchsanordnungen auf den Prüfstand.33

Zugleich wird dem Signifikanten, also einer medialen Größe, und nicht mehr nur dem Rezipienten, erstmals Eigenleben zuerkannt, anstatt ihm nur eine dienende Rolle bei der Generierung von Sinn zuzuweisen. Voraussetzung dafür ist, dass vermittels der Frage, welcher Status dem Buchstaben zukommt, diskutiert wird, in welchem Verhältnis materielle Basis und immaterialer Sinn überhaupt zueinander stehen.34 Darum wird der Buchstabe auch ein zentraler Parameter, wenn die kognitive Dimension körperlich-sinnlicher Wahrnehmung erörtert wird.35 In diesen Diskursen kommt ihm häufig die zentrale Funktion einer Scheidelinie zu. Denn mit dem Ausgang der Aufklärungsphilosophie hatte sich die ehemalige Gegenüberstellung von sensus literalis und den drei weiteren Schriftsinnen auf eine scharfe Opposition zwischen Literalsinn und figurativer Bedeutung verengt.36 Dadurch ergibt sich ein Anschluss an die philosophische Metapherndebatte sowohl in epistemologischer als auch ästhetischer Perspektive.37

Wenn in einem nächsten Diskursschritt die scharfe Trennlinie zwischen literaler und figurativer Bedeutung kollabiert, dann bröckelt – dies wird etwa bei Goethe thematisiert – auch die Rolle der Metapher als Garant für die Lesbarkeit der Welt. Aber gerade weil literarische Werke dies reflektieren können,38 wird ihnen nun selbst eine epistemologische Dimension zuerkannt.39 Die einsetzende

Verfahren der Ästhetik: Thomas Tillmann, Hermeneutik und Bibelexegese beim jungen Goethe, Berlin u.a. 2006.

33 Einige derartige Versuchsanordnungen spielt Roland Borgards durch. 34 Die Debatte um die Physiognomik um 1800 kreist genau um diese Problemkonstellationen.

Vgl. Stephan Pabst, Fiktionen des ›inneren Menschen‹. Die literarische Umwertung der Physiognomik bei Jean Paul und E.T.A. Hoffmann, Heidelberg 2007.

35 Vgl. zur körperlich-sinnlichen Dimension der Ästhetik des 18. Jahrhunderts Bauereisen, Pabst und Vesper (Hg.), Kunst und Wissen (wie Anm. 12). Zur Geschichte dieses Zusam-menhanges vgl. auch den Beitrag von Hans Sanders in diesem Band.

36 Brian Cummings, »Literally Speaking, or, the Literal Sense from Augustine to Lacan«, in: Andrew Benjamin (Hg.): Paragraph: A Journal of Modern Critical Theory 21, 1998, S. 200-226, hier S. 209.

37 Nicht mehr nur das Verhältnis von Neuem Testament, christlich-allegorischer Interpre-tation und Altem Testament als jüdischer Überlieferung, sondern überhaupt das Verhältnis von philosophischem und ästhetischem Diskurs wird darüber verhandelt.

38 Vogl (Hg.), Poetologien des Wissens (wie Anm. 11); Heinz Schlaffer, Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis, Frankfurt am Main 1990.

39 Dies wird vor allem an Goethes Wahlverwandtschaften (Tübingen 1809) deutlich. Die neuere Forschung hat den Text regelrecht als Buchstabenroman gedeutet. Dafür nur drei Beispiele: Heinz Schlaffer, »Namen und Buchstaben in Goethes Wahlverwandtschaften«, in: Norbert W. Bolz (Hg.), Goethes Wahlverwandtschaften. Kritische Modelle u. Diskursanalysen zum Mythos Literatur, Hildesheim 1981, S. 211-229; Rita Lennartz, »›Angesicht zu Ange-

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Metapherndiskussion impliziert auch ein Nachdenken über Sprache und Bild-lichkeit. Diese Grenzbestimmung hatte schon die Wahrnehmungstheorie des 18. Jahrhunderts stark bestimmt. Somit ergibt sich auch ein Bezug des Paradigmas Buchstabe/Buchstäblichkeit zum Bildbegriff. Mediendifferenz wird nun im Zei-chen des Buchstabens erörtert. Die Diskussion um den Terminus der Hierogly-phe kann dies verdeutlichen:40 Die zentralen epistemologischen und poetolo-gischen Fragestellungen implizieren folglich häufig den Bezug zu den ikonischen Verfahren und Produkten der Bildenden Kunst.41 Umgekehrt kreisen um 1800 auch bildkünstlerische Darstellungsweisen zunehmend um die Frage nach dem Codierungsgrad, der Transparenz oder Opazität von Repräsentationsmustern. Was bedeutet es, wenn mediale Systeme auf Buchstäblichkeit ausgerichtet wer-den, d.h. Kunst auf die Einlösung medialer Spezifika verpflichtet wird?42

Die Vielfalt an Reflexionen, die die Sattelzeit um 1800 kennzeichnet, findet, so die Leitidee des Bandes, eine Entsprechung in den Avantgardeästhetiken des Fin de Siècle. Gefragt wird hier, welche Rolle Buchstäblichkeit im Rahmen bildlicher Autonomie- und Abstraktionsverfahren spielt. Was kann dies für »das Geistige in der Kunst« bedeuten?43 Auch Philosophie und, in engem Schulter-schluss dazu, literarisches Schreiben arbeiten sich daran ab, wie ›buchstäblich‹ Erfahrung und Erkenntnis im ›nervösen‹ Maschinen-Zeitalter verfügbar sind.44 Die Rolle der Sprache, des ›Sprachmaterials‹, bei der Sinngenerierung wird in diesen Reflexionen nicht nur verstärkt, sondern radikalisiert: Zunehmend gerät nämlich die zugrunde liegende Einheit von Wort und Bedeutung auf den Prüfstand. Dabei wird einerseits die Sinnen-, Affekt- und Körpergebundenheit der menschlichen Erkenntnis stärker denn je hervorgehoben, andererseits der Abbildcharakter der Sprache hinterfragt. Vor allem die Psychoanalyse vollzieht diese fundamentale Doppelbewegung.45 Anhand dreier Stationen soll dies im Folgenden erläutert werden. Die beiden ersten Positionen klammern die Sattel-zeit um 1800 ein, die dritte markiert die Jahrhundertwende.

sicht‹. Lebende Bilder und tote Buchstaben in Goethes Wahlverwandtschaften«, in: Helmut J. Schneider, Ralf Simon und Thomas Wirtz (Hg.), Bildersturm und Bilderflut um 1800. Zur schwierigen Anschaulichkeit der Moderne, Bielefeld 2001, S. 145-183; Albrecht Schöne und Waltraud Wiethölter, »Zur Deutung«, in: Johann Wolfgang Goethe, Faust I und II. Die Wahlverwandtschaften, in: Werke, Bd. 3, hg. v. Friedmar Apel, Frankfurt am Main 1998, S. 897-919.

40 Aleida Assmann und Jan Assmann, Hieroglyphen. Stationen einer anderen abendländischen Grammatologie, München 2004.

41 Vgl. im vorliegenden Band den Aufsatz Rainer Metzgers zu Lavaters Physiognomik. 42 Vgl. ebd. den Beitrag von Markus Dauss. 43 Dies wird jetzt im Anschluss an spirituell-mystizistische Konzepte diskutiert oder mani-

festartig, mit angestrebter Breitenwirkung, verkündet. Vgl. den Beitrag von Susanne Scholz oder Herbert Grabes’ Ausführungen zu Kandinskys Manifest Über das Geistige in der Kunst.

44 Vgl. dazu die Ausführungen von Franziska Bomski. 45 Thomas Reich, Die Ästhetik des Unbewussten. Zum Verhältnis von Psychoanalyse, Kunst und

Sprache zwischen Moderne und Postmoderne, Münster u.a. 1995.

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a) Johann Georg Hamann und Wilhelm von Humboldt Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts wird dem Parallelismus der beiden Paradigmenpaare Leib und Seele sowie Geist und Buchstabe in den rationalis-muskritischen Schriften Johann Georg Hamanns prägnante Gestalt verliehen.46 Im Hintergrund steht die von der theologischen Exegesetradition geprägte Text- und Schrifttheorie des vierfachen Schriftsinns. Daran anknüpfend unterscheidet Hamann analytisch zwischen dem »Leib« eines Textes – seiner Schreibweise, seinem Stil – und seiner »Seele« – seinem Inhalt.47 Der klassische texthermeneu-tische Dualismus von Buchstabe und Geist wird also in der Begriffspaarung von Textleib und Textseele reformuliert. Dies zeigt deutlich die Verzahnung der beiden Paradigmen an. Zudem liegt hier ein Beleg für die Umstellung innerhalb der Dualismen selbst vor: Zwar wird die Beseelung des Textkörpers, die ihm erst Leiblichkeit verleiht, noch über den »göttlichen Hauch«, also von ›oben her‹ gedacht, zugleich aber erteilt Hamann idealistischen Abstraktionen eine Absage. Stattdessen insistiert er beständig auf der aller Erkenntnis vorgängigen Sinnlich-keit der Rezeption. Die Materialität der sinnhaft codierten Zeichen gilt ihm als unumgänglich. Der »Geist« der Schrift als »Weissagung« kann sich erst offen-baren, wenn dem Signifikanten, dem »Buchstaben«, sein Recht zukommt.48

Insofern liefert Hamann nicht nur die Brücke zwischen den beiden Dua-lismen. Vielmehr vermittelt er zwischen Buchstabenskepsis und -affinität. Damit bezieht er eine Zweifrontenstellung in der zeitgenössischen Auseinandersetzung: Erstens lenkt sein Erkenntnisskeptizismus den Blick auf die blinden Flecken moderner Vernunftfixierung. Die Verankerung aller Erkenntnis in Sinnlichkeit und Leiblichkeit, also im ›Buchstäblichen‹ vor aller Rationalisierbarkeit, wird betont – damit erinnert Hamann an deren generelle Unverfügbarkeit für idealis-

46 Auf Hamann geht unter ähnlichen Vorzeichen auch Christiane Frey in diesem Band ein.

Eine hier intensiv herangezogene Einführung in Grundgedanken Hamanns zu Sprache, Schrift und Leib- und Seelekonzepten des Hamann-Experten Yoshikatsu Kawanago, »Sprache und Leib bei Johann Georg Hamann«, in: interdisciplinary cultural studies, Graduate School of Arts and Sciences, The University of Tokyo, Bd. 4, Tokyo 1999, S. 111-131; einführend auch: Johannes von Lüpke, »Ohne Sprache keine Vernunft. Eine Einführung in das Sprachdenken Johann Georg Hamanns«, in: Neue Zeitschrift für systemati-sche Theologie und Religionsphilosophie 46, 2004, S. 1-25; die Hamann-Literatur ist mittler-weile unüberschaubar geworden. Nur ein Beispiel für die Breite der Auseinandersetzung: Bernhard Gajek (Hg.), Die Gegenwärtigkeit Johann Georg Hamanns: Acta des Achten Internationalen Hamann-Kolloquiums an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 2002, Frankfurt am Main u.a. 2005.

47 Johann Georg Hamann, »Sokratische Denkwürdigkeiten für die lange Weile des Publicums zusammengetragen von einem Liebhaber der langen Weile«, Amsterdam 1758, in: Sokratische Denkwürdigkeiten/Aesthetica in nuce, hg. v. Sven-Aage Jørgensen, Stuttgart 1968, S. 3-74. Siehe zum Folgenden vor allem auch die Aesthetica in nuce. Eine Rhapsodie in Kabbalistischer Prose, ebd., S. 75-149; alle Zitate ebd.

48 In diesem Sinne ist auch Hamanns Devise zu verstehen, der Autor (der Heiligen Schrift) sei selbst der beste Ausleger seiner Worte: Die verschiedenen von ihm beherrschten Alphabete (Geschichte, Natur, Heiliger Text) verhalten sich demnach komplementär, und nur in die-ser interdependenten Verweisstruktur der Signifikanten nehmen diese ihre Bedeutung an.

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tische und rationalistische Formalismen. Zweitens wird damit aber auch spekulativen Lektüreversuchen eine Absage erteilt, die vermeinen, über einen unvermittelten, eben ›buchstäblichen‹, Zugang zur Bedeutung der Gestalten der Welt zu verfügen.49

Da Hamanns Anthropologie und Hermeneutik stattdessen im Kern immer schöpfungstheologisch argumentieren, gibt das Urmodell aller Textlichkeit die Heilige Schrift ab.50 In dieser theologischen Rückbindung seiner eigensinnig re-formulierten Hermeneutik besteht also eine Differenz zu einem rationalistisch bereinigten oder eingehegten Textverständnis, das Hamann als zu ›buchstäblich‹ im Sinne von unterkomplex und monopolar kritisiert. In Absetzung von dieser verkürzten Buchstäblichkeit betont Hamann Sinnlichkeit und Leiblichkeit des Textes, spricht aber umgekehrt auch der leibhaftigen »Inkarnation« Gottes im Text äquivalenten Raum zu. Er skizziert also eine Interdependenz: Nur in der fruchtbaren Durchdringung der buchstäblichen und geistigen Ebene entfaltet sich jene lebenstiftende Qualität des Textes, deren Unverfügbarkeit an die von Rationalität nicht einholbare Größe des Glaubens gemahnt. Im Hintergrund steht dabei eine entscheidende und an Axiome der Dekonstruktion gemahnende Einsicht, dass jeder Rekurs auf den vermeintlichen unvorgänglichen Buchstaben immer metaphorisch vermittelt bleiben muss. Es kann weder buchstäbliche ›Reinheit‹ noch ›Unvermitteltheit‹ – die auch mit ›Leblosigkeit‹ gleichbedeutend wären – geben. Denn die sinnliche, leidenschaftliche und leibliche Fundierung menschlicher Erkenntnis privilegiert zunächst eine Wahrnehmung in Bildern – einer poetischen Ursprache Gottes gleich.51 Diese wird durch eine Art Überset-zung in Schriftlichkeit überführt, wobei traditionell verschiedene Ebenen von Textsinn unterschieden werden können.52 Diese Leibgebundenheit der Sprache und ihre Konvertierbarkeit in Bilder – und vice versa – integriert Hamann in seine eigene intertextuell aufgeladene und geradezu dekonstruktivistisch erschei-nende Schreibweise. Sie spielt vielfach virtuos mit unterschiedlichen symboli-schen Codierungsebenen. In der Auseinandersetzung beispielsweise mit der auf-geklärten Neologie, einer rationalistisch geprägten Konzentration auf den ethi-schen Kern des Christentums, macht sich Hamann souverän für eine Integration von Geist und Buchstaben, Textseele und Textleib stark. Sie soll verhindern, dass der Buchstabe überhaupt auf den Status eines toten abgetrennten Gliedes (mem-brum disiectum) reduziert werden kann. Statt im Zeichen von Abtrennung muss er im Zeichen einer verknüpfenden Lebendigkeit stehen, die Leidenschaft und Sinnlichkeit zu integrieren vermag. »Vereinigung«, durchaus in einer emphatisch sinnlichen Weise, ist das Ziel: Der Buchstabe der Schrift stellt zwar eine artifi-

49 Auch gerade Lavaters Physiognomik mit all ihren Aporien kann hier letztendlich als eine

solche Verkürzung angeführt werden. Vgl. dazu auch den Beitrag von Rainer Metzger. 50 Georg Baudler, ›Im Worte sehen‹. Das Sprachdenken Johann Georg Hamanns, Bonn 1970

(Münchner Philosophische Forschungen 2). 51 Dies wird offensiv schon in den ersten Takten der Aesthetica in nuce (wie Anm. 47)

entfaltet. 52 Ebd.

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zielle arbiträre Figur dar, verweist aber zugleich auf das lebendige Analogon der ›Buchstaben der Natur‹, auf ihre Gestalt, die durch ihn nicht entstellt werden darf, sondern in ein reflektiertes Schriftverständnis zu integrieren ist.

In diesem reflektierten Sinne ist auch Hamann grammatophil. Seine Kritik an aufklärerischen Versuchen der Sprachbereinigung, geäußert in seiner gegen Christian Tobias Damm gerichteten Apologie des Buchstaben h,53 steht ganz im Zeichen der Verteidigung des vermeintlich Überflüssigen, Unrationalen, Will-kürlichen, Unverfügbaren und beinahe Stummen54 – das für Identitätszuschrei-bungen (H-Mann!) dennoch konstitutiv sein kann. In einem »orthographischen Zweikampf« opponiert der fast reine, lautlich kaum vernehmbare Signifikant als hauchfeine Grenzmarkierung gegen seine Streichung zugunsten der Ökonomie der Bedeutung. Hamann verteidigt den vermeintlich überflüssigen Buchstaben h mit dem metaphorischen Verweis auf den beseelenden göttlichen Hauch in der Sprache und postuliert damit, klassisch gedacht, eine Belebung der Sprache ›von oben‹. Signifikanter (im doppelten Sinne) dabei aber ist, dass Hamann ein Zeichen der Buchstabenschrift vereidigt, das nur knapp diesseits der Grenze des lautlich Vernehmbaren angesiedelt ist, dennoch aber als unbedingt bewahrens-wert gelten muss. Damit wird der radikale Phonozentrismus der gegnerischen Position, die das materiell-visuelle Grenzgebilde des Buchstaben h streichen möchte, satirisch als uneinlösbares Dogma, als linguistisch unhaltbare Verkür-zung gebrandmarkt. Im Anschluss daran richtet sich Hamanns Polemik, wie seine Metakritik über den Purismum der Vernunft (1784) erweist,55 auf die Sprachphilosophie der kantischen Transzendentalphilosophie. Dieser wohne die Tendenz zur lautlosen Sprache der reinen Vernunft mit sich selber inne, zu einem gleichsam rein innerlichen Hören. Dieses komme einem sinnlichen Ver-stummen gleich, könne die Signifikanten, »Laute und Buchstaben«, nur als Gefäße, chiffrierte »Hieroglyphen« und »Typen« höherer Verhältnisse gebrau-chen, nicht aber in ihrer Materialität und Bildlichkeit begreifen. Vor allem der kantische Mathematismus wird für diese Reduktion der Vernunft auf ein körper-loses Dasein verantwortlich gemacht. Sie sieht an der konstitutiven Rolle von gesprochener und Schriftsprache für die Denkbarkeit aller Begriffe a priori vorbei, verkennt den »Buchstaben ihrer Elemente« und damit sich selbst.

53 Johann Georg Hamann, »Neue Apologie des Buchstaben h. Oder: Außerordentliche

Betrachtungen über die Orthographie der Deutschen von H. S. Schullehrer« (Zweyte verbesserte Ausgabe, Pisa 1773), in: Sämtliche Werke, Bd. 3, hg. v. Josef Nadler, Wien 1951, S. 91-101; sowie: ders., »Neue Apologie des Buchstaben h von ihm selbst«, in: ebd., S. 103-107. Vgl. dazu auch Moses Mendelssohns prorationalistische Kritik: Moses Mendelssohn, »Sammelrezension zu Hamann«, in: Allgemeine Deutsche Bibliothek, Bd. 24, Berlin 1775, 1. Stück, S. 287-229.

54 Dazu: Johannes von Lüpke, »Die Wahrheit in einem Hauch oder von der Eitelkeit der Vernunft. (Hamanns) ›Neue Apologie des Buchstaben h von ihm selbst‹«, in: Oswald Bayer, Bernhard Gajek und Josef Simon (Hg.), Insel Almanach auf das Jahr 1988, Frankfurt am Main 1987, S. 172-184; 194.

55 Johann Georg Hamann, »Metakritik über den Purismum der Vernunft«, in: Sämtliche Werke (wie Anm. 53), Bd. 3, S. 281-289.

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Deutlich wird also, dass Hamann eine rationalismuskritische Position vertritt, die aber selbst im Zeichen einer höher integrierten Vernunft operiert. Sie baut konsequent die Brücke zwischen Leib/Seele-Dualismus und Geist/ Buchstaben-Dichotomie. Sie verzahnt aber auch die Pole der jeweiligen Gegensatzpaare im Sinne einer Symbiose, nicht nur im Sinne einer dialektischen Aufhebung, untereinander. Als wegweisend erscheint das Beharren auf dem Eigensinn und -recht der Signifikanten. Diese Denkfigur wird von der dekon-struktivistischen Idealismuskritik weiter geschrieben werden.56

Mit welchen Denksystemen und -traditionen die um Rehabilitation des Buchstabens bemühte Dekonstruktion auf lange Sicht konkurriert, wird beim Blick auf einen Text deutlich, der die Sattelzeit um 1800 wie ein Gegenbild der Hamann’schen Reflexionen vom oberen Rand her begrenzt. Dies gilt nicht nur im temporalen Sinn: Die idealistische Zuspitzung der Überlegungen Wilhelm von Humboldts zur linguistischen Semiotik in Über die Buchstabenschrift und ihren Zusammenhang mit dem Sprachbau könnte schärfer nicht zutage treten.57 Deren Hauptaxiome58 lassen sofort die Differenz zu Hamanns Integrations-versuch von »Sprachleib« und »Sprachseele« deutlich werden.59 Auch wenn Humboldt eine normativ hochgradig aufgeladene Darstellung, ja Panegyrik des Systems der phonographischen Buchstabenschrift vorlegt,60 ist sein Ansatz doch ganz anders strukturiert als der der Hammann’schen Apologie des Buchstaben h. Zwar stellt Humboldt, Hamann verwandt, die konstitutive anthropologische und epistemologische Rolle der Sprache heraus und sucht den essentiellen Zu-sammenhang von Buchstabenschrift und Sprachbau zu erweisen. Aber er verleiht dem Konnex von Denken, Rede und Schrift doch eine viel stärkere Schlagseite

56 Jacques Derrida, »Der Schacht und die Pyramide. Einführung in die Hegelsche Semiologie«,

in: Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 93-132; Derrida versucht hier, den Phono-zentrismus der Hegel’schen Sprachphilosophie von innen her aufzusprengen, indem die inhärente Bildlichkeit sowie zentrale Rolle der Materialität, die Hegels semiotischen Diskurs antreibt, in ihr Recht gesetzt werden. Breiter angelegt ist die kritische Relektüre von Schriftkonzepten des 18. Jahrhunderts und ihrer erstaunlichen semiotischen Nach-haltigkeit in Derridas Grammatologie (Frankfurt am Main 1983). Hier wird letztlich die Hamann’sche Einsicht deutlich gemacht, dass von der Vernunft nichts bleibt, wenn sie ihren Leib verliert. Dieser Leib wird in der Dekonstruktion à la Derrida primär als Textkörper gedacht. Aufgehoben bzw. verschoben wird dabei der theologische Angelpunkt, der noch das Hamann’schen »System« trägt: Texte verweisen dann nicht mehr auf Gott, Buchstaben als ihre Elemente nicht mehr als Spuren auf einen göttlichen Hauch, sondern nur auf andere Texte als eigensinnige Signifikantensysteme, als ›Buchstabenspiele‹.

57 Wilhelm von Humboldt, »Ueber die Buchstabenschrift und ihren Zusammenhang mit dem Sprachbau (1824)«, in: Werke in fünf Bänden, Bd. 3, hg. v. Andreas Flitner und Klaus Giel, Darmstadt 1963, S. 82-112.

58 Sie weisen in ihrem Phonozentrismus auf die Hegel’sche Sprachphilosophie – von Derrida bezeichnender Weise unter Beschuss genommen – voraus.

59 Zu Humboldt im Kontext vgl. Jürgen Trabant, Traditionen Humboldts, Frankfurt am Main 1990.

60 Dazu und zum Folgenden auch Rainhard Roscher, Sprachsinn. Studien zu einem Grundbegriff im Sprachdenken Wilhelm von Humboldts, Paderborn 2006.

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hin zum Unsinnlich-Ideellen. Zum Reich des Seelischen und Geistigen – häufig äquivalent gebraucht – stehen die Schriftzeichen nämlich in einem rein subordi-nierten Dienstverhältnis, »Werkzeugen« gleich.61 Der radikale Phonozentrismus Humboldts, der den geschriebenen Buchstaben nur als Symbol des (Laut-) Zeichens gebrauchen kann, streicht im Gegensatz zu Hamann die visuelle Fixie-rung des Signifikanten virtuell in ihrem Eigenrecht durch. Die konsequente Fixierung auf die Dominanz des Geistigen und das Innenreich des Seelischen, aus dem die Sprache gemäß pneumatologischer Lehre herausfließe, führt hier zu einer Abwertung der sinnlich-leiblichen, materiellen Aspekte der Sprache. An-ders als Hamann schließt Humboldt theologische Implikationen der Sprachphi-losophie aus, oder besser, er transformiert sie in die autonomen Sphären idealis-tischer Metaphysik. Damit wertet er aber die niederen Seiten der Sprache wie die Körperbindung der Lautproduktion und ihre Inkarnation in Schrift auffallend ab.

Aufschlussreich ist, dass Humboldt sogar die unterscheidende Definition von Lauten, die den Buchstaben korrespondieren, keineswegs an materiell-sinn-liche Parameter bindet. Vielmehr verlegt er den Ort ihrer Spezifikation in das unsichtbare Reich der Seele: Die Systemstelle lautlicher Wirkungen hat hier ihren Ort und kann auf eine von Humboldt nicht näher benannte Weise mit geistigen Konzepten verknüpft werden. Als Krönung der Sprachevolution gilt die Buchstabenschrift Humboldt nur deshalb, weil sie der Beweglichkeit und Selbstbewegung des sich in Sprache veräußernden Geistes den geringsten Rei-bungswiderstand entgegenzusetzen hat. Der systemischen Autonomie und Tota-lität der geistig produzierten Sprache ist nämlich die Buchstabenschrift nicht nur deshalb angemessen, weil sie eine eminente Speicher- und damit Entlastungs-funktion bei gleichzeitiger hoher Flexibilität ausüben kann; auch ihre elementare Beschaffenheit, aus klaren und distinkten, getrennt artikulierten Einheiten zu bestehen, lässt sie als ideales System erscheinen: Diese modulare Struktur der Buchstabenschrift entspricht kongenial dem von Humboldt für das Denken als zentral erachteten »Trennen, Spalten und Gliedern«. Dieses allein ermöglicht analytisch-kritische Reflexion und stellt dem Form gebenden Geist ein modu-lierbares Material zur Verfügung. Höhere Einheit, »wie aus einer Form«, kann, dialektisch gedacht, nur über diesen Umweg hergestellt werden.

Buchstäbliche Zeichen sind also das Medium, das der ideellen und ätheri-schen Natur des Tons, mit dem Sprache essentiell verwachsen ist, allein ange-messen ist. Die phonozentrische Schlagseite zur Performanz des besonders see-lennahen und geistfähigen Akustischen geht mit einer scharfen Abspaltung der Buchstabenschrift – die auf Lautlichkeit fußt – vom ikonisch Fixierten einher. Hamann hatte im Gegensatz dazu ja gerade auf der Sinnlichkeit und Bildlichkeit der Buchstabenschrift sowie der Konvertierbarkeit von Bild und Schrift insistiert. Humboldt hingegen hält die Emanzipation der schriftlichen Fixierung

61 Vgl. dazu Wilhelm von Humboldt, Ȇber die Verschiedenheit des menschlichen Sprach-

baues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts«, in: Werke in fünf Bänden (wie Anm. 57), Bd. 3, S. 369-756.

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vom Bildlichen für die entscheidende Trennlinie in der Sprachentwicklung, die einen qualitativen Sprung markiert. Erst das willkürliche Zeichen, das durch einen »Schlüssel«, nicht durch eine visuelle Ähnlichkeitsbeziehung, an das Be-zeichnete erinnert, vermag eine »wahre« Schrift zu begründen. Erst eine solche kann ablenkungs- und störungsfrei als eigenes System fungieren. Anders als bei Hamann werden die Zeichen der Buchstabenschrift also »verschnitten«, insofern es für Humboldt nicht ihre leibgebundene Materialität ist, mit der der Geist aufs Engste verknüpft ist. Vielmehr sind es gerade die immateriellen Zwischenräume der Buchstabenschrift, in denen die erstrebenswerte »tiefe Geistigkeit« ihren Ort finden kann.62 Sprache wird gleichsam entkörperlicht, da die Vorstellung eines metaphysisch abgesicherten Sprachleibes aufgegeben wird. Als eigentlichen Bereich weist Humboldt ihr stattdessen die menschliche Seele (Hamann sprach dagegen noch von einer Textseele) als Ort der Sprachproduktion und -rezeption zu. Der unsichtbare Geist dominiert den ihm als Trägermedium unterstellten Buchstaben und dringt in die differentiellen Leerstellen dazwischen ein.

b) Sigmund Freud Von dieser logozentrischen Perspektive setzt sich Freuds Traumdeutung ab, die den Auftakt des 20. Jahrhunderts markiert – auch wenn dieses Werk noch von der Denkfigur des Buchstaben bzw. des Buchstäblichen her aufgeschlossen werden kann.63 Freuds Innovation steht zudem in mannigfaltigem Zusammen-hang mit der gesamten Kultur des Fin de Siècle.64 Die Nähe der psychoanaly-tischen Interpretationsmethode zur Kunst ist von Freud auf zwei Ebenen selbst thematisiert worden:65 erstens in der Nähe seiner in Form von »Kranken-geschichten« niedergeschriebenen psychoanalytischen Diagnostik, die also die Form der Narration annehmen;66 zweitens im Vergleich des bearbeiteten psychi-schen Materials, z.B. der Traumgedanken, hinsichtlich Struktur, symbolischer

62 Humboldt, »Buchstabenschrift« (wie Anm. 57), S. 106. 63 Es ist insofern einleuchtend, hier vom »Schibboleth der Psychoanalyse« zu sprechen. Vgl.

Achim Geisenhanslüke, Das Schibboleth der Psychoanalyse. Freuds Passagen der Schrift, Bielefeld 2008. Zur Denkfigur des Schibboleth und der Rolle des Buchstabens im phonogra-phischen Paradigma vgl. auch den Beitrag von Till Dembeck im vorliegenden Band. Lacans strukturalistische Relektüre Freuds greift diesen Anspruch auf, indem sie die differenzlogische Stoßrichtung des Schibboleths sprachphilosophisch radikalisiert hat. Jacques Lacan, »Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud«, in: Schriften, Bd. 2, hg. v. Nobert Haas, übers. v. Rodolphe Gasché, Weinheim, Berlin 31991 (1. Auflage 1975), S. 15-55.

64 Peter Gay, Freud. Eine Biographie für unsere Zeit, Frankfurt 1995. 65 Die programmatische Anregungswirkung psychoanalytischer Denkmuster im Sinne einer

Rückkoppelung auf die Kunstproduktion des 20. Jahrhunderts braucht hier gar nicht weiter ausgeführt zu werden; es sei nur auf Max Bergengruens Aufsatz verwiesen.

66 Sigmund Freud, Die Traumdeutung, Nachwort von Hermann Beland, Frankfurt am Main 1991, S. 111, Anm. 1; ders., »Studien über Hysterie«, in: Gesammelte Werke, Bd. 1, London, Frankfurt am Main 1949, S. 227.

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Codierung und Mehrdeutigkeit mit Poesie oder Werken der Bildenden Kunst – die zur Deutung in explizite Rede überführt werden müssen.

Man kann also feststellen, dass Freuds Konzeption des Unbewussten prinzipiell darauf insistiert, dass die ›Sprache‹ des Unbewussten nicht im buch-stäblichen Sinne verstanden werden kann und darf.67 Der latente Trauminhalt ist nämlich gegenüber dem manifesten durch Pressungen, Verdichtungen, Verschie-bungen, trügerische Identifikationen, Überlagerungen bzw. Mischungen ent-stellt.68 Der manifeste Trauminhalt, stets eine verdrängte Wunschvorstellung, ›verstellt‹ sich also gleichsam, um sich vor der Entdeckung durch die Zensur des Bewusstseins zu schützen.69 Aber insofern die ›Sprache‹ des Traumes durch me-thodische Traumanalyse ins Explizite, Manifeste übersetzt werden kann, beste-hen, wie Freud ausführt, strukturelle Analogien zu »unserem Schriftsystem«, also zur Buchstabenschrift.70 Je nachdem, welchen Entstellungsgrad ein Traum-inhalt aufweist, kann diese »Sprache« mit mehr oder weniger »Übersetzungs-arbeit« in explizite Rede umgewandelt werden.

Um zu verdeutlichen, worin diese Analogien bestehen, ist zunächst zu beto-nen, dass Freuds Konzeption des Seelischen dieses konsequent vom Physiologi-schen entkoppelt und primär im Reich der Bilder und der Sprache ansiedelt. In diesem Sinne kann er z.B. von Traumgedanken nicht nur als bildhaft-symbo-lischen Phänomenen, sondern auch als einem »Text« sprechen, der wiederum interpretierbar ist. Hier kehrt der Gedanke der Bildhaftigkeit von Sprache, ja des Ineinandergleitens beider Kategorien wieder, den wir von Hamann her kennen. Texte Freuds wie die Traumdeutung sind von einer steten Reflexion auf den schwer fixierbaren Status der eingesetzten Metaphern durchzogen – in deren Mehrdeutigkeit aber gerade auch ein Vorteil bestand, um der Deutungsoffenheit von Artikulationen des Psychischen gerecht zu werden.

Freuds wissenschaftsgeschichtliche Hauptleistung besteht in der Emanzipa-tion der modernen Seelenkunde vom streng szientifischen neurophysiologischen Paradigma als Fortwirkung materialistischer Ansätze. Dagegen setzt er eine über Versprachlichung und Verbildlichung realisierte Re-Immaterialisierung der Seele – die sich allerdings keinesfalls als idealistisch verstand. Humboldt hatte noch Intentionalität zum entscheidenden Distinktionskriterium der Lauthervor-bringungen erklärt.71 Freuds De-Autonomisierung von Bewusstseinsleistungen und ihre Rückführung auf eine intentional und rational nicht kontrollierbare ›Sprache‹ des Unbewussten aber steht dem Versuch diametral entgegen, ein autonomes, steuerndes Reich des Geistes zu postulieren. Analog verhält es sich mit einem konträren Verständnis systemischer »Zwischenräume«. Sie stellen

67 Freud, Traumdeutung (wie Anm. 66), S. 111-114. 68 Ebd., S. 147-174; 284-340. 69 Ebd., S. 173. 70 Ebd., S. 318. 71 Anerkennend mit Bezug auf dieses auch dem modernen Phonembegriff zugrunde liegende

Axiom: Jürgen Trabant, »Nachwort«, in: Wilhelm von Humboldt, Über die Sprache. Ausge-wählte Schriften, hg. v. Jürgen Trabant, München 1985, S. 197-200, Kommentar 11 (S. 199).

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nicht mehr nur Freiräume für einen souveränen Geist dar, der sich in den Zwischenzonen der Buchstabenschrift einnisten kann. Vielmehr gelten sie Freud als konstitutiv für die Sprache des Unbewussten. Sie machen virtuelle Zonen des Nervensystems aus, in denen sich psychische Phänomene auf ihre Weise artikulieren können, sind reine Zwischenzonen mit »Widerständen« gegen oder auch »Bahnungen« für psychische Energieflüsse und deren eigenschöpferische Dynamik und Aktivität. Freud betont nachdrücklich, obwohl er an einer modell-haften »Lokalisation« psychischer Vermögen festhält,72 den nichtanatomischen, nichttopischen Charakter seines Lokalisierungsmodells.73 Vor diesem Hinter-grund erweist sich auch die Metaphorik einer seelischen Buchstabenschrift als Grenzgang. Freud lehnt ausdrücklich nicht nur eine streng somatische Ätiologie von Träumen ab,74 sondern auch die Vorstellung eines universellen psychischen Alphabetes: Regelhafte, eindeutige Korrespondenzen zwischen den psychischen Symbolen und einer Bedeutung des Traumes für das ›wirkliche‹ Leben lassen sich, etwa mithilfe einer Legende, nicht bestimmen. Zu beachten ist nämlich grundsätzlich, dass die Darstellungsmittel des Traumes andere sind als die der Wahrnehmung des Wachbewusstseins.

Dennoch – oder vielmehr gerade deshalb – konstruiert Freud eine Nähe der Binnenstruktur des Traumes zur Buchstabenschrift. Unbedingte Maxime ist es, die Analyse von Träumen nicht global zu betreiben, sie also in toto zu umgreifen, sondern vielmehr das Traummaterial als Konglomerat zu betrachten und in seine Einzelelemente, seine »Brocken«, zu zerlegen.75 Vor allem – und hier bringt Freud explizit das Bild der Buchstabenschrift ein – ist es entscheidend, die komplexe Relationierung der Einzelelemente im Deutungsgespräch in immer wieder neuen Konstellationen durchzuspielen. Durch Assoziationsverfahren sind Bedeutungshypothesen netzwerkartig zu entwickeln und zu erproben. Es sind also vielmehr die hypothetischen, struktural-relationalen Kombinationen und Konstellationen der einzelnen Stücke des Trauminhaltes, die Wechselspiele von Hiatus und »Anlötstelle«, das die bedeutungsgenerierende Struktur des Traumes ausmachen. In ihr rekonfigurieren sich, zur Sichtbarkeit entstellt, aber dennoch immer mehrdeutig, verdrängte libidinöse Zusammenhänge.76

Auch in der Freud’schen Seelenlehre liegt also eine aufschlussreiche Relatio-nierung des Begriffsvierecks von Leib und Seele, Geist und Buchstabe vor. Die

72 Zum Vorangehenden und dazu: Freud, Traumdeutung (wie Anm. 66), S. 597. 73 Die Rede vom psychischen Apparat sollte nicht als mechanistisch missverstanden werden,

sondern vielmehr eine funktional-dynamische Struktur seelischer Vorgänge anschaulich modellierbar machen; diesen rein virtuellen Status des Apparates bringt Freud über die Metaphorik bildgenerierender optischer Geräte zum Ausdruck, bei denen diejenigen Orte, in denen Vorstufen des Bildes zustande kommen, selbst ideellen Charakters seien; Peter Schneider, »Freud und das Konzept der psychischen Lokalität«, in: texte. psychoanalyse. ästhetik. kulturkritik 24/1 (2004), S. 50-63.

74 Harald Neumeyers Aufsatz liefert wichtige Ausführungen zur frühen Geschichte der Traumdeutung.

75 Ebd., S. 113. 76 Zum Vorangehenden und dazu: Freud, Traumdeutung (wie Anm. 66), S. 113; 136-146; 173.

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Vorstellung eines souverän agierenden, selbstbewegten Geistes wird abgelegt. Dafür entfaltet das Seelische eine Dominanz, die vom Leiblichen abgelöst und auf einen rein virtuell zu verstehenden, wenn auch sinnlich zu erfassenden Sprachkörper übertragen wird.77 Die Verzahnung von Seele und Buchstaben stellt als neue Direktachse eine Durchkreuzung der klassischen Paarbildung der beiden sich gegenüberstehenden dualistischen Pole dar und markiert darin eine entscheidende Schwelle zur Moderne. Leib und Seele, Geist und Buchstabe stellen selbst eine mobile Konstellation dar, deren tetralogische und somit nicht nur dualistische Struktur extrem offen ist für Verschiebungen und neue Relatio-nierungen. Intensiver als in dieser nur schematischen Skizze werden die Beiträge des Bandes versuchen, diese Prozesse sichtbar zu machen.

III. Beiträge Die Beiträge des vorliegenden Bandes geben einen Einblick in die Breite des Themas in seiner historischen Entwicklung. Der Band ist in drei Sektionen eingeteilt. Die Beiträge der ersten Sektion untersuchen den Anthropologischen Dualismus, während die zweite Sektion sich dem Semiotischen Dualismus wid-met. Obwohl alle Beiträge dieser beiden ersten Blöcke Schnittstellen zwischen den beiden Bereichen herausarbeiten, sind es vor allem die Aufsätze der letzten Sektion Leib/Seele – Geist/Buchstabe, die diese Überschneidungen explizit ins Zentrum ihrer jeweiligen Betrachtung rücken. a) Anthropologischer Dualismus Der Aufsatz von MONIKA SPROLL untersucht Johann Gottfried Herders Theo-rie des Charakters in seiner Schrift Vom Erkennen und Empfinden der Mensch-lichen Seele, die zunächst als kritischer Beitrag zu einer Preisfrage der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften vorgesehen war. Sie kommt zu dem

77 Dass dem so ist, haben nicht zuletzt Lacans zuspitzende Überlegungen, selbst Rekonfigura-

tionen des Freud’schen Modells, erwiesen. Hier wird nämlich postuliert, den »Text buch-stäblich zu nehmen«. Entscheidend ist, dass Lacan damit mehr eine differentielle Operation meint als einen Rekurs auf ein fixierbares Fundament der sich absichernden Exegese. Denn hier avanciert der Buchstabe als im doppelten Sinne signifikante Seite der Sprache zum Signum einer nicht abzustellenden Differenz. Sie besteht in primär metonymischen Signifi-kantenketten, geht aber nicht restlos in metaphorischen Konstruktionen auf. Sie erst kon-stituiert psychische Signifikate als Bedeutungseffekte des Spiels der Signifikanten – deren Physis sich gegen die Zurichtung durch den souveränen Geist sperrt. Insofern ist auch bei Lacan das seelisch Unbewusste noch viel radikaler als bei Freud ein Spracheffekt; auch libidinöse seelische Dynamiken sind in signifikante Aufschubsprozesse auflösbar. Lacan, »Das Drängen« (wie Anm. 63). Vgl. dazu: Georg Christoph Tholen, Manfred Riepe und Gerhard Schmitz (Hg.): Übertragung – Übersetzung – Überlieferung. Episteme und Sprache in der Psychoanalyse Lacans, Bielefeld 2001.

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Schluss, dass Herders Charaktertheorie eine Lösung des Leib/Seele-Problems vorschlägt, die auf Leonhard Cochius’ Theorie der Elastizität der Seele aufbaut und die die Differenz von Leib und Seele, Erkennen und Empfinden aufhebt und in ein neues Konzept des Menschen überführt.

In seinem Beitrag zur Traumtheorie und Traumliteratur untersucht HARALD NEUMEYER die sich verändernde Rolle und Funktion des Traumes in Schillers Räubern und Novalis’ Heinrich von Ofterdingen. Der Traum verändert sich in der Theorie der Aufklärung von einer Reaktion auf physische Einflüsse hin zu einer psychischen Größe. Beide Werke stellen dabei eine »konsequente Fortführung des spätaufklärerischen Modells« dar, indem sie Traum und Dich-tung auf je unterschiedliche Weise analogisieren. Franz Moors prophetischer Traum in Schillers Räubern stellt, so Neumeyer, einen linguistic turn in der Traumforschung dar, der das Verdrängte und Verleugnete wieder hervortreten lässt. Bei Novalis wird in Heinrichs Traum hingegen nichts verdrängt, sondern vielmehr stellt der Traum den Entfaltungsprozess des Poeten als denjenigen eines Erlösers dar.

RALF HAEKEL beschreibt das Seelenkonzept in Edward Youngs Night Thoughts und William Blakes Manuskript The Four Zoas. Dabei steht vor allem die Entwicklung des Seelenbegriffs im 18. Jahrhundert im Zentrum der Analyse. Haekel untersucht, wie ein brüchig werdendes anthropologisches Seelenkonzept in der Romantik zunehmend zu einer ästhetischen Nenngröße wird, die aber zugleich die Brüche und Widersprüche der Seele um 1800 reflektiert.

Das Verhältnis von Leib und Seele in der englischen Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beleuchtet der Aufsatz von SUSANNE SCHOLZ. Sie untersucht den Dualismus anhand von Robert Louis Stevensons wenig bekannter Novelle Ollala. Anhand der im Text benannten Vorstellung, dass die Seele Teil der ›Rasse‹ sei, konstatiert Scholz, dass er die Krise der Subjektivität als eine Krise der Referentialität inszeniert. Anhand des neuen Mediums der Fotografie, genauer: der Kompositfotografie, zeichnet sie nach, wie ›Rasse‹ im viktorianischen England entworfen und visualisiert wird. In ihrer Analyse kommt Scholz zu dem Schluss, dass die weibliche Protagonistin zwar entmachtet wird, die Literatur selbst aber, indem Ollala am Ende als ecce homo inszeniert wird, Auswege bietet, die dem zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskurs nicht zugängig sind.

b) Semiotischer Dualismus Im ersten der Beiträge aus der anschließenden Sektion, die dem dualistischen Schema von Geist und Buchstaben gewidmet ist, liest STEPHAN PABST die Denk-figur des Buchstäblichen mit Bezug auf die spezifisch moderne Frage der Authentizität. Sie schließe, als Ursprungssuche verstanden, immer schon eine Reflexion auf den Verlust des Ursprunges ein. Die aus der Bibelexegese stam-mende Frage nach der Authentizität des Textes wird im 18. Jahrhundert zu einem philologischen Problem. Mit Blick auf die Rolle, die James McPhersons fingierte Ossian-Dichtung im Briefroman spielt, untersucht Pabst anhand von

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Goethes Briefroman Werther, wie diese textgebundenen Dimensionen wiederum mit derjenigen eines authentischen Lebensvollzugs zusammen hängen.

In einem ebenfalls germanistischen Beitrag rekonstruiert CHRISTIANE FREY

die literarische Transformation der theologischen Unterscheidung von sensus literalis und sensus allegoricus und ihrer Paulinischen Verdichtung zum Dua-lismus von Geist und Buchstaben in Karl-Philipp Moritz’ Hartknopf-Romanen. Sie zeigt dabei auf, wie intensiv die theologischen bibelhermeneutischen Debat-ten des 18. Jahrhunderts von literarischen Texten aufgegriffen und in einem ge-schärften Bewusstsein von schriftlicher Medialität aufgehoben werden. Deutlich wird in der Auseinandersetzung literarischer mit theologischer Schriftkultur, dass es eine ›unmittelbar‹ verfügbare Ebene des Buchstäblichen nur geben kann, wenn sie selbst als medial verfasst gedacht wird.

CHRISTINE LUBKOLL geht in ihrem Beitrag der Frage nach, welche Bedeutung der Dualismus von Geist und Buchstabe für die Musikgeschichte hat. Anhand von Beethovens Auseinandersetzung mit der Sonatenhauptsatzform in seiner Sonate Les Adieux rekonstruiert sie die zeitgenössische Frage, auf welche Weise musikalische Formen als sprachanaloge Kommunikation verstanden bzw. ob sie nicht gerade als Sprache des Unsagbaren entworfen werden müssen. Dabei positioniert sie Beethovens Sonate an einer Schnittstelle von Klassizismus und Romantik. Entscheidend dafür ist die ebenso thematische wie strukturelle Frage nach den (Ab-)Brüchen des kompositorischen Adieux, die der späte Beethoven auf unkonventionelle Weise inszeniert: Sie werden als Übergänge zwischen dem – klassizistischen – Modell der ›Kunstgrammatik‹ und dem – romantischen – einer musikalischen ›Hieroglyphenschrift‹ verstehbar, vermitteln also zwischen buchstäblichem Gerüst und geistiger Freiheit der Musik.

MARKUS DAUSS rekonstruiert in seinem Beitrag zur Geschichte der Kunst-theorie, welche Rolle der semiotische Dualismus für die Umstellungen spielt, die den architekturtheoretischen Diskurs des ausgehenden 18. Jahrhunderts revol-tiert haben. Die Denkfigur einer architektonischen ›Buchstäblichkeit‹ kann dort entweder mehr zu Naturseite akzentuiert werden, zu welcher der Raum- und Körperkunst der Architektur eine besondere Nähe zugeschrieben wird, oder mehr im Sinne einer quasi-alphabetischen Codierung und abstrakten Medialität verstanden werden. Werden beide Dimensionen zusammengedacht, um der Bau-kunst eine bisher ungekannte, geistvolle Konzeptualität zuzusprechen, dann treten aber auch Aporien und Paradoxien auf den Plan. Sie sind dem Traum von einem natürlichen Alphabet geschuldet, der auch für den zeitgenössischen Diskurs schriftlicher oder bildlicher Medialität typisch ist, zu dem sich die Architekturtheorie meist abgrenzend, an bestimmten Stellen aber auch anknüpfend verhält.

Ebenfalls der ›Buchstäblichkeit‹ – als einer für die Bildtheorie und -kritik um 1800 einschlägigen Denkfigur – widmet sich der Beitrag des Kunsthistorikers RAINER METZGER. Im Zentrum steht dabei Johann Caspar Lavaters Physiogno-mik, die nach Metzger den Versuch darstellt, piktoriale Zeichen einer ›buchstäb-lichen Lektüre‹ zu unterziehen. Die protestantische Buchstaben- wie Bild-

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gläubigkeit Lavaters führt dabei zu einer genuin modernen Konzeption: Lavater – und das Paradigma dafür ist das Turiner Grabtuch, die vera icon Christi – denkt Unmittelbarkeit paradoxerweise als über das Prinzip des Bildes vermittelt. Metzger fragt mit Blick auf die Buchstabenikonen der Physiognomik, welche bzw. wie viel Körperlichkeit dem Konzept des Buchstabens einerseits, dem des piktorialen Zeichens andererseits zugeschrieben wird. Er beantwortet diese Frage, indem er nicht nur Lavaters Physiognomik vor dem Hintergrund des Peirce’schen Index-Begriffes liest: Auch bei der Lektüre historischer Bilddeu-tungen, wie den Brentano’schen Um-Schreibungen von Caspar David Friedrichs Mönch am Meer, erweist er sich als probater Indikator für die Deutungs-offenheit, die Grenzbilder an der Schwelle zur Moderne kennzeichnet.

Der Amerikanist HERBERT GRABES stellt in seinem Beitrag einen Schlüssel-text moderner Kunsttheorie vor: Wassily Kandinskys Über das Geistige in der Kunst. Besonders interessant erscheint Kandinskys Text, weil er in seiner kritischen Analyse des Kunstverlaufs des 19. Jahrhunderts unorthodoxe Paarun-gen vornimmt, die nur vor dem Hintergrund von Kandinskys elitärer Assozia-tion von Geistigem mit dem wahren Gehalt der Kunst verständlich sind. Als ›buchstäblich‹ wird in Kandinskys Ansatz die Form begriffen, woraus im Umkehrschluss folgt, dass die von ihm selbst zu entwickelnde Kunst keinesfalls als rein formales Experiment zu begreifen ist. Weder gefälliges Ornament noch buchstäblich codierte Schriftsprache soll sie werden – eine Anforderung, die Kandinsky mit dem Schlagwort des Geistigen belegt. Hier wird deutlich, wie der Dualismus von Geist und Buchstabe in der Ästhetik paradigmatisch mit dem von Leib und Seele verzahnt ist.

c) Leib/Seele – Geist/Buchstabe Eine Perspektive, die beide Bereiche konsequent zusammen denkt, bietet HANS

SANDERS Beitrag zur Körpersemiotik in Choderlos de Laclos’ Les liaisons dangereuses. Sanders untersucht den Briefroman unter dem Gesichtspunkt der Verfügung. Hierfür zeichnet er zunächst den entsprechenden Diskurs bei Machiavelli, Descartes und Gracián nach, um daraufhin die Verführungsstrate-gien bei Choderlos als eine Verfügung über die Zeichen des Körpers zu analysie-ren. Der Körper wird dem libertin zum virtuos beherrschten Buchstaben, bis schließlich die Verfügung über die Zeichen in dem Moment versagt, als Valmont selbst Opfer seiner Affekte wird.

Einen anderen Blick auf den Zusammenhang Leib und Seele sowie Geist und Buchstabe, der sich stärker auf die institutionalisierte Seite der Dualismen konzentriert, bietet der Beitrag von ROLAND BORGARDS zur Genieästhetik in der deutschen Literatur des Sturm und Drang und der Romantik. Borgards stellt die These auf, dass mit der Einführung des polizeilichen Verbots der theatralen Improvisation eine Grundvoraussetzung für die Genieästhetik von Goethe über Moritz bis zu Novalis geschaffen wurde. Das Verbot der – körperlichen – Im-provisation habe, so Borgards, erst die Übertretung erzeugt, was im literarischen Geniegedanken der Literatur zu einer Loslösung des Geistes vom Buchstaben

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geführt habe. Durch die Fixierung auf den ›Buchstaben‹ als Formseite der dramatischen Gattung habe die Zensur paradoxerweise gerade ein ›Spiel‹ des performativen Entzugs von Gehalten gegenüber institutionellen Festschrei-bungen oder sogar schriftlicher Fixierung in Gang gesetzt.

CAROLINE WELSH untersucht in ihrem Beitrag die Transformation beider dualistischer Schemata zwischen 1800 und 1900 anhand des Begriffs der psycho-logischen und ästhetischen Stimmung. Die der Musik entlehnte Metapher wird Ende des 18. Jahrhunderts eine »Figur des Wissens, die in verschiedenen Wis-sensfeldern präsent ist«. Speziell das von Sulzer geprägte Modell der psycho-logische Stimmung ist dabei an den Dualismus von Leib und Seele gebunden, während das Stimmungsmodell des deutschen Idealismus mit dem Dualismus von Geist und Buchstaben assoziiert wird. Über die Dauer des 19. Jahrhunderts erweist sich die Stimmungsmetapher gegenüber den sich verändernden psycho-logischen und physiologischen Modellen als erstaunlich persistent. Um 1900 hinweg verschiebt sich das Stimmungskonzept der Ästhetik dahingehend, dass sich einerseits eine physiologisch ausgerichtete Ästhetik der Nerven ausprägt, sich andererseits in der modernen Dichtung der Buchstabe emanzipiert und davon löst, lediglich Ausdruck des Geistes zu sein.

TILL DEMBECK tritt an das Phänomen buchstäblicher Codierung der Sprache gleichsam von seiner Gegenseite heran, der analogen technischen Auf-zeichnung von sprachlichen Lauten. In dieser technischen Revolution kommt die Doppelung, die den Buchstaben eigentlich schon immer gekennzeichnet hat, zum Vorschein: die von ornamentaler Form und seiner bedeutungstragenden Funktion. Dembeck zeigt, dass die Entwicklung des Phonographen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu einem paradoxen Bestand führt. An die Stelle der als digital begriffenen Buchstabenschrift tritt nun eine analoge ›Selbstauf-zeichnung‹ des Schalls. Statt digital ›bereinigter‹ Sprachfixierung im Buchstaben-alphabet drücken sich alle lautlichen Abweichungen auf den Tonträger und können auf eine verstörende Weise wieder ›buchstäblich‹ akustisch hervorge-rufen werden. Die Theorie der Buchstabenschrift hatte das Ornamentale am Buchstaben stets durch eine Teleologie des Wesentlichen verdrängt; in Herders Sprachtheorie bricht die Kontingenz dieser Scheidung dann erstmals auf. Im Phonographen schließlich tritt nun die Paradoxie des Buchstabens zu Tage. Im Beitrag Dembecks wird somit deutlich, wie sehr das Insistieren auf der kultu-rellen Funktion des Buchstabens als Distinktionsfigur letztendlich ein Kippen in sein Gegenbild, ins ›reine‹ Ornament, zur Folge hat.

Im Zentrum von MAXIMILIAN BERGENGRUENS Aufsatz steht die Analyse der im zeitgenössischen Diskurs diskutierten Nervenkrankheiten in Hermann Bahrs Roman Die gute Schule von 1890. Es geht im Beitrag »um die Genese der Modernen Literatur in ihrer Auseinandersetzung mit den Krankheiten der Moderne«. Die Verbindung von Leib und Seele um 1900 ist, so Bergengruen, im Gehirn und in den Nerven lokalisiert. Insbesondere in seiner Analyse der unterschiedlichen Nervenkrankheiten von Neurasthenie, Hysterie, Persönlich-keitsspaltung bis zur Perversion arbeitet er genau die Unterschiede zum Nerven-

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diskurs um 1800 heraus. In seiner Analyse der theologischen Elemente von Bahrs Roman konstatiert Bergengruen eine Erweiterung des Romans um das Geist/Buchstabe-Problem, indem die mystischen Elemente einen Zustand »jenseits der Begrifflichkeit« anstreben.

FRANZISKA BOMSKI untersucht, den Band abschließend, in einer narratalo-gischen Perspektive die Subjektkonzeption und die Ethik, die Robert Musil in seiner komplex verschachtelten Novelle Die Amsel entwirft – als eine Art Antwort auf Ernst Machs These, das Ich sei eine rein pragmatisch bedingte Kohärenz- und Konstanzfiktion. Anstatt die Pole von Subjekt und ›tatsächli-cher‹ Welt monistisch ineinander aufgehen zu lassen, findet Musil zu einer Position, die den klassischen Dualismus in eine dialogische Polarität überführt. Entscheidend ist, dass im Reich einer »nicht-ratioiden« Erkenntnis von Ich und Moral, die Musil der Sphäre wissenschaftlicher Begriffsbildung und rationaler Weltbeherrschung entgegensetzt, dialogische Vermittlung an die Stelle buch-stäblicher Fixierung tritt. Wenn die erzählten und erzählenden bzw. zuhörenden Subjekte Aeins und Azwei sich reziprok entwerfen, scheinbar wie mathematisch gespiegelte Objekte, dann nimmt hier doch eine andere ›Lösung‹ Gestalt an als beim Buchstabenrechnen: nämlich keine exakt und dauerhaft aufgehende, sondern eine über kommunikative Unsicherheitsräume hinweg. Ergebnis sind stets nur reversible – wenn auch vorübergehend statische – Ich-Konzeptionen. Bei Musil spendet also der Buchstabe literarischer Kommunikation vor allem durch das dialogisch und narratologisch verschränkte Erzählen Leben.

Im vorliegenden Band versammelt sind die Beiträge der Abschlusstagung

des Graduiertenkollegs Klassizismus und Romantik im europäischen Kontext der Justus-Liebig-Universität Gießen, die im November 2006 auf Schloss Rauisch-holzhausen stattfand. Wir möchten allen danken, die zum Gelingen der Tagung und des vorliegenden Bandes beigetragen haben. Besonderer Dank gebührt den Sprechern des Graduiertenkollegs Günter Oesterle und Hartmut Stenzel sowie der Koordinatorin Sandra Bauer. Großer Dank gebührt auch Sabina Fazli für ihre Lektüre der Aufsätze. Wir danken der Stiftung für Romantikforschung, in deren Reihe der Band erscheint, sowie der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die den Druck freundlicherweise finanziert hat.