Die Theopolitische Stunde - 12 Perspektiven auf das eschatologische Problem der Moderne
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Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Christoph Schmidt
Die theopolitische Stunde
Zwölf Ansichten des politisch-theologischen Problems in der
Spätmoderne
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Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Inhaltsverzeichnis
1 Vor dem Gesetz. Statt eines Vorworts:
Die Parabel Kafkas als politisch-theologische Aggada 4
2 Individuum und Gesetz. Georg Simmels Essay über Rembrandt
im Lichte seiner ästhetischen, ethischen und religiösen
Metaphysik des Lebens 18
3 Eine politisch-theologische Archäologie der modernen
Subjektivität?
Anmerkungen zu Ernst Cassirers „Phänomenologie des
philosophischen Geistes“ 32
4 Ironie und Kenosis. Von Kierkegaards zu Schmitts Kritik der
romantischen Ironie 62
5 Deus Sive Natura. Fritz I. Baers Abhandlung über die Galut
(1936)
als politisch-theologischer Traktat aus dem Geiste der
Apokalypse 81
6 Apokalyptischer Strukturwandel der Öffentlichkeit. Von der
politischen Theologie
zur Theopolitik: Anmerkungen zu Erik Petersons Buch von den Engeln –
Stellung und Bedeutung der heiligen Engel im Kultus von 1935 97
7 Nach dem Gesetz. Das politische Unbehagen an der Kultur:
Leo Strauss liest Carl Schmitt 123
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Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
8 „Sein eigenes Gesetz sein ...“ Politisch-theologische
Voraussetzungen und Konsequenzen der Theorie der Kabbala der
symbolischen Formen bei Gerschom Scholem 142
9 Die theopolitische Stunde. Martin Bubers Begriff der
Theopolitik, seine prophetischen Ursprünge, seine Aktualität
und Bedeutung für die Definition zionistischer Politik 176
10 Verwechslungen. Abwege und Abgründe einer jüdischen
politischen Theologie jenseits von Orthodoxie und Liberalismus
197
11 Zeit und Spiel. Geistergespräch zwischen Walter Benjamin und
Carl Schmitt über Ästhetik und Politik 213
12 „Es gibt Vernichtung“. Jakob Taubes Die politische Theologie des
Paulus 233
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Vor dem GesetzI Statt eines Vorworts: Die Parabel Kafkas als politisch-
theologische Aggada
Die Parabel. Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesemTürhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt indas Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt denEintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragtdann, ob er also später werde eintreten dürfen. „Es istmöglich“, sagt der Türhüter, „jetzt aber nicht“. Da das Torzum Gesetz offensteht wie immer und der Türhüter beiseitetritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zusehn. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: „Wenn esdich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verboteshineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nurder unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter,einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des drittenkann nicht einmal ich mehr ertragen.“ Solche Schwierigkeitenhat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll dochjedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetztden Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seinegroße Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tatarischenBart, entschließt er sich, doch lieber zu warten, bis er dieErlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einenSchemel und läßt ihn seitwärts von der Tür sichniedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre: Er macht vieleVersuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Türhüterdurch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöremit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielemanderen, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie großeHerren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder,daß er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich fürseine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, undsei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Diesernimmt zwar alles an, aber sagt dabei: „Ich nehme er nur an,damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.“ Während dervielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fastununterbrochen. Er vergißt die anderen Türhüter und dieserscheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in dasGesetz. Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den erstenJahren rücksichtslos und laut, später, als er alt wird,brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch, und, da er
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in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe inseinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihmzu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließlich wird seinAugenlicht schwach, und er weiß nicht, ob es um ihn dunklerwird, oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennter jetzt im Dunkeln einen Glanz, der unverlöschlich aus derTüre des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vorseinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen derganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüternoch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinenerstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhütermuß sich tief zu ihm hinunterneigen, denn derGrößenunterschied hat sich sehr zuungunsten des Mannesverändert. „Was willst du denn jetzt noch wissen?“ fragt derTürhüter, „du bist unersättlich.“ „Alle streben doch nach demGesetz“, sagt der Mann, „wieso kommt es, daß in den vielenJahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat?“ Der Türhütererkennt, daß der Mann schon an seinem Ende ist, und, um seinvergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: „Hierkonnte sonst niemand Einlaß erhalten, denn dieser Eingang warnur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“1
Vielleicht kann man den Mann vom Lande und den Türhüter als die
auf das Minimale und Karikaturhafte zusammengekürzte
Personifikationen zweier Auffassungen von Gesetz und so von
zwei Formen politischer Theologie (vgl. unten II.) lesen, die
sich als Antwort auf die sogenannte Krise und Tragödie der
Kultur um 1910, also auf die Konfrontation des Individuums mit
dem Gesetz, interpretieren lassen.2 Der Mann vom Lande ist 1 Franz Kafka, Vor dem Gesetz, in: ders., Erzählungen, hrsg. von Max Brod,Frankfurt 1986 (1935).2 Vgl. Wilhelm Windelband, „Geschichte und Naturwissenschaft“ in: ders., Präludien. Aufsätze und Reden zur Einleitung in die Philosophie, Tübingen 1996, (1884); Heinrich Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Freiburg 1899; Max Weber, „Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ (1904), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. vonJohannes Winckelmann, Tübingen 1973, S. 146–214; Georg Simmel, „Der Begriffund die Tragödie der Kultur“ (1911), in: ders., Philosophische Kultur, Potsdam 1919; ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1983 (1908); Hermann Cohen, Der Begriff der Religion im System der Philosophie, Gießen 1915, S. 53; ders., Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Leipzig 1919;
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jemand, der Zugang und möglicherweise Schutz beim Gesetz sucht.
Er wird ihm von dem Türhüter verwehrt, einer Macht, die darüber
entscheidet, wer Einlaß ins Gesetz erhält und wer nicht. Die
Metapher vom Gesetzeshüter wird hier durch eine einfache
Entmetaphorisierung auf das Gesetz so zurückprojiziert, daß das
Gesetz, wenn es denn gehütet wird, eine Tür besitzen muß. Die
Entmetaphorisierung erzeugt damit nicht nur die neue Metapher
vom Eintritt in das Gesetz, sie verräumlicht das Gesetz und
markiert dadurch sein Problem: Als konkrete Institution und
Setzung besitzt es immer schon einen bestimmten Raum der
Gültigkeit und Anwendung, mit dem Grenzen gesetzt sind. So
entstehen Regelungen und Verordnungen, die den Wirkungsraum des
Gesetzes strukturieren und organisieren. Der Mann vom Lande
steht außerhalb des Gesetzes, aber er hat eine andere
Vorstellung von ihm, eine Vorstellung, die das Gesetz vor jeder
Verräumlichung und Ermächtigung als allgemein und überall
gültiges Gesetz deutet. Sein Argument, daß „das Gesetz doch für
jeden und immer“ zugänglich sein sollte, ist nicht nur Ausdruck
eines echten, wie traumhaft dahingesprochenen Erstaunens,
sondern es enthält, zu Ende gedacht, die Aufhebung des
spezifischen Raumes des Gesetzes, das der Türhüter behütet und
repräsentiert.
Der Text Kafkas entfaltet damit die Spannung, die im Begriff
des Gesetzes als Setzung angelegt ist. Es ist die Spannung
zwischen der metaphorischen und der »natürlichen“ Bedeutung des
Ernst Cassirer, Die Philosophie der symbolischen Formen, Vorwort zu Band I, Berlin, 1923; Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: Sigmund Freud – Studienausgabe, Bd. 9., Frankfurt a. M. 1982. Vgl. auch Ralph M. Leck, Georg Simmel and Avant-Garde Sociology: The Birth of Modernity 1880–1920, New York 2000. Hierzu auch mein Buch Der häretische Imperativ: Zur theologischen Dialektik der Kulturwissenschaften in Deutschland, Tübingen 2000.
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Wortes „Gesetz“, aus der sich die narrative Logik des Textes
entfaltet. Die Grauzone zwischen beiden sprachlichen Ebenen
bildet gleichsam die Vorlage für die Landschaft, auf der der
Leser den beiden Repäsentanten und Metonymien des Gesetzes, dem
Mann vom Lande und dem Türhüter, begegnet. Die Aufgabe des
Türhüters besteht grundsätzlich darin, bestimmte Menschen zu
bestimmten Zeiten nicht in das Gesetz eintreten zu lassen. Er
steht für die Macht, die das Gesetz setzt und durchsetzt. Die
Vorstellung des Mannes vom Lande, das Gesetz müsse „doch jedem
und immer zugänglich sein“, erinnert nicht nur an die
Formulierung des kategorischen Imperativs, sondern sie steht
für eine Auffassung des Gesetzes, die zwar hinter sich keine
Macht hat, aber doch immerhin den Anspruch stellt, Zugang zum
Gesetz zu bekommen, und zwar zu jedem Gesetzestor. Vernunft
versus Macht – Der Mann vom Lande verbirgt sich aber auch damit
selbst schon die Intention, den Hüter des Gesetzes zu
entlassen, der doch unter der Voraussetzung eines für alle und
immer zugänglichen Gesetzes in der Tat überflüssig wird. Wenn
der Mann vom Lande „den unglücklichen Zufall“ verflucht, der
ihn vor das Gesetzestor verschlagen hat, so legt er sich nur
eine Art „Metaphysik des Absurden“ zu, die ihm das eigentlich
aggressive Ansinnen, den Türhüter zu beseitigen, verdeckt. Der
Türhüter erkennt, wie es seinem Machtinstinkt entspricht, in
dem Mann vom Lande nicht nur einen Bittsteller, Flüchtling oder
Eindringling, sondern eben den Feind aller Machtordnung, die
das Gesetz „verräumlicht“. Der Mann vom Lande versteckt also
vor sich selbst, was der Türhüter ahnt: daß der Mann vom Lande
der Feind aller Türhüter ist. Damit aber liegt in diesem
Landmann ein Fall des Gesetzes vor, der seine Hüterschaft erst
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in vollem und wesentlichem Maße legitimiert. Wen sollte er denn
abweisen, wenn nicht diesen Universalisten, der eben die
Begrenzung und Verräumlichung des Gesetzes gleichsam schon
durch seine Existenz als ein von außen Kommender, als Nomade,
Paria oder Flüchtling in Frage stellt? Umgekehrt muß, wer von
der Universalität des Gesetzes überzeugt ist, irgendwann
notwendig mit den politisch bedingten Verräumlichungen,
Totalitäten und Ordnungen in Konflikt geraten – mag er sich
selbst auch diesen Konflikt und damit seine eigene Agression
verdecken.
Im Verhältnis zur Macht, die über sich eine immer noch
größere Macht weiß, ist der Mann vom Lande freilich ohnmächtig.
Er lebt im Aufschub, der in dem „es ist möglich – jetzt aber
nicht“ so einfach auf den poetischen Begriff gebracht wird.
Gegenüber der Räumlichkeit der Macht repräsentiert er die
Temporalität des Aufschubs und der Hoffnung,3 gegenüber der
gleichsam ewig-jungen Macht vertritt er die Schwäche, die in
der Hoffnung sich verzehrt und schließlich altert. So alt und
schwach er immerhin geworden sein mag, er bleibt doch der Feind
des Türhüters. Damit ereignet sich eine merkwürdige Umkehrung
der Verhältnisse: Die zeitlich und räumlich begrenzte
Machtordnung scheint ewig zu sein, das immer und überall
geltende Gesetz wird in der Figur des Sterbenden zum Symbol.
Beide Figuren, der nun selbst gleichsam immer größer werdende
Türhüter und die durch das Altern gedrungene und gebückte Figur3 Vgl. Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1. Teil, § 12, in: Kants Werke Bd. 6, Berlin 1968, S. 261. Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Romanum, Berlin 1974 (1950), das auf eine Ableitung des Gesetzes aus dem Raum, der Ordnung aus der Ortung, hinausläuft. Ganz anders Paul Tillich, „Der Widerstreit von Zeit und Raum“, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, Berlin, 1963, S. 142 ff., der den Raum mit der mythischen und die Zeit mit der prophetischen Religion identifiziert.
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des Landmannes, sind zuletzt Korrelate, die in ihrer
Feindschaft intim aufeinander bezogen und angewiesen sind.
Davon erhält die letzte Aussage, das Tor sei nur für den Mann
vom Lande bestimmt, ihren ganzen Sinn: Tor und Torhüter sind
nur dazu da, eben diesen Mann abzuweisen, der sie in Frage
stellt. Der Türhüter kann den Zutritt im Grunde nur dem
Ideologen des überzeitlichen und überräumlichen Gesetzes
verwehren, während der Mann vom Lande, nur wenn er ganz naiv
ist, sich über die Tatsache des Tores verwundern kann. Aber er
wird weder zum Freiheitskämpfer, noch zum Märtyrer. Seine
offensichtliche Schwäche und Ohnmacht dokumentieren sich in
seinem Entschluß, „doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis
zum Eintritt bekommt“. Was sich dann in der Wartezeit ereignet,
ist gleichsam die Hoffnung der idealistischen Kultur, daß ihre
Vorstellung vom ewigen Frieden der Kultur sich in der
unendlichen Projektion der historischen Zeit verwirklichen
möge. Das was sich hier vorfindet, sind, wenn nicht
bürokratische Banalitäten, sadistische Spiele.
Wie in der zeitgenössischen Literatur der jüdischen
Kulturwissenschaft, die die Galut (= Exil) als einen langen
Prozeß des Verfalls beschreibt, in dem das Judentum seine
vitale Kraft verliert,4 ist der alternde Mann vom Lande ein
Symbol für die scheinbar vergebliche Hoffnung jener Kultur der
4 Vgl. Jakob Klatzkin, Schkiat HaChajim, Berlin 1925. Theodor Lessing, Der Jüdische Selbsthaß, Berlin 1930 oder etwa Fritz Izchak Baer, Galut, Berlin 1936.Gershom Scholem, „Wissenschaft vom Judentum einst und jetzt“, in: Judaica II, Frankfurt a. M. 1977, zitiert S. 153 den berühmten und seitdem so oft angeführten Spruch von Moritz Steinschneider: „Wir haben nur noch die Aufgabe, den Überresten des Judentums ein ehrenvolles Begräbnis zu bereiten.“ Zur Geschichte des deutschen Judentums in der Moderne seien hierv.a. Jakob Katz, Emancipation and Assimilation. Studies in Modern Jewish History, Farnborough 1972 und: Paul Mendes-Flohr, Divided Passions. Jewish Intellectuals and theExperience of Modernity, Detroit 1991, erwähnt.
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Aufklärung geworden. Nicht nur wird es, auch wenn er es
vergißt, immer noch höhere Machtinstanzen geben, die sich ihm
entgegenstellen, sondern diese Macht gipfelt potenziell in
einer absoluten Souveränität, einer Art bildloser Präsenz, die
selbst die, die Macht innehaben, nicht mehr ertragen können.
Ist das Gesetz, das er meinte, wesenhaft Überschreitung der
Grenzen, so multipliziert sich die Macht in immer mächtigeren
Instanzen, die umgekehrt proportional zu seiner Ohnmacht sich
zu steigern scheinen. „Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom
Lande nicht erwartet!“ Damit wird der Mann vom Lande nicht nur
zur Inkarnation eben der Krise der modernen Kultur überhaupt,
sondern zu einer eigentümlichen Personifikation jenes durch die
Galut geschwächten „Rests“ Israels,5 der trotz der
offensichtlichen Logik der Geschichte, an der Idee des Gesetzes
festhält und an ihr zugrunde gehen wird. Der Türhüter ist und
bleibt die Erscheinung der Macht, die die Türe der Legalität,6
durch die er selbst offenbar noch eingetreten ist, nunmehr
hinter sich schließen kann, um den Mann vom Lande, der sogar zu
schwach ist, gegen die verschlossene Tür mit den Stiefeln zu
treten, vollends „hors la loi“ zu stellen.
Zuletzt sieht der Mann vom Lande ein Licht, das aus dem
Innersten des Gesetzes bricht. Kafka verwendet hier den
5 Vgl. hierzu Cohen, Religion der Vernunft.6 Vgl. Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, Berlin 1993 (1932), S. 31: „So kann die Mehrheit prinzipiell auf legale Weise die Türe der Legalität, durch die sie eingetreten ist, hinter sich schließen, und den parteipolitischen Gegner, der dann vielleicht mit den Stiefeln gegen die verschlossene Türe tritt, als einen gemeinen Verbrecher behandeln.“ Zu Schmitt vgl. Jürgen Habermas, „Die Schrecken der Autonomie. Carl Schmitt auf englisch“, in: ders., Eine Art Schadensabwicklung, Frankfurt a. M. 1987, S. 101–114; John P. McCormick, Carl Schmitt’s Critique of Liberalism. Against Politics as Technology, Cambridge 1997; Gopal Balakrishnan, The Enemy. An Intellectual portrait of Carl Schmitt, London/New York 2000. Wolfgang Bialas/Manfred Gangl (Hrsg.), Intellektuelle im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2000.
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überstrapazierten Topos vom blinden Sehenden. Der Türhüter kann
das Licht nicht sehen, da er ihm den Rücken zuwendet. Es
symbolisiert möglicherweise die theologische Perspektive, den
metaphysischen Tiefengrund beider typologischer Figuren. Gottes
absolute Gerechtigkeit und Gottes absolute Macht ermöglichen in
einer coincidentia oppositorum in letzter Instanz diese
Konfrontation. Durch die absolute Trennung kommt es zum
potentiell tödlichen Konflikt zwischen den beiden
Repräsentanten. Der Hüter vertritt das reine Prädikat der
Macht, die reine Exekutivgewalt, die, wenn sie isoliert wird,
sich zum Terror steigert. Der Mann vom Lande steht für die
reine und wehrlose Gerechtigkeit, die mit ihren hilflosen
Appellen nur immer wieder zugrunde gehen kann. Täter und Opfer,
Herr und Knecht der Geschichte begegnen sich hier an der
Schwelle zum Gesetz, ohne das eigentlich tragische und blutige
Drama auszutragen. So stehen aber beide, Hüter und Mann vom
Lande, immer auch noch „vor dem Gesetz“, der Hüter, weil er es
hütet, der Mann vom Lande, weil er in die Situation geraten
mußte, daß er sich von einer bestehenden politischen
Institution abgewiesen findet. „Vor dem Gesetz“: das heißt aber
auch, daß das Gesetz in solcher Trennung von Macht und Gesetz
eigentlich selbst – unter den räumlich/zeitlichen Bedingungen
der Schöpfung – immer jenseitig und transzendent bleiben muß.
Die Schöpfung bezeichnet den Bruch der Einheit beider Momente,
der sich in der Sprache als Spannung zwischen metaphorischer
und „natürlicher“ Bedeutung darstellt und den Kafka zum
Ausgangspunkt der narrativen Logik der Parabel erhebt. Die
Einheit des Gesetzes ist immer schon zerbrochen, wobei die
Bedeutungen zugleich immer schon aufeinander verweisen, wie
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Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
sie denn auch den historischen Antagonismus stiften. In diesem
Sinne zitiert Jaques Derrida in „Gesetzeskraft – Der mytische
Grund der Autorität“ den Satz von Pascal: „eine ohnmächtig
kraftlose Gerechtigkeit (Rechtsprechung) kann nicht zur
Rechtsprechung dienen. Kraft (Gewalt) ohne Gerechtigkeit ist
tyrannisch“ – um übrigens für beide, Gerechtigkeit und Macht,
einen gemeinsamen mystischen Grund anzunehmen.7
II
Läßt sich also die Parabel Kafkas als eine archetypische
Kodifizierung der zu Beginn des 20. Jahrhunderts ständig
variierenden Problematik des Individuums vor dem Gesetz lesen,
so enthält sie in metonymischer Form nicht nur die
Repräsentation zweier Auffassungen vom Gesetz, sondern auch
zweier Grundformen von politischer Theologie. Der Mann vom
Lande steht für eine politische Theologie, die seit der
Aufklärung, seit Lessing und Kant8 etwa, mithilfe des aus der
7 Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der Mystische Grund der Autorität, Frankfurt a. M. 1991. Vgl. auch Jacques Derridas Essay über Kafkas Parabel, Prejugés. Vor dem Gesetz, Wien 1999. Zu einer ausführlichen Diskussion der Parabel vgl.: Hartmut Binder, Vor dem Gesetz. Einführung in Kafkas Welt, Stuttgart/Weimar 1993, dazu auch meinen Aufsatz „Vor dem Gesetz. Zur Dialektik von jüdischer Moderne und politischer Theologie“, in: Ashraf Noor (Hrsg.) Erfahrung und Zäsur. Denkfiguren der deutsch-jüdischen Moderne, Freiburg 1999.8 Gotthold Ephraim Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke, Bd. 8, München 1979, Paragraphen 87 ff., Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: Kants Werke, Bd. 6, Berlin, 1968; Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Leipzig 1958. Zu dieser Tradition der politischen Theologie vgl. Karl Löwith, Weltgeschichte undHeilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart/Berlin 1979; Jakob Taubes, Abendländische Eschatologie, Bern 1947; ErikVoegelin, The New Science of Politics, Chicago 1952; Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a, M. 1996, Jürgen Moltmann, Gott im Projekt der modernen Welt.Beiträge zur öffentlichen Relevanz der Theologie, Gütersloh 1997.
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Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Vernunft abgeleiteten ausnahmslos geltenden Gesetzes sich von
jeder (göttlichen und menschlichen) Autorität zu emanzipieren
sucht und eben damit „hier auf Erden schon das Himmelreich
errichten“ will (Heinrich Heine). Die Befreiung von Autorität
und Herrschaft entspricht der politischen Realisierung der
Idee, die theologisch mit dem Gottesreich gedacht wird. Stützt
dieser Typ politischer Theologie sich auf die Idee göttlicher
Gerechtigkeit und fordert so eine Umsetzung der Gerechtigkeit
und Nächstenliebe für die ideale menschliche Gesellschaft, so
steht der Türhüter für eine Auffassung vom Gesetz, die, indem
sie sich auf die Idee göttlicher Macht stützt, stets Macht
schon voraussetzt, die das Gesetz erst ein- und durchsetzt.
Entspricht Typ I rein schematisch der politischen Aufklärung,
die das nunmehr innergeschichtliche Königtum Gottes auf die
durch den Menschen im Sinne der Nächstenliebe qua Selbstliebe
angeeignete Gottesliebe gründet, so entspricht Typ II der
politischen Gegenaufklärung,9 die die Gottesliebe nur noch auf
die Selbstliebe als Selbstbehauptung hin „säkularisiert“. Indem
9 Carl Schmitt, Die Diktatur – von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, Berlin 1994 (1921); Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel von der Lehre der Souveränität, Berlin 1996 (1922); Carl Schmitt Der Begriff des Politischen, Berlin 1996 (1932). Vgl. auch Friedrich Gogarten, Politische Ethik, Versuch einer Grundlegung, Jena 1932.Erik Peterson, Monotheismus als politisches Problem. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Theologie im Imperium Romanum, Leipzig 1935, versteht sich zwar als eine Abrechnung mit Carl Schmitts politischer Theologie und ist auch so von Schmitt begriffen worden (Carl Schmitt, Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie, Berlin 1996 (1979)), aber Peterson ist in diesen Jahren einer Auffassung des Politischen verpflichtet, die mit Pius IX den liberalen Staat als häretischen Staat definiert. Vgl. Erik Peterson,Politik und Theologie – Der liberale Nationalstaat des 19. Jahrhunderts und die Theologie, in ders.: Ausgewählte Schriften Bd. 4, hrsg. von Barbara Nichtweiß, Würzburg 2004. Auch Leo Strauss, Philosophie und Gesetz, Beiträge zum Verständnis Maimunis und seiner Vorläufer, Berlin 1935; ders., The Political Philosophy of Hobbes. Its Bliss and its Genesis, Oxford 1959 (der Text wurde aber schon 1936 auf deutsch fertiggestellt) istdamals ebenfalls keineswegs ein Anhänger des Liberalismus gewesen. Voegelin, The New Science of Politics.
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Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
diese beiden Formen politischer Theologie in der Moderne in
ihrer Antithetik einander gegenübertreten, symbolisieren sie
das, was seit dem Anfang des 20. Jahrhundert spätestens immer
wieder als Krise der Säkularisation beschrieben wird.
Aus der Perspektive dieser ganz schematischen und sozusagen
idealtypischen Skizze der politisch-theologischen Polarität
lassen sich nun mindestens neun sekundäre Formen von
politischer Theologie unterscheiden, die sich zum Teil durchaus
überschneiden können. Die folgende Typologie ist durchaus
vorläufig, nimmt also keineswegs für sich in Anspruch, in
irgendeiner Weise vollständig zu sein.
1) Aus der Infragestellung der Allgemeinheit des Gesetzes durch
das „jemeinige“ individuelle Dasein wird gerade die
Notwendigkeit einer Erweiterung des Gesetzes abgeleitet, das
den Ansprüchen von Freiheit und Individualität weiter
entgegenkommen und in jedem Fall eine ausnahmslose Gültigkeit
des Gesetzes für alle durchsetzen soll. Eine solche
Universalität entspricht etwa der Idee einer idealen Lebensform
(Georg Simmel10) oder einer symboltheoretisch neu zu
begründenden Ethik der Kultur (Ernst Cassirer11).
10 Georg Simmel, Grundfragen der Soziologie, Berlin/Leipzig 1917. Ders., Lebensanschauung, Vier metaphysische Kapitel, München 1922 (1918). Ders., Philosophische Kultur, Leipzig 1919 (1911); ders., Der Krieg und die geistigen Entscheidungen, München 1917; Volkhard Krech, Georg Simmels Religionstheorie, Tübingen 1998; Leck, Georg Simmel and the Avant-Garde Sociology; Joachim Jacob, „Tragische Fülle. Kultur, Erinnerung und Apokalypse bei Georg Simmel“, in: Jürgen Brokoff/Joachim Jacob, Apokalypse und Erinnerung in der deutsch-jüdischen Kultur des frühen 20. Jahrhunderts, Göttingen 2002. 11 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Vorwort. Ders., Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932. Ders., Symbol, Myth and Culture, Essays and Lectures ofErnst Cassirer, 1935–1945, New Haven 1979. Vgl. Auch Heinz Pätzold, Ernst Cassirer. Von Marburg nach New York. Eine philosophische Biographie, Darmstadt 1995. Dorothea Frede/Reinold Schmücker (Hrsg.), Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie, Darmstadt 1997
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2) Aus der Perspektive einer „Dialektik der Aufklärung“ wird
davon ausgegangen, daß die Idee der Gleichheit vor dem Gesetz
durch die sozialen, ökonomischen und politischen
Machtverhältnisse stets in Gefahr ist, entstellt zu werden, so
daß es einer politischen, philosophischen oder „prophetischen"
Instanz der permanenten Kritik bedarf, die gegen die
ideologische Instrumentalisierung des Gesetzes dessen
Verwirklichung einfordert (Hermann Cohen12, Martin Buber13).
3) und 4) Mit der Forderung, die Verfassung der Kultur als
Kultur des Gesetzes im Ganzen zu suspendieren, weil sie den
Ansprüchen „jemeiniger“ Existenz nicht genügt, ergeben sich
zwei verwandte, aber doch diametral entgegengesetzte Formen von
politischer Theologie. Die eine Form wäre eine Art anarchischer
Vitalismus, der gegen die Kultur als rationale bzw.
Gesetzeskultur aufbegehrt und auf eine Befreiung des
dionysischen Lebens setzt, ohne daß der konkrete politische
Sinn dieser Befreiung damit schon in irgendeiner Form geklärt
wäre. Der Vitalismus kann dabei zur Grundlage eines
ästhetischen Utopismus und Anarchismus werden, wie etwa bei
Hugo Ball,14 aber ebenso in eine Theorie irrationaler
Souveränität umschlagen. Ludwig Klages15 und Jacob Klatzkin16
sind im Ansatz solche Repräsentanten eines anarchischen
12 Cohen, Der Begriff der Religion; Cohen, Religion der Vernunft.13 Martin Buber, Das Königtum Gottes, Berlin 1932/36; ders., Die Frage an den Einzelnen, Berlin 1936; ders., Der Glaube der Propheten, Heidelberg 1984 (1942); ders., Pfade in Utopia, (1950) Heidelberg 1985. Vgl. Paul Mendes-Flohr (Hrsg.),Martin Buber. A Contemporary Perspective, Jerusalem 2002. 14 ? Vgl. Hugo Ball, Der Künstler und die Zeitkrankheit. Ausgewählte Schriften, Frankfurt a. M. 1984. Siehe hierzu mein Buch Die Apokalypse des Subjekts. Ästhetische Subjektivität und politische Theologie bei Hugo Ball, Bielefeld 2003. 15 Ludwig Klages, Vom kosmogonischen Eros, Jena 1930; ders., Der Geist als Widersacher der Seele, Leipzig/München 1929–1932. 16 Jakob Klatzkin, Probleme des modernen Judentums, Berlin 1918; ders., Schkiat HaChajim.
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Vitalismus, der politisch mit einem irrationalen Faschismus im
Bunde steht.17 Carl Schmitts politische Theologie, die auf eine
diktatorische Selbstermächtigung des Souveräns setzt, die die
säkulare Kultur des Gesetzes suspendiert, versteht sich immer
schon als Vitalismus von rechts.
5) Im Gefolge dieser letzten beiden Formen von politischer
Theologie bildet sich eine weitere Form aus, die in den bisher
vorgestellten Formen die notwendige Konsequenz einer Moderne
erkennt, die „das Theologische“" für ihre anthropologisch-
politischen Interessen zu instrumentalisieren versucht, sei es
im Namen einer absoluten Gerechtigkeit oder im Namen einer
absoluten Souveränität, und damit sich potenziell immer schon
in ein System oder Antisystem der Gewalt verwandeln mußte.
Diese Form erkennt also in der Säkularisation des Gottesreiches
das Symptom einer radikalen Krise, die nur dadurch bewältigt
werden kann, daß beide Systeme und Sphären, die theologische
Idee und die politische Realität, voneinander getrennt werden.
Es geht hier also um eine Destruktion der klassischen Form von
moderner politischer Theologie, wie sie sich in der
Geschichtsutopie vom Dritten Reich ausgeprägt hat, deren Sinn
eben die Projektion der von der politischen Sphäre getrennten
theologischen Idee (repräsentiert durch die Kirche oder die
Synagoge) auf eine dritte gemeinsame Sphäre von Politischem und
Theologischem ist.18 Gegen die revolutionäre Drei-Reiche Lehre 17 Ernst Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis, Berlin 1922; ders., „Totale Mobilmachung“, in ders. Werke, Bd. V, 1960. Vgl. Karl Heinz Bohrer, Die Ästhetik des Schreckens, die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk, Wien 1983. 18 Vgl. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Taubes, Abendländische Eschatologie. Zur Kritik vor allem: Voegelin, The New Science of Politics. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in ders., Recht, Staat, Freiheit, Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1991. Zum Problem einer Redefinition des Verhältnisses von modernem pluralistischem Staat und katholischer Kirche, siehe ders., Staat, Gesellschaft,
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Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
mit ihrem besonderen revolutionärem Subjekt (Bürgertum,
Menschheit, Klasse, Nation, Rasse) und ihrer spezifischen
innergeschichtlichen Eschatologie wird hier eine Trennung im
Sinne etwa der augustinischen Zweiteilung der theologischen und
politischen Sphäre eingefordert.19 Obwohl aus ganz anderen
Traditionsbeständen begründet, findet im jüdischen Kontex, etwa
im „Stern der Erlösung“ von Franz Rosenzweig20, bei Isaak
Breuer21 oder in Hans Joachim Schoeps’ „Prolegomena zur
Grundlegung einer Theologie des Judentums“22, eine Trennung von
Staat und synagogaler Gemeinde statt, die durchaus der Idee
einer solchen Trennung von Kirche und Staat bei Karl Barth23,
Friedrich Gogarten24 oder Erik Peterson25 vergleichbar ist.
Innerhalb dieser modernitätskritischen Form von politischer
Theologie lassen sich nun mindestens drei Modifikationen
rekonstruieren.
Kirche, Freiburg 1982.19 Vgl. Heinrich Scholz, Glaube und Unglaube in der Weltgeschichte – Ein Kommentar zu Augustins De Civitate Dei, Leipzig 1911; Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation, Berlin 1929; Edgar Salin, Civitas Dei, Tübingen 1926; Hans Jonas, Augustin und das paulinische Freiheitsproblem. Ein philosophischer Beitrag zur Genesis der christlich-abendländischen Freiheitsidee, Göttingen 1930; Harald Fuchs, Augustin und der antike Freiheitsgedanke. Untersuchungen. zum 19. Buch des Civitas Dei, Berlin/Zürich 1965 (1926); Ernst-Wolfgang Boeckenfoerde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter, Tübingen 2002, S. 185–213.20 Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt a. M. 1921. StéphaneMosès, System und Offenbarung. Die Philosophie Franz Rosenzweigs, München 1985; Leora Batnitzky, Idolatry and Representation. The Philosophy of Franz Rosenzweig reconsidered, Princeton 2000.21 Isaak Breuer, Programm oder Testament. Vier jüdisch-politische Aufsätze, Frankfurt a. M. 1929. 22 ? Hans-Joachim Schoeps, Jüdischer Glaube in dieser Zeit. Prolegomena zu einer Grundlegungeiner systematischen Theologie des Judentums, Berlin 1932. 23 Karl Barth, Christengemeinde und Bürgergemeinde, Zürich 1946. 24 Gogarten, Politische Ethik. Versuch einer Grundlegung, Jena, 1932.25 Erik Peterson, Der Brief an die Römer, in: ders., Ausgewählte Schriften Bd. 6, hrsg. von Barbara Nichtweiß,Würzburg 1997, der diese Trennung allerdings immer schon als Folge einer apokalyptischen Spannung zwischen politischer Theologie und Theopolitik annimmt.
17
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
6) Zunächst läßt sich sowohl Carl Schmitts „Politische
Theologie“ so begreifen, daß es hier um eben die Trennung von
„Politischem“ und „Theologischem“ aus der Perspektive des
politischen Interesses geht, d.h. um die Emanzipation des
Politischen von allen theologischen Illusionen, die seit
Lessing den politisch-theologischen Diskurs vom dritten Reich
bestimmen.26
7) und 8): Aus theologischer Perspektive lassen sich dann zwei
prinzipielle Haltungen gegenüber der zu konstituierenden
separaten Sphäre des Politischen rekonstruieren. Entweder wird
die Aufgabe der separaten religiösen Sphäre darin gesehen, die
bestehenden politischen Verhältnisse zu stablisieren, im Sinne
etwa einer Sündenlehre, die geordnete Verhältnisse, Macht und
Obrigkeit notwendig machen soll (Friedrich Gogarten27), oder
aber die Aufgabe von Kirche und Synagoge soll gerade darin
bestehen, in das reale politische Geschehen verantwortlich zu
intervenieren, ohne daß damit die Politik in irgendeiner Weise
eschatologisch überlastet werden darf (Karl Barth28, Jeschajahu
Leibovitz29). Eine solche anti-eschatologische und insofern
tatsächlich „post-moderne“ kritische Form von Theopolitik setzt
Parousia und Präsenz von Erlösung notwendig jenseits aller
real-politischen Realität. Im christlichen Kontext beruft eine
26 Schmitt, Der Begriff des Politischen scheint nur die in der Politischen Theologieangelegte Konsequenz zu vollziehen, wenn die Souveränität „rein politisch“ aus der Korrelation mit dem Feind konstruiert wird. Jedenfalls zielt die berühmt-berüchtigte Bemerkung über den privaten Feind der christlichen Feindesliebe (S. 17) ja auf nichts anderes, als die Neutralisierung des Theologischen in der Politik.27 Gogarten, Politische Ethik. 28 Barth, Christengemeinde und Bürgergemeinde.29 Jesaia Leibovitz, Jahadut, Am Jehudi, Medinat Israel, Jerusalem 1976; ders., Emuna, Historia WeArachim, Jerusalem 1982. Zur politischen Rolle der Orthodoxie im jüdischen Staat vgl. Aviezer Ravitzky, Diverse Voices of the Jewish Religious Thought, Tel Aviv 1999, S. 159–257.
18
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
solche Theopolitik sich etwa auf die Figur des „Katechon“, der
laut 2. Thess.2, 2–8 gerade den Aufschub des Endes von
Geschichte symbolisieren soll.30 Im jüdischen Kontext wird
dabei die Idee der „Galut“ gegen alle (auch die zionistischen)
Versuche geltend gemacht, die Geschichte messianisch zu
„bedrängen“ (Breuer, Glatzer, Scholem31). Diese kritische
Theopolitik hält mit ihrer affirmativen Version an einem
„eschatologischen Vorbehalt“32 gegen die potenziell
eschatologische Moderne fest, läßt sich aber – anders als die
affirmative Version – eben nicht zu einer mehr oder weniger
bedingungslosen Affirmation des Staates bewegen. Andererseits
verfällt sie auch nicht einem generellen Verdikt gegen die
Moderne, wie etwa im Fall von Erik Voegelins Gnosisverdacht
gegen die Moderne als Ganzes.33 Grundsätzlich nimmt diese
30 Vgl. Carl Schmitt, Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung, Köln 1981; ders., Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Berlin 1950; sowie Richard Klein, Tertullian und das römische Reich, Heidelberg 1968. 31 Vgl. Breuer, Programm oder Testament. Vgl. David N. Myers, „Isaac Breuer andthe Jewish Path to Metageschichte“, in: ders., Resisting History. Historicism and its Discontents in German Jewish Thought, Princeton 2003, S. 130156. Nahum Norbert Glatzer, Geschichte der talmudischen Zeit, Berlin 1937. Um nur einige wenige Essayszu nennen, die dieses für Scholem an sich zentrale Thema behandeln: GershomScholem, On Jews and Judaism in Crisis, Selected Essays, New York 1976; ders., „Rede über Israel“, in: Judaica II, Frankfurt a. M. 1977. Zur Struktur des Politischen im Exil vgl. Yosef Hayim Yerushalmi, Diener von Königen und nicht Diener von Dienern. Einige Aspekte der politischen Geschichte der Juden, München 1995. Vgl. auch Leo Strauss, „Preface to Spinoza’s Critique of Religion“, in: ders., Jewish Philosophy and the Crisis of Modernity. Essays and Lectures in Modern Jewish Thought, hrsg. von Kenneth Hart Green, New York 1997, S. 143: „The establishment of the state of Israel is the most profound modification of the galut which has occurred, but it is not the end of galut: in the religious sense, and perhaps not only in the religious sense, the state of Israel is a part of the galut. Finite relative problems can be solved; infinite, absolute problems cannot be solved.“32 Vgl. Kurt Anglet, „Der eschatologische Vorbehalt. Eine Denkfigur bei Erik Peterson“, in: Barbara Nichtweiß (Hrsg.), Vom Ende der Zeit – Geschichtstheologie und Eschatologie bei Erik Peterson, Münster 2001. Dieser Begriff Petersons spielt bekanntlich eine besondere Rolle bei Johann Baptist Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft, Mainz 1984. 33 Voegelin, The New Science of Politics.
19
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
kritische Theopolitik die Moderne ernst und hält an deren
Utopie von Freiheit fest, die sie allerdings von ihrer
eschatologischen Hypothek im Sinne einer „Befreiung zur
Freiheit“34 entlasten möchte.
9) Aus der sogenannten post-säkularen Perspektive heute ergibt
sich eine von beiden, dem Politischen und dem Theologischen her
bedingte Neubestimmung beider Sphären im Sinne ihrer
Selbständigkeit einerseits und ihrer Angewiesenheit aufeinander
andererseits. In der Münchener Debatte zwischen Jürgen Habermas
und Kardinal Ratzinger35 definierte Habermas die post-säkulare
Situation der modernen pluralistischen Gesellschaft als
Notlage, die, zumal unter dem global-ökonomischen Druck, sich
daraus ergibt, daß diese Gesellschaft der pluralistischen
Freiheit das sie begründende Wertesystem nicht aus sich selbst
herstellen könne. Die für den Fortbestand von Gesellschaft
unbedingt notwendige Solidarität mache einen kritischen Dialog
mit der Kirche und deren Wahrheitsanspruch unabdingbar.
Umgekehrt forderte Kardinal Ratzinger eine Kritik all
derjenigen politischen und theologischen Absolutheitsansprüche
von Wahrheit, die eben die Grundlagen der freiheitlichen
Gesellschaftsordnung gefährden würden. Wo die säkulare
Gesellschaft also ihr Defizit an Wahrheit bekennt und auf die
Kirche als einem notwendigen „Wertelieferanten“ zurückgreifen
will, bekennt die Kirche ihre historische Verkennung der
Notwendigkeit von politischer Freiheit. Damit aber erweist sich
34 Metz, Glaube, S. 83. 35 Jürgen Habermas/Joseph Ratzinger, „Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates“, in: Zur Debatte. Katholische Akademie Bayern Nr 1, München 2004. Vgl. auch: Boeckenfoerde, Staat, Gesellschaft, Kirche und Walter Kasper, Wahrheit und Freiheit. Die Erklärung über die Religionsfreiheit des II. Vatikanischen Konzils, Heidelberg 1988.
20
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
die gegenseitige Angewiesenheit beider Sphären aufeinander, als
neue Form einer „Theologie des Politischen“ noch vor und
jenseits einer jeden Auseinandersetzung mit dem
fundamentalistischen Islam.
III
Die folgenden Texte reflektieren vor allem die politisch-
theologische Krise der Kulturidee und spezifisch der deutsch-
jüdischen Kultur in den Jahren zwischen 1910 und 1938. Sie
lassen sich im Sinne der entworfenen schematischen Typologie
als verschiedene Antworten auf das Problem der Individualität
vor und unter dem Gesetz einordnen. Ihnen eingeschrieben ist
die für die Kulturkrise symptomatische Erfahrung, daß die
Kulturidee als „Freiheit unter dem Gesetz“ mit eben der
fundamental gesetzes- und normtranszendierenden Individualität
in Konflikt geraten muß. Im jüdischen Kontext entspricht diese
Situation der Erfahrung, daß die Kulturidee zwar die
Emanzipation des Juden ermöglicht hat, freilich nur unter der
Bedingung einer Emanzipation von seinem Judentum. In den
meisten Fällen reagieren diese Entwürfe politisch-theologischen
Denkens schon auf die nationalsozialistische Machtergreifung,
den Augenblick absoluter Gefahr also, der zu einer
Reformulierung der politisch-theologischen Grundlagen der
Kultur zwingt. Für viele der hier behandelten Texte steht die
politische Theologie von Carl Schmitt als Zeichen für diese
politisch-apokalyptische Wende.
21
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
An den Beispielen Georg Simmels und Ernst Cassirers werden
zunächst Diskurse vorgestellt, in denen es um die Rettung der
Idee der Kultur auf ästhetischer oder symboltheoretischer
Grundlage geht, wobei in beiden auch schon genuin politisch-
theologische Horizonte erschlossen werden. Werden hier Ästhetik
und Symboltheorie noch zum Garant einer Kulturtheorie, so wird
am Beispiel von Carl Schmitts politisch-theologischer Kritik
des Ästhetischen auch der Widerspruch erkennbar, der sich
potentiell aus dem Versuch einer absoluten Negation des
Ästhetischen ergibt. Indem sich Schmitt an Kierkegaards Kritik
des modernen ästhetischen Bewußtseins orientiert, wird
transparent, wie sehr die Idee einer Souveränität über dem
Gesetz nicht nur eine andere Form von Säkularisation darstellt,
sondern an sich selbst den Fehler wiederholt, den Schmitt dem
Ästhetischen vorhält, daß es nämlich die Unterscheidung
zwischen Gott und Mensch nicht treffen könne.
Fritz Izhak Baers Untersuchung über die Galut von 1936 steht
für einen politisch-theologischen Diskurs des Zionismus, der im
Grunde die apokalyptische Figuration der jüdischen Geschichte
im Sinne einer souveränen nationalen Politik zu naturalisieren
versucht. Martin Bubers Begriff der Theopolitik von 1932/36 ist
sowohl als Kritik an Carl Schmitts politischer Theologie wie
auch als Ansatz zu einer utopisch-anarchischen Politik in
Palästina auf der Grundlage der alttestamentarischen Idee von
Theokratie konzipiert. Am Beispiel von Hans Joachim Schoeps'
Kritik der liberalen Theologie wird dann der Fall einer
jüdischen politischen Theologie vorgestellt, die an der neuen
politischen Situation im nationalsozialistischen Reich
sprichwörtlich zerbricht, weil sie die antiliberale Version des
22
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
neuen deutschen Staates bejaht, die ihrerseits zu einer
Besinnung der jüdischen Theologie auf ihre martyrologischen
Voraussetzungen führen soll. Leo Strauss versucht in den
dreißiger Jahren, das Gesetz als Grundlage des Politischen vor
dessen Begründung durch die Subjektivität auf die prämoderne
Form einer gesetzlichen Verbindlichkeit (Plato, Maimonides)
zurückzuführen. Damit will er die von Carl Schmitt und Thomas
Hobbes aus einsichtige katastrophale Zyklizität der modernen
Souveränität der Subjektivität überwinden. Gerschom Scholems
Theorie des kabbalistischen Symbols wird hier als Versuch
interpretiert, die messianische politische Theologie der
(jüdischen) Moderne in eine Ethik des Symbols zu
neutralisieren, um den zionistischen Staat auf der Grundlage
der Idee säkularer Kultur zu begründen. Bei dieser Grundlegung
spielen sowohl Georg Simmels Lebensphilosophie wie Ernst
Cassirers Philosophie der symbolischen Formen eine
entscheidende Rolle, insofern mit ihnen die dem politischen
Messianismus eigene Katastrophalität in ihrer ganzen Schärfe
und von dieser Einsicht aus die ästhetisch-symbolische
Dimension der jüdischen Theologie ethisch erfasst werden
können. Am Beispiel von Erik Petersons Idee einer an Paulus
anknüpfenden Idee von Theopolitik soll hier eine Form der
Kritik an der politischen Theologie Carl Schmitts vorgestellt
werden, die nicht nur den auch für andere Versionen
wesentlichen apokalyptischen Horizont zum Vergleich untersucht,
sondern vor allem den auch für manche jüdische Formen
politischer Theologie (Simmel, Scholem, Taubes) so gewichtigen
Einfluß der neuen paulinischen Theologie (Karl Barth, Friedrich
Gogarten) auf die Kritik der Moderne herausstellt. Was Peterson
23
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
für die Theopolitik des Paulus feststellt, wird dann in der
Untersuchung über Jakob Taubes und die politische Theologie des
Paulus noch einmal aus einer jüdischen Perspektive – nach der
Judenvernichtung – aufgenommen. Taubes’ kryptischer Text zu
Paulus’ politischer Theologie versteht sich nicht nur als
Versuch einer Kritik an Carl Schmitts politischer Theologie,
sondern versucht aus der Einsicht in die jüdischen
Voraussetzungen von Paulus, die Basis für eine wahrhaft
universale politische Theologie jenseits von Gnosis und
Antijudaismus zu skizzieren. Am Beispiel der Auseinandersetzung
um den politisch-theologischen Kontext der Tragödie Hamlets,
die Carl Schmitt 1954 gegen Walter Benjamins Kritik der
politischen Theologie im Trauerspielbuch aufnimmt, wird noch
einmal der ganze Problemkreis der politischen Theologie dieser
Epoche zwischen Gesetz und Souveränität, Judentum und
Christentum sowie zwischen Ästhetik und Theologie aktualisiert.
Allen Texten gemeinsam ist die Einsicht, daß das „Politische“
– wie auch immer es zum „Theologischen“ steht – über das Gesetz
hinausweist, sei es ästhetisch als Begriffslosigkeit,
naturrechtlich als ungeschriebenes Gesetz, sei es als reine
Macht oder als ultimative Forderung nach der Erfüllung des
Gesetzes in der Nächsten- und Feindesliebe. Die
Auseinandersetzung um diesen „Ort“ vor, nach, über dem Gesetz
oder jenseits des Gesetzes bestimmt die eigentliche Theologie
dieser politischen Theologien. Dieser Theologie entspricht, das
wird hier zuletzt am Rande langsam deutlich, die Auffassung vom
Eros, der als Macht oder Schwäche, als Selbstliebe oder
Nächstenliebe, als Selbst- oder Gottesliebe auch schon auf die
im Zuge der Säkularisation vollzogenen Reduktion der Liebe auf
24
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
eine nur noch ästhetische/physische/sinnliche/sexuelle
Selbstliebe36 reagiert und damit auch oft schon die
Dichtothomie von Eros und Agape potentiell in Frage stellt. Aus
der genuin aktuellen Perspektive der theologischen Kehre der
neuen Phänomenologie Jean Luc Marions37, aber auch der Ethik
William Desmonds38 und der Wiederentdeckung des Paulus für die
postmoderne politische Theologie bei Alain Badiou39 und Giorgio
Agamben40 beginnt sich jedenfalls ein Prozeß abzuzeichnen, in
dem die (politische) Philosophie die Grundlagen schafft, von
denen her dieser Horizont der politischen Theologie, ihr
„erotologischer“ Hintergrund zu entfalten wäre. Die
theologische Auseinandersetzung mit Politik, Macht und
Selbstbehauptung wird in diesem Sinne unter die von Buber und
Peterson geprägte Formel von der Theopolitik gestellt, deren
Stunde immer schon begonnen haben soll.
36 Feuerbach, Das Wesen des Christentums; Sigmund Freud, Totem und Tabu, Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, Frankfurt a. M., 1995.; ders., „Das Unbehagen in der Kultur“; Herbert Marcuse, Eros and Civilization. A Philosophical Inquiry into Freud, Boston 1955; Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a. M. 1977. 37 Jean-Luc Marion, God without Being, Chicago 1991; ders., Reduction and Givenness. Investigation of Husserl, Heidegger and Phenomenology, Evanston 1998; ders., The Idol and Distance – Five Studies, New York 2001. Vgl. auch Merold Westphal, Transcendence and Self-Transcendence. On God and the Soul, Bloomington 2004, der die theologische Wende der Phänomenologie von Sören Kierkegaards Werke der Liebe aus zu denken versucht. 38 William Desmond, Ethics and the Between, New York 2001. 39 Alain Badiou, St. Paul. La Fondation de l’universalisme, Paris 1997. 40 Giorgio Agamben, Le Temps qui reste – Un commentaire de l’épître aux Romains, Paris 2000.
25
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Individuum und Gesetz Georg Simmels Essay über Rembrandt im Lichte seiner ästhetischen, ethischen und religiösen Metaphysik des Lebens
I Vorüberlegung: Schein und Zeit
Ein Denken, das wie bei Georg Simmel das Phänomen der
Individualität aus dem Horizont der Zeit zu begreifen sucht41,
nähert sich notwendig der Kunst und Kunsttheorie an, die es
grundsätzlich mit der Repräsentation des Individuellen zu tun
hat. Erstaunlich ist dabei Georg Simmels Interesse an der
bildenden Kunst, deren formale Struktur immerhin die Zeit
gerade aufhebt. Wenn jedoch Bild und Porträt im Sinne Simmels
immer schon einen „gefrorenen Augenblick“ darstellen sollten,
so wird hier nicht nur die Problematik der Zeit in die
Raumkunst hineinprojiziert, sondern es wird ein historischer
Prozeß thematisiert, in dem die Zeit in das visuell fixierbare
Wesen des Schönen als Zeitlosigkeit einbricht. In diesem
Einbruch der Zeit in den Schein liegt dann aber für den
Lebensphilosophen Simmel das entscheidende Ereignis der Kunst
Rembrandts.42
41 Georg Simmel, Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, hrsg. v. Michael Landmann, Frankfurt a. M. 1968; ders., Das Individuum und die Freiheit. Essais, Berlin 1984; ders., Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, München 1922. Allgemein zu Georg Simmels Philosophie der Individualität vgl. Michael Schmid, „Georg Simmel. Die Dynamik des Lebens“, in: Josef Speck (Hrsg.), Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Neuzeit IV, Göttingen 1986; Harry Liebersohn: Fate and Utopia in German Sociology, Cambridge 1990; Michael Kaern (Hrsg.), Georg Simmel and Contemporary Sociology, Dordrecht/Boston 1990; Ute Lukhardt, „Aus dem Tempel der Sehnsucht.“ Georg Simmel und Georg Lukacs. Wege in und aus der Moderne, Butzbach-Griedel 1994; Volkhard Krech: Georg Simmels Religionstheorie, Tübingen 1998; Jacob, „Tragische Fülle“, in: Jürgen Brokoff/Joachim Jacob Brokoff/ Jacob, Apokalypse und Erinnerung, S. 75–98.42 Georg Simmel, Rembrandt. Ein kunstphilosophischer Versuch, Leipzig 1916. Es geht dabei um weit mehr als nur den Nachvollzug der für die Lebensphilosophie seit Henri Bergson (Zeit und Freiheit. Eine Abhandlung über die unmittelbaren Bewußtseinstatsachen, Jena 1911) charakteristischen Reduktion des Raumes auf die Zeit. Vgl. auch Henri Bergson, Einführung in die Metaphysik, Jena 1916.
18
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Es geht bei Simmels Denken aber auch um das ethische Problem
der Individualität, nämlich um die problematische Stellung des
Individuums zum Gesetz – und im weiteren Sinne: zu jeder
prästabilierten Definition eines allgemeingültigen Wesens oder
einer Idee des Menschen, in der die Individualität dann nur als
ein Exemplar dieses Wesens oder gar nur als ein zufälliges
Akzidenz erscheint. Somit besitzt die Orientierung an der
Porträtkunst noch einen weiteren spezifischen Sinn.43 Das
Porträt steht bei Simmel prinzipiell für die Repräsentation des
individuellen Menschen in seiner Einzigartigkeit und
Faktizität. Es stellt so gewissermaßen ein Bild vor dem Bild
dar, das wir uns mit Hilfe der Begriffe von ihm machen. Man
könnte vielleicht zugespitzt formulieren, daß Simmel eine Ethik
des Bildes entwirft, die auf paradoxe Weise das „Du sollst dir
kein Bildnis machen“ auf die Kunst zurückwendet. Mittels der
Projektion der Zeit ins Bild, soll damit die Statik des im Bild
suggerierten Wesens transzendiert werden.
Die Individualität, die gegen den Zwang des Gesetzes
aufbegehrt, wird dabei zum Modell für eine ästhetische
Konzeption des Individuellen, jenseits der ideellen und
idealisierenden Präformationen dieses Individuellen durch eine
zeitlose Idee oder ein zeitloses Gesetz der Schönheit, in deren
Auftrag das Individuum auf der Bildfläche auftritt. Von der
43 Vgl. die Überschrift des zweiten Kapitels im Rembrandt-Buch: „Die Individualisierung und das Allgemeine“. Hier heißt es (S. 83): „Rembrandt hat eben – mindestens dem Maße nach als erster – das Individuelle als künstlerisches Gebilde der Zufälligkeit enthoben, ihm das gegeben, was mit dem […] Ausdruck der Notwendigkeit und Allgemeinheit mag für theoretische Behauptungen gelten, er selbst hat sie schon in durchaus fragwürdiger Weisein das Ethische übertragen; denn der behaupteten allgemeinen Gültigkeit einer sittlich notwendigen Maxime überhaupt stehen doch wohl […] die sittlichen Handlungen gegenüber, die aus der prinzipiellen Einzigkeit des Individuums quellen.“
19
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Einsicht in die Bedeutung der Rembrandtschen Porträtserien von
demselben Menschen und von sich selbst, entwickelt Simmel eine
Theorie der Kunst, für die die Zeitlichkeit des schönen Scheins
sowohl im jeweils konkreten Werk wie auch für die Geschichte
der Schönheit selbst zum zentralen Problem wird. Wenn sich an
Rembrandts Kunst nämlich die Verzeitlichung des schönen Scheins
dokumentiert, dessen Wesen in dem für die Renaissance
maßgeblichen Platonismus als zeitlos aufgefaßt wird, so
bezeichnet diese kunstgeschichtliche Zäsur für Simmel, weit
über den ästhetischen Kontext hinaus, zuletzt den Umbruch von
einer Metaphysik des zeitlosen Wesens der Idee und Substanz, zu
einer Metaphysik des Lebens, deren Grammatik er in diesen
Jahren, also zwischen 1915 und 1918, auf den formalen Begriff
zu bringen versucht.
Indem seine Ästhetik von „Schein und Zeit“ auf eine solche
neue Metaphysik und Ethik des Individuellen zielt, sucht sie
implizit die Grundlagen für eine Überwindung der griechischen
Seins- und Substanz-Ontologie in einem jüdisch-christlichen
Denken, genauer: in der Christologie, die gegenüber jedem
idealen Wesen zunächst Zeitlichkeit, Leiden, Tod und
Transzendenz thematisiert.44 Es ist daher der Aspekt der
44 Simmel hat hier durchaus nicht nur das Schema der Hegelianischen Ästhetik, die auf die Epoche der griechischen Vollendung des Schönen in einem zeitlosen Wesen die moderne – christliche – Kunst mit ihrer Konzentration auf Zeitlichkeit, Leiden und Tod folgen läßt, auf den Fall Rembrandt übertragen. Simmels Text wäre so nur die Darstellung der ästhetischen Ontogenese Rembrandts im Sinne einer Rekapitulation der abendländischen Phylogenese der Kunst bei Hegel – womit freilich die Individualität Rembrandts nun ihrerseits auf ein Schema, ein Gesetz reduziert wäre. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, in ders., Werke, Bd. 13, Frankfurt a. M. 1986, S. 23 f.: „Nur ein gewisser Kreis und Stufe [!] der Wahrheit ist fähig, im Elemente des Kunstwerks dargestellt zu werden; es muß noch in ihrer eigenen Bestimmung liegen, zu dem Sinnlichen herauszugehen und in demselben, sich adäquat seinzu können, ein echter Inhalt für die Kunst zu sein, wie dies bei den
20
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
spezifischen Religiösität Rembrandts, seine „Frömmigkeit“, die,
laut Simmel, auch ohne Gott auskommen würde und die hier zum
säkularen Modell einer solchen christologischen Orientierung
avanciert, in der sich Ästhetik, Ethik und Religion
zusammenschließen.
Thesenhaft formuliert, möchte ich 1) Simmels Text über
Rembrandt zunächst im Rahmen einer impliziten Geschichte des
Schönen, einer „Scheinsgeschichte“ lesen, in der sich die
Platonische Idee verzeitlicht und individualisiert. Dann möchte
ich 2) diese Verzeitlichung des Schönen in ihrer ethischen
Bedeutung auf dem Hintergrund von Simmels Analyse der Rolle des
Religiösen bei Rembrandt herausarbeiten. Der eigentliche Sinn
dieser Überlegungen zielt 3) auf das Verständnis des
Zusammenhangs von Ästhetik und Theologie für die
Säkularisation. Dieser Zusammenhang wird am Beispiel der
Überlegungen Simmels in seiner Konvertibilität sichtbar: So wie
das Theologische jederzeit über das Problem der Individualität
ins Ästhetische, so kann das Ästhetische, zumal in seiner griechischen Göttern der Fall ist. Dagegen gibt es eine tiefere Fassung derWahrheit, in welcher sie nicht mehr dem Sinnlichen so verwandt und freundlich ist, um von diesem Material in angemessener Weise aufgenommen und ausgedrückt werden zu können. Von solcher Auffassung ist die christliche Idee der Wahrheit. Laut Siegfried Krakauer, „Georg Simmel“, in ders., Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt a. M. 1977 (1920), S. 214 sei Simmels Wesen „zweifellos ursprünglicher religiöser Instinkte und Bedürfnisse bar gewesen.“ Laut Hans Liebeschütz, Von Georg Simmel zu Franz Rosenzweig. Studien zum jüdischen Denken im deutschen Kulturbereich, Tübingen 1970, ist Simmel (in den Worten Rosenzweigs) die lebende Karikatur des deutschen assimilierten Juden. In der neueren Forschung rückt allerdings gerade Simmels Interesse an der christlichen Theologie als Grundlage einer postmodernen Theorie von Gesellschaft in den Mittelpunkt; Liebersohn, Fate and Utopia; Krech, Georg Simmels Religionstheorie. Einen guten Überblick liefert auch John McCole, „Georg Simmel and the Philosophy of Religion“, in: New German Critique, Nr. 95, Winter 2005, S. 18–35, mit einer sehr überzeugenden Rekonstruktion des Verhältnisses von Nietzsches Individualismus zu deren christlichen Grundlagen und der daraus folgenden möglichen Rückführung dieses Individualismus in eine neue Form von christlich fundierter Gesellschaft als eine Harmonie individualisierter Lebensformen.
21
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Krise, auf das Theologische zurückgeführt werden. Simmels
Denken ist hier geradezu auf diese für die Moderne im ganzen
typische Ambivalenz zwischen Ästhetischem und Theologischem
angelegt.
II Scheinsgeschichte
Die letzte und allgemeinste Intention des italienischenPortraits ist in der Wertmetaphysik des klassischenGriechentums eingeordnet: Sinn und Wert der Dinge liegen imSein, in ihrer festumschriebenen Wesenheit, wie ihr zeitloserBegriff sie ausdrückt.45
Diesem klassischen Begriff von Sein und Schönheit, deren
letzter Sinn in der Negation von Zeit oder in der
Repräsentation einer reinen, zeitüberhobenen Präsenz liegt,
sagt, laut Simmel, Rembrandts Kunst ab. Durch die spezifische
Form der bildenden Kunst muß allerdings auch er zunächst den
Menschen in die Unbeweglichkeit eines über die Lebensdynamik
hinausgestellten Jetzt bannen. Jedoch sei hier „die ganze
persönliche Entwicklungssphäre so in das Jetzt der Anschauung
versetzt, daß sie in einer eigentümlich intuitiven Weise, trotz
und mit ihrer (temporalen) Nacheinanderform, in diesem
unmittelbar gegeben und aus ihm ablesbar ist.“ 46 Der
Widerspruch zwischen der Form und dem in ihr Geformten,
zwischen der Struktur des Bildes und dem in ihm abgebildeten
Leben tritt für Simmel zunächst in dem eigentümlichen Phänomen
von „Wiederholung und Differenz“ bestimmter Porträts, also der
Titus- oder der Selbstporträts etwa, zutage, in denen die 45 Simmel, Rembrandt, S. 6.46 Ebd., S. 8.
22
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
ideale Form bzw. der Stil der typisierenden Repräsentation
durch die faktische Dynamik des Lebens und Alterns gesprengt
wird. Die diachrone Porträtserie, in der die Totalität des
Lebens sich in eine Galerie der zeitlichen Entwicklung und
Differenz auffächert, wird damit zum Indiz für die Existenz
einer spezifischen Intuition, mit der Rembrandt die
Lebensdynamik in ihrer Zeitlichkeit je schon immer in ein
einziges Bild übersetzen kann.
Es wiederholt sich damit [bei Rembrandt] das Grundgefühl, daßdas Leben sozusagen nicht in einem Gestaltungsmoment zuverfestigen ist; in der Reihe der Bilder einer Person […]legt sich auseinander, was das einzige Bild in der Form derIntensität zeigt.47
Damit wird für Simmel die für das schöne Wesen des Menschen
transparente, zeitlose Form der Klassik durch die reale
Offenheit und Zeitlichkeit des Daseins durchbrochen, die Logik
des Wesens durch die Intuition für die spezifische Temporalität
des Daseins ersetzt. Diese Intuition, die Simmel hier
ästhetisch voraussetzt, soll offenbar ein spezifisches
Zeiterleben charakterisieren, das nicht einfach Echo des
passierenden Jetzt, etwa im Sinne einer Verzeitlichung des
Bildes durch eine Veranschaulichung von physikalischen
Bewegungsabläufen, ist, sondern in jedem Augenblick
Vergangenheit und Zukunft durch Erinnerung und Voraussicht aus
dem konkreten Augenblick des Lebens überschaut.48 Dieses
spezifische Zeitbewußtsein als Intuition erschließt also im
Augenblick eine jeweils neue, spezifische Ganzheit des Lebens,
die der Künstler in der Lebenssituation des anderen bzw. seiner47 Ebd., S. 9.48 Vgl. McCole, „Georg Simmel“, S. 22 ff., wo der Zusammenhang von dem, was Simmel die „Persönlichkeit Gottes“, GSG 14, bezeichnet und der Identität vonSubjektivität herausgearbeitet wird.
23
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
selbst durch das Porträt zu erschließen sucht. In der Tat
bieten sich zur Klärung hier auch strukturelle Vergleiche mit
den Theorien Bergsons49, Husserls50 und Heideggers51 an; Simmel
beschreibt jedoch diese wie auch immer vage charakterisierte
Intuition in einem Kontext, der sie als Säkularisation der
göttlichen – verräumlichenden – Übersicht über das Ganze, bzw.
den Prozeß des Seins in eine ästhetische Vision auffaßt, in der
das Ganze jeweils aus der in sich begrenzten Lebenssituation
imaginiert wird. Simmel bezieht sich hier explizit auf Kants
Konstruktion der intellektuellen Anschauung52 des absoluten,
göttlichen Bewußtseins, die im ästhetischen Idealismus
Schellings53 zum besonderen Vermögen des ästhetischen Genies
wird und damit die ästhetische Anschauung tatsächlich noch
einmal in der Idee verabsolutiert. Simmel geht es gegenüber
dieser ästhetischen Verabsolutierung um eine Intuition der Zeit
unter den Bedingungen der Zeitlichkeit:
Die Art der Anschauung, die Kant hier voraussetzt, istfreilich eine überzeitliche und intellektuelle, aber sie übtihre einheitliche, alles mannigfaltig Ausgedehnte
49 Bergson, Zeit und Freiheit.50 Edmund Husserl, „Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins“, in ders., Gesammelte Werke X, hrsg. von Rudolf Boehm, Den Haag 1969.51 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1984.52 Kants erste Definition der intellektuellen Anschauung befindet sich in der Kritik der reinen Vernunft, Wiesbaden 1982, S. 117.53 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, „System des transzendentalenIdealismus“, in ders., Ausgewählte Schriften, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1985, S. 420: „Die Philosophie beruht also ebenso gut wie die Kunst auf dem produktiven Vermögen, und der Unterschied beider bloß auf der verschiedenenRichtung der produktiven Kraft. Denn anstatt daß die Produktion in der Kunst nach außen sich richtet, um das Unbewußte durch Produkte zu reflektieren, richtet sich die philosophische Produktion unmittelbar nach innen, um es in intellektueller Anschauung zu reflektieren. Der eigentlicheSinn, mit dem diese Art der Philosophie aufgefaßt werden muß, ist also der ästhetische, und eben darum die Philosophie der Kunst das wahre Organon derPhilosophie.“ Vgl. hierzu v.a. Manfred Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik, Frankfurt a. M. 1989.
24
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
überwindende Kraft an demselben Objekt wie die sinnlichkünstlerische Anschauung Rembrandts an dem zeitlichen, durcheine unendliche kontinuierliche Vielheit sich erstreckendenLeben.“54
Diese in der Augenblicklichkeit sich herstellende Ganzheit des
Lebens entfaltet sich in immer neuen Augenblicken als eine
andere Ganzheit, und eine solche perspektivische Pluralität
möglicher Ganzheiten ist die Antithese zu dem einen, idealen
Wesen des Individuellen in der klassischen Kunst, für die
dieses sich in der zeitlosen Form erfüllt. Zugleich
rechtfertigt die in der Intuition erzeugte Ganzheit des Lebens
im Augenblick dessen Verbildlichung, aber, insofern diese
Verbildlichung immer provisorischen Charakter besitzt, auch die
Modifikation solcher Bildlichkeit durch ein weiteres, wieder
provisorisches Bild vom Leben.
Diese jeweils neu sich darstellende Ganzheit als Antithese
zur Struktur der Vollkommenheit integriert nicht nur das
Zufällige, Akzidentelle und Häßliche, sondern sie führt zu
einer Kritik der stilistischen Mittel selbst, in denen das
Wesen des Schönen sich formal repräsentieren soll. Wirkt schon
„Rembrandts Vorliebe für zerlumpte Erscheinungen, für die
Proletarier, deren Kleider durch Zufälligkeiten ihres elenden
Loses in formal ganz sinnlose Fetzen zerfasert erscheinen“, wie
eine bewußt provokative „Opposition gegen das Formprinzip“55,
so muß seine Kunst, das Wesensgesetz der klassischen
Idealtypik, gerade auch durch die Absage an die „Normen der
linearen, koloristischen, räumlichen Deutlichkeit“56
54 Simmel, Rembrandt, S. 44 f.55 Ebd., S. 65.56 Ebd., S. 69.
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Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
durchbrechen, in der die ideelle Transformation des
Individuellen sich formal vollzieht.
Die Form dagegen, die das Rembrandtsche Portrait darbietet,erscheint nicht von dem Prinzip der Form selbst, nicht vonden ideellen Beziehungsnormen bestimmt, die die Teile desPhänomens sich untereinander begrenzen und balancierenlassen, sondern das von einem treibenden Leben, das jenerStil hinter dem Phänomen verschwinden läßt, ist hier in demAugenblick erlauscht, in dem es in seine Oberflächehineinwächst.57
Diese an Rembrandts Porträtkunst entwickelte Dialektik von
Wesen und Erscheinung, von Form und Leben, von Außen und Innen,
von Stilgesetz und singulärer Lebensdynamik thematisiert damit
für Simmel eine historische Zäsur in der Geschichte des schönen
Scheins, der im Bild Idee und Wesen bzw. Substanz des
Individuellen festhalten soll und damit das Individuum zum
Rollenträger und Schauspieler der Idee degradiert und
entstellt. Die Idee, in deren Auftrag das Subjekt hier sich
selbst vorstellt, entspricht also einer Maske, hinter der es in
seiner irreduziblen Einmaligkeit der Existenz verschwindet.58
Mit Rembrandt entwickelt Simmel also eine Kritik des
Platonischen Wesens und des aus diesem abgeleiteten Wesens der
Schönheit als Schein des absoluten Wesens. Es ist dabei die im
Bildrahmen gleichsam als Totalität des Wesens festgeformte und
festgelegte Individualität, die erst in dieser Festlegung als
57 Ebd., S. 70.58 Es ist hier nicht der Ort, diese Zusammenhänge von Idee und Rollenträger hinsichtlich ihrer soziologischen Implikationen zu entfalten, es ist jedochgerade diese Diskrepanz zwischen Individualität und ideeller Maske, von deraus Simmel schon 1908 eine Soziologie „ex negativo“ entwickelt, mit der er noch vor der eigentlichen Lebensphilosophie eine andere Strategie durch dieSoziologie konzipiert. Siehe Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1983 (1908). Zur Soziologie Simmels: Kaern,Georg Simmel. Volkhard Krech/Hartmann Tyrell, Religionssoziologie um 1900, Würzburg1995.
26
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
festgelegte erscheint.59 Erst die Totalität des Bildrahmens
selbst definiert das Individuelle als Individuelles und von da
aus die Grenze, gegen die das begrenzte Dasein dann rebelliert.
Mit anderen Worten, es wird erst durch die Allgemeinheit des
Rahmens zu einem Individuellen: „Aus Rembrandts Portraits
leuchtet uns vor allem das entgegen, was wir von einem Menschen
beim ersten Anblick als ganz Unaussprechbares wissen, als die
Einheit seiner Existenz.“60 An diesem Schnittpunkt von Wesen
und Existenz ereignet sich im Grunde der qualitative Sprung von
der Ästhetik in die Ethik, den Simmel immer schon implizit zu
behaupten scheint, ohne ihn tatsächlich auszuführen. Insofern
nämlich diese Einheit der Existenz eigentlich nicht im Bild
aufgehen kann, spricht das porträtierte Individuum immer schon
das Gebot aus: Du sollst dir kein Bildnis machen! Es ist diese
im Bild durch ein Wesen festgelegte Individualität, die
gleichsam mit ihrem stummen Blick den ethischen Anspruch auf
eine weitere Entfaltung ihrer Existenzmöglichkeiten in der Zeit
formuliert.61
Diese in solcher Einheit der zeitlichen Existenz sich
darstellende variable Ganzheit des Lebens qua Individualität
bzw. Intuition von Erinnerung und Voraussicht transzendiert
eben die Form und Idealtypik des zeitlosen Wesens vollends in
der für Rembrandt zentralen Thematik des Todes. Hier „scheint
mir“ – so Simmel – „das Moment des Todes, das in allem
59 Vgl. Erwin Panofsky, Idea. A Concept in Art History, New York 1968.60 Ebd., S. 85.61 In gewisser Weise also enthält Simmels ethisch ausgerichtete Ästhetik desBildes schon den Ansatz zu einer Phänomenologie des Gesichtes, wie sie sehrviel später bei Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg/München 1993, entwickelt wird. Freilich nur in Ansätzen,nicht im Sinne einer systematischen Begründung der Phänomenologie aus der Ethik.
27
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Lebendigen enthalten ist, in dem Bilde des Menschen, wie
Rembrandt es faßte, nachdrücklicher und herrschender fühlbar zu
sein, als irgendwo sonst in der Malerei.“62 Am Tod dramatisiert
sich nicht nur der Gegensatz zur klassischen Form der
Zeitlosigkeit, sondern der Tod erzeugt die spezifische Ganzheit
des Lebens als das nunmehr ihm eigene Formprinzip. Insofern
nämlich der Tod nicht ein unvermittelter Einbruch bzw. Abbruch
des Lebens ist, sondern vermöge seiner in Voraussicht und
Erinnerung jeweils von neuem erzeugten Übersicht über sich
selbst „dem Leben je schon einwohnt“63, bezeichnet er die
ultimative negative Möglichkeit des Seins des Daseins, von der
her es sich selbst immer schon formt. „Unser Leben wird zu dem,
als was wir es erkennen nur dadurch geformt, daß wir […] immer
schon solche sind, die sterben werden.“64 Mit anderen Worten:
Wenn Simmel die Kunst Rembrandts aus der Antinomie von Form und
Leben konstruiert, so bedeutet das zuletzt, daß die Form durch
das Leben eine neue Bedeutung erhält: nämlich in der Form des
Todes, der sowohl den zeitlichen Horizont des Scheins definiert
als auch die Krise dieses Scheins und damit die fundamentale
Weise des Seins von Leben erhellt. Indem Simmel die Grammatik
der temporalen Existenz Rembrandts entziffert, befreit er sie
also gleich von einer nur ästhetischen Deutung: Es ist die
ethische Insistenz auf der Unerschöpflichkeit des
Individuellen, die den Bildrahmen durch die Zeit sprengt. Die
Zeit erschließt ihrerseits den Horizont des Todes, der im
Grunde das Ästhetische als eine vom Leben ausgegrenzte
Seinssphäre vollends aufhebt.
62 Simmel, Rembrandt, S. 89 f.63 Ebd., S. 90.64 Ebd.
28
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Beide Bewegungen sind in der Kunst selbst verankert und
weisen doch immer über sie hinaus. Sie markieren das
Koordinatensystem von Simmels Metaphysik des Lebens. Leben ist
nicht die in sich ruhende Substanz – die res cogitans –, sondern
es sprengt dieses substantielle Sein, um sich in neuen Formen
und Substanzen zu aktualisieren, von denen keine das Leben
erschöpft, die jedoch alle auf die Form des Zeitlichen bezogen
sind. Leben ist die Selbstgestaltung als Substanz und deren
Negation. Dieser Akt, der für Rembrandt symptomatischen
Sprengung der in sich ruhenden Substanz, bereitet Simmels
Kategorisierung des Lebens als ein „Über-sich-hinaus-Greifen“
vor, die er dann zwei Jahre später als „Transzendenz“
definiert, also nicht als ein Hinübersteigen zu Gott, sondern
als ein Über-sich-selbst-Hinausgehen des Lebens zu sich selbst,
das hier seine Einzigartigkeit ganz in der temporalen Immanenz
des Weltlichen aktualisiert. Es ist keine Übertreibung, wenn
man in Simmels Arbeit über Rembrandt die ersten Ansätze zu
einer formalen Ontologie des Daseins aufspürt, die dann später
von ihm selbst in der Lebensanschauung weiterentwickelt, von
Martin Heidegger aufgegriffen und nicht mehr auf der Grundlage
einer vagen Intuition, sondern im Rahmen einer systematischen
Ausarbeitung über den Sinn von Sein expliziert wird.65
Jedenfalls formuliert Simmel diese Struktur der Transzendenz
1918 als „ein Hinaustreten des geistigen Lebens über sich
selbst“, es ist „Durchbruch und Jenseitigkeit nicht nur einer
einzelnen, sondern seiner Grenze überhaupt, ein Akt der
Selbsttranszendenz, der die immanente Grenze selbst erst
65 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 249, wo Heidegger sich ausdrücklich auf Simmels „Lebensanschauung“ bezieht.
29
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
setzt.“66 Diese Selbsttranszendenz ist auch hier zuletzt
begründet und begrenzt durch den Tod: „Und wenn der Tod dem
Leben von vornherein einwohnt, so ist auch dies ein
Hinaustreten des Lebens über sich selbst.“67
In diesem, an Rembrandt ausgearbeiteten, Lebensbegriff als
„Zeit und Transzendenz“ formuliert Simmel ansatzweise die
Grundlagen für eine Metaphysik des individuellen und
„jemeinigen“ Lebens, mit dem er zugleich die Ambivalenz
zwischen einem biologischen und einem metaphysischen
Lebensbegriff, zwischen Bergsons „Elan vital“ und Hegels
Begriff des absoluten Lebens68 zugunsten des metaphysischen
Begriffs aufhebt. Die für das Leben charakteristische
Transzendenz, die Dialektik von Leben und Form, die Struktur
des Lebens als Negativität – das alles bestätigt den Bezug zu
Hegels Metaphysik, indem es zugleich diese auf einen
existentialistischen Begriff zu bringen versucht. In der Tat
liest sich folgende Textstelle aus Simmels Metaphysik wie eine
Erläuterung Hegels zur Dialektik des Bewußtseins, die Hegel
einmal als ein Abschreiten der Galerie der verschiedenen
66 Simmel, Lebensanschauung, S. 6. Vgl. Deena und Michael Weinstein, „Simmel on Modern Life“, in Kaern, Georg Simmel, S. 353–354, wo diese Selbstüberschreitung des Lebens gar in Begriffen der Dekonstruktion beschrieben wird: „Modern culture culminates for Simmel in the jealous willof life to possess the forms that it creates. But in order to possess them it must continually destroy them. That is modern culture is the project of its own deconstruction.“ Damit scheint aber das systematische Anliegen von Simmels Metaphysik verfehlt zu sein.67 Simmel, Lebensanschauung, S. 21.68 Vgl. Georg Wilhem Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, in ders., Werke,Bd. 3, Frankfurt a. M. 1983, S. 46 (Vorrede): „Die Philosophie dagegen betrachtet nicht die unwesentliche Bestimmung, sondern sie, insofern sie wesentlich ist, nicht das Abstrakte oder Unwirkliche ist ihr Element und Inhalt, sondern das Wirkliche, sich selbst Setzende und in sich Lebende, das Dasein in seinem Begriffe. Es ist der Prozeß, der sich seine Momente erzeugt und durchläuft, und diese ganze Bewegung macht das Positive und seine Wahrheit aus. Diese schließt also ebenso das Negative in sich […]“
30
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Selbstporträts des Subjekts beschreibt69, in denen das Ich sich
allerdings zuletzt zu einem absoluten Bewußtsein erweitert.
Indem das Ich nicht nur sich selbst sich gegenüberstellt, alsdas Wissende zum Gegenstand seines eigenen Wissens macht […],sich beurteilt, sich achtet oder verachtet, und sich damitauch über sich stellt, überschreitet es dauernd sich selbst,weil sein Subjekt und Objekt hier identisch sind; es legtdiese Identität, da sie keine starr-substantialistische ist,in dem geistigen Lebensprozeß des Sich-selbst-Wissensauseinander.70
Während jedoch Hegel den Lebensprozeß in einem absoluten
Selbstbewußtsein sich vollenden läßt und damit die
Individualität doch wieder durch ein ihr vorgegebenes Wesen,
nämlich die in der Geschichte sich verwirklichende Idee
auflöst, bleibt das Leben, wie es Simmel an Rembrandts Galerie
der Selbstporträts begreift, an die Grenzen seiner Endlichkeit
verwiesen, deren Signum der Tod ist. Die diachrone
Pluriversalität der Formationen von Subjektivität, die Hegel in
einer Logik des zu sich selbst kommenden und sich vollendenden
Wissens festlegt, wird bei Simmel gerade durch die
Verendlichung des Lebens immer notwendig durch eine synchrone
Pluriversalität solcher Formationen gesprengt. Das Paradox
einer solchen Verendlichung der Hegelianischen Metaphysik
besteht also darin, daß sie gerade jetzt unendlich wird. Gerade
weil die organisierende Idee verzeitlicht wird, tritt das Leben
69 Ebd., S. 590: „[…] die Geschichte ist das wissende, sich vermittelnde Werden – der an die Zeit entäußerte Geist; aber diese Entäußerung ist ebenso die Entäußerung ihrer selbst, das Negative ist das Negative seiner selbst. Dies Werden stellt eine träge Bewegung und Aufeinanderfolge von Geistern dar, eine Galerie von Bildern, deren jedes, mit dem vollständigen Reichtum des Geistes ausgestattet, eben darum sich so träge bewegt, weil das Selbst diesen ganzen Reichtum seiner Substanz zu durchdringen und zu verdauen hat.“70 Simmel, Lebensanschauung, S. 14.
31
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
nunmehr in seiner unendlichen Fülle möglicher Lebensentwürfe
und Lebensmöglichkeiten auf.71
Der Tod bezeichnet faktisch die absolute Grenze des Lebens,
symbolisiert aber gerade dadurch einen neuen Horizont der
Freiheit zum eigenen Lebensentwurf und damit die Offenheit des
Lebens, seine Selbsttranszendenz. Die ideelle
Selbsttranszendenz, die in Hegels Phänomenologie des absoluten
Lebens die Galerie der Selbstporträts des Subjekts als eine
stufenweise fortschreitende Selbstbewußtwerdung auffaßt, in der
das individuelle zum absoluten Bewußtsein sich erweitert,
bleibt dem Künstler unbedingt versagt, der in der Reihe der
Selbstporträts die konkrete Gestalt des Lebens zu erhellen
vermag, aber nie als eine absolute – und das heißt zeitlose –
Selbstpräsenz.
Dieser ästhetisch-perspektivischen Erhellung des Lebens aus
der jeweils konkreten und intuitiven Situation heraus
entspricht bei Simmel das berühmte Rembrandtsche Licht, das
weder einen physikalischen noch einen transzendenten Ursprung
besitzt. „Erst bei Rembrandt ist das Licht nur in dem Bilde
selbst entsprungen, nur auf das malerisch Sichtbare bezogen,
ohne daß man durch dieses gleichsam hindurchsehend, einen
entsprechenden Vorgang in der realen Welt zu imaginieren
veranlassen würde.“72 Als das Licht des einmaligen Bildes
bezeichnet es die Weise, in der der Künstler das Sein des sich
ihm darstellenden Menschen erhellt und erschließt, die
71 Vgl. Krech/Tyrell, Religionssoziologie erkennt den Sinn wahren gesellschaftlichen Seins in der Versöhnung von Individuation und gesellschaftlicher Einheit. Ähnlich auch McCole, „Georg Simmel“, S. 18: dermit der säkularisierten Religion die „ultimate reconciliation of individuation and social unity“ gegeben sieht.72 Simmel, Rembrandt, S. 181.
32
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
„Lichtung“ gleichsam, in der der Blick des Malers sich durch
sein Gegenüber, wie das Gegenüber sich durch den Blick des
Malers erhellen läßt.
Während also Simmel auf der Individualität insistiert, ohne
sie in einer absoluten Struktur, Idee oder Präsenz des Subjekts
aufzuheben, sich also hier zu Hegel verhält wie Rembrandt zur
Platonischen Idee, so hält er ebenso an der spezifischen
Individualität des Schönen fest, die Hegel im ideellen Begriff
tatsächlich auflöst und auflösen muß. Wenn Hegel also die
Platonische Idee des Schönen historisiert, um sie im absoluten
Bewußtsein als Begriff zu retten, beschreibt Simmel die
Geschichte des Platonischen Schönen als die Geschichte von
dessen Überwindung in einer dem konkreten Leben zugewandten
Kunst. „Gewiß hat die Renaissance dem Platonismus, den sie
aufnahm, das Element der Individualität eingefügt“, schreibt
Simmel.
Wenn wir, für Plato, den einzelnen Menschen darum lieben,weil er uns an unsere präexistentielle Schauung der Idee derSchönheit erinnert, so ergreift das Motiv der vorirdischenExistenz und ihrer idealen Bedeutung nun das Individuum. […]Die Idee der allgemeinen Schönheit überhaupt ist durch dieIdee der Einzelpersönlichkeit ersetzt, es istindividualisierter Platonismus, der in der ein für allemaldargebotenen, sozusagen metaphysisch starren Form dieabschließende Wahrheit erblickt. Diese zeitlose Form, soleidenschaftlich ihre Einzigartigkeit in einem empirischrealen Bezirk betont werden mag, kann es prinzipiell garnicht ablehnen, sich mehrfach zu verwirklichen, mit anderendenselben Stil zu teilen, einen Typus zu bilden. Aber gegenjede soziologische Einzigartigkeit wie gegen die abstrakteAllgemeinheit ist die Rembrandtsche Individualitätgleichgültig, weil die Richtung, von der her sie dieErscheinung fasst, im Prinzip eine andere ist: nicht vonihrer Form, sondern von ihrem Leben her.73
73 Ebd., S. 114 f.33
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Diese Lebensperspektive der Kunst Rembrandts zeigt sich für
Simmel an dem spezifischen Blick der in den Porträts
repräsentierten Figuren. Im Unterschied zu dem Blick, der nur
zu dem Ding führt, das er gerade „ansieht und an dem er
sozusagen wieder abprallt, um wieder zu sich zurückzukehren“,
zeige sich „schon in dem Portrait des Geistlichen in der
Carstanjenschen Sammlung, beim Bruyningh, und den vielen
Titusbildern, und vor allem an den Selbstportraits“ ein Blick,
der „zwar jeweils einen Punkt“ zu fixieren scheint, der aber
zugleich etwas sehe, „was sich nicht fixieren läßt.“74 Diese
„lebendige Kraft des Blickes“75, der vielleicht eine
Veranschaulichung eben dieser über das Jetzt hinausblickenden
Intuition darstellt, erscheint so, „als ob [er] in der durch
das Objekt festgelegten Richtung nicht unterkäme, ja überhaupt
nicht in irgendeiner Richtung, sondern nur seine schlechthin
unräumliche, an kein bestimmtes Etwas anzuheftende Intensität
verkündete.“76 Diesem Blick, so spekuliert Simmel, ist das
Jenseits einer himmlischen Ordnung bzw. eines Platonischen
Ideenkosmos‘ verstellt. Es ist der Blick, der über sich selbst
und das Objekt hinwegschauen kann, aber zugleich in der
Immanenz verharrt. Er symbolisiert eine „immanente
Transzendenz“77, wie Simmel sich ausdrückt.
III Christologie ohne Gott
74 Ebd., S. 127.75 Ebd., S. 126.76 Ebd.77 Ebd., S. 127.
34
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Es ist nun diese immanente Transzendenz, von der her Simmel
offenbar die spezifische Religiosität von Rembrandts Kunst zu
beschreiben unternimmt. Es überrascht nicht, wenn er in seiner
grundsätzlichen Unterscheidung zwischen einer objektiven Form
der Religion als Kirche, Kult und Gesetz und einer Religion,
die als „inneres Leben des Subjekts“ auftritt, Rembrandts
Religiosität im Sinne der letzteren als eine in der
Innerlichkeit verankerte „Frömmigkeit“ definiert.
All seine religiösen Bilder, Radierungen, Zeichnungen habennur ein einziges Thema: den religiösen Menschen. DieGegenstände des Glaubens macht er nicht sichtbar, und wo erJesus darstellt, hat er nie den Charakter der transzendentenRealität, sondern empirisch menschlicher, den liebenden undden lehrenden, den in Gethsemane verzweifelnden und denleidenden.78
Leben und Tod werden in Simmels Deutung der Kunst Rembrandts
zum Paradigma eben der neuen Metaphysik des Lebens bzw. der
Temporalität des Individuums, in der mit der zeitlosen
Idealität der Renaissance auch die transzendente Idealität der
göttlichen Welt vollends überwunden wird. Es handelt sich also
um eine Christologie, die, vollkommen verinnerlicht, nicht aus
einer transzendenten Ordnung sich legitimiert, sondern ganz aus
der ethischen Praxis des Alltags. So sehr ist die Christologie
hier für Simmel Modell der zeitlichen Existenz geworden, daß
sie nicht nur jede abstrakte Religion, zumal die Religion des
Gesetzes, aufhebt, sondern auch in der Praxis des Alltags auch
weitergelebt werden würde, wenn – wie Simmel betont – „kein
Gott existierte oder geglaubt würde“79. Damit steht die an
78 Ebd., S. 144. Vgl. Georg Simmel, Religion, in: GSG 10, Georg Simmel, Die Persönlickeit Gottes, in: GSG 14, Georg Simmel, Zur Soziologie der Religion, in: GSG 5. Liebersohn, Fate and Utopia; Krech, Georg Simmels Religionstheorie. 79 Simmel, Religion, S. 163.
35
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Rembrandt entfaltete Christologie nicht nur für eine zuletzt
ethisch begründete Lebenspraxis des Individuums, sondern für
eine Kultur an der Schwelle zur vollendeten Säkularisation, die
– und das ist hier das wahre Paradox – nichts anderes ist, als
eine vollkommen verinnerlichte Religionskultur. Gilt nun diese
Form eines restlos verinnerlichten Christentums, wie es Simmel
an Rembrandt erkennt, prinzipiell als die Stufe der Erlösung
selbst, so besteht das nächste Paradox in der Diskrepanz
zwischen dieser ganz im Geiste lebenden und handelnden Gemeinde
der Christen und der unerlösten Welt. Leiden, Schmerz, Armut
und Tod sind nach wie vor das Signum des Lebens. Sie gehören
zum Alltag und zur Lebenswelt all dieser individuellen
Gestalten, die Rembrandt festhält.
Es scheint, als ersetze Simmel also in letzter Instanz die
Platonische Idee des Menschen durch die christologische Form
des Menschen, die gleichsam die ethische Personifizierung der
Lebensform als Tod für den anderen darstellt, um diese Idee des
christlichen Lebens aus der Perspektive des Rembrandtschen
Individualismus nun ihrerseits noch einmal zu kritisieren.
Christus ist hier ganz Mensch geworden, und als solcher stellt
er das individualisierte Formgesetz der Temporalität des
Individuums dar. Der ganz humanisierte Christus steht für das
Leiden des Individuums und seine Lebenstragik, aber vor allem
für das Mitleiden, die Empathie und die Liebe, in der das Leben
über die Selbsttranszendenz hinaus auch immer das eigene Ich
zum anderen hin überschreitet, diesen also nicht nur in seinem
Für-sich-Sein anerkennt, sondern ihm solidarisch beisteht.
Dieser andere – Rembrandt hat ihn in der Gestalt des Bettlers,
Proletariers, Juden und Schwarzen gemalt – lebt als
36
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
individuierte Gestalt das eigene Schicksal in einer Welt ohne
Erlösung, aber in einer Welt der christlichen Gemeinschaft, die
Simmel am Modell der Rembrandtschen Kunst rekonstruiert.
An die Stelle der Lehre vom säkularisierten Gottmenschen bei
Hegel, der für die immer wieder in Tod und Auferstehung sich
wiederholende absolute Bewußtwerdung steht, tritt somit in
Simmels Rembrandt der ganz menschliche Christus, dem das
Absolute verschlossen ist, der aber gerade deswegen nicht nur
in der „jemeinigen“ Individualität verharrt, sondern offen für
die Individualität des anderen wird. Simmel hat also auch hier
das Schema der Hegelianischen Konstruktion existentiell
radikalisiert. Da, wo Hegel in seiner Ästhetik auf die Epoche
der griechischen Vollendung des Schönen in einem zeitlosen
Wesen die moderne christliche Kunst mit ihrer Konzentration auf
Zeitlichkeit, Leiden und Tod folgen läßt, um die Kunst zuletzt
in ihrem absoluten Begriff aufzuheben und damit tatsächlich zu
verabschieden, da geht es Simmel um eine Hegel vergleichbare
Konkretion philosophischen Denkens am ästhetischen Modell, für
die die Christologie eine zentrale Rolle spielt. Doch – und das
ist das Entscheidende – deren ethisches Apriori, die
Individualität, verbietet jede Totalisierung und Subsumtion
unter den Begriff. Die in der Einmaligkeit des Porträts sich
offenbarende Einzigartigkeit und „Unendlichkeit“ des
Individuellen widersteht der „Totalität“ von Hegels
Seinsbegriff genau da, wo deren modellhafte Transformation in
die Subjektivität im absoluten Begriff zu Ende kommen soll.
Damit bezeichnet der individualisierte Christus gleichsam auch
schon die Erlösung von der absoluten Metaphysik Hegels, die
Christus zum Symbol des vollendeten Subjekts und der
37
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
triumphierenden Menschheit erhebt. Simmel entläßt den Christus
wieder in die Welt des Leidens, in die unerlöste Welt, weist
aber zugleich, am Beispiel Rembrandts, auf die Richtung, von
der her, wenn überhaupt, das Licht der Erlösung kommen kann:
aus der Einsicht in den Sinn der Selbsttranszendenz als
Transzendenz zum anderen hin.
IV Zum Schluß: Paulus als Paradigma
Simmels ästhetische Überlegung zu der temporalen Individualität
der Rembrandtschen Menschen kulminiert in dem Bild von Christi
Auferstehung:
Es gibt ein Bild von Rembrandt, in dem dies alles zu einempositiven Ausdruck gelangt: der Auferstehung in München. ImVordergrunde taumeln die Kriegsknechte von der gehobenenGrabplatte herunter: das ganze sinnlose, teils gewalttätige,teils lächerliche Chaos des Irdischen: Darüber der Engel: ineiner Flut unirdischen Glanzes, als hätte es die Tür desHimmels hinter sich aufgelassen, aus der ihm Gloriennachstürzen: Und nun ganz in der Ecke, fast nur schattenhaft,wie aus der Ferne, hebt sich der Kopf Jesu mit schwererkennbarem Ausdruck: und auf einmal wissen wir: hier ist dieSeele, vor deren blassem, leidendem, noch von der Todesstarrehalb gelähmtem Leben jene Erde und jener Himmel verbleichenund nichtig werden.80
Wenn Simmel in dieser Christusdarstellung Rembrandts gleichsam
den bildhaften Ausdruck von dessen ästhetischer Ethik des
Individuellen erkennt, so scheint doch im Sinne Simmels selber
ein ganz anderes Bild als Repräsentant für diese Ästhetik sehr
viel schlüssiger zu sein. Wenn nämlich Simmels Denken an
Rembrandt die Metaphysik von Leben und Form bzw. Individuum und
80 Simmel, Rembrandt, S. 168.38
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Gesetz rekonstruiert, die er als eine notwendige dialektische
Spannung auffaßt, so erscheint Rembrandts Kunst allerdings ganz
im Lichte dieser Spannung auf religiöser Ebene. Hier gerade
betont Simmel die Rolle des Gesetzes für eine nur äußerliche
Form der Religion gegenüber einer innerlichen, in der das
Gesetz im Geist überwunden bzw. vollkommen verinnerlicht ist.
Ohne es zu merken, beschwört Simmel in seiner ethisch-
ästhetischen Reflexion über den Status des Gesetzes, in seiner
Geschichte der Idee des Schönen eben die geschichtliche
Auseinandersetzung, in der nunmehr die Geschichte der Religion
eine entscheidende Zäsur erlitt, nämlich in der
Auseinandersetzung des Pharisäers Saulus mit dem halachischen
Gesetz des Judentums, die zu dessen christlicher Berufung und
damit zur Entstehung des Christentums führt. Es ist die aus
jüdischer Sicht häretische Kritik am Gesetz durch Paulus, in
der die für Simmel zentrale Problematik des Gesetzes zum ersten
Mal mit all ihren existentiellen Implikationen thematisch wird.
Das Ich begehrt hier im Namen seiner Sehnsucht nach Erlösung
durch die Liebe gegen das Diktat des Gesetzes auf und
konstruiert eine ideale Gemeinschaft derer im apostolischen
Geiste – in einer vorläufig durchaus noch unerlösten Welt. Es
dürfte mehr als nur ein Übersehen sein, wenn Simmel, der
immerhin einer jüdischen Familie entstammt und selbst schon als
Christ geboren wurde, eben das Porträt Rembrandts nicht
wahrnimmt, in dem der alternde Künstler sich selbst als Paulus
darstellt. In dieser rätselhaften Selbstdarstellung wird
offenbar die Problematik des Individuums gegenüber dem Gesetz,
die laut Simmel die ästhetische, ethische und theologische
Dimension der Rembrandtschen Kunst im Ganzen bestimmt, in ihrer
39
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
überindividuellen Form durch den Künstler selbst
personifiziert.81 Er tritt scheinbar hinter dieser Maske als
Individuum wieder zurück, wie er auch mit ihr erst als der
erscheint, als den er sich vermutlich tatsächlich sehen wollte.
81 Das Thema „Paulus und die Moderne“ ist, so weit ich sehe, noch nicht umfassend thematisiert worden. Es wird durch Texte wie Karl Barth, Der Römerbrief, München 1923, Martin Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens (zuerst 1920/21) Gesamtausgabe, Bd. 60: Vorlesungen 1919–1944, hrsg. von Frankfurt a. M. 1995, Erik Peterson, Paulus – Der Brief an die Römer (1924–1948),in: ders., Ausgewählte Schriften, Bd. 6, hrsg. von Barbara Nichtweiß, Würzburg 1997, Friedrich Gogarten, Politische Ethik, Versuch einer Grundlegung, Jena 1932, aber auch etwa bei Gershom Scholem, „Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien im Judentum“, in: ders., Über einige Grundbegiffe des Judentums, Frankfurt a. M. 1970 außerordentlich akut. Jakob Taubes, Die politische Theologie des Paulus, München 1995, greift die politische Brisanz von Paulus für die Moderne auf, die auch bei Alain Badiou, St. Paul, Paris 1997 und Giorgio Agamben, Le Temps Qui Reste, immer mehr zum Insignum wahrer Modernewird.
40
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Eine politisch-theologische Archäologie der modernen
Subjektivität?Anmerkungen zu Cassirers „Phänomenologie des philosophischen
Geistes“
I Vorüberlegung
Für Hegel ist der Staat nicht nur der Repräsentant, sonderngeradezu die Inkarnation des Weltgeistes. Während Augustinusdie civitas terrena als Verzerrung und Entstellung dercivitas divina betrachtet hatte, sah Hegel in dieser civitasterrena „die göttliche Idee, wie sie auf Erden existiert“.82
Cassirer sieht in Hegels Apotheose der Subjektivität im Staat
die erste metaphysische Grundstruktur des politischen Mythos,
der zur Zerstörung der modernen Kultur im
nationalsozialistischen Reich führte. In Ludwig Klages’
vitalistischer Metaphysik des Lebens83, die Kultur und
Rationalität einer unmittelbaren Intuition des absoluten Lebens
opfern will, erkennt er, zumindest implizit, die zweite
mythologische Voraussetzung für den totalitären Staat. Beide
Apotheosen der Subjektivität bilden die Grundlage für die
eigentliche politische Theologie des Faschismus.
Diese Verabsolutierungen der Subjektivität – einmal als Geist
und einmal als Leben – bilden eine epochale Antithetik, die
Cassirer als komplementäre Formen desselben Grundproblems der
Subjektivität interpretiert, nämlich als Hypostasierung eines
82 Ernst Cassirer, Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens, Frankfurt a. M. 1985 (1945), S. 342 f.83 Ludwig Klages, Vom Kosmogonischen Eros, Jena 1930; ders., Der Geist als Widersacher der Seele.
32
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
der notwendig aufeinander bezogenen Momente von Leben und Form,
die an der Subjektivität hervortreten und zu einer Liquidierung
von individueller Subjektivität führen muß.
Von hierher läßt sich verstehen, warum Cassirer das Problem
der Subjektivität im Sinne ihrer epochalen Konstellation und
Krise auf dem Hintergrund der Lebensphilosophie neu begründen
will, und zwar im Ausgang von Georg Simmels späterer Metaphysik
des Lebens, in der Leben und Form im Sinne einer unendlichen
Dialektik der „immanenten Transzendenz“ und des „wissenden
Nichtwissens“ vermittelt werden sollen.84
Das Telos der Gefahr ihrer Aufhebung am Ende der Moderne
zwingt allerdings auch zu einer Rekonstruktion der Genese der
individuellen Subjektivität in ihrem Ursprung im
Spätmittelalter. Es geht Cassirer nicht nur um eine
systematische Begründung der Subjektivität, sondern zugleich um
ihre historische Genealogie oder Archäologie, von der her die
beiden Hypostasierungen vermieden werden sollen. Nicht zufällig
setzt damit Cassirers eigene „Phänomenologie des
philosophischen Geistes“85 bei der Auseinandersetzung der spät-
mittelalterlichen Philosophie mit eben dem Problem der
Christologie an. Am Beispiel dieser Adoption durch Nikolaus
84 Ernst Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen. Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. 1, hrsg. v. John Michael Krois, Hamburg 1995, S. 9 ff. Cassirer bezieht sich hier vor allem auf Simmel, Lebensanschauung. 85 Ernst Cassirer, Philosophie der Aufklärung, S. VII. Im Vorwort erklärt Cassirerdas eigene historische Verfahren seiner Rekonstruktion der Geschichte des Subjekts: „Ich habe in früheren Schriften, insbesondere in meiner Schrift ‚Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance‘ und in der Schrift über ‚Die Platonische Renaissance in England‘ andere Phasen dieser großen Gesamtbewegung [der Entwicklung der Subjektivität] darzustellen und in ihrer Gesamtbewegung zu würdigen versucht […]. Eine solche Betrachtungsweise will in der Entwicklung der philosophischen Doktrinen undSysteme zugleich eine ‚Phänomenologie des philosophischen Geistes‘ zu gebensuchen.“
33
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Cusanus86 entwirft Cassirer einen Begriff von Subjektivität,
der ihre spätmoderne Situation bei Georg Simmel mit ihrer
prämodernen Genese als „immanente Transzendenz“, „wissendes
Nichtwissen“ und „perspektivischen Bezug“ (zur absoluten
coincidentia oppositorum) vermitteln kann. Damit aber erweist sich
Cusanus’ an der Christologie orientierte Philosophie nicht nur
als das Modell für Cassirers Archäologie und Metaphysik des
Subjekts, sondern sein Denken soll offenbar einen alternativen
Säkularisationsprozeß der Christologie einleiten, der als eine
einzige Gegenstrategie zur politischen Theologie zu verstehen
ist, wie sie sich aus Metaphysik (Hegel) und Mythologie
(Klages, Spengler) entwickelt hat. Die offene Christologie des
Subjekts, die das Absolute mit dem Realen „nur“ im unendlichen
geschichtlichen Prozeß vermitteln kann, wird in Hinsicht auf
die mögliche Identifizierung des konkreten Realen mit dem
Absoluten, mithin gegen die Idee einer vollen Inkarnation des
Subjekts in Sein, Geschichte oder Staat, entworfen.
Am Beispiel der in Individuum und Kosmos skizzierten Genealogie
des Subjekts87 gehen folgende Überlegungen also von der These
aus, daß Cassirer der durch die Mythologie des Lebens gegebenen
Möglichkeit einer Liquidierung des Subjekts durch die
Rekonstruktion der theologischen Genese dieses Subjekts
zuvorzukommen sucht, indem er zeigt, wie dieses selbst schon
vor die Möglichkeit eines Verschwindens gestellt ist. Gegen die
Suspension von jeder substantiell individuellen Subjektivität
im Averroismus des Mittelalters behaupten nämlich Thomas von
Aquin und Nikolaus Cusanus die Rettung dieser Substantialität
86 Ernst Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Darmstadt 1994 (1924), S. 7–77.87 Ebd.
34
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
im Namen der Christologie. Mit anderen Worten: Der eigentlichen
Genese des Subjekts geht bei Cassirer gleichsam schon immer
dessen Tod voraus. Mit Nikolaus Cusanus, so kann man also
sagen, beruft sich Cassirer auf die christologische Dimension
dieser „posttraumatischen“ Auferstehung des Subjekts, um
Subjektivtität „therapeutisch“ gleichsam aus ihrer modernen
Krise für eben die Moderne zu retten.
Nach dem Untergang der Kultur 1933 scheint Cassirer
allerdings, wie auch immer ansatzweise, einen Perspektivwechsel
ins Auge zu fassen, indem er nunmehr offenbar die Krise der
Kultur nicht mehr aus der Perspektive der säkularisierten
Christologie, sondern als ein weiteres Kapitel in der genuin
jüdischen Weltgeschichte deutet. In dieser Geschichte hat das
Judentum, angesichts der totalen Katastrophe, seine Mission
einer ethisch fundierten Kritik der politischen Mythologie (und
Idolatrie der Macht) bewahren können.88 Am Horizont zeichnet
sich damit für Cassirer eine Adoption der politisch-
theologischen Grundposition von Hermann Cohen ab, wie dieser
sie in Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums formuliert hat:
Das ethische Subjekt der Kultur erweist sich in seiner letzten,
absoluten Krise, in seiner auf den Ursprung bezogenen
Zukünftigkeit, als prophetisch-messianisches Subjekt.89
88 Vgl. Ernst Cassirer, „Judaism and the Modern Political Myths“ (1944), in:ders., Symbol, Myth and Culture, S. 233–241.89 Prinzipiell begleitet Hermann Cohens Denken zumindest Cassirers Verständnis der jüdischen Kulturwissenschaften, wie es sich etwa an seiner Rede über „Die Idee der Religion bei Lessing und Mendelsohn“ zeigt, die Cassirer in der Festgabe zum zehnjährigen Bestehen der Akademie für die Wissenschaft des Judentums, 1914–1924, Berlin 1924 veröffentlicht, wo Cassirer auf die enge Beziehung zwischen Hermann Cohen und Lessing hinweist: „Es bedarf nach den vorangehenden Betrachtungen keines Hinweises darauf, wie nahe verwandt diese Synthese, dieser Gedanke der Vernunftreligion als Zukunftsprinzip demGeiste ist, in dem Lessings ‚Erziehung des Menschengeschlechts‘ verfaßt ist“, S. 41. Vgl. auch Heinz Paetzold, Ernst Cassirer. Von Marburg nach New York. Eine
35
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
II Der Ursprung der Subjektivität aus der Christologie (Thomas
und Petrarca)
„Der christliche Glaube zum mindesten kann von dem Prinzip des
Subjektivismus, von dem Prinzip der Selbständigkeit der
Einzelseele nicht lassen, ohne damit seinen eigenen religiösen
Grundvoraussetzungen untreu zu werden.“90 So formuliert Cassirer
die Grundvoraussetzung der mittelalterlichen aristotelischen
Philosophie, die sich in Italien mit ihrer dominanten
Interpretation durch Averroes auseinandersetzen muß, insofern
als dieser die Existenz der individuellen Einzelseele leugne.
In Cassirers Historiographie des Subjekts vertritt Thomas von
Aquin gegenüber der radikalen averroistischen Lehre vom
göttlichen Intellekt das Recht der substantiellen Existenz der
Einzelseele.
Thomas von Aquinas hat ihrer [der averroistischen Lehre]Widerlegung eine eigene Schrift „De unitate intellectuscontra Averroistas“ gewidmet. Der Grundgedanke dieser Schriftbesteht darin, daß die Averroistische These das Phänomen desDenkens, das sie zu erklären vorgibt, in Wahrheit wiedervernichtet. Was der Intellekt an sich […] ist, diese Frageläßt sich nicht stellen, ohne daß wir die Funktion desDenkens ausüben. Diese Funktion selbst aber kennen wir
philosophische Biographie, Darmstadt 1995, hier vor allem das Kapitel „Aspekte von Cassirers Auseinandersetzung mit dem ‚Jüdischen‘“ mit der Rekonstruktion von Cassirers Reaktion auf Bruno Bauchs Angriff auf seinen Lehrer Hermann Cohen, in dem er gegen Bauchs Strategie der Abgrenzung eine „kosmopolitische Lesart der deutschen Kultur“ vorschlägt. Im ganzen wird man Paetzolds Feststellung, „daß der Cassirer der Weimarer Republik trotz des latenten und später offenen Antisemitismus keine explizite Hinwendung zu den Quellen des Judentums vollzieht“, nur zustimmen können.90 Vgl. Cassirer, Individuum und Kosmos, S. 134.
36
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
empirisch nicht anders als in individueller Form, in derBeziehung auf ein denkendes Selbst.91
Während bei Averroes „das wahrhafte Subjekt des Denkens nicht
das Individuum, nicht das Selbst […], sondern […] ein allen
Denkenden gemeinsames unpersönliches substantielles Sein“ ist,
„dessen Verbindung mit dem einzelnen Ich eine äußere und
zufällige“92 bleibt, fordere die christliche Selbstgewißheit,
daß die beiden Glieder des religiösen Grundverhältnisses, daß
Gott und Ich in ihrer Selbständigkeit erhalten bleiben.
Verfolgt man nun Cassirers Darstellung, so handelt es sich
bei dem Averroismus gleichsam um eine prämoderne Bedrohung für
das Prinzip individueller und substantieller Subjektivität, die
allerdings erst durch diese Bedrohung zu einer Besinnung auf
die für sie selbst konstitutiven Bedingungen gezwungen wird. Es
ist also die Konfrontation zwischen Averroismus und
Christologie, die in der Philosophie von Thomas ausgetragen und
zu einer Entscheidung für die Konstitution individueller
Subjektivität gebracht wird. Es interessiert uns hier nicht, ob
diese Darstellung der geschichtlichen Wirklichkeit entspricht
oder ob Cassirers Rekonstruktion des Averroismus „richtig“ ist.
Es geht uns hier „nur“ um die immanente Logik seiner in
Ansätzen skizzierten Archäologie des Subjekts. Für diese
Archäologie wird allerdings festzuhalten sein, daß eben die
Christologie zu einem wesentlichen Moment der Konstitution von
Subjektivität wird.
Das gilt im Sinne Cassirers nicht nur für die eigentliche
christliche Scholastik, sondern auch für die Anfänge des
91 Ebd.92 Ebd.
37
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
humanistischen Persönlichkeitsideals in der Renaissance, wie
sie sich in Petrarcas Dichtungsideal artikulieren.
Es sind die Männer des neuen humanistischen Bildungsidealsund des neuen Persönlichkeitsideals der Renaissance, diezuerst zum Kampf gegen den Averroismus aufrufen. Petrarcageht auch auf diesem Weg voran. […] [H]ier ist es einegeniale Persönlichkeit, die sich aus dem Recht ihresursprünglichen Lebensgefühls heraus gegen Folgerungen, diedieses Recht beschränken, […] auflehnt. Der Künstler undVirtuose der Individualität […] setzt sich gegen einePhilosophie zur Wehr, für die alle Individualität etwasschlechthin Zufälliges, etwas rein Akzidentelles bedeutet.93
Neben das theologische tritt das ästhetische Prinzip
individueller Subjektivität. Auch hier gelangt die
Subjektivität über die Bedrohung ihres möglichen Verschwindens
zu einer bestimmten Position ihrer Individualität. Zugleich
betont Cassirers telegraphische Rekonstruktion hier ein
Abhängigkeitsverhältnis zwischen der theologischen
Subjektivität und der ästhetischen Subjektivität. „Das lyrische
Genie der Individualität entzündet sich an dem religiösen Genie
der Individualität.“94 Mit anderen Worten: Die Urstiftung des
Prinzips der Subjektivität ist theologisch-philosophisch: Sie
entspringt der Notwendigkeit, die Christologie mit der
Metaphysik zu versöhnen. Die ästhetische Subjektivität ist
schon eine Transformation dieser christologisch begründeten
Individualität im Sinne ihrer poetisch-kreativen Kompetenz. Ist
das endliche und geschaffene Subjekt an sich selbst ästhetisch
und schöpferisch, so findet es in der Christologie die
phänomenologische Struktur vor, die nicht nur seine
Individualität, sondern die Möglichkeit seiner
93 Ebd., S. 136.94 Ebd.
38
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
„Selbsttranszendenz“ begründet, die Möglichkeit also, sich
selbst je von neuem selbst zu schaffen, also sich zu
überschreiten, zu negieren und neu zu konstituieren.
Über die Genese von Subjektivität wird ihr selbst – Cassirers
Rekonstruktion zufolge – die Möglichkeit der Selbsttranszendenz
als ihre Existenzbedingung durchsichtig, insofern die
Urstiftung der Subjektivität aus der Möglichkeit ihrer totalen
Negation hervorgeht. Damit erhält die vermeintliche
„Substantialität“ der Subjektivität ihre erste einschneidende
Korrektur im Sinne eines „Seins“, das eben darin besteht, sich
selbst zu überschreiten, also zu „werden“. Die Totalität der
Negation von Subjektivität wird so entschärft, daß sie als
Selbstnegation aufgefaßt werden kann, die zu einem
„transsubstantialen“ Verständnis von Subjektivität hinführt.
Ist Subjektivität ohne die Christologie von Tod und
Auferstehung in dieser Rekonstruktion nicht denkbar, so
bedeutete das im Sinne Cassirers immer schon, daß eine totale
Negation von Subjektivität gar nicht möglich ist. Eine jede
Totalnegation der individuellen Subjektivität – ob sie nun von
Averroes, Meister Eckhardt oder, wie später, von Ludwig Klages
ausgeht – ist Negation durch das denkende Subjekt selbst, das
damit nur seine Subjektivität, spezifischer: das Vermögen von
Subjektivität, sich in Frage zu stellen, unter Beweis stellt.
III Die Fortführung von Christologie und Subjektivität bei
Nikolaus Cusanus
39
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Cassirer versucht, diese skizzenhaft entworfenen genetischen
Zusammenhänge nun aus dem Denken von Nikolaus Cusanus
abzuleiten bzw. weiterzuverfolgen und zu vertiefen. Cusanus
fungiert in Cassirers Archäologie als der Vordenker der
Moderne, „der das Ganze ihrer Grundprobleme von einem
methodischen Prinzip aus erfaßt“95. Eben damit werde seine
Philosophie zunächst der Hegelschen Forderung gerecht, daß sie
nämlich „einen einfachen Brennpunkt darstellt, in dem die
verschiedenartigsten Strahlen sich sammeln“96. Es wird zu
zeigen sein, daß die Mystik des Cusanus in Cassirers kleiner
Phänomenologie des Subjekts nicht nur eine „Hegelsche
Forderung“ nach Vereinigung der Tendenzen erfüllt, sondern
zugleich zu einem Gegenmodell der Hegelschen Subjekttheorie
bzw. zu einem Modell für deren Erweiterung wird.
Die Christologie des Cusanus ist das Paradigma eines
Einheitsdenkens auf der Grundlage der Subjektivität, ohne daß
es zu der Konstruktion eines absoluten Wissens und damit zu
einer Selbstvollendung dieses Subjekts im Begriff oder zu einer
Selbstauflösung des Subjekts in der mystischen Selbsterfahrung
jenseits aller Begrifflichkeit wie bei Meister Eckhardt kommen
könnte. Cusanus’ Lehre vom christologischen Subjekt steht für
die bewußte Orientierung zwischen diesen beiden Möglichkeiten
des absoluten Wissens und der mystischen Selbstaufhebung.
95 Ebd., S. 7. Auf den Zusammenhang zwischen Cassirer und Blumenberg ist hingewiesen worden. Vgl. etwa Franz Josef Wetz, Hans Blumenberg zur Einführung, Hamburg 2004, S. 96 ff. Bei der zentralen Rolle, die Cassirer Cusanus bei der Konstitution der modernen Subjektivität zuweist, bietet sich ein Vergleich mit Hans Blumenbergs Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1996 unmittelbar an, zumal Blumenberg mit Cusanus gerade den Prozeß konstruiert, der zu einer unbedingten Loslösung der Moderne von jeder Theologie führen soll.96 Cassirer, Individuum und Kosmos, S. 7.
40
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Dabei weist Cassirer auf die Bedeutung der Mystik Eckhardts
für Cusanus’ Lehre von der Selbsttranszendenz des
christologischen Subjekts hin.97 Wenn Meister Eckhardt dabei
allerdings die mystische Selbsterfahrung der averroistische
Lehre von der Akzidentalität der Einzelseele wieder
aktualisiert, so wird Cusanus diese mystische Selbsterfahrung
im Sinne der Selbsttranszendenz und Selbstüberschreitung des
christologischen Subjekts übernehmen, aber zugleich rational
transformieren. Wo Eckhardt von einer mystischen
Selbsteinbildung in Gott spricht, faßt Cusanus eine durch den
Begriff zu erarbeitende Selbstüberschreitung ins Auge, die nur
die Kluft zwischen dem Urprinzip Gott und dem Prinzip der
Sohnschaft Gottes in Christus von neuem aktualisiert.
Man könnte also sagen, daß mit Eckhardts Mystik die
Selbsttranszendenz des Subjekts erst eigentlich fundiert werden
kann, zugleich aber die negative Möglichkeit einer Liquidation
des Subjekts Einzug in die Tradition des westlichen
Subjektdenkens hält. Bei Eckhardt heißt es:
Swenne ich predige, so pflege ich ze sprechene vonabgeschiedenheit und das der mensch ledig werde sin selbesund aller dinge, ze dem anderen male doz man wider ingebildetwerde in daz einvaltige guot daz got ist.98
Nicht also in einer solchen mystischen Ekstase der
Selbsteinbildung im Absoluten dokumentiert sich das, was
Cusanus filiatio nennt, die Gottessohnschaft, sondern in der visio
intellectualis besteht das Wesen der Selbsterhebung des Geistes,
die ihrerseits sowohl „eine in ihm selbst liegende,
97 Ebd., S. 8.98 Vgl. Reiner Manstetten, Esse est Deus. Meister Eckharts christologische Versöhnung von Philosophie und Religion und ihre Ursprünge in der Tradition des Abendlandes, Freiburg/München 1993, S. 87.
41
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
ursprüngliche Kluft“ zwischen Gott und Mensch als auch „deren
Entfaltung in einer kontinuierlichen Denkarbeit voraus[-
setzt]“99. Cusanus ersetzt damit die mystische Vereinigung
nicht durch eine rationale Theologie, die das Absolute im
Begriff erschließt, sondern er geht davon aus, daß das Absolute
als Ziel aller Selbstüberschreitung der intuitiven wie
diskursiven Erfahrung unerreichbar bleibt, das heißt in der
unendlichen Annäherung von neuem sich entzieht.
Das höchste Wissen ist nicht in dem Sinne als unerreichbaranzusehen, als wäre uns jeder Zugang zu ihm versperrt, nochdürfen wir es jemals erreicht und wirklich erfaßt wähnen,vielmehr ist es derart zu denken, daß wir uns ihm beständigannähern können, während es dennoch in seiner absolutenWesenheit dauernd unzugänglich bleibt.100
Die rationale Mystik von Cusanus definiert in der visio
intellectualis eine Schau des Absoluten, in der alle
Gegensätzlichkeiten des endlichen Wissens aufgehoben sind,
weil, wie Cassirer schreibt: „Wir in ihr über alle empirischen
Unterschiede des Seins und über alle seine bloß begrifflichen
Trennungen hinweg in seinen einfachen Ursprung […], der vor
aller Trennung und allem Gegensatz liegt, uns versetzt
sehen.“101 In dieser visio intellectualis erfüllt sich die filiatio
(Gottessohnschaft), indem sie die mystische Intention auf die
absolute Erfahrung mit dem scholastischen Rationalismus
vermittelt, und zwar so, daß über das Wesen des Begriffs die
wesentliche Differenz zwischen endlichem Wissen und unendlichem
Nichtwissen gegeben ist. Indem das Absolute jede begriffliche
Erkenntnis überschreitet, setzt die begriffliche Erkenntnis ein
99 Cassirer, Individuum und Kosmos, S. 15.100 Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neuern Zeit,Bd. I, Darmstadt 1994 (1906), S. 29 f. 101 Cassirer, Individuum und Kosmos, S. 14.
42
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Nichtwissen voraus, das allerdings aus der Perspektive dieser
begrifflichen Erkenntnis als Einheit aller begrifflich
notwendig mitgesetzten Gegensätze gedacht werden muß.
Gott ist nicht erkennbar, sondern er ist und bleibt die reine
Andersheit, der andere, das Gute „jenseits des Seins“. Zugleich
aber „weiß“ der christologische amor Dei intellectualis Gott als den
Ort, an dem alle Andersheit und Gegensätzlichkeit in einer
coincidentia oppositorum aufgehoben sind. Es ist somit die docta
ignorantia, das nichtwissende Wissen bzw. das wissende
Nichtwissen, in dem sich das Individuum in seiner vollen
Humanität für Cassirer darstellt, nämlich als nie zu
vollendende Selbstüberschreitung im Begriff, die in solcher
Unvollkommenheit der anderen Selbstüberschreitungen bedarf. In
einer solchen doppelten Bezogenheit auf anderes, die absolute
Alterität, in der alle Andersheit verschwindet und die
Alterität des anderen Menschen notwendig wird, entdeckt sich
das Subjekt – so Cassirer – als Geist und Freiheit.
Das absolut andere ermöglicht die Toleranz gegenüber dem
anderen Individuum.
Dieser Andersheit, die in der Art und im Wesen dermenschlichen Erkenntnis selbst gegründet ist, kann sich keineeinzelne Glaubensform entziehen. Jetzt steht also nicht mehreiner allgemeingültigen und einer allgemein verbindlichenOrthodoxie eine Fülle blosser Heterodoxien gegenüber, sonderndie Andersheit, das heteron ist als das Fundament der doxaselbst erkannt. Die Wahrheit, die in ihrem Ansich ungreifbarund unfaßbar bleibt, kann nur in ihrer Andersheit gewußtwerden. […] Von dieser Grundansicht aus ergibt sich fürCusanus eine wahrhaftig großartige Toleranz, die alles andereals Indifferenz ist. Denn die Mehrheit der Glaubensformenwird jetzt nicht als ein bloß empirisches Nebeneinander
43
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
geduldet, sondern sie wird spekulativ gefordert underkenntnistheoretisch begründet.102
Noch in ihrer radikalsten Gegensätzlichkeit verweisen so die
verschiedenen Formen von Religion auf den einen Ursprung in
Gott, ohne daß ein besonderes Wissen den Schritt zur Aufhebung
dieser Gegensätze in einem entfalteten Begriff des Absoluten
vornehmen könnte. „Una et religio et cultus omnium intellectu
vigentium quae in omni diversitate rituum praesupponitur“,
erklärt Cusanus in seinem Traktat De pace seu concordantia fidei,
nicht um die Perspektive auf die Auflösung der Differenz der
Bräuche, Symbole und Zeichen der verschiedenen Liturgien,
sondern um die Möglichkeit einer produktiven Kommunikation
zwischen den divergierenden Hypothesen der Wahrheit zu
eröffnen, die die Andersheit als Andersheit respektiert, weil
sie selbst sich als Perspektive weiß.
Es ist dieses nichtwissende Wissen, das Cassirer in seiner
historischen Rekonstruktion gegen das absolute Wissen ausspielt102 Ebd., S. 30. Michael Bongardt, Die Fraglichkeit der Offenbarung. Ernst Cassirers Philosophie als Orientierung im Dialog der Religionen, Regensburg 2000, versucht Cassirers Denken für eben den Dialog der Religionen zu rekonstruieren, der in vieler Hinsicht bei dem für Cassirer sicher einflußreichen Cusanus vorgedacht ist, ohne daß Cassirers Rückbezug auf Cusanus hier eine Rolle spielen würde. Möglicherweise liegt die Antwort auf die Frage von Birgit Recki, „Kultur ohne Moral? Warum Ernst Cassirer trotz der Einsicht in den Primat der praktischen Vernunft keine Ethik schreiben konnte“ (in: Frede/Schmücker, Ernst Cassirers Werk und Wirkung. S. 58–78), in der Form der Konstitution von Subjektivität, die bei Cassirer von vornherein gleichsam ethisch angelegt ist – nämlich auf die Integration und Freiheit zugleich von Individualität und Alterität. Recki entwickelt dabei die möglichen Grundlagen einer Ethik Cassirers aus seinem Konzept des Symbolbegriffs und kommt der Idee einer ethischen Subjektivität durchaus sehr nahe, auch wenn sie ihr nicht genügt: „Was eine Ethik auf der Grundlage von Cassirers Kulturphilosophie an der konsequenten Entwicklung hindert, ist nicht der mangelnde Sinn für das Praktische oder ein Mangel an den praktischen Begriffen; es ist im Gegenteil die hohe praktische Appetenz: der Ausgang von der Praktizität alles Menschlichen, mit dem im Grunde alle prägnanten Äußerungen schon als Form der Selbstbestimmung begriffen sind, so daß die spezifische Differenz der moralischen Fragestellung freilich – im Ansatz steckenbleibt.“ (Ebd., S. 78)
44
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
und das die epistemologische Bedingung der Möglichkeit für eine
Ethik des anderen wird. Cassirers Archäologie des Subjekts
grenzt sich damit in dem entscheidenden Moment von Hegel ab, wo
sie zugleich am nächsten zu ihm steht. Trotz seiner Ausrichtung
auf das Absolute bleibt dieses dem Subjekt unerreichbar als das
„Gute jenseits des Seins“103. Der andere wird hier nicht einer
vermeintlichen Identität bzw. Totalität geopfert, sondern
bleibt in seiner Andersheit und Gegensätzlichkeit notwendige
Bezugsperson, die der jeweiligen individuellen Subjektivität
bedarf.
Wenn die menschliche Erkenntnis zum Nichtwissen des Absolutengelangt, so gewinnt sie hierin das Wissen eben diesesNichtwissens selbst. Sie erfaßt nicht die absolute Einheit inihrem reinen „Was“, aber sie erfaßt sich selbst in ihrerUnterscheidung von ihr, in ihrer durchgängigen „Andersheit“.Und eben diese Andersheit schließt nun eine Beziehung zudiesem negativen Pol der Erkenntnis in sich. Das Wissenkönnte sich ohne eine derartige Beziehung nicht einmal inseiner eigenen Nichtigkeit erkennen: es könnte – mit Hegel zusprechen, dessen Grundgedanken Cusanus hier mit merkwürdigerSchärfe antizipiert – die Schranke nicht setzen, wenn es
103 Vgl. Cassirer, Individuum und Kosmos, S. 21, wo Cassirer die Konstitution der Subjektivität bei Cusanus in ihrer ethischen Dimension entfaltet. „Cusanus macht mit dem Platonischen Wort, daß das Gute ‚jenseits des Seins‘liege, wieder völligen Ernst.“ Bedenkt man den Stellenwert, den diese Formel bei demselben Emmanuel Levinas einnehmen wird, der in Davos 1929 gerade Cassirer „verballhornt“, so ergibt sich von daher vielleicht eine ganz neue Perspektive auf Davos, mindestens auf Levinas. Jedenfalls ergebensich erstaunliche Parallelen zwischen Cassirers an Cusanus orientierter Geneaologie der Subjektivität aus dem anderen und dem Guten jenseits des Seins und der Ethik des anderen von Levinas, die „das Gute, in bezug auf welches das Sein selbst erscheint“, ins Zentrum stellt (vgl. das Vorwort von Totalität und Unendlichkeit, München 1993, S. 12). Ich habe weder bei Karlfried Gründer, „Cassirer und Heidegger in Davos 29“, in: Hans-Jürg Braun (Hrsg.), Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankfurt a. M.1988, noch bei Dominic Kaegi und Enno Rudolph, Cassirer – Heidegger. 70 Jahre Davoser Disputation, Hamburg 2002, einen entsprechenden Hinweis auf den Bezug zwischen Cassirers Ethik des anderen auf der Grundlage des Cusanus und der Ethik des anderen bei Levinas finden können. Handelt es sich bei Levinas umeine bewußte Selbstkorrektur oder um eine unbewußte Wiederaufnahme von Denkmotiven des einst verspotteten Humanisten?
45
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
nicht über sie im gewissen Sinne schon hinaus wäre. DasBewußtsein des Unterschieds schließt die Vermittlung desUnterschieds in sich. Aber diese Vermittlung kann wiederumnicht bedeuten, daß das Unendliche, das absolute Sein mit demendlichen empirischen Selbstbewußtsein irgendein Verhältniseingeht. Hier klafft nach wie vor ein Abgrund, der sich nichtüberspringen läßt. An Stelle des Menschen des empirischenSelbst muß vielmehr ein allgemeines Selbst – an Stelle desMenschen als einer individuellen Sonderexistenz muß dergeistige Gehalt der Menschheit treten. Und dieser geistiguniverselle Gehalt des Menschentums ist es, den Cusanus inChristus beschlossen sieht. Er allein ist daher die echtenatura media, die Endliches und Unendliches in Eins faßt.104
Telegraphisch faßt Cassirer hier Identität und Differenz
zwischen der Cusanischen und Hegelianischen Christologie
zusammen, wenn er diese Christologie als die Menschheit
„säkularisiert“, in der Unendliches und Endliches vermittelt
werden. Für beide Theorien der Subjektivität fungiert die
Christologie 1) als Modell für Subjektivität überhaupt, die 2)
über sich hinaus auf das Absolute bezogen ist, damit also 3)
ein dynamisches Sein darstellt, das, indem es sich
transzendiert, sich selbst negieren und positionieren kann.
Wenn dabei 4) für beide – Cusanus und Hegel – die Christologie
gerade auch in ihrer Vermittlungsfunktion zwischen Endlichkeit
und Unendlichkeit eine zentrale Rolle spielt und damit 5) zur
Metonymie der Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem wird,
so besteht Cassirer auch hier auf der radikalen Differenz
zwischen dem absoluten Bewußtsein und dem wissenden
Nichtwissen, von der her das Verhältnis von Allgemeinem und 104 Cassirer, Individuum und Kosmos, S. 41. Vgl. auch Enno Rudolph, „Eine Renaissance des Individuums. Cassirers Ausblick auf eine Kultur individueller Humanität“, in: ders., Odyssee des Individuums. Zur Geschichte eines vergessenen Problems, Stuttgart 1991. Rudolph geht es freilich vor allem um dieepistemologische Konstitution individueller Subjektivität, weniger um die Geschichte oder Ethik der Subjektivität, obwohl im Ganzen die Begründung der Individualität im eminenten Sinne ethisch ist.
46
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Besonderem nie durch ein besonderes Wissen erfaßt werden kann.
Wo also bei Hegel die Geschichte als Selbstwerdung des
absoluten Bewußtseins finalisiert wird, da können bei Cusanus
die verschiedenen Formen des Wissens, des Glaubens und des
Lebens selbst nur in ein konstellatives Ensemble treten, dessen
Struktur sich je nach der Perspektive modifizieren muß. Hier
gilt allerdings, daß alle Konjekturen bzw. Perspektiven in
dieser Struktur repräsentiert sein müssen. Die Vermittlung des
Endlichen und Unendlichen in der Idee der Menschheit
artikuliert sich nicht in einem absoluten Bewußtsein, sondern
in der Einsicht in die unendliche Variabilität und in die
(oppositionelle) Kompossibilität der Wissensformen, die die
Grundlage für die ethische Forderung nach der absoluten Würde
des Individuellen darstellt. Totalität und Unendlichkeit
verlangen keine absolute Trennung zwischen Struktur und
Individuum, sondern sie werden durch einen unendlichen
Perspektivismus integrierbar. Cassirer schreibt:
Die Einheit des menschlichen Geistes ist die Wesenheit seinerKonjekturen: mentis humanae unitas est conjecturarum suarumentitas. So wird alles einzelne Wissen bedingt und getragenvon der Einheit des Geistes und seiner Grundsätze und erhälterst in ihr festen Bestand. Die conjectura bedeutet nichtlediglich die Aufhebung des absoluten Wissens, sondern ebendarin den Gehalt und die relative Wahrheit der veränderlichenErscheinungswelt.105
Diese Idee einer durch die Christologie vorgebildeten Einheit
von Totalität und Unendlichkeit findet ihren prägnanten
Ausdruck in Cusanus’ Schrift De visione Dei, mit der Cassirer den
konstellativen Perspektivismus dieser Subjektlehre
zusammenfaßt. Hier erläutert Cusanus bekanntlich seine Lehre am
105 Vgl. Cassirer, Das Erkenntnisproblem, Bd. I, S. 29.47
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Beispiel des Selbstbildnisses von Roger van der Weyden, „das
die Eigenschaft besaß, daß es jedem Beschauer, wo immer er sich
befinden mochte, stets den Blick direkt zuzukehren schien“106.
Cassirer kommentiert das Gleichnis, indem er den Begriff der
visio intellectualis jetzt zusammenfassend definiert:
Jedes Besondere und Individuelle hat eine unmittelbareBeziehung auf Gott – steht ihm gleichsam Auge in Augegegenüber. Der wahrhafte Sinn des Göttlichen aber erschließtsich erst dann, wenn unser Geist nicht mehr bei einer dieserBeziehungen, noch auch ihrer Gesamtheit verweilt, sondernwenn er sie in die Einheit einer Schau, einer visiointellectualis zusammennimmt. Wir begreifen alsdann, daß esfür uns widersinnig ist, das Absolute an sich, ohne einesolche Bestimmung durch einen individuellen Blickpunkt, auchnur denken zu wollen – daß aber andererseits keiner dieserBlickpunkte vor dem andern den Vorrang hat, weil es eben erstihre konkrete Totalität ist, die uns ein wahrhaftes Bild desGanzen zu vermitteln vermag. In dieser Totalität ist jedeEinzelansicht befaßt, ist zugleich in ihrer Zufälligkeit wiein ihrer Notwendigkeit erkannt.107
Eben dieser Perspektivismus wird schließlich zum Modell von
dem, was Cassirer seinen eigenen „kritischen Idealismus“ nennt,
der zwar auf die Einheit der Symbol- und Wissensformen hin
orientiert ist, diese aber nicht in einem absoluten Bewußtsein
integriert.
Critical idealism puts itself a different and more modesttask then the absolute idealism of Hegel. It does not pretendto be able to understand the contents and the scope ofculture so as to give a logical deduction of all its singlesteps and a metaphysical description of the universal planaccording to which they evolve and form the absolute natureand substance of mind. But in spite of this critical idealismdoes not think that the single stages and processes by whichthe universe of culture is built up lack true and real unity,
106 Cassirer, Individuum und Kosmos, S. 32.107 Ebd., S. 33.
48
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
that they are nothing but disiecta membra, scatteredfragments.108
Das Entscheidende ist hier, daß der Philosoph, was die mögliche
Einheit der symbolischen Formen betrifft, nicht nur auf die
Idee einer offenen Einheit der individuellen Blickpunkte des
Wissens bzw. der Symbolordnungen rekurriert, sondern vor allem
die Geschichte der Subjektivität selbst aus der Perspektive
ihrer möglichen Einheit zu konzipieren versucht, ohne diese
Subjektivität als eindeutig logischen Prozeß zu konstruieren.
Was also für die synchron-diachrone Struktur der Symbolordnung
gilt, das gilt nicht minder für die Möglichkeit einer
Konstruktion der Geschichte der Subjektivität, die Cassirer
immerhin, im Sinne Hegels, als Prozeß der Selbstbewußtwerdung
beschreibt. Im Vorwort zu seinem Buch Philosophie der Aufklärung
beschreibt er – wieder in klarer Anlehnung und Abgrenzung an
bzw. von Hegel – das eigene methodische Vorgehen als einen nach
hinten und nach vorne offenen Prozess der Selbstbewußtwerdung:
Denn die Bewegung, die hier geschildert werden sollte, bleibtnicht in sich selbst beschlossen, sondern sie weist nachvorwärts wie nach rückwärts, über sich hinaus. Sie bildet nur[…] eine Einzelphase in jenem geistigen Gesamtgeschehen,kraft dessen der moderne philosophische Gedanke die Gewißheitvon sich selbst, sein spezifisches Selbstgefühl und seinspezifisches Selbstbewußtsein errungen hat. Ich habe infrüheren Schriften, insbesondere in meiner Schrift„Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance“und in der Schrift über „Die Platonische Renaissance inEngland“ andere Phasen dieser großen Gesamtbewegungdarzustellen und in ihrer Bedeutung zu würdigen gesucht.109
Was einer solchen Betrachtung zunächst in einzelnen Phasen
entgegentritt und potentiell nur „als bloße Bausteine [und] als
108 Cassierer, Symbol, Myth and Culture, S. 90.109 Cassirer, Philosophie der Aufklärung, S. VII.
49
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Bruchstücke“ sich darstellt, „deren fragmentarischen Charakter
ich nicht verkenne“, das möchte Cassirer immerhin in einer
„Phänomenologie des philosophischen Geistes“ perspektivisch in
seiner Einheit zu konstruieren versuchen.
Eine solche Betrachtungsweise will in der Entwicklung derphilosophischen Doktrinen und Systeme zugleich einePhänomenologie des philosophischen Geistes zu geben suchen;sie will die Klärung und Vertiefung verfolgen, die dieserGeist in seiner Arbeit an den rein objektiven Problemen, vonsich selbst, von seinem Wesen und von seiner Bestimmung, vonseinem Grundcharakter und seiner Mission gewinnt.110
Was also für die einzelnen symbolischen Formen gilt, nämlich
daß diese Formen synchron-diachron in ihrer Einheit zu
konstruieren sind, trifft erst recht für die Möglichkeit zu,
die Geschichte der verschiedenen Phasen der Konstitution von
Subjektivität zu konzipieren. Aber eben dadurch, daß Cassirer
diese Geschichte selbst als Prozeß der Selbstbewußtwerdung
denkt, nähert er das eigene Projekt noch einmal ganz nah an
Hegel heran, was durchaus auch der Bezeichnung dieses Projektes
als „Phänomenologie des philosophischen Geistes“ entspricht.
IV Subjektivität angesichts ihrer möglichen vitalistischen
Liquidierung
Im Zusammenhang mit den Überlegungen zur Metaphysik der
symbolischen Formen versucht nun Cassirer den Begriff der
Subjektivität, der den möglichen Einheits- und Bezugspunkt für
die Pluriversalität der symbolischen Formen darstellt,
hinsichtlich ihrer Funktionsweise im Rahmen der
110 Ebd., S. VIII.50
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
zeitgenössischen lebensphilosophischen Diskussion zu klären. Er
will die Subjektivität vor einer drohenden Generalkapitulation
retten, die den Geist der Kultur in seinen Grundlagen
erschüttert. Auch hier rekurriert Cassirer vor allem auf
Cusanus’ Lehre von der Subjektivität, um sich nunmehr von der
absolut negativen Option einer Liquidierung des Subjekts
abzugrenzen.
Die Philosophie der symbolischen Formen bedarf nach der
Ausführung und Ausarbeitung ihrer verschiedenen symbolischen
Ordnungen und Diskursfelder eines Einheitsprinzips, das
Cassirer in der schöpferischen Subjektivität zu begründen
sucht.
Jede dieser [symbolischen] Verhaltensweisen mußte nach ihremeigenen ursprünglichen Prinzip gedeutet, mußte nach den ihreigentümlichen Kategorien befragt werden. Jetzt aber, nachdemdiese Sonderung der einzelnen Wegrichtungen erfasst ist,nachdem die phänomenologische Analyse die Urform dessprachlichen, des mythischen, des wissenschaftlichen Denkensherauszustellen gesucht hat, scheint um so dringlicher undgebieterischer die Synthese wieder ihr Recht zu fordern.111
Was sich in den einzelnen Diskursfeldern als fragmentierte
Formen des Wissens darstellt, was in ihnen
„auseinanderstrebt“, soll perspektivisch unter dem Blickpunkt
der Subjektivität betrachtet werden. Cassirer erkennt in der
Subjektivität den Grund aller Wissensformen, der als das „Eine
in sich Unterschiedene“ bzw. mit Cusanus als die coincidentia
oppositorum fungiert, ohne daß dieser Grund sich selbst in voller
Transparenz durchsichtig werden könnte. Es ist diese Differenz
zwischen dem Wissen und dem Grund des Wissens, dem Leben bzw.
der Subjektivität, die Cassirer in der sogenannten
111 Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 5.51
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Lebensphilosophie von Georg Simmel und Ludwig Klages
wiedererkennnt. Am Beispiel dieser beiden Artikulationen des
Vitalismus kann er nun seine eigene Spezifikation des Problems
der Subjektivität im Sinne der zentralen Kategorien von Leben
und Form reformulieren. Das Symbol ist Formprinzip neben
anderen sozialen, institutionellen oder politischen Formen, in
denen „Leben“ sich produktiv entäußert und selbst bestimmt.
Wenn Cassirer das lebensphilosophische Doppelprinzip von
Leben und Form aufnimmt, so geht es ihm sowohl um die
Formulierung des eigenen systematischen Ansatzes als auch um
die Bewältigung der sogenannten Kulturkrise und Tragödie der
Kultur, die lebensphilosophisch als tiefe Entfremdung des
(individuellen) Lebens von den symbolischen, sozialen und
politischen Formen vorgestellt wird. So formuliert Georg Simmel
das, was er die Tragödie der Kultur nennt, in der
lebensphilosophischen Dualität von Leben und Form
folgendermaßen:
Offenbar nämlich sprechen wir von Kultur, wenn dieschöpferische Bewegung des Lebens gewisse Gebildehervorgebracht hat, an denen sie ihre Äußerung, die Formenihrer Verwirklichung findet, und die ihrerseits die Flutungendes nachkommenden Lebens in sich aufnehmen und ihnen Inhaltund Form, Spielraum und Ordnung geben: so die sozialenVerfassungen und die Kunstwerke, die Religionen und diewissenschaftlichen Erkenntnisse, die Techniken und diebürgerlichen Gesetze und unzähliges andere. Aber dieseErzeugnisse von Lebensprozessen haben das Eigentümliche, daßsie im Augenblick ihres Entstehens schon einen festen Bestandhaben, der mit dem ruhelosen Rhythmus des Lebens selbst,seinem Auf- und Niedergang, seiner steten Erneuerung, seinenunaufhörlichen Spaltungen und Wiedervereinigungen nichts mehrzu tun hat.112
112 Georg Simmel, „Der Konflikt der modernen Kultur“, in: ders., Das individuelleGesetz, S. 148.
52
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Cassirer geht es im Hinblick auf die Lebensphilosophie –
ähnlich wie in der Abgrenzung gegenüber Hegel – um eine
dialektische Konzeption von Subjektivität, die die Verdopplung
des Lebens als Leben und Form festhält, ohne eine der beiden
Prinzipien, in diesem Fall das Leben, metaphysisch zu
hypostasieren. „Denn so wenig das Leben je aus seiner Gestalt
heraustreten kann, weil eben dieses Heraustreten selbst noch
sein Werk und seine Tat bleibt, so wenig kann es jemals in
einer seiner Gestalten […] als abschließbar gedachte Gesamtheit
derselben aufgehen.“113 Mit anderen Worten: Weder lassen sich
Leben und Form in selbständige Substanzen auflösen, noch kann
die dialektische Spannung oder Polarität in eine dieser
Substanzen, den Lebensgrund oder eine reine Form, ein reines
Wissen aufgelöst werden.
Schon in Substanzbegriff und Funktionsbegriff hatte Cassirer für die
naturwissenschaftliche Begriffsbildung Subjekt und Objekt im
Sinne ihrer unhintergehbaren Verhältnismäßigkeit und
Funktionalität definiert.
Das Problem der Erkenntnis hat uns statt zu einemmetaphysischen Dualismus der subjektiven und der objektivenWelt, zu einem Inbegriff von Beziehungen zurückgeführt, derdie Voraussetzung für die gedankliche Entgegensetzung desSubjekts und Objekts selbst enthält. Vor diesem Inbegrifferweist sich die herkömmliche Trennung als undurchführbar: erist objektiv, sofern auf ihm alle Constanz derErfahrungserkenntnis und somit alle Möglichkeit desgegenständlichen Urteils beruht, während er andererseits nurim Urteil selbst und somit in der Tätigkeit des Denkens zuerfassen ist.114
113 Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 8.114 Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragender Erkenntniskritik, Darmstadt 1994 (1910), S. 433.
53
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Diese funktionale Beziehung wird dann in „Philosophie der
symbolischen Formen“ im Symbolbegriff als Ausdruck einer
Subjekt-Objekt-Beziehung so gedacht, daß er über die
Naturwissenschaft hinaus zum Zentralbegriff für die
Kulturwissenschaften im Ganzen eingesetzt werden kann. Leben
und Form werden nun zu den letzten Kategorien, von denen her
das ursprüngliche Subjekt-Objekt-Problem zugleich erweitert wie
auch hinsichtlich seiner modellhaften Lösung konstruiert werden
soll. „Das geistige Leben kann sich gar nicht anders als in
irgenwelchen Formen dartun, aber es kann andererseits niemals
seine eigene Totalität in die Form hineinlegen und in die
Grenze der Form bannen.“115
Cassirer konstruiert damit Leben und Form als dynamischen
Lebensprozeß der Subjektivität, die sich in den Formen von
neuem selbst repräsentiert und ihrer selbst bewußt wird. Mit
Georg Simmel, dessen späte Abhandlung zur Metaphysik des Lebens
Cassirer zum Vorbild der eigenen Definition der
Lebensproblematik erhebt, definiert der Philosoph der
symbolischen Formen diesen Prozeß als „immanente Transzendenz“,
als ein „Über-sich-Hinausgreifen“ des Lebens, das seine eigenen
Formationen und Selbstdarstellungen freisetzt und im Sinne der
grundsätzlich unendlichen Offenheit negiert, um sich in einer
neuen Subjekt-Objekt-Konstellation zu aktualisieren. „Das Wesen
des konkret erfüllten Lebens ist nicht etwas, was zu seinem
Sein hinzukäme, sondern sein Sein ausmachend: daß ihm die
Transzendenz immanent ist.“116
115 Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 9. Vgl. auch die exzellenteEinführung zur Philosophie der symbolischen Formen von Oskar Schwemmer, „Die Vielfalt der symbolischen Welten und die Einheit des Geistes“, in: Frede/Schmücker, Ernst Cassirers Werk und Wirkung, S. 1–57.116 Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 9.
54
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
In solcher Transzendenz des Lebens wird Subjektivität, die
die Dialektik des aboluten Subjekts bei Hegel ganz aus der
Perspektive der individuellen Existenz reproduziert – in
Anlehung an Cusanus –, allerdings zu einem „wissenden
Nichtwissen“. So definiert Simmel selbst die Lebensbewegung
derart, „daß wir unser Wissen und Nichtwissen selbst wissen und
so fort in das potentiell Endlose, das ist die eigentliche
Unendlichkeit der Lebensbewegung auf der Stufe des Geistes“117.
Damit ist dieses wissende Nichtwissen, der stets über sich
hinausgreifenden Lebensbewegung, an einem Ideal orientiert, das
nie in einer Substanz sich vollenden läßt, sondern wie bei
Cusanus sich als perspektivisch offenes Ensemble aller
Perspektiven des Wissens stets von neuem aktualisiert.
Diese lebensformale coincidentia oppositorum ist dabei in
Cassirers Definition säkularisiertes Analogon zur Cusanischen
Gottheit:
Der moderne Begriff des Lebens muß hier, wie unter dem Zwangeder metaphysischen Denkart selbst, den gleichen Weg gehen,den in der älteren Metaphysik der Gottesbegriff gegangen ist.Im Gottesbegriff entwickelt sich aus dem Gedanken derabsoluten Totalität heraus mit systematischer Notwendigkeitund Folgerichtigkeit der Gedanke der coincidentiaoppositorum.118
Wie also Gott bei Cusanus dasjenige Subjekt ist, das alle
Wirklichkeit in sich vereinigen soll und damit zum „Zentrum und
Angelpunkt all der Prädikate wird, die in der empirischen
Sphäre und unter den Gesetzen der logischen Reflexion einander
ausschließen“, so wird durch einen „völlig analogen Doppelakt
117 Ebd., S. 11.118 Ebd., S. 11 f.
55
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
des Denkens […] auch bei Simmel der Grundbegriff seiner
Metaphysik: der Begriff der Absolutheit des Lebens erreicht.“119
„Was reißt uns hin? Das Leben! Und was wird hingerissen? Das
Ich!“ schreibt Klages in Vom kosmogonischen Eros.120
Als Träger des Lebens sind wir gleich allen LebenwesenIndividuen, als Träger des Geistes sind wir überdies nochIche oder Selbste. Person, von personare – hindurchtönenkommend und ursprünglich die Maske bezeichnend, durch welcheein Dämon redet, ist längst zum geistvergewaltigenden Lebengeworden, zum Leben im Dienste der Rolle, die ihm befohlenwird von der Maske des Geistes.121
Die Lebensphilosophie von Ludwig Klages radikalisiert die bei
Georg Simmel formulierte Krise und Tragödie der modernen
Kultur, indem sie jede dialektische Vermittlung von Leben und
Form ausschließt und sich von der Destruktion der Formen,
Institutionen und Ordnungen eine Befreiung des unverstellten
und unentfremdeten Lebens verspricht. Da Klages Vernunft und
Verstand – Geist im weitesten Sinne – nur als
Herrschaftswissen, als instrumentelle Vernunft begreift, deutet
er Kultur als einen Mechanismus, der, indem er Natur, Leben und
Eros unterwirft, sich selbst als Geist nur radikal von sich
selbst entfremden kann. „Seine gesamte theoretische Lehre vom
Bewußtsein“ kommentiert Cassirer die Thesen von Klages,
drängt sich in den Nachweis seiner lebenszerstörendenBedeutung zusammen. Nur in der Ekstase, in der Abkehr vomBewußtsein wird ein Auslöschen derselben möglich, vermag nachihm das Leben noch einen Rückgang zu sich selbst zu gewinnen,aber in ihr ist es nicht etwa der Geist des Menschen, der
119 Ebd., S. 12.120 Klages, Vom kosmogonischen Eros, S. 67.121 Ebd., S. 64.
56
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
sich befreit, sondern es ist seine Seele und sie befreit sichnicht vom Leib, sondern vom Geist.122
Wenn sich Klages von der Entgeistung und Entselbstung eine
Befreiung des Lebens, eine Rückkehr zu einem rein ekstatischen
und intuitiven Ursprung des Lebens erhofft, so artikuliert
seine Lebensphilosophie nicht nur die radikale Krise von Kultur
und Subjektivität – ihre größte Gefahr –, sondern sie kann im
Sinne von Cassirers Verständnis positiv zu einer letzten
Klärung des Wesens von Subjektivität und von da aus zu einer
Rettung von Kultur und Subjektivität führen. „Gegen sich selbst
fragen können, ist gerade eine Urfunktion, ja vielleicht die
tiefste Funktion des Geistes selber.“123 Mit anderen Worten, der
Akt, der das vermeintlich ursprünglich-intuitive Leben von den
Formen des Geistes und damit vom Geist im Ganzen befreien soll,
kann nur als Akt des Geistes selbst begriffen werden, als
dessen Selbstnegation.
Denn jede, auch rein negative Wertung des Geistes bejaht ihnselbst in seinen höchsten, seinen wahrhaft positivenLeistungen […]. Selbst wenn die ganze Sphäre des Geistigenmit einem negativen Vorzeichen versehen wird, wenn alle Tatenverleugnet und verworfen werden, so ist doch schon die bloßeSetzung eben dieses Vorzeichen selbst wieder eine neue Tat,die uns in der Welt des Geistes, der wir zu entfliehenhofften, aufs Neue festhält.124
Die Rückkehr zum reinen Ursprung des Lebens wird demzufolge von
Cassirer in einem doppelten Sinne als Mythos entlarvt: einmal,
weil diese Rückkehr zum reinen, intuitiven Leben die
Entfremdung, die sie angeblich aufheben will, nur reproduzieren
muß, und dann, weil die Idee einer rein intuitiven und
ekstatischen Selbsterfahrung im Sinne einer Selbstaufhebung nur122 Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 23.123 Ebd., S. 211.124 Ebd., S. 31.
57
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
dem Stadium entspricht, das Cassirer in der Philosophie der
symbolischen Formen als mythisches Bewußtsein analysiert. Die
Indifferenz zwischen Bild bzw. Repräsentation und realem
Objekt, die in der Intuition intendiert wird, stellt gerade den
Grundzug des mythischen Bewußtseins dar, das deshalb nicht
weniger selbst schon aktives Bewußtsein ist. Im Mythos wie in
der höchsten Mystik des Lebens gilt daher, daß die
Selbsttätigkeit des Geistes, der Vernunft sich selbst
undurchsichtig bleibt. So heißt es bei Cassirer:
Und doch waltet in diesem Trieb der Vernichtung des Denkensund der Auslöschung des Subjekts noch immer die geheimeVoraussetzung, deren keine Mystik ganz zu entraten vermag:die Voraussetzung daß mit Meister Eckhardt zu reden, einFunke des Selbst zurückbleibt, der eben dieser Auflösunggewahr wird.125 sowieNicht das Leben an sich entläßt aus seinem Schoße auch schonBilder [der Intuition], die in das Subjekt, das sich ihnengegenüber als leidend, als tabula rasa verhält, eindringen,sondern der Geist ist es, der durch Berührung mit demLebensgrund Bilder formt.126
Aus der Perspektive von Klages’ ekstatischer Lebensphilosophie
entwickelt Cassirer seine eigene Version einer Dialektik der
Aufklärung, die, indem sie den Mythos selbst schon als eine
frühe Form von Aufklärung und als eine frühe Form von
Selbsttätigkeit des Subjekts auffaßt, gerade die Unmöglichkeit
einer Rückkehr zum Mythos auch für den Fall des
lebensphilosophischen Zivilisationsunbehagens behaupten kann.
Der Weg zurück zum Ursprung ist die Illusion, die wegen der
fortschreitenden Rationalisierung der Kultur und ihrer
Institutionen sich diesen Institutionen gegenüber als 125 Ebd., S. 20.126 Ebd., S. 209.
58
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
entfremdet erfährt und Kultur im Ganzen als entfremdenden Geist
destruieren will, um eben in einem solchen Rückschritt Kultur
zu setzen. Der Weg zurück zum Ursprung ist nicht nur verstellt,
er würde nur eine Wiederholung, ein „da capo de al fine“
desselben Aufklärungsprozesses in die Wege leiten. Es gibt
keine reine Unmittelbarkeit des Lebens. Die scheinbare
Alternative zwischen Vermittlung und reiner Intuition des
Lebens erweist sich vollends als Illusion, weil die reine
Intuition nicht nur faktisch schon wieder Geist und Ichfunktion
voraussetzt, die sie zu überwinden vermeinte, sondern weil
diese Intuition im Realfall nur auf die Destruktion aller
Kultur hinauslaufen kann. Cassirer schreibt:
Wenn alle Kultur sich in der Erschaffung bestimmter geistigerBilderwelten, bestimmter symbolischer Formen wirksam erweist,so besteht das Ziel der Philosophie nicht darin, hinter alldiese Schöpfungen zurückzugehen, sondern vielmehr darin, siein ihrem gestaltenden Grundprinzip zu verstehen und bewußt zumachen. In dieser Bewußtheit erst erhebt sich der Gehalt desLebens zu echter Form. Das Leben tritt aus der Sphäre desbloß naturgegebenen Daseins heraus: es bleibt ebensowenig einStück dieses Daseins wie ein bloß biologischer Prozeß,sondern es wandelt und vollendet sich zur Form des Geistes.Die Negation der symbolischen Formen würde daher in der Tat,statt den Gehalt des Lebens zu erfassen, vielmehr diegeistige Form zerstören, an welche dieser Gehalt sich für unsnotwendig gebunden erweist.127
An Klages’ Ekstatik bestätigt sich nur die dem Leben eigene
Ekstatik, die sich über das Leben hinausbegibt, um sich in
solcher Objektivierung selbst zu finden, so daß offenbar die
totale Negation von Geist nur als die extreme Antithese der
totalen Position von Geist verstanden werden muß. Die Ekstatik
solcher Negation kann nur dialektisches Moment der
127 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. I, S. 50 f.59
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Lebensbewegung des Subjekts sein, die zu einer neuen
Formgründung führt. So konstatiert Cassirer: „Der
kosmosgonische Eros kann nicht rein pathisch, erleidend sein,
denn erst das Tun schafft den Kosmos aus der Nacht des
Chaos.“128 Aus dieser Perspektive erweist sich das Leben als der
metaphysische Grund sowohl der kulturellen wie der kosmischen
Schöpfung, der „Kosmogonie“, die Klages nur vollstrecken kann,
wenn er dem Logos zu seinem Recht verhilft. Cassirer
beschließt: „Der Menschengeist ist es, der das Wort, den logos,
‚Es werde Licht‘ sprechen muß. Diese Form der Lichtwerdung
schafft erst ein Bild der Welt – ohne das Licht des Geistes,
ohne den gestaltenden Logos, den Klages schmäht und verwirft,
gibt es keine Kosmogonie.“129
Aus der Perspektive der möglichen aktuellen
lebensphilosophischen Strategie, über die ekstatischen
Ausbrüche des Lebens die Grundlagen der Kultur zu zerstören,
aus der Perspektive dieses absoluten Krisenbewußtseins und
vollendeten Unbehagens an Kultur und Fortschritt ergibt sich
erst eigentlich die Perspektive auf die Ursprünge der modernen
Subjektivität. Aus dem möglichen Telos fällt erst das Licht auf
die Genese der europäischen Subjektivität, ihre Urstiftung.
Cassirer konstruiert also einen historischen Zusammenhang
zwischen zwei Augenblicken der Geschichte, der sich aus dem
Telos dieser Krise perspektivisch ergibt. Dem Wunsch nach
Entselbstung und Ent-ichung am Ende entspricht die Strategie
des mittelalterlichen Averroismus, das individuelle Ich ganz im
göttlichen Verstand aufgehen zu lassen. Telos und Ursprung
erhellen von hierher das Wesen der Subjektivität als128 Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 210.129 Ebd.
60
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Selbstnegation und Selbsttranszendenz, als die fundamentale
Fähigkeit, die in der Christologie modellhaft in Tod und
Auferstehung der Einzelseele vorgedacht ist. Die Archäologie
der Subjektivität aus ihrem christologischen Ursprung soll
damit offenbar nicht nur die Krise von Kultur aus der
fundamentalen Krisenfähigkeit von Subjektivität ableiten und
zugleich überwinden, sie ermöglicht auch die alternative
Rekonstruktion von Subjektivität, die das Subjekt vor seiner
rationalen Apotheose als absolutem Geist und seiner
vitalistischen Apotheose als reinem intuitivem Leben bewahren
soll. Wenn dabei als historische Momente Averroismus und
Vitalismus zuerst hervortreten und in eine Konstellation
treten, so ergibt das Gesamtbild von Cassirers Archäologie eine
jeweils doppelte Gefahr. Für das Mittelalter bezeichnen
Averroismus und Mystik die rationale und die intuitive Form der
Entselbstung, während für die Moderne Hegels Metaphysik und
Klages’ Vitalismus hier diese beiden Formen der Entselbstung
repräsentieren.
Die Christologie des Cusanus führte zunächst aus dem
mittelalterlichen Engpaß heraus. Sie fungiert bei Cassirer aber
als Modell und Analogon für Simmels Metaphysik der
Subjektivität. Er appelliert an sie, wenn er Klages’ Vitalismus
„dekonstruiert“. Cusanus wird im Hinblick auf Klages zum Modell
eben der Strategie, die Subjektivität aus ihrer extremsten
Polarität noch als immanente Transzendenz zu rekonstruieren
vermag. Im Hinblick auf diese extreme Polarisierung von Leben
und Geist bei Klages stellt Cassirer fest:
Bei Cusanus nimmt das Problem eine andere Wendung gemäß dermetaphysischen Lage seiner Zeit – hier heißt es nicht Geist –
61
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Leben, sondern Geist – Gott. Aber Cusanus erfaßt aufsschärfste den Dualismus und überwindet ihn zugleich. […] Auchhier wird zunächst die volle Pol-Spannung erreicht (NegativeTheologie) – der Geist ist das Prinzip des Nennens undMessens […], aber alle nominatio und mensuratio reicht anGott nicht heran – das Sein als absolutes Sein (derLebensgrund) wird dadurch nicht erfaßt, nicht einmal berührt.Dann aber der Umschwung in Cusanus’ späteren Schriften – undzwar aus der Einsicht heraus, daß der Geist das Wert gebendePrinzip ist – nicht Gott ist der Schöpfer des Wertes, sondernerst im Geist entsteht das Problem des Wertes, wie Gott dieseinsgebende , so ist der Geist allem Licht gebende Kraft.[…] Wenden wir dies auf Klages […] an, so läßt sich sagen,daß beide ein bestimmtes Wertsystem voraussetzen, vermögedessen sie das Leben dem Geist überordnen. Aber eben dieseÜberordnung ist schon ein Werk des Geistes.130
Von diesem kritischen Bezug zwischen Cusanus und Klages aus –
Cusanus’ Idealismus wird auch hier dekonstruktiv gegen jeden
Versuch eingesetzt, die Dialektik des Lebens abzubrechen –
gelangt Cassirer noch einmal zum Fazit seiner Definition der
Subjektivität als Negation: „[...] es ist, und darin liegt die
eigentliche Dialektik hier, keineswegs das Leben, das der Geist
negiert, sondern es ist der Geist, der sich gegen sich selbst
kehrt, gegen sich selbst fragt.“131 Eben in dieser Möglichkeit
der Selbstnegation des Geistes bestätigt sich für Cassirer das
schlechthin konstitutive Moment der Subjektivität, denn „gegen
sich selbst fragen können ist gerade eine Urfunktion, ja
vielleicht die tiefste Funktion des Geistes.“
V Die Phänomenologie der Subjektivität als Kritik politisch-
theologischer Herrschaft
130 Ebd., S. 211.131 Ebd.
62
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Indem sich Cassirers Archäologie des Subjekts an Cusanus
orientiert und an ihm einen dritten Weg aufzuzeigen versucht,
nämlich eine Subjektivität der immanenten Transzendenz und
Offenheit für anderes, erkennt sie in der Apotheose als Geist
und der Apotheose als Leben die ultimative Gefahr, die durch
die Hypostasierung einer der Pole der Dialektik diese zum
Stillstand bringen kann. In diesem Sinn konstatiert Cassirer im
Rückblick auf die Katastrophe der Kultur in Deutschland nicht
nur den Sieg der „neuen Macht des mythischen Denkens“, sondern
ortet die Ursprünge des totalitären Staates vor allem in Hegels
Metaphysik und konkreter: in dessen politischer Philosophie,
der er immerhin das größte Kapitel im Mythus des Staates widmet.
„Kein anderes philosophisches System hat so viel zur
Vorbereitung des Faschismus und Imperialismus getan, als Hegels
Lehre vom Staat – ‚von dieser göttlichen Idee, wie sie auf
Erden existiert‘.“132 Damit stellt Cassirer zumindest implizit
nicht nur die absolute Metaphysik des Geistes und den absoluten
Mythos des Lebens in dieselbe Konstellation der realen
Destruktion der Kultur, sondern seine eigene „Phänomenologie
des philosophischen Geistes“ erweist sich in letzter Instanz
132 Cassirer, Mythus des Staates, S. 356. Hierzu den Aufsatz von Peter Eli Gordon, „Myth and Modernity: Cassirer’s Critique of Heidegger“, in: New German Critique, Nr. 94, Winter 2005, S. 127–168. Er stellt den für Cassirers Mythus des Staates wesentlichen Zusammenhang von Entmythologisierung und Liberalität in Frage: „But it would be a mistake to assume that the critique of modern autonomy as illusory must result in conservative politics. There is no obvious or axiomatic relation between politics and ontology. Cassirer believed that ‘modern political myths’ were both politically undesirable as well as false. But what if autonomy is itself a ‚myth’?“ Mit Marcel Gauchet formuliert er einen möglichen Zusammenhang zwischen „a truly liberal theory of politics“, die „might best emerge from the post-Heideggerian recognition of human finitude.“ (Ebd., S. 165) SolcheÜberlegungen sprengen freilich den Rahmen der meisten Debatten über Cassirer und Heidegger, die oft genug nach von vornherein feststehenden Regeln abzulaufen scheinen.
63
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
als Versuch, die politisch-theologischen Konsequenzen dieser
beiden Hypostasierungen der lebensprozessualen Momente von
Leben und Form, Leben und Geist kritisch zu überwinden.
Ohne daß Cassirer den Zusammenhang zwischen der politischen
Theologie Hegels und der neuen (politischen) Mythologie
jenseits der in der Überschrift formulierten These vom Mythus
des Staates näher erläutern würde, ergibt sich der Zusammenhang
aus den verschiedenen Aussagen zu beiden Artikulationen
totalitärer Politik. Es ist die aus der absoluten Metaphysik
des Geistes entfaltete Politik, die sich als Mythos erweist,
während der Mythos, politisch gedacht, dieselbe Form
totalitärer Herrschaft produziert, die für Hegels politische
Theologie charakteristisch ist. Die Selbstverwirklichung des
Geistes bzw. der Vernunft im Staat ist, da sie das Absolute in
einem Partikularen als realisiert behauptet, Mythos und als
solcher Ausdruck der unmittelbaren Konsequenzen der
Verstaatlichung der als offen gedachten Kultur.
Nach Hegels Meinung ist es ein allgemein anerkanntes Prinzip,daß dem besonderen Staatsinteresse die höchste Wichtigkeitzukomme. „Der Staat ist der Geist, der in der Welt steht undsich in derselben mit Bewußtsein realisiert […]. Es ist derGang Gottes in der Welt, daß der Staat ist […]. Bei der Ideedes Staates muß man nicht besondere Staaten vor Augen haben,nicht besondere Institutionen, man muß vielmehr die Idee,diesen wirklichen Gott, für sich betrachten.133
Der Gott als Staat ist der Kerngedanke dieser politischen
Theologie, die das Absolute mit dem Realen, das Unendliche im
133 Cassirer, Mythos des Staates, S. 345. Inwieweit Cassirer hier auch Franz Rosenzweigs Kritik an Hegels Staatsphilosophie aufnimmt, kann nur vermutet werden. „Einzelmensch und Nation sind in gewissem Sinne dem Staat zu opfern, dem vergötterten Staat das Eigenrecht des Menschen wie die Ganzheitder Nation.“ (Franz Rosenzweig, Hegel und der Staat, München/Berlin 1920, S. 243) Vgl. hierzu Stéphane Mosès System und Offenbarung, S. 19 ff.
64
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Endlichen kurzschließt und damit zur politischen Mythologie
wird.
Aus der genuinen Perspektive des Mythos beschreibt Cassirer
die Krise der modernen Kultur am Beispiel der Odyssee als
Urwunsch, das eigene Ich aufzugeben.
Wir haben erfahren, daß der moderne Mensch trotz seinerRuhelosigkeit, den Stand des unzivilisierten Lebens nichtwirklich überwunden hat. Wenn er denselben Kräften ausgesetztist, kann er leicht in den Zustand vollständiger Ergebung undSichberuhenlassens zurückgeworfen werden. Er stellt sie nichtmehr in Frage, er nimmt sie als eine natürliche Sache hin.Von den traurigen Erfahrungen der letzten zwölf Jahre istdies vielleicht die furchtbarste. Sie mag mit der desOdysseus auf der Insel Kirke verglichen werden. Aber sie istnoch ärger. Kirke hatte die Gefährten des Odysseus inverschiedene Tiergestalten verwandelt. Aber hier sind esMenschen von Erziehung und Intelligenz, ehrenhafte undaufrechte Menschen, die plötzlich das höchste Privilegaufgeben. Sie haben aufgehört, freie und persönlich handelndeMenschen zu sein. Indem sie dieselben vorgeschriebenen Ritenvollziehen, beginnen sie, auf die gleiche Weise zu fühlen, zudenken und zu sprechen.134
Was den Mythos vor und nach seiner Rück- und Wiederkehr in die
Kultur kennzeichnet, ist laut Cassirer nicht nur die Sehnsucht
des Individuums, von den Fesseln seiner Individualität befreit
zu werden, sondern der Wunsch, mit eben dieser Entselbstung im
Absoluten aufzugehen. Cassirer beschreibt das Wesen des Mythos
am Beispiel des (für die Mythologen des Post-Nietzscheanismus
so wichtigen) Dionysius-Kultes:
Was hier erscheint, ist das Urgefühl der Menschheit, das denprimitivsten Riten und den verfeinertsten, vergeistigstenmystischen Religionen gemeinsam ist. Es ist die tiefeSehnsucht des Individuums, von den Fesseln seinerIndividualität befreit zu werden, sich in den Strom desuniversalen Lebens zu tauchen, seine Identität zu verlieren,
134 Cassirer, Mythos des Staates, S. 373.65
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
im Ganzen der Natur aufzugehen – dieselbe Sehnsucht, die inden Versen ausgedrückt ist: „Wer die Macht des Tanzes kennt,wohnt in Gott.“135
Auch wenn Cassirer den Namen Klages in seinem Essay über den
Mythus des Staates merkwürdigerweise nicht erwähnt, so erkennt
man doch in seiner Charakteristik des Mythos den
philosophischen Ansatz des dionysischen und ekstatischen
Mythikers ohne weiteres wieder, zumal Klages die negative Macht
des Geistes und der Rationalität mit dem Geist des Judentums
identifiziert und so den politischen Rassenmythos übernimmt.
Auf jeden Fall begegnen sich die politische Theologie Hegels
und die neue (politische) Mythologie der Ekstase (für die der
Name Klages stehen soll) in drei Momenten:
1) Beide verabsolutieren eines der beiden dialektischen Momente
von Leben oder Geist und bringen damit den dynamischen Prozeß
des Lebens zum Stillstand.
2) Das Absolute bezeichnet einen fundamental
(mytho-)theologischen Ursprung der existenziell-politischen
Praxis, so daß in beiden Fällen von spezifischen Fällen
politischer Theologie gesprochen werden kann.
3) In beiden hypostatischen Formen der Metaphysik geht es um
die Suspension von Individualität durch das absolute
Seinsprinzip und damit um den Widerruf der Verantwortlichkeit
des Subjekts – zuletzt also um die Aufgabe der ethischen
Dimension des Lebens. Was Cassirer am Beispiel des Mythos
erläutert, die Sehnsucht, das eigene Ich aufzugeben, wiederholt
sich für ihn auf anderer Ebene in der Einsicht in die
vermeintlich rationale Geschichtsrealität bei Hegel:
135 Ebd., S. 58.66
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Die Versöhnung, die Hegel in seiner Geschichtsphilosophieversuchte, ist ein ganz andere Typus des Denkens. Er nimmtdie gegebene Ornung hin; er sieht in ihr die wahre ethischeSubstanz. Er versucht nicht, die Übel, das Unglück und dieVerbrechen aus der historischen Welt wegzuschaffen.136
Beide Formen von politischer Theologie, Hegels Metaphysik des
Geistes und die von Nietzsche inspirierte und radikalisierte
Mythologie dionysischer Ekstase von Ludwig Klages, erscheinen
zunächst als die Pole einer Antithese, der absoluten Form des
Geistes einerseits, die in einer absoluten Lebenserfahrung
vernichtet werden soll, wie andererseits die absolute Form des
Geistes als Resumee und Erinnerung der Geschichte das Ende des
Lebens indiziert. Gerade in solcher mythischer Exklusivität
gegenüber dem ihr Heterogenen konvergieren diese beiden Formen
von politischer Theologie in einer real-politischen coincidentia
oppositorum. Die absolute Rationalität ist in solcher
Kurzschließung des Absoluten mit dem Partikularen als Staat,
Nation, Rasse die absolute Irrationalität, die in Gewalt und
Terror umschlagen muß.
Dem Volke, dem solches Moment [die Nation zu sein, die dasAbsolute repräsentiert] als natürliches Prinzip zukommt, istdie Vollstreckung desselben in dem Fortgang des sichentwickelnden Selbstbewußtseins des Weltgeistes übertragen.Dieses Volk ist in der Weltgeschichte, für diese Epoche – undes kann in ihr nur einmal Epoche machen – das Herrschende.Gegen dies sein absolutes Recht, Träger der gegenwärtigenEntwicklungsstufe des Weltgeistes zu sein, sind die Geisterder anderen Völker rechtlos, und sie, wie, deren Epochevorbei ist, zählen nicht mehr in der Weltgeschichte.137
Der rationale Mythos begegnet sich mit dem irrationalen Mythos
im Kulminationspunkt der Herrschaft und Souveränität, die sich
gegenüber dem anderen notwendig und also gewaltsam durchsetzen 136 Ebd., S. 335.137 Ebd., S. 356 f.
67
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
müssen. Cassirer rekonstruiert im Grunde für beide Formen des
politischen Mythos die Bedingung der Möglichkeit der
Souveränität, die sich prinzipiell und zuletzt über das
Feindprinzip real konstituiert. Dem entspricht dann auch
durchaus, daß der eigentliche Theoretiker der politischen
Theologie der Souveränität, Carl Schmitt (den Cassirer nicht
erwähnt), seinen Begriff des Politischen sowohl
lebensphilosophisch als auch hegelianisch begründen kann. Vom
Standpunkt des Politischen aus lassen sich beide antithetischen
Formen von Metaphysik, wie dies Cassirer selbst in Der Mythus des
Staates vorführt, auf einen souveränen Begriff bringen.
Eine solche Perspektive auf die Vermittlung von
hegelianischer Philosophie der Geschichte und vitalistischer
Mythologie über das Moment von Herrschaft findet sich vor allem
bei dem von Cassirer zum Kronzeugen der politischen Krise
erhobenen Oswald Spengler.
In 1918, immediately after the first world war, OswaldSpengler published his book, „Der Untergang des Abendlandes“[…]. In his book a new step was made, a step that, in acertain sense, proved to be of much graver impact and hadmore far reaching political consequences than the system ofHegel. Spengler did not make the slightest attempt to changethe firm concrete historical situation. His only intuitionwas to describe and interpret his situation […]. He describedthe decline and fall of all our cultural ideals as inevitable[…]. No effort of thought of will, he declared, can changeour destiny.138
Die textuelle Kreuzung, an der das System der Vernunft und die
mythologische Metaphysik von Leben und Geschichte
aufeinandertreffen, ist Spenglers Untergang des Abendlandes, in dem
die Idee von Herrschaft aus dem Mythos des Lebens im Sinne
138 Cassirer, Symbol, Myth and Culture, S. 227.68
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
einer Logik der Notwendigkeit und des Schicksals begründet
wird. Wenn Hegels politische Metaphysik die Vernunft durch die
überlegene Macht eines konkreten Staates in der Geschichte
realisieren will, der aufgrund seiner Macht auch gegenüber
anderen Staaten „im Recht“ ist, so bedeutet das in der Sprache
des politischen Mythos, wie Spengler ihn formuliert, daß es
sich in der Geschichte
um das Leben und immer nur um das Leben, die Rasse, denTriumph des Willens zur Macht, und nicht um den Sieg vonWahrheiten, Erfindungen oder Geld [handelt]. DieWeltgeschichte ist das Weltgericht. Sie hat immer demstärkeren, volleren, seiner selbst gewissen Leben Rechtgegeben, Recht nämlich auf das Dasein.139
Wenn auch Hegel den historisch-notwendigen Prozeß in einem
System der Freiheit begründet, in dem die politische Herrschaft
ihren Sinn durch die am Ende des historischen Prozesses
herstellbare Freiheit erhält, verfaßt Spengler aus der
Perspektive des Mythos des Lebens ein System der zwangsläufigen
Unfreiheit und des notwendigen Untergangs. Dennoch macht es
eben für das seiner selbst bewußte Individuum prinzipiell
keinen Unterschied, insofern in beiden logischen
Interpretationen der historischen Situation das Individuum dem
Ganzen der politischen Entwicklung, die durch den politischen
Führer personifiziert wird, passiv ausgeliefert ist. So lautet
Spenglers Fazit am Ende seiner Untergangsvision: „Wir haben
nicht die Freiheit, dies oder jenes zu erreichen, aber die, das
Notwendige zu tun oder nichts. Und eine Aufgabe, welche die
Notwendigkeit der Geschichte gestellt hat, wird gelöst mit dem
einzelnen oder gegen ihn.“140
139 Oskar Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Bd. 2, München 1922, S. 635. 140 Ebd.
69
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Indem Metaphysik und Mythologie in der Realität sich als
Herrschaft darstellen müssen, sind sie in ihrem Wesen
politisch: Sie werden wahr im Staat. Wenn sie sich ferner nur
über die Herrschaft legitimieren, insofern für beide gilt, daß
das, was herrscht, eben entweder die Vernunft oder das
Schicksal ist, wird die Herrschaft selbst zum einzigen
Kriterium und Maßstab für Vernunft und Schicksal, denen sich
der Einzelne unterwirft, wenn er nicht einfach von der Macht
überrollt werden will. Je mächtiger die Macht, desto
gesicherter sind Vernunft und Schicksal. Um Macht politisch zu
stabilisieren, bedarf es dann des Mythos, der durch Ritus, Kult
und Narration sich die massenhafte Unterstützung sichert. Damit
wird der Mythos, der ursprünglich eine spontane, unbewußte
Produktion des imaginären Lebens darstellt, nunmehr gezielt und
sorgsam geplant, um die Macht zu konsolidieren bzw. deren
Expansion zu ermöglichen. „It is a myth that in a sense is
completely rationalized. Myth remains irrational in its
content, but it is very clear and conscious in its aims.“141
Wenn Metaphysik und Mythologie notwendig politisch werden
müssen, so ergibt sich aus der rückblickenden Perspektive, daß
die Zeit zwischen dem ersten und zweiten Weltkrieg selbst schon
wesentlich ein politischer Konflikt im Sinne einer Fortsetzung
des Krieges mit anderen, politisch-ideologischen Mitteln war.
Als solcher Kampf des ideologischen Mythos gegen die Kultur der
symbolischen Vernunft war dieser Kampf im Prinzip von
vornherein entschieden:
The opponents of National Socialism had lost their cause evenbefore the battle began. For in the political struggle it isalways a vital importance to know the adversary, to enter in
141 Cassirer, Symbol, Myth and Culture, S. 236.70
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
his ways of thinking and acting. The political leaders of theWeimar republic were not equal to this task.142
Wenn der Mythos des zwanzigsten Jahrhunderts in der Herrschaft
und diese Herrschaft im Führer kulminiert, mit dessen absolutem
göttlichen Willen der einzelne hofft, sich identisch setzen zu
können, dann muß dieser Führer seine Macht dadurch sichern und
erweitern, daß er nicht nur seine Macht und sein Recht gegen
die durchsetzt, die ohmächtig und rechtlos sind, sondern daß er
sich als die absolute mythologische Macht setzt, die seine
hörigen Anhänger von allen dämonischen Gegenmächten, dem
ultimativen Feind, befreien wird, indem er sie vernichtet. „The
process of deification had to be completed by a process that we
may describe as devilization.“143 Die politisch-religiöse Macht,
die dadurch ihre Macht unter Beweis stellt, daß sie in einem
endzeitlichen Kampf ihr absolutes Regime errichtet, muß den
Feind vernichten. Politik als Ritus, Kultus und Mythos muß in
der Aufopferung des anderen kulminieren. Insofern konnte die
nationalsozialistische Herrschaft gar nicht anders denn als
Todeskampf sich realisieren, dessen Ziel die „complete
extermination of the Jews“ sein sollte.
Was Cassirer hier in einzelnen Ansätzen aufzeigt, ist das,
was er in Der Mythus des Staates „die Inkarnation des Göttlichen im
Staat“ genannt hat, eine Formel, in der immerhin mit der
mythologischen zugleich die christologische, besser: die
christologische als mythologische Perspektive eingeholt wird,
die für die eigene systematisch-historische Konstruktion der
Subjektivität eine zentrale Rolle spielt. Aus der zu Ende
gedachten Logik der Metaphysik und der Mythologie der Macht
142 Ebd.143 Ebd., S. 238.
71
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
bezeichnet diese Inkarnation des Absoluten in der realen Figur
des Führers, die real-historische Apokalypse der Menschheit, an
die Cassirer nicht zu erinnern vergißt, wenn er diese
politische Theologie der absoluten Souveränität zuletzt in den
Kontext der apokalyptischen Mythologie vom Millenium dieser
Herrschaft stellt.
Wenn Cassirer die Konstellation des epochalen Geistes aus
dessen Extremen konstruiert, nämlich als Antithese von Geist
und Leben, um die Identität dieser differenten Formen von
Subjektivität, das heißt deren gemeinsamen politisch-
theologischen Nenner als Inkarnation des Absoluten im Realen
aufzuzeigen, so bezeichnet der eigene Rekurs auf die
Christologie, vor allem bei Cusanus, eine alternative Form von
Säkularisation bzw. politischer Theologie, in der das Absolute
zum idealen Orientierungspunkt einer Einheit der Gegensätze
wird, ohne daß Individualität hier der Idee oder dem Ganzen
aufgeopfert werden kann. Die Inkarnation steht in dieser
letzten Konstellation von Subjektivität für die gewaltsame
Identität von Absolutem und Realem, das heißt für das
katastrophale Scheitern von Säkularisation, vor deren
Hintergrund Cassirers Rückgriff auf die durch die Christologie
vermittelte Idee einer Identität des vielen aus dem einen in
ihrer potentiell unendlichen Vielfalt der Perspektiven ihren
Sinn bestätigt. Auf dem Hintergrund der Möglichkeit ihrer
inkarnativen Säkularisation entwirft Cassirer seine alternative
Säkularisation als Christologie offener Freiheit. Gegen die
Inkarnation des Absoluten als der Identität von Gutem und Sein
insistiert Cassirer mit Cusanus auf der fundamentalen Differenz
zwischen Gutem und Sein, die sich aus der Idee der
72
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Unendlichkeit des Absoluten, die endlich nicht gewußt werden
kann, notwendig ergibt.
Die aus dem Geist wissenden Nichtwissens entworfene
Christologie und Subjektivität der Freiheit und Offenheit für
anderes ist bei Cassirer immer auf das Individuum hin gedacht
und damit immer auch im Sinne einer Ethik, die sich aus dem
offenen Bezug zur Individualität des anderen bestimmt. Gegen
die inkarnative Christologie der Verwirklichung des Absoluten,
in der die Individualität verschwindet, entwirft Cassirer mit
Cusanus eine Theorie der Subjektivität, die am „Guten jenseits
des Seins“ sich orientiert.
Wir begreifen alsdann, daß es für uns widersinnig ist, dasAbsolute an sich, ohne eine solche Bestimmung durch einenindividuellen Blickpunkt, auch nur denken zu wollen – daßaber andererseits keiner dieser Blickpunkte vor dem anderenden Vorrang hat, weil es eben erst ihre konkrete Totalitätist, die uns ein wahres Bild des Ganzen zu vermittelnvermag.144
Bisher hat Cassirer die Archäologie der Subjektivität ganz aus
diesem Geiste einer offenen Christologie entworfen und damit
die eigene jüdische Existenz als eine Version von Alterität als
in diese offene Totalität integrierbar gesetzt. Aus der
Perspektive der Katastrophe am Ende seines Lebens, auch hier
nur in fragmentarischen Ansätzen, kommt es allerdings zu einer
Reorientierung, einem Perspektivwechsel, der die jüdische
Perspektive nicht mehr nur als eine mögliche Perspektive im
Ensemble der perspektivischen Blickpunkte, sondern nunmehr das
jüdische Subjekt auf der Grundlage der ethischen
Grundorientierung als Ursprung für diese ethische Transzendenz
einsetzt. Im Kontext der Erläuterung der Mythologie vom Führer
144 Cassirer, Individuum und Kosmos, S. 33.73
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
und vom jüdischen Feind, dessen Ursünde eben in der radikalen
Infragestellung aller politischen Mythen und Idolatrien
besteht, kommt es immerhin zu einer durch die Feindzuweisung
bedingten Selbstidentifikation Cassirers mit diesem jüdischen
Feind.
To deny or even to doubt this ideology was to them a mortalsin. It became a crimen laesae majestatis – a crime of hightreason against the omnipotent and infallible totalitarianstate. That the Jews were guilty of this crime was obvious.They had proved it by their whole history, by theirtradition, by their cultural and religious life. In thehistory of mankind they had been the first to deny and tochallenge those very conceptions upon which the new state wasbuilt for it was Judaism which first made the decisive stepthat led from a mythical to an ethical religion.145
Aus der absolut negativen Perspektive Adolf Hitlers, vom Juden
als dem Feind, wird das Judentum nun zu der Grundlage des
eigenen kritischen Idealismus, dessen eigentliche Funktion im
Kampf zwischen Vernunft und Mythos, Freiheit und Macht, in der
Mythos- und Machtkritik liegt. Aus der Perspektive der totalen
Katastrophe erweisen sich nicht nur die Weimarer Jahre als
Ausnahmezustand, sondern Cassirer stößt auf den eigentlichen
politischen Sinn seines Denkens, das den Mythos nun nicht mehr
nur als mögliche Wissensform des Absoluten in die ideal-
utopische coincidentia oppositorum integriert, sondern als die
potenzielle größte Gefahr eben für diese coincidentia wahrnimmt:
als deren Zerstörung. Die neue Situation führt also über die
Entdeckung der Rolle des Mythos für die Machtpolitik nicht nur 145 Cassirer, Symbol, Myth and Culture, S. 240. Vgl. Jürgen Habermas’ Bemerkung zu Cassirers, Judaism and the modern Political Myth: „Gegen die Gewalt politischer Mythen vertraut Cassirer bemerkenswerterweise nicht so sehr auf die wissenschaftliche als vielmehr auf die religiöse Aufklärung – auf jene vom Monotheismus längst geleistete Bezwingung des Mythos in dessen eigener Sphäre.“ Jürgen Habermas, „Die befreiende Kraft der symbolischen Formgebung“, in: Frede/Schmücker, Ernst Cassirers Werk und Wirkung, S. 103
74
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
zu einer Reformulierung des eigenen Projekts des kritischen
Idealismus als einer in der jüdischen Theologie begründeten
mythos- und machtkritischen Ethik, sondern zur Entdeckung des
„Politischen“ im Sinne einer fundamentalen Ebene des eigenen
philosophischen Projektes. Der kritische Idealismus findet über
das politisch-mythologische Problem zur politischen Theologie
des Judentums, die zwar an der ursprünglichen Position der
Einheit der gegensätzlichen Symbolordnungen festhält, aber mit
der politischen Dimension immerhin einen Urkonflikt zwischen
einer inkarnativ-mythologischen Tendenz zur Totalisierung und
dem ethischen Pluralismus erzeugt, der den Mythos sprengt.
All the higher ethical religions – the religion of theprophets, Zoroastrianism, Christianity – set themselves acommon task. They relieve the intolerable burden of the taboosystem, but they detect, on the other hand, a more profoundsense of religious obligation that instead of being arestriction or compulsion is the expression of a new positiveideal of human freedom.146
Das Modell für eine solche Orientierung am eigenen Judentum,
die Neubegründung des Ursprungs ethischer Subjektivität im
Judentum als der ersten Religion, die den Mythos sprengt, hat
Cassirer mit aller Wahrscheinlichkeit bei Hermann Cohen
gefunden, der eben diese Dimension des Anti-Mythos für die
politische Theologie des Judentums in den Vordergrund stellt.147
Cohen, immerhin der Lehrer und Förderer Cassirers, hatte in
seinem Buch Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums Israels
staatenlose Existenz unter den Völkern positiv in eben diesem 146 Ernst Cassirer, An Essay on Man, New Haven 1944, S. 108.147 Zum Verhältnis Cassirers zu Cohen siehe vor allem John Michael Krois, Cassirer: Symbolic Forms and History, New Haven 1987, S. 38–42, der insbesondere Cassirers Versuch, sich von Cohen abzuheben, betont, allerdings auf diese spätere Rückkehr nicht eingeht. Vgl. Andrea Poma, Yearning for Form and other Essays on Hermann Cohen’s Thought, Dordrecht/Berlin 2005, hier: „Religion as End of Culture and the System of Philosophy“, S. 169–202.
75
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Sinne einer messianischen Mission gedeutet, die Staat, Macht
und Mythos, wenn es sein muß, in einem kollektiven Martyrium
unter Beweis stellt. Jedenfalls ergibt sich aus diesen letzten,
fragmentarisch gebliebenen Reflexionen, daß das Judentum zu
einem eigenen individuellen Subjekt avanciert, dessen Bedeutung
ihm negativ zunächst aus der unvermeidlichen Feindschaft jeder
mythisch-inkarnativen Konzeption von politischer Macht
erwächst, dann positiv als eben die theologisch-messianische
Mission bestimmt wird, die Mythos und Machtpolitik kritisiert.
Erstaunlich ist dabei im Grunde, daß Cassirer den
eigentlichen politisch-theologischen Mythos des Judentums, den
Purim-Mythos, nicht selber aufgreift, sondern ihn als Adolf
Hitlers Schreckensvision vom möglichen eigenen Untergang
übergeht, den die Juden eben in einem Purim-Spiel feiern
könnten.
When reaching Hitler's last orders marking the 11thanniversary of his National Socialist regime, we meet with astrange phenomenon. Hitler has completely changed his tone.He is no longer promising the conquest of the world to theGerman race. He begins to see his defeat and he feels itsconsequences. But what does he say at this critical moment?Does he speak to the innumerable evils which his aggressionhas brought to the German people, to Europe, to the wholeworld? Does he think of the defeat of his armies, of thedistinction of German cities? Nothing of the kind. His wholeattention is still fixed on one point. He is obsessed andhypnotized by one thing alone. He speaks of the Jews. If I amdefeated – he says – Jewry could celebrate a secondtriumphant Purim festival.148
Es ist der Mega-Stratege des politischen Mythos, Adolf Hitler,
der hier ausgerechnet auf den jüdischen Mythos von Purim
zurückgreift, der die Geschichte von der Verschwörung des
148 Cassirer, Symbol, Myth and Culture, S. 241 f.76
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
persischen Hofministers Haman gegen die Juden im Persischen
Reich berichtet. Haman hegt bekanntlich einen regelrechten
Vernichtungsplan gegen die Juden, weil diese sich weigern, den
persischen König durch eine Verbeugung zu verehren. Dieser
Vernichtungsplan kann allerdings durch die jüdische Königin
Esther und ihren Onkel Mordechai wunderhaft abgewendet werden.
Der Mythos, der die politisch-theologische Mission des
jüdischen Monotheismus als Kampfansage gegen jede Idolatrie
hier in der Geste der Verweigerung der Herrscherverehrung und -
vergöttlichung kodifiziert, um zugleich den gefährlichen
Konflikt, der aus dieser Verweigerung erwächst, zu
dramatisieren, bildet die Grundlage für das jüdische Purim-
Fest. In diesem Fest erinnern die Generationen ihr historisches
Schicksal archetypisch und feiern zugleich ihre Errettung von
dem Judenfeind und der von ihm angestifteten Verfolgung. In
vieler Hinsicht handelt es sich hier also um den politisch-
theologischen Mythos des Judentums par excellence. Er
vergegenwärtigt die durch die Geschichte bestimmte, vorläufige
ewige Wiederkehr der durch die Perspektive auf die Sprengung
dieser Zyklizität gegebenen Konfliktsituation, wie sie Cassirer
immerhin selber aus der Perspektive seiner wie immer hilflosen
Anknüpfung ans Judentum deutet. Denn so sehr das Judentum eben
die schlechthin antimythische Macht bezeichnet, so wird sein
historisches Schicksal immer wieder Ausdruck der mythischen
Wiederkehr des durch diese Antimythik bestimmten Konfliktes.
Cassirer erwähnt Hitlers Evozierung des Purim-Spiels, ohne
selber auf diesen jüdischen Mythos zurückzugreifen und von ihm
her die spezifisch-aktuelle jüdische Situation seinerseits
„mythisch“ zu entfalten. Die Zeit für einen Triumph sei nach
77
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
den erfahrenen Schrecken ohnehin unwiederbringlich vorüber. „In
our eyes, in the life of a modern Jew, there is no room left
for any sort of joy or complacency, let alone of exaltation or
triumph. All this has gone forever.“149 Zugleich aber schließt
er diesen fragmentarischen Text eben doch mit einer genuin
jüdischen Geschichtskonstruktion.
The victims of this ordeal cannot be forgotten; the woundsinflicted upon us are incurable. Yet amidst all these horrorsand miseries there is, at least, one relief. We may be firmlyconvinced that all these sacrifices have not been made invain. What the modern Jew had to defend in this combat wasnot only his physical existence or the preservation of theJewish race. Much more was at stake. We had to represent allthese ethical ideals that had been brought into being byJudaism and found their way into general human culture, intothe life of all civilized nations. And here we stand on firmground. The ideals are not destroyed and cannot be destroyed.[…] If Judaism has contributed to break the power of themodern political myth, it has done its duty, having once morefulfilled its historical and religious mission.150
Diese Konstruktion versteht nicht nur die jüdische Geschichte
als fundamentalen politisch-theologischen Konflikt zwischen
mythischer Macht und ethischer Machtkritik, sondern ordnet die
eigene Auffassung von philosophischer Kritik offenbar im Lichte
der politischen Dimension nunmehr der jüdischen Mission selbst
zu. In Anlehnung an Hermann Cohen ist er bereit, diese Mission
im Sinne einer jüdischen Geschichtstheodizee, die dem
wiederkehrenden Leiden in dem bisher immer noch sich
wiederholenden Zyklus von Herrschaft und Herrschaftskritik Sinn
verleiht, zu deuten.
149 Ebd., S. 241.150 Ebd.
78
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Ironie und KenosisVon Kierkegaards zu Schmitts Kritik der romantischen Ironie
I Ästhetik zwischen Theologie und Politik
Carl Schmitts Essay über die Politische Romantik151 inszeniert
das Scheitern des Versuches, politische Romantik zu definieren.
Dieses Scheitern beruht auf dem Nachweis, dass „politisch“ und
„romantisch“ unvereinbare Gegensätze sind. Wenn allerdings das
Politische = Entscheiden/Handeln, und das Romantische =
ironischer Vorbehalt gegen jede Entscheidung ist, dann wird
nicht nur jeder Definitionsversuch unmöglich, sondern das
Scheitern der Definition wird an sich sozusagen souverän. Dabei
begründet es nicht nur die Souveränität des Autors Schmitt.
Zwar ist das Entweder – Oder hier an sich selbst noch nicht
151 Carl Schmitt, Politische Romantik, Berlin 1991 (1925). Vgl. zur Frage eines Zusammenhangs zwischen der romantischen Ästhetik und Schmitts eigener politischen Position vor allem Jürgen Habermas, „Die Schrecken der Autonomie – Carl Schmitt auf englisch“, in: ders., Eine Art Schadensabwicklung – Kleine politische Schriften, Frankfurt a. M. 1987, und Karl Heinz Bohrer, Die Kritik derRomantik – Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne, Frankfurt a. M. 1989. Vgl. auch David C. Durst, Weimar Modernism. Philosophy, Politics, and Culture in Germany 1918–1933, Lanham 2004, Kapitel 2: „Berlin Dada, Carl Schmitt, Georg Lukacs and the Critique of Contemplation“, S. 33–72. Die Frage nach dem Verhältnis der oft am Ästhetischen orientierten Dekonstruktion zu Kierkegaards oder Schmitts Entweder – Oder bezeichnet sicher den Moment einer kritischen Reflexion über die Dekonstruktion, die bei Jacques Derridaselbst: The Gift of Death, Chicago 1995, und ders., Politik der Freundschaft, Frankfurt a. M. 2000, aufgenommen wird. John D. Caputo, „Either – Or, Undecidability, and Two Concepts of Irony, Kierkegaard and Derrida“, in: Elsabeth Jegstrup, The New Kierkegaard, Bloomington 2004, S. 14–41 bringt die Tendenz auf den Begriff, wobei es ihm v.a. darum geht, Derrida von einer romantisch-ästhetischen und ironischen Haltung „freizusprechen“. Ähnliches gilt für Mark Dooley, Kierkegaard and Derrida: Between Totality and Infinity, S. 199 –213oder Richard Kearney, „Kierkegaard and Hamlet. Between Art and Religion“, in: Jegstrup (Ed.), The New Kierkegaard, S. 224–243.
62
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
„das Politische“, aber im Prinzip enthält es schon die
Dramaturgie dessen, was Schmitt mit diesem Begriff meinen wird.
Schmitts Rhetorik ist hinlänglich bekannt. Da, wo Gegensätze
ästhetisch, in einem Gespräch oder in einem höheren Dritten
aufgelöst werden, sollen Entscheidungen, also ein Entweder –
Oder etabliert werden. „Es wäre ganz unrichtig“, meint Schmitt
für den Fall des Romantikers, „hier von Dualismus oder Monismus
zu sprechen, denn Dualismus und Monismus sind hier keine
Gegensätze, weil die Gegensätze selbst keine Gegensätze sind,
sondern nur Anlässe. Kein Begriff behält seine Form, alles löst
sich auf in oratorische Musik.“152
„Politische Romantik“ ist also das Produkt einer solchen
„oratorischen Musik“, in der das Unvereinbare ästhetisch
versöhnt wird. Es ist rhetorisch ein Oxymoron, onto-logisch:
eine coincidentia oppositorum. Damit aber gibt Schmitt zu
erkennen, daß hier ein zusätzliches, fundamentaleres Problem
vorliegt, das vor dem existenziellen Entweder-Oder eine onto-
logische Entscheidung verlangt. Die Idee der Einheit der
Gegensätze, das Seinsprinzip aller romantischen Ironie werde im
Diskurs der politischen Romantik – so Schmitt – von Gott auf
das Subjekt übertragen, womit eben der ästhetische
Expansionismus ausbreche, der alle Lebensbereiche erfaßt und
neutralisiert. Die Kritik der Romantik als Kritik der Ironie
setzt so – vor der jeweils konkreten Entscheidung – eine
Grundentscheidung voraus: nämlich eine theo-egologische
Disjunktion, die Trennung von Gott und Subjekt.
152 Schmitt, Politische Romantik, S. 142 f.63
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Bis hierher, so könnte man sagen, rekapituliert Schmitt also
nur die Ironiekritik Kierkegaards an einem prägnanten
Beispiel.153 Aber eben dieses Beispiel markiert an sich schon
ein drittes Entweder-Oder, das diese Rekapitulation erst
legitimiert. Es geht Schmitt nicht um eine zuletzt theologisch
begründete, sondern eine politische Kritik der Ironie. D.h.
wenn er, wie Kierkegaard, die Ironie gegen sich selbst wendet,
dann entdeckt er nicht das theologische Problem der Sünde und
den Horizont ihrer Erlösung durch die Liebe, sondern er
entdeckt das politische Problem vom Willen zur
Selbstbehauptung, dem Feind und seiner Bekämpfung durch den
Souverän.
153 Sören Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates, Gütersloh 1994 (1841). Carl Schmitt erwähnt Kierkegaards Namen in der Politischen Romantik nur in einer Fußnote, S. 76, wo er freilich behauptet, daß seine Lösung „für die politische Romantik [...] nicht in Betracht [kommt].“Dabei übernimmt er das Kategoriensystem Kierkegaards für seine eigene Ironiekritik fast wörtlich. Zugleich hat Schmitt an anderer Stelle Kierkegaards Bedeutung für sein eigenes Denken betont. Carl Schmitt, Donoso Cortes in gesamteuropäischer Interpretation. Vier Aufsätze, Köln 1950, S. 102 u. S. 107, wo Kierkegaard zu den „mit aktueller Kraft erfüllten Namen“ gezählt wird. Vgl. Klaus Michael Kodalle, „Der non-konforme Einzelne. Kierkegaards Existenztheologie“, in: Jakob Taubes (Hrsg.), Der Fürst dieser Welt, München 1983, S. 198–226. Allgemein zur Kierkegaard Rezeption vgl. „The Unknown Kierkegaard. Twentieth century receptions“, in: Alastair Hannay/Gordon Daniel Marino, The Cambridge Companion to Kierkegaard, 1998, S. 48–79 Zu seinem Politikverständnis vgl. auch Hermann Deuser, Dialektische Theologie. Studien zu Adornos Metaphysik und zum Spätwerk Kierkegaards, München/Mainz 1980 oder ders., „Religious Dialectice and Christology“, in: Hannay/ Marino, Companion S. 395: „In this respect Kierkegaard had counted subsisting Christendom the worst enemy of Christianity and also strictly rejected church participationin the civil political reform. Conservative and revolutionary agendas are mixed here; and here, too, the role of the corrective is not to be overlooked.“ Peter J. Mehl, Thinking through Kierkegaard. Existential Identity in a Pluralistic World, Chicago 2005, erkennt in Kierkegaard‘s Theologie nur die Kompensation sozial-kultureller Strukturen: „Kierkegaard's unyielding affirmation of the ideal of the morally serious strong spriritual evaluator, an affirmation that generates the rationale for the move to theism and Christianity, rests on the powers that constituted him: his social and cultural context.“ (S. 169)
64
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Wie Kierkegaard fordert Schmitt eine scharfe Disjunktion
zwischen Theologie und Politik, aber eben um des Politischen
willen. Das Politische soll von all den theologischen Residuen
gereinigt werden, die die Verwechslung von Theologie und
Politik in der Moderne, also die politische Utopie eines
Himmelreichs auf Erden hinterlassen haben und deren ultimative
rhetorische Ausdrucksform eben die Ironie sein soll. Damit wird
sich zuletzt die Frage stellen, ob das implizit geschlossene
Konkordat zwischen dem Theologen Kierkegaard und dem
Theoretiker des Politischen, Carl Schmitt, auf die Dauer sich
aufrechterhalten läßt, und wenn ja, unter welchen Bedingungen.
Im Folgenden soll es also um drei Disjunktionen gehen: Zuerst
um die zwischen dem Romantischen und dem Politischen, dann um
die zwischen Gott und Subjekt und zuletzt um die Entscheidung
zwischen „dem Theologischen“ und dem „Politischen“ – also der
Möglichkeit eines Konkordats zwischen beiden. Dieses letzte
Entweder – Oder betrifft im Prinzip zwei existenzielle
Möglichkeiten, nämlich die der agapeischen Liebe einerseits und
die des reinen Willens zur eigenen Macht, die erotische
Souveränität,154 andererseits.
Die Auseinandersetzung um den Stellenwert des Theologischen
soll zuletzt an Schmitts Parodie der Kenosis, der Menschwerdung
Gottes – auch hier in Hinsicht auf Kierkegaard – verifiziert
werden. Aus der Perspektive der Kenosis wird sich zeigen, daß
154 Den Begriff der erotischen Souveränität entnehme ich der exzellenten Untersuchung über Ethik und Ontologie von William Desmond, Ethics and the Between, New York 2001, S. 323 ff. Desmond stellt dieser erotischen Souveränität als Wille zur Selbstbehauptung die Möglichkeit der agapeischenSolidarität gegenüber, ohne daß er diese beiden Artikulationen der Liebe ontologisch auseinanderreißt. Die Liebe ist hier nicht wie in der neusten Phänomenologie „jenseits des Seins“, vgl. Jean-Luc Marion, God without Being, und ders., The Idol and Distance.
65
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Carl Schmitt weder in einer einfachen Nachfolge zu Kierkegaards
Denken steht, noch daß die von ihm am Modell der Theologie
vollzogene Emanzipation von der Theologie erfolgreich
durchgeführt werden kann. Als Hauptthese formuliert: Schmitt
reproduziert zuletzt die onto-theologische Identität, den
Gottmenschen, den er für das radikale Scheitern der Moderne
verantwortlich macht. Nur während der Gottmensch als Ironiker
sich von jeder Realität fernhalten muss, wird man sich den
Gottmenschen qua Souverän als permanente Kriegserklärung gegen
die Realität vorstellen müssen. In beiden Fällen wird die
Realität verfehlt.
II Entweder – Oder I
Schon oft hat man sich darüber gewundert, warum Schmitt den für
seine Verhältnisse langen Essay über die politische Romantik
der Kritik des fast vergessenen politischen Romantikers Adam
Müller widmet. Hugo Ball meinte gar, daß Schmitt hier einen
ganzen Wald eingezäunt habe, um einen Haasen zu hetzen.155 In
der Tat erscheint der Begriffsapparat, den Schmitt von
Kierkegaard entleiht, unverhältnismäßig im Vergleich zu dem
Objekt der Kritik.
Diese Unverhältnismäßigkeit der Methode erhält allerdings
ihre Legitimation dadurch, daß 1) Schmitt mit dem Rückgriff auf
155 Hugo Ball, „Carl Schmitts politische Theologie (1924)“, in: Hugo Ball, Der Künstler und die Zeitkrankheit, Ausgewählte Schriften, Frankfurt a. M. 1984. Vgl. auchEllen Kennedy, „Carl Schmitt und Hugo Ball – Ein Beitrag zum Thema politischer Expressionismus“, in: Zeitschrift für Politik, Jahrgang 35, S. 143–162 und mein Buch Die Apokalypse des Subjekts, vor allem Kapitel VIII: „Genie, Souveränoder Asket“, S. 134–151.
66
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
die theologisch motivierte Ironiekritik Kierkegaards die
Theologie implizit zum Verbündeten bei der Destruktion der
Moderne erhebt, 2) die theologische Kritik dabei explizit ins
Politische wendet und 3) Adam Müllers politische Romantik als
exemplarischen Fall dessen kennzeichnet, was er später als die
politische Theologie der Moderne im Ganzen kritisieren wird.
Es verwundert nicht, daß Schmitt über die Herkunft seines
Begriffsinstrumentariums kaum ein Wort verliert. In einer
Fußnote grenzt er sein eigenes Programm von dem Kierkegaards
scharf ab:
Bei ihm sind alle Elemente des Romantischen wirksam gewesen:Ironie, ästhetische Weltauffassung, Gegensätzlichkeiten vonMöglichem und Wirklichem, Unendlichem und Endlichem [...]Sein protestanistisches Christentum machte ihn zum einzelnen,bewußt im Gott des Christentum existierenden Individuum. Inder Unmittelbarkeit des Gottesverhältnisses war jede alssolche wertvolle, menschliche Gemeinschaft aufgehoben. Fürdie politische Romantik kommt diese Lösung nicht inBetracht.156
Dabei geht es Schmitt nicht nur um die Adoption von
Kierkegaards Unterscheidungskategorien – endlich/unendlich,
wirklich/möglich, intuitiv/diskursiv – sondern er übernimmt vor
allem dessen Methode des „katastrophischen Gebrauchs“ dieser
Kategorien, um den politischen Romantiker zu Fall zu bringen.
Dieser katastrophische Gebrauch kommt bei Schmitt durch einen
einfachen Perspektivwechsel zustande. Was Kierkegaard immerhin
aus intimer Kenntnis, aus der Innenperspektive sozusagen,
beleuchtet, visiert Schmitt von außen mit dem kalten Blick des
Analytikers an. Was Kierkegaard als die eigene und gleichsam
„jemeinige“ Pathologie beschreibt, das portraitiert Schmitt als
die Gestalt des anderen und Fremden. Da also, wo Kierkegaard 156 Schmitt, Politische Romantik, S. 76.
67
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
die existenzielle Pathologie der romantischen Psyche
beschreibt, die sich vergeblich um ein Gleichgewicht bemüht,
zwischen dem Wunsch, ein einmaliges Ich zu sein, und der
Verzweiflung darüber, eben dieses Ich sein zu müssen –, da kann
Schmitt nur Inkonsequenzen konstatieren, die opportune bis
fatale politische Konsequenzen zeitigen müssen.
Die katastrophale Disjunktion von Politik und Romantik
erlaubt keine Sympathie und keine alternative, etwa sokratisch
empathische Ironie, sondern es geht hier um die Fixierung von
Schwächen, um den Gegner zu überführen und zu schlagen. Wenn
Schmitt Adam Müller vor das Gericht des Entweder-Oder zerrt,
ist freilich schon alles entschieden, denn eine Entscheidung
für das Romantische = die Nichtentscheidung fällt ohnehin von
vornherein aus. Das Ganze erhält den Charakter eines
Schauprozesses, bei dem der Angeklagte, auch wenn er geständig
wird, nicht mit mildernden Umständen rechnen darf.
Wenn Kierkegaard das Dasein aus der Perspektive einer
angestrebten Synthese auf das System der
Unterscheidungskategorien hin auslegt, so erkennt er
bekanntlich an den Polen bzw. der Vereinseitigung einer der
Momente die Pathologie, die das Dasein in die Verzweiflung
treibt.157 Schließt sich der Bürger tendenziell in der
Endlichkeit und Wirklichkeit ein, so verlegt sich der
romantische Phantast ganz auf die Modalität der Möglichkeit,
die das Leben in eine unendliche Reihe potentieller
Lebensentwürfe auffächert. Beide müssen verzweifeln.
157 Vgl. vor allem: Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, hrsg. von Liselotte Richter, Hamburg 1991 (1849).
68
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Das besondere Interesse gilt hier freilich diesem
romantischen Ästhetiker und Ironiker, der sich in Freiheit zu
setzen beabsichtigt, indem er sich jeder konkreten Bindung an
die Realität enthält. Ironie als Lebensform beruht auf der
metaphysischen Voraussetzung, daß jede konkrete Erscheinung des
Subjekts eine Negation seines an sich unendlichen Wesens
darstellt, daß also jede Erscheinung des Ichs immer schon eine
ironische Verkehrung und damit das Gegenteil von dem ist, was
es eigentlich und wirklich ist.158 Indem sich das ironische
Dasein so als Freiheit, Unabhängigkeit, Selbstmacht und Fülle
der Möglichkeiten setzt, wird es Objekt einer Ironie der
Ironie, die die Freiheit in Unfreiheit, die Selbstmacht in
Ohnmacht etc. verkehrt. Kierkegaard beschreibt diesen Prozess
als Umschlag des ästhetischen Lebensbezugs in Langeweile,
Melancholie und Verzweiflung und in letzter – theologischer –
Instanz als einen besonders prägnanten Fall von Sünde.159
Insofern nämlich ein Leben jenseits konkreter Entscheidungen
sich zwangsläufig den Kaprizen der jeweiligen Stimmungen
unterwerfen muß und sich so in eine Abfolge diskontinuierlicher
Anlässe fragmentiert, denen allen nur das eine gemeinsam ist,
daß keine Stimmung das Ich wirklich hinreißen und damit binden
darf, bildet sich notwendig die Fundamentalstimmung der
Langeweile heraus. Sie ist die Stimmung, die sich von jeder
Faszination freihält, aber als solche schon den Umschlag der
Freiheit in eine Qual anzeigt, die in Schwermut, Verzweiflung
158 Vgl. Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie, hier vor allem das Kapitel über die „Nachfichtesche Ironie“, S. 277 ff.159 Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, Zweiter Abschnitt: „Verzweiflung ist dieSünde“, S. 73 ff. Vgl. Marion, God without Being, der diese Phänomenologie derStimmungen aufgreift, um die Krise des Seinsbezugs des Daseins zu demonstrieren, in Kapitel 4, S. 108–138.
69
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
und Wahnsinn sich steigern muß. Diese Steigerungswerte sind
Index des wachsenden Bewußtseins der existentiellen
Unausweichlichkeit einerseits, und einer trotzigen
Selbstbehauptung andererseits, die sich Heilung und Therapie
deswegen versagen muß, weil damit der Anspruch auf Selbstmacht
vollends aufgegeben werden müßte. Langeweile, Melancholie und
Verzweiflung sind nicht nur die Symptome eines Daseins, dessen
Krankheit für Kierkegaard nichts anderes als das urtheologische
Drama der Erbsünde repräsentiert, die darin besteht, daß das
Dasein selbst Gott sein will. Indem Freiheit und Selbstmacht in
Unfreiheit und Ohnmacht sich verkehren, verurteilt sich das
Dasein zuletzt zu einer reinen Potentialität. Da keine reale
Äußerung des phänomenalen Ichs vor dem absoluten Anspruch des
wesenhaften Ichs standhalten kann, kann das wahre Ich mit
seiner Erscheinung nur unzufrieden sein, beginnt sich deswegen
zu hassen und geht zuletzt so mit sich ins Gericht, dass es
sich faktisch schon in der Hölle befindet.
Haben sich Selbstmacht ironisch in Ohnmacht, Freiheit in
Selbstgefangennahme verkehrt, so fordert die Befreiung aus
dieser ironischen Freiheit ein fundamentales Entweder-Oder,
indem das Ich sich für sich selbst entscheidet und sich
verendlicht. Diese Verendlichung kann allerdings nur so
zustandekommen, daß das endliche Ich die Unendlichkeit als
„anderes“ (voraus)setzt und sich diesem anderen im Glauben
unterwirft. Solche Befreiung als Unterwerfung wird allerdings
nur möglich, wenn das Unendliche als die Liebe gedacht wird,
die das verhasste Endliche mit dem Unendlichen, und über dieses
mit sich selbst versöhnt.160
160 Dieser Gedankengang ist schon in: Sören Kierkegaard, Entweder – Oder II, (1843) Jena, ohne Jahresangabe, in dem Brief über „Das Gleichgewicht des
70
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Schmitt setzt dieselben Kategorien – möglich/wirklich,
endlich/unendlich – ein, um da, wo Kierkegaard eine Synthese
anstrebt, eine reine Polarität zu konstruieren. An die Stelle
des Versuches, ein Gleichgewicht zwischen den Momenten zu
erzeugen, dem eine existenziell lebbare Synthese und Versöhnung
entspricht, inszeniert Schmitt den Konfliktfall. Der
romantische Daseinsentwurf entspricht dabei auch bei Schmitt
dem für die Moderne repräsentativen Daseinsentwurf, insofern
hier das Subjekt einer Überdosis von der Modalität der
Möglichkeit verfällt. Die romantische Selbstbefreiung als
Befreiung vom Zwang des Realitätsprinzips setzt für Schmitt auf
den Zustand, in dem das geniale Ich sich nicht nur als Ursprung
aller seiner Möglichkeiten, sondern vor allem als Ursprung auch
der einander entgegengesetzten Möglichkeiten setzt. Das
ästhetische Subjekt, das im Namen seiner Freiheit das
Ästhetische zum Seinsprinzip erhebt, fordert die Reduktibilität
aller seiner Vorstellungen auf das Ich und setzt damit immer
schon die Einheit der Gegensätze – möglich/wirklich,
endlich/unendlich, Ich/Nicht-Ich. Wenn so das Ich „das
Ästhetische“ zum Seinsprinzip und damit alle regionalen
Ontologien dem ästhetischen Grundprinzip unterwirft, ergibt
sich das, was Schmitt „ästhetischen Expansionismus“ nennt, der
nicht nur „alles Geistige, Religion, Kirche und Nation“161
erfasst, sondern alle Handlungen in vorläufige und jederzeit
widerrufbare, also ironische Handlungen verwandelt. Damit
Ästhetischen und des Ethischen in der Ausarbeitung der Persönlichkeit“ vollentwickelt, dann in der Beilage: „Die Definition der Sünde hat die Möglichkeit des Ärgernisses in sich; eine allgemeine Bemerkung über Ärgernis“ (Die Krankheit zum Tode, S. 78 ff.). Vor allem aber in: Sören Kierkegaard, Der Liebe Tun I/II, Gütersloh 1998161 Schmitt, Politische Romantik, S. 16.
71
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
können, so Schmitt, „alle sachlichen Gegensätze und
Unterschiede, Gut und Böse, Freund und Feind, Christ und
Antichrist zu ästhetischen Kontrasten“ und zu Mitteln der
Intrige eines Romans werden und sich ästhetisch in die
Gesamtwirkung eines Kunstwerkes einfügen. Aber eben diese
Ästhetisierung der Gegensätze zu Kontrasten transformiert das
ästhetisch -ironische Dasein nicht nur zu einem
diskontinuierlichen, d.h. hier unvorhersehbaren opportunen
Spiel mit diesen Gegensätzen. In der Konfrontation mit der
Gesetzmäßigkeit der Realität erscheint der romantische
Ironiker, da er unvermutet von einer Position zu deren
Gegenposition wechseln kann, als unberechenbar, willkürlich und
verantwortungslos, also primär als Verräter. Der politische
Romantiker kann so heute für die Revolution eintreten, morgen
ein Monarchist werden, und übermorgen beide Positionen in einem
Liberalismus aufheben, wobei solche Positionswechsel im
Zweifelsfalle der jeweiligen Interessenlage entsprechen.
Ironisches Leben ist, wenn nicht einfacher Opportunismus, so
eine Art permanenter Selbstverrat, der allerdings von außen als
Intrigenspiel wahrgenommen wird.
Da, wo nun Kierkegaard die existentielle Stimmung des Ichs
als fundamental für die Katastrophe dieses Daseins setzt, da
stellt sich aus der Außenperspektive das katastrophale Phänomen
der opportunen Gelegenheit dar: die occasio, der Anlaß und
Zufall, denen das Dasein verfällt. „Romantik ist
subjektivierter Occasionalismus, d.h. im Romantischen behandelt
das Subjekt die Welt als Anlaß und Gelegenheit seiner
romantischen Produktivität.“162 Diese occasio nun ist „ein
162 Ebd., S. 18.72
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
auflösender Begriff, denn alles, was dem Leben und dem
Geschehen Konsequenz und Ordnung gibt, sei es die mechanische
Berechenbarkeit des Ursächlichen oder ein narrativer
Zusammenhang, ist mit der Vorstellung des Occasionalismus
unvereinbar.“163
Was als souveräne Selbstmacht sich begreift, erweist sich
auch hier bei der ersten Gelegenheit als komplexe Strategie
der Realitätsflucht, die nicht nur sich nicht festlegen will,
sondern de facto Realität gegen Realität ausspielt. „Der
Romantiker, der kein Interesse daran hat, die Welt in realitate
zu verändern, hält es für gut, wenn sie ihn in seiner Illusion
nicht stört. Ironie und Intrige bieten ihm ausreichende Waffen,
um seine subjektive Autarkie zu sichern.“164 Aber auch der
Versuch, sich vor der Realität durch Ironie und Intrige
abzusichern, verkehrt sich allzu schnell in den Zustand der
Verzweiflung darüber, daß „in ihm [dem Romantiker] mehrere
Realitäten ironisch durcheinanderspielen.“165
Die vermeintliche Souveränität, die sich als Herr über das
Weltspiel wähnte, erfährt sich selbst als blindes Spiel und
Objekt von fremden Mächten. Insofern der Ironiker meinte, alle
Zufälle des Lebens als Materialien ansehen zu können, aus denen
der Romantiker machen kann, was er will, und so dieses Material
– nach dem Wort des Novalis – Ausgangspunkt und Anfang eines
unendlichen Romans sein soll, wird der Roman des Romantikers
nicht zufällig zur Szene, in der dieser Umschlag sich
dokumentiert. Die Helden in Tiecks ersten Romanen, schreibt
Schmitt und folgt hier wieder ganz auf den Spuren Kierkegaards,
163 Ebd.164 Ebd., S. 105.165 Ebd.
73
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
experimentieren als große Maschinisten im Hintergrund desGanzen und halten die Fäden des Spiels in ihrer Hand. Dochmüssen sie schließlich erkennen: auch mit ihnen spielt dasSchicksal widerum auf seine Weise [...] nur ein großes Spiel,eine Posse, in der fürchterliche Gestalten seltsamdurcheinandergemischt sind. Lovell, der geglaubt hatte, dasSchicksal seiner Umgebung mit ironischer Überlegenheit zubeherrschen, war selbst das Werkzeug der Ironie des Anderengewesen.166
Wenn so das Spiel des Romantikers gar nicht für den Fall
vorgesehen ist, daß auch der andere sich seiner Strategie
bedient, d.h. die Souveränität des Ironikers im Stillen also
schon immer voraussetzt, daß die Welt nach der alten
Gesetzmäßigkeit abläuft und eben die anderen sich nicht
ironisch verhalten, wenn anders das ironische Spiel nicht
seinen Sinn verlieren soll, so handelt es sich immerhin nur um
ein esoterisches Spiel, das niemals Grundlage einer
ernstzunehmenden Politik werden kann – was aber bedeutet, daß
der Romantiker selbst schon einen Gegensatz von romantisch und
politisch voraussetzen müßte.
Adam Müllers „Begriff des Politischen“ ist eine Projektion
des romantischen Subjekts ins Politische. Als ideales
Überindividuum, dessen naturhafte Funktion das einzelne
Individuum werden soll, spielt es „in allen erdenkbaren
Gegensätzen und Polaritäten, wird es Mann und Weib, Adel und
Bürgertum, Krieg und Frieden, Recht und Nutzen [...] kurz (es
ist) die romantische Aufreibung der Realität167“. Die
ästhetische Staatsauffassung, die im Staat ein Kunstwerk, ein
für die Interpretation offenes Spiel der Gegensätze möglicher
Deutungen erkennt, werde bei Adam Müller, am Ende zu der
166 Ebd., S. 126.167 Ebd.
74
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
"Geliebten, die sich in alles verwandeln und in die man alles
verwandeln kann, also Gegenstand eines Affekts und als solcher
occasionell, heute Preußen, morgen Österreich, bald Souverän,
bald Gesamtkredit, in jedem Fall ein „in globaler Form
schwingendes Produkt seiner eigenen Vibrationen“168.
Auch das berühmte romantische Gespräch, das in Müllers
Ökonomie der totalen Harmonisierung aller Gegensätze eine
zentrale Rolle spielt, ist selbst immer schon die Einheit von
Reden und Hören, also zuletzt doch nur ein Selbstgespräch des
einen Überindividuums. „Der Redner muss sich als Hörer denken,
der Hörer als Redner, man kann beide Rollen vertauschen, wie
Subjekt und Objekt, positiv und negativ usw. Das ist die ewige
Wechselwirkung, von der Adam Müller immer spricht.“169
Das ins Phantastische gesteigerte ideale Überindividuum als
Staat bedeutet zuletzt nicht nur die Aufhebung des Gegensatzes
und der Feindschaft, sondern die Aufhebung des anderen als
solchen, die Voraussetzung auch der harmonistischen Politik.
Schmitt drückt das Fazit dieser Überlegungen im folgenden
Passus aus:
Die deutsche Romantik romantisierte erst die Revolution, danndie herrschende Restauration, und seit 1830 wurde sie wiederrevolutionär. Trotz Ironie und Paradoxie zeigt sich einehistorische Abhängigkeit. Im engsten Bereich seinerspezifischen Produktivität, im Lyrisch-Musikalisch-Poetischenmag der subjektive Occasionalismus eine kleine Insel freienSchöpfertums finden, aber selbst hier unterwirft er sichunbewußt der nächsten und stärksten Macht, und seineÜberlegenheit über die bloß occasionell genommene Gegenwarterleidet eine höchst ironische Umkehrung: alles Romantischesteht im Dienste anderer, unromatischer Energien, und dieErhabenheit über Definition und Entscheidung verwandelt sich
168 Ebd., S. 128.169 Ebd., S. 142.
75
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
in ein dienstbares Begleiten fremder Kraft und fremderEntscheidung.170
Schmitts Text inszeniert das Scheitern des Definitionsversuches
des Begriffs „Politische Romantik“. Als Gegensätze durch keine
Ästhetik zu überwinden, bezeichnet dieses Scheitern allerdings
nicht nur die Genese des diskursiven Souveräns Schmitt, sondern
eben die Genese seines Begriffs des Politischen,171 der für den
Ernstfall eben den Konflikt zwischen dem, der sich entscheidet,
und dem, der der Entscheidung ausweicht, vorsieht. So wird Adam
Müller nicht nur zum Prototyp des liberalen Politikers, sondern
eben zu dem ultimativen Feind, der Feindschaft im Gespräch, in
der Diskussion zu überwinden hofft. Der harmlose Träumer als
Opportunist und Parteigänger – Adam Müller – wird aber aus zwei
Gründen zum Archetyp des Feindes, einmal weil er sich gegen den
eigenen Anspruch dienstbar für andere Mächte macht, zum anderen
weil er sich bis zur Selbstvernichtung selbst schwächt.
Da wo Kierkegaard den Ironiker als den Prototyp der Erbsünde
durch die göttliche Liebe – eucharistisch – über Umkehr und
Vergebung zu heilen beabsichtigt, da steht bei Carl Schmitt der
Ironiker für den Feind, der in souveräner Entscheidung erkannt
und erledigt werden soll. Dabei gilt für beide kritische
Ansätze gegen die Moderne, daß die Entscheidung, sowohl die
existentiell theologische wie die existentiell politische, eine
Grundentscheidung voraussetzt, nämlich die radikale Disjunktion
von Gott und Subjekt, deren Vergessen bzw. Verdrängen im einen
Fall den Tatbestand der Sünde, im Anderen den der Feindschaft
ergibt. Die Insistenz auf dieser ontischen Differenz begründet
170 Ebd., S. 168.171 Vgl. Carl Schmitt, Politische Theologie, vor allem das vierte Kapitel nimmt die Romantikkritik wieder auf. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen.
76
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
sowohl den Zusammenhang bzw. das Konkordat von Theologie und
Politik, wie es Schmitt hier aktualisiert, als auch die
radikale Differenz zwischen diesen beiden
säkularisationskritischen Positionen, die das Konkordat in
Frage stellt.
III Entweder – Oder 2: Gott oder Mensch
Schon bei Kierkegaard setzt die existentielle Entscheidung eine
Bereitschaft des Daseins, sich zu verwirklichen und zu
verendlichen, eine fundamentalere Entscheidung voraus: Erst
wenn nämlich das Dasein sich von der Illusion seiner
Unendlichkeit und Absolutheit zu emanzipieren vermag, wenn es
sich selbst, das ästhetische Ich, in seiner theologischen =
Gott-verfallenheit erkennen kann, bzw. diese in ihrer
katastrophalen, absolut lähmenden Wirksamkeit durchschauen
kann, wird es frei für die existentielle Entscheidung. Existenz
setzt für Kierkegaard eine fundamentale ontische Differenz
voraus, die erst den Selbstbezug und Selbstentwurf gelingen
läßt. Aus der Perspektive dieser ontischen Differenz wird der
ästhetische Lebensentwurf nicht nur als Rebellion gegen Gott,
also als Sünde neu zu definieren sein, es stellt sich um so
entschiedener für Kierkegaard die Frage, wie sich der Mensch
von dieser Ursünde zu befreien vermag, die als Rebellion des
Subjekts gegen Gottes Souveränität erkennbar die Moderne im
Ganzen als Zeitalter der radikalen Sündhaftigkeit kennzeichnen
soll. Kierkegaards Antwort ist praktisch: weil das Dasein an
dem Vergessen der ontischen Differenz zwischen Gott und Mensch
77
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
zutiefst leidet und theologisch gesehen, die Ursünde der
Rebellion schon das Gericht über den Sünder ist. Das Drama, das
Kierkegaard in der „Krankheit zum Tode“ beschreibt, läßt sich
auf die Formel einer scheiternden Selbstbeziehung bringen:
Indem das Ich sich gegenüber seiner realen Selbstdarstellung
absolut setzt, artikuliert es nicht nur die Inadäquanz von Ich
und Ich, sondern es muß jede Selbstdarstellung zugleich zum
Objekt des unendlichen Ungenügens und der unerbittlichen Kritik
werden.172 Die intendierte Freiheit und Selbstmacht muß als
intendierte Selbstliebe und positiver Selbstbezug, ebenso wie
Freiheit und Macht, sich ins Gegenteil verkehren: in Selbsthaß,
der eben Funktion dieser Diskrepanz zwischen absolutem Maßstab
und realer Verwirklichung ist. Damit aber beginnt das Dasein,
das sich absolut gegen seine reale Erscheinung auflehnt, diese
kritisiert, verurteilt, und zuletzt mit dieser ins Gericht
geht, den eigenen Leidensweg. Er beginnt mit der Langeweile,
und überschlägt sich in Melancholie, Trotz und Wahnsinn. Nicht
nur wird die intendierte Omnipotenz Impotenz, der Aufenthalt im
eigenen Ich als permanentes Selbstgericht zur Hölle für dieses
Ich, sondern es muß sich gegen jeden Heilungsversuch sperren,
je mehr es der Heilung bedürftig wird.173 Das Ergebnis ist, dass
sich dieses Ich sozusagen gegen jede Intervention von außen
verbarrikadiert, „trotzig“ jetzt gerade das Ich sein will, das
es zuletzt so schwer fand, zu sein. Es kompensiert, hier ist
Kierkegaards Analyse der Psyche des Tyrannen Nero
172 Kierkegard, Krankheit, S. 65 ff.173 Unter den zahlreichen Analysen von Kierkegaards Ironiekritik und Subjektivitätstheorie scheint die von Romano Guardini, „Der Ausgangspunkt der Denkbewegung von Soeren Kierkegaard“, in: Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst, Jahrgang 24, April–September, Band II, München1927, S. 12–33, immer noch die beste Arbeit zu sein.
78
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
paradigmatisch, die Heilungsbedürftigkeit durch Machtzufuhr,
bis es unter der eigenen Last des Ichs wahnsinnig
zusammenbricht.174 Kierkegaard zeichnet die Stationen eines
Leidens nach, dessen Therapie nicht nur in der Einsicht in die
ontische Differenz besteht, sondern in der Einsicht in die
radikale qualitative Differenz zwischen Gott und Mensch. Nur
wenn die Kreatur sich an Gottes Stelle setzt, wird Gott zu dem
unerträglichen Gericht, wird mit der Selbstentzweiung Gott zum
Feind. Der eigentliche Skandal aber seiner Offenbarung besteht
darin, dass Gott da ist, um den Menschen von seinem Wunsch,
Gott zu sein, zu erlösen, d.h. er bietet ihm die Liebe an, die
es ihm abnimmt, Gott sein zu müssen, und es ihm gestattet, sich
selbst als Mensch anzunehmen.
Kierkegaards Entweder – Oder bezeichnet so nicht nur ein
existentielles Entweder-Oder, sondern es signalisiert eine
radikale Kritik an der sogenannten Säkularisation175 als
katastrophalen Akt der Aneignung der Liebe Gottes durch die
Selbstliebe, die mit Lessing176 beginnt und im Werk von
Kierkegaards Zeitgenossen Ludwig Feuerbach 177 manifest wird.
Der Rückzug auf das autonome Subjekt muß dabei nicht nur die
Liebe Gottes als fehlgeleitete Projektion der Selbstliebe
„enthüllen“, sondern diese Reduktion reduziert die göttliche
174 Vgl. Kierkegaard, Entweder – Oder II, S. 159 ff.175 Zum Begriff der Säkularisation vgl.: Hermann Lübbe, Säkularisation – Geschichte eines ideenpolitischen Begriffes, Freiburg 1965; Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen; ErikVoegelin, The New Science of Politics; Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1996.176 Gotthold Ephraim Lessing, „Das Testament des Johannes“, in: ders., Werke, Bd. 8, München 1979, S. 15–19 177 Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6, Stuttgart 1960, S. 15: „Gott ist das offenbare Innere, das ausgesprochene Selbst des Menschen; die Religion die feierliche Enthüllung der verborgenenSchätze des Menschen, das Eingeständnis seiner innersten Gedanken, das öffentliche Bekenntnis seiner Liebesgeheimnisse.“
79
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Liebe und die Nächstenliebe notwendig auf die Selbstliebe, die
zuletzt nur noch ästhetisch als Eros und Sexus sich
konstitutiert, als erotische Souveränität und Wille zur
Macht.178 Dieser Wille zur Macht als Wille zur souveränen
Selbstbehauptung muß ultimativ alles, was dem Selbst und seinem
Willen entgegensteht, als Fremdes, anderes, als Feindliches
wahrnehmen und bekämpfen.
Indem Carl Schmitt die Wurzel des modernen Subjekts in eben
dieser ontischen Verwechslung, bzw. im Vergessen der ontischen
Differenz erkennt, setzt seine politische Kritik eben eine
Rehabilitierung dieser Differenz voraus und versteht sich als
radikale Kritik an Säkularisation: „Metaphysik ist etwas
Unvermeidliches“, schreibt Schmitt in der Einleitung zur
„Politischen Romantik“,
man kann ihr nicht dadurch entgehen, daß man daraufverzichtet, sich ihrer bewußt zu werden. Wohl aber kann das,was die Menschen als letzte, absolute Instanz betrachten,wechseln, und Gott kann durch irdische und diesseitigeFaktoren ersetzt werden. Das nenne ich Säkularisation.179
Schmitt möchte hier nicht missverstanden werden. „Nicht
äußerliche Fälle, wie daß z.B. die Kirche durch das Theater
ersetzt [...], das Gotteshaus als Museum behandelt wird“, meine
er hier, sondern den prägnanten Fall der Moderne, also die
Tatsache, daß die „letzte Instanz von Gott in das geniale Ich
verlegt“180 wird. Eben dadurch ändere sich der ganze Vordergrund178 Friedrich Nietzsche, „Der Wille zur Macht VI: Der Wille zur Macht als Kunst“, § 363, in: Nietzsche Werke in zwei Bänden, II, Leipzig, ohne Jahresangabe,S. 484–485; Sigmund Freud, „Das Unbehagen in der Kultur“, in: Freud Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt a. M. 1982, vor allem Kapitel V, das eine Reduktion der Nächstenliebe auf die Selbstliebe enthält und in dem Nächstenliebe zu dem Unrecht wird, das wir an denen ausüben, die wir wirklich lieben. (S. 238 ff.)179 Schmitt, Politische Romantik, S. 18.180 Ebd., S. 19.
80
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
und so trete „das eigentlich Occasionalistische rein zutage.
[...] Jetzt erst kann wirklich alles zum Anlaß für alles
werden.“181
Auch für Schmitt weist das existentielle Problem also zurück
auf das ontotheologische Problem, die Verwechslung von Gott und
Subjekt. Die Differenz zwischen beiden ist in der Metaphysik
der Moderne in Vergessen geraten und hat die politische
Theologie gezeitigt, die aus der Identität beider die Bedingung
der Möglichkeit der Fusion von Gottesreich und irdischem Reich
ableitet. Schmitt bezieht sich hier auf zwei metaphysische
Modelle, die die katastrophale Entwicklung der Säkularisation
erhellen sollen. Die eigentliche Formel vom Occasionalismus
führt zu Malebranche, die Formel von der Einheit der Gegensätze
zu Nikolaus Cusanus. Diese doppelte Reduktion entspricht
durchaus der Logik, die Schmitt hier als Logik der
Säkularisation rekonstruieren möchte. Malebranches
Occasionalismus sieht in Gott „die letzte Instanz, und die
ganze Welt und alles, was in ihr vorgeht, (ist) bloßer Anlaß
seiner alleinigen Wirksamkeit. Das ist ein großartiges Bild der
Welt und steigert Gottes Überlegenheit zu einer
ungeheuerlichen, phantastischen Größe“182.
Malebranche steht also offenbar für den Aspekt des göttlichen
Willens, während Cusanus hier für die absolute Vernunft steht,
die alle realen Gegensätze als Einheit setzt.
Der Gegensatz von Möglichem und Wirklichem wird mit dem vonUnendlichem/Endlichem, Intuitivem/Diskursivem verschmolzen.Der Mystiker des Mittelalters, der das Problem auf den Streitder Modalitäten zurückführte, fand auch hier wieder dieLösung des Konflikts in Gott: nur Gott ist zugleich
181 Ebd.182 Ebd., S. 18.
81
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
unendliche Möglichkeit und jede konkrete Möglichkeit; ervereinigt das posse und das esse in sich als die Aufhebungaller Gegensätze [...] Er ist, wie die seltsame Wortbildungdes Nikolaus Cusanus lautet, das Possest. 183
Der göttliche Wille, auf das ästhetische Subjekt übertragen,
wird zur destruktiven Willkür und Intrige, die göttliche
Vernunft auf das Genie hin gedacht, zur Aufhebung aller
Aktivität. Schmitt ortet das Problem der Moderne in eben dieser
Transformation von Gott ins geniale Subjekt, die hier als die
metaphysische Bedingung der Möglichkeit derjenigen politischen
Theologie ins Blickfeld gerät, die das „Gottesreich auf Erden
errichten“ will, und damit zuletzt immer mehr der eigentlichen
Realität des Politischen ausweicht bzw. „das Politische“ als
Entscheidung, Ausnahme, Konflikt neutralisiert. Nicht zufällig
bedürfe das absolut gewordene Ich der Romantik daher zweier
Instanzen, die Schmitt in gnostischer Anspielung: Demiurgen
nennt. Er meint den Demiurgen der Geschichte und den der
Menschheit: „Was der mittelalterliche Mystiker in Gott gefunden
hatte, suchte das romantische Subjekt selbst zu übernehmen,
ohne aber die Möglichkeit aufzugeben, den beiden Demiurgen, der
Menschheit und der Geschichte, die Aufgabe einer solchen
Vereinigung zuzuweisen.“184
Der Ironiker projiziert seine ästhetische Metaphysik der
Einheit aller Gegensätze auf die zwei temporalen „Ekstasen“,
die die Flucht aus der Gegenwart, dem Augenblick der
Entscheidung, kompensieren sollen. Der Gott der Menschheit
eröffnet die Perspektive auf eine Realisierung der Einheit
aller Gegensätze in der Zukunft, der Gott der Geschichte
verlegt diese Einheit in die Geschichte, das stetige Werden, 183 Ebd., S. 78.184 Ebd.
82
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
die Tradition, wobei sich nicht nur beide Demiurgen jeweils
ergänzen können, sondern den ständigen Frontenwechsel des
Romantikers zwischen Revolution und Restauration erläutern.
„Das Korrektiv der revolutionären Schrankenlosigkeit lag bei
dem anderen, dem zweiten Demiurgen, der Geschichte. Sie ist der
konservative Gott, der restauriert, was der andere
revolutioniert.“185
Aber eben diese Entlastung des genialen Ichs durch die
Vergangenheit und die Zukunft bestätigen nur die fundamentale
Abstinenz des säkularisierten Gottes von jeder Gegenwart. „Der
Augenblick wird zu einem übermächtigen irrationalen
gespenstischen Ereignis, insofern er die stets vorhandene
ununterbrochene Negation der zahllosen Möglichkeiten (ist), die
er vernichtet.“186
Es bedarf der Einsicht in die ontische Differenz von Mensch
und Gott, um das Entweder-Oder einzuleiten, das jetzt
historisch politisch auszutragen ist, und das Schmitt für den
grossen Augenblick, das „Ereignis“, vorbereitet. Dieser
Augenblick aber besteht tatsächlich nur in der Negation all der
Synthesen, die der politische Romantiker und Feind der
Disjunktion, vollzieht.
Beide, Schmitt und Kierkegaard setzen mit der existenziellen
Entscheidung also eine ontische Differenz voraus. Für beide ist
die Moderne als Säkularisation die Katastrophe, die sich
notwendig als Folge des Vergessens dieser Differenz einstellt.
Beide erkennen im „Ästhetischen“ die metaphysische
Grundhaltung, die den Unterschied zwischen Gott/Subjekt
verdeckt. Für beide wird die Säkularisation zuletzt zu einer 185 Ebd., S. 71 f.186 Ebd., S. 80.
83
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Parodie der Menschwerdung Gottes. Aber gerade an dem
Verständnis der Christologie läßt sich die Differenz zwischen
der theologischen und der politischen Deutung noch einmal
präzisieren.
Wenn Kierkegaard „Säkularisation“ als das Vergessen der
ontischen Differenz auffaßt, so beschreibt er Subjektivität als
einen notwendigen Leidensprozeß, der sich aus der Gottwerdung
des Menschen ergibt. Die erste Ironie besteht darin, daß dieser
Leidensweg nicht nur die Intention auf Freiheit, Macht und
Selbstliebe in Unfreiheit, Ohnmacht und Selbsthaß verkehrt,
sondern daß der moderne Gottmensch, gerade indem er die
Freiheit des neuen Menschen propagiert, die eigene Humanität
aufopfern muß. Wenn die Moderne mit ihrer wesenhaft
ästhetischen Metaphysik aus dieser Perspektive nur eine
grandiose Wiederholung der Erbsünde, der Krankheit zum Tode als
„Erkrankung“ an Gott ist, so besteht die letzte Ironie
natürlich darin, daß Heilung hier durch die Umkehrung dieser
Gottwerdung des Menschen nur dadurch zustandekommen kann, daß
nun Gott selbst eben Mensch wird, um den Menschen von dieser
Sehnsucht, Gott zu sein, zu befreien. Die KENOSIS, in der sich
Gott seiner Göttlichkeit begibt, um dem Menschen zu dienen und
sich für ihn aufzuopfern, soll den Menschen von eben der
fundamentalen Sünde erlösen, selber Gott sein zu wollen.
Bei Schmitt bleibt von diesen ironischen Konstruktionen nur
das kryptische Bild des modernen ironischen Ästhetikers als
Subjekt einer fürchterlichen Entstellung des Menschlichen
übrig, die er allerdings in der Tat als fehlgeleitete
Christologie vorstellt und verhöhnt. Politisch ist das
romantische Subjekt erledigt, weil es sich notwendig in den
84
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
„Dienst anderer unromantischer Energien stellt, so daß die
Erhabenheit über Definition und Entscheidung [...] sich in ein
dienstbares Begleiten fremder Entscheidung verwandelt.“ Schmitt
liest aber die Subjektwerdung Gottes nicht nur als
Vereinheitlichung aller Gegensätze, sondern ebenso als Prozeß,
in dem das Subjekt, alle gesellschaftlichen Funktionen auf sich
selbst vereinigt und unter deren Kreuz es schließlich
zusammenbrechen muß.
In dieser Gesellschaft ist dann dem „Individuum überlassen,sein eigener Priester zu sein, aber nicht nur das, sondern,wegen der zentralen Bedeutung und Konseqenz der Religion,infolgedessen auch der eigene Philosoph, der eigene König,der eigene Dombaumeister an der Kathedrale seinerPersönlichkeit. Im privaten Priestertum liegt die letzteWurzel der Romantik und der romantischen Phänomene. [...] Manmuß drei Menschen sehen, deren entstelltes Antlitz durch diebunten romantischen Schleier hindurchstarrt, Byron,Baudelaire und Nietzsche, die drei Hohepriester und zugleichdie drei Schlachtopfer dieses privaten Priestertums.187
Wird also das romantische Subjekt hier im Sinne des
neutestamentlichen Hebräerbriefes tatsächlich als Christus
imaginiert, der Hohepriester und Schlachtopfer zugleich ist, so
dient dieses Bild hier Schmitt nur dazu, um eben dieses an sich
selbst leidende Subjekt zu verhöhnen, es seinen eigenen
Schmerzen, seiner Tragödie zu überlassen, von der sich der
Blick des politischen Autors gleichsam entsetzt und angewidert
nur noch abwenden will. Das moderne Subjekt als Christus
zerbricht unter dem Kreuz der eigenen intendierten
Göttlichkeit. Gerade in dieser ultimativen Schwäche erweist
sich dieses Subjekt als der verächtliche Feind aller Politik
und verdient es, wenn nicht besiegt zu werden, unterzugehen.
187 Ebd., S. 21.85
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
IV Entweder – Oder 3
Wenn Carl Schmitts Kritik der politischen Romantik sich an
Kierkegaards existenzieller Theologie orientiert, um sie in ein
politisches Entweder-Oder zu übersetzen, so kommt hier ein
politisch-theologisches Konkordat zustande, das freilich nur
solange funktioniert, wie der theologische „Freund“ für den
Konflikt mit dem politischen Feind instrumentalisiert werden
kann. Das heißt konkret: solange sich die existenzielle
Theologie mit dem Rückzug aus der Moderne im Sinne eines
Rückzugs aus deren politischer Theologie begnügt und sich also
auf den privaten Glauben des Individuums beruft, das sich denn
auch den realen politischen Mächten – der berühmten Obrigkeit
aus Römerbrief 13 – unterwirft, wird dieser Bund intakt bleiben
können. So gesehen ist Schmitts Bemerkung, Kierkegaards Kritik
an der romantischen Ironie komme als eine theologische Kritik,
die auf das Individuum bezogen sei, für die politische
Romantik nicht in Frage, doppelt irreführend:
1) Es ist Kierkegaards theologische Kritik an der Romantik, die
Schmitt ins Politische wendet;
2) diese Ironiekritik bedarf eben der Theologie, die sich im
Namen von Glauben und individueller Seele aus der
Öffentlichkeit zurückzieht, um den öffentlichen Raum der
politischen Macht zu überlassen.
Die Theologie ist der Garant für einen nicht-politischen Raum,
der die politische Öffentlichkeit durch eine Lehre von der
86
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Sünde und der Obrigkeit als Hüterin der Sünde ideologisch
stützt. Friedrich Gogartens Politische Ethik188 von 1932 versteht
sich in diesem Sinne nicht nur in der theologischen Nachfolge
Kierkegaards, sondern verschärft dessen Theologie zu einer
Legitimation des autoritären Staates, wie Schmitt ihn in der
politischen Theologie von 1922 konzipiert. Hier also übernimmt
die Theologie bewußt die Aufgabe, die über die Betonung des
Sündenbewußtseins die theologischen Grundlagen für den
souveränen Staat schafft, der eben das Böse, die Sünde in
Schach halten soll.
Andere dialektische Theologen im Gefolge Kierkegaards, wie
Karl Barth189 und in seiner ersten Phase Erik Peterson190, haben
aus der Trennung von Gott und Subjekt, von Theologie und
Politik eine Lehre von der theologischen Gegenpolitik
entwickelt, die auf der Grundlage der paulinischen Theologie
zwar den Staat als Macht gegen die Sünde bejaht, ihn aber in
seiner Legitimation als Ordnung für die Menschen zugleich in
188 Friedrich Gogarten, Politische Ethik, Jena 1932189 Karl Barth, Der Römerbrief, München 1923, hier vor allem Kapitel 12–15: „Die große Störung“ überschrieben, in denen Barth zu einer radikalen Kritikder politischen Theologie der Moderne ausholt, die das Gottesreich in die Geschichte verlegt, ohne allerdings, wie sein anfänglicher Weggenosse Friedrich Gogarten, zu einer Rechtfertigung autoritärer Politik zurückzugreifen. Zur Unterscheidung von Friedrich Gogarten und Karl Barth siehe Dieter Schellong, „Jenseits von politischer und unpolitischer Theologie. Grundentscheidungen der ‚Dialektischen Theologie‘“, in: Taubes, Fürst, S. 292–315, wo die jeweilige Position zur politischen Theologie sehr klar aufgezeigt wird: Barths ideologiekritische Haltung und Gogartens. Den Gipfel von Gogartens politischer Theologie, wie sie schon in seiner politischen Ethik sich darstellt, ist ein Text von 1933, der im Titel die These formuliert: Einheit von Evangelium und Volkstum, Hamburg 1933. Der Vergleichzwischen Barth und Schmitt von Mathias Eichhorn, Es wird regiert! Der Staat im Denken Karl Barths und Carl Schmitts in den Jahren 1919 bis 1938, Berlin 1994, ist, wie mir scheint, zu sehr an den Ähnlichkeiten interessiert, um ein scharfes Profil der Antithese Schmitt – Barth zeichnen zu können. Der Vergleich Schmitts mit Gogarten wäre da in jedem Fall ergiebiger geworden.190 ? Vgl. Erik Peterson, Paulus – Der Brief an die Römer.
87
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Frage stellt. Die Christologie wird zum Modell eines
martyrologischen Widerstandes gegen jede totalitär-
terroristische Ordnung.
Wenn also auch politisch-kritische Positionen aus Kierkegards
theologischem Rückzug aus der Politik sich ableiten lassen
mochten, so weist dies nur darauf hin, daß das Bündnis zwischen
Theologie und Politik, das Schmitt grundsätzlich vorsieht,
früher oder später zu einer letzten Entscheidung führen muß, in
dem Schmitt den Primat des Politischen garantieren soll. Dies
scheint immerhin der Sinn der Transformation von der
politischen Theologie von 1922 zum Begriff des Politischen von
1927/32 gewesen zu sein.191 Die Begründung des Politischen als
Ausnahmezustand bedarf keiner Theologie bzw. keiner
theologischen Analogie (Wunder), sondern läßt sich ganz allein
aus dem Begriff des Feindes bzw. einer Anthropologie vom bösen
und gefährlichen Menschen bestreiten. Dem entspricht die
berühmte Fußnote über die evangelische Feindesliebe, die diese
bekanntlich der Privatsphäre zuweist und also die Kirche als
politische Institution unter den politischen Primat der
Feindeserkenntnis und -bekämpfung stellen soll.192
Erstaunlicherweise kündigt sich diese Emanzipation des
Politischen von jedem theologischen Kontext schon in der
Politischen Romantik an, insofern eben hier das aus der
ästhetischen Harmonisierung herausgelöste Politische die reine
Antithese ist zu jeder Diskussion, Reflexion und inhaltlichen
Setzung. Das Politische ist die reine Entscheidung ohne
191 Schmitt, Der Begriff des Politischen. 192 Ebd., S. 29: „Die vielzitierte Stelle ‚Liebet eure Feinde‘ (Math. 5,44, Luk. 6:27) heißt ‚diligite inimicos vestros‘ [...] und nicht ‚diligite hostes vestros‘; vom politischen Feind ist keine Rede.“
88
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Aufschub gegen die Diskussion ohne Entscheidung. Damit wird
diese Entscheidung aber nicht nur von jedem Inhalt entleert,
sondern sie wird – unter den apokalyptischen Umständen, die
Schmitt hier für die Moderne voraussetzt – zu der gleichsam
absoluten und zugleich rein intuitiven Handlung, die weit über
die konkrete Situation hinaus, die Moderne im „Augenblick der
Wahrheit“ zur Umkehr zwingt. Damit aber geht es dieser Politik
nicht mehr nur um eine Kritik an der Säkularisation und
politischen Theologie der Verwechslung von Gott und Subjekt,
sondern sie muß selbst zu einer alternativen Säkularisation
eben des Theologischen geraten, und zwar mit dem gleichen
Effekt einer Verwechslung. An die Stelle des Gottesreiches, mit
seiner Verwirklichung aus dem Geist der alle Gegensätze
vereinigenden Vernunft, tritt der Akt eines absoluten Handelns,
eines Handelns ohne Verzug also, das – auch hier hat
Kierkegaard den Modellfall Christus konstruiert – für Schmitt
nun politisch wirksam wird.
Da wo Christus, der eine Gottmensch, für Kierkegaard das
absolute Handeln symbolisiert, das ohne Verzug, Ausrede,
Diskussion das Werk der Liebe vollzieht, da setzt Schmitt den
Souverän ein, der – absolut – das Werk der Feindschaft
vollziehen soll. Beide, Christus und Souverän, stehen in ihrem
reinen Handeln über dem Gesetz, d.h. sie stehen nicht unter
einer Forderung, einem Sollen, über das sie reflektieren oder
89
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
diskutieren müssten.193 „Christus war Liebe, und seine Liebe war
des Gesetzes Erfüllung“, schreibt Kierkegaard,
alles in ihm war Wahrheit, es war in seiner Liebe nicht einesAugenblicks, eines Gefühls, eines Vorsatzes Abstand zwischender Forderung des Gesetzes und dessen Erfüllung [...]. DieLiebe in ihm war lauter Handeln; es gab keinen einzigenAugenblick in seinem Leben, da die Liebe nur ein untätigesGefühl gewesen wäre, das nach Worten sucht, während es dieZeit verrinnen läßt, oder eine Stimmung, die sich selbstgenug ist, bei sich selbst verweilt.194
Christus ist hier die Gegenfigur zum romantischen Ironiker, der
sich der Stimmung überläßt und die Entscheidung unendlich
aufschiebt.
Insofern Schmitts Souverän am Ende nichts anderes ist als das
reine Handeln über jedem Gesetz, ein Handeln also, das jede
Entscheidung, Reflexion und Diskussion beendet, wird es weitaus
mehr als nur zum säkularisierten Gegenbild Christi. Wo Christus
sein Werk der Liebe im Werk der Selbstaufopferung auch noch für
den Feind vollbringt, da vollstreckt der Souverän im Namen
seines Willens zur Macht, seiner auf den eigenen Eros
reduzierten Macht, sein politisches Werk als Vernichtungszug
gegen den Feind. In solcher Imitation und Umkehrung Christi
193 Vgl. Slavoj Zizek, „Carl Schmitt in the Age of Post-Politics“, in: Chantal Mouffe (Hrsg.), The Challenge of Carl Schmitt, London/New York 1999, S. 19:„Do we not encounter here Christ’s own religious suspension of the ethical?[…] [A] Sovereign compels us to respect laws precisely in so far as he is the point of suspension of laws.“ Zizek treibt den Vergleich zwischen Souveräen und Christus bis zu ihrer psychologischen Identität, wobei freilich die Differenz zwischen beiden gänzlich verwischt wird und das eigentlich politsch-theologische Problem nicht mehr zu erkennen ist. 194 Kierkegaard, Der Liebe Tun I, S. 111. Vgl. Vanessa Rumble, „Love and Difference: The Christian Ideal in Kierkegaards Works of Love“, in: Jegstrup, The new Kierkegaard, „An unqualified transcendence just like a deified immanence, has its dangers. At their worst moments, Derrida and Kierkegaard posit as our enemy the circle of the same, which is, after all,always already interrupted – and we live our lives only within this circle and can meet each other only there. At their best, they remind us of precisely this.“
90
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
zeigt sich allerdings, daß der Souverän in letzter Instanz zu
einer dämonischen Inkarnation eben des politischen Willens
wird, der die ontische Differenz wieder in sich aufhebt.
Gerade, weil Schmitt nur in Disjunktionen denken kann, kann er
der Moderne, die er kritisiert, nicht entkommen, weil ihm der
dialektische Atem ausgeht. Dem ironischen Gottmenschen, der
sich der Realität verweigert, tritt der souveräne Gottmensch
gegenüber, der die Realität obsessiv in Beschlag nimmt. Wo die
moderne Penelope tagsüber ihre ironischen Synthesen strickt, da
finden wir sie nachts dabei, wie sie diese Synthesen wieder
auseinandernimmt. Der ironischen Abstinenz von Realität
entspricht am Ende nur deren souveräne Überstrapazierung und
zuletzt Zerstörung.
91
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Deus sive NaturaFritz I. Baers Abhandlung über die Galut (1936) als politisch-
theologischer Traktat aus dem Geist der Apokalypse
I Baers Versuch einer Revision jüdischer Geschichtsschreibung
Fritz Izhak Baers kleine Abhandlung über die Galut195, das
jüdische Exil, ist in Wahrheit ein kleiner politisch-
theologischer Traktat. Unter dem Eindruck der Katastrophe der
nationalsozialistischen Machtergreifung verfaßt, geht es dem
Autor erklärtermaßen nicht um eine Ideengeschichte, sondern um
die in dieser Geschichte der Galut sich dokumentierende
Existenzfrage. Es ist dies die Frage nach den realen Ursachen
für Fortdauer und Aufhebung der Galut, die – wenn richtig
begriffen – zur Aufhebung des modernen geschichtlichen Denkens
des Judentums führen soll, denn „das geschichtliche Denken des
modernen Judentums“, so Baer, „krankt bis heute und in allen
195 Fritz Izhak Baer, Galut, Berlin 1936, gehört mit Leo Baeck, Die Pharisäer. Ein Kapitel jüdischer Geschichte, Berlin 1934; Martin Buber, Königtum Gottes, Berlin 1934;Elias Bickermann, Die Makkabäer. Eine Darstellung ihrer Geschichte von den Anfängen bis zum Untergang des Hasmonäerhauses, Berlin 1935; Hans Lewy, Von den Machterweisen. Eine zeitgenössische Darstellung der Judenverfolgungen unter dem Kaiser Caligula, Philon von Alexandrien, Berlin 1935; Leo Strauss, Philosophie und Gesetz, Beiträge zum Verständnis Maimunis und seiner Vorläufer, Berlin 1935, zu einer Reihe programmatischer wie rein theoretischer Reflexionen über die Situation der Wissenschaft vom Judentum angesichts der bevorstehenden bzw. schon angebrochenen Katastrophein Deutschland. Sind damit längst nicht alle Publikationen benannt, die damals im Rahmen des Schocken-Verlages erschienen, so läßt sich an den genannten Texten die Tendenz verfolgen, wie die historische Objektzeit auchdurch die Subjektzeit des Autors mitbestimmt wird. Dies wird vor allem an den programmatischen Schriften kenntlich wie auch an solchen, deren explizite Funktion es ist, über die historische Erinnerung tatsächlich so etwas wie Hoffnung und Trost zu spenden.
81
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Kreisen an den Wirrungen einer nicht richtig verstandenen
religiös-politischen Erbschaft.“196
Die Geschichte der Galut schreiben, heißt in diesem
Augenblick der Gefahr, eben dieses politisch-theologische
Testament „richtig antreten“. Das aber bedeutet für Baer, den
Historiker, daß die Geschichte „natürlich und kausal“ zu
erklären ist. Er möchte nun aber die historische Tatsache und
das historische Selbstverständnis der Galut erklären, das ganz
einem theologischen Geschichtsbild angehört. Damit wird der
Historiker also nicht von Gottes Handeln in der Geschichte,
sondern vom Handeln des Menschen berichten wollen, der
allerdings dieses Handeln aus dem vermeintlichen Handeln Gottes
ableitet. Das bedeutet also, daß das theologische
Selbstverständnis ein realer Faktor der Erklärung des
menschlichen Handelns wird, so etwa, wenn es darum geht, kausal
zu erklären, warum die Juden die im ganzen unerträgliche Galut
so lange haben ertragen können. Sie haben sie ertragen, weil
sie die Galut als Gottes Strafe und Vorbereitung auf die von
Gott einst herbeizuführende Erlösung begriffen haben.
Insofern aber nun dieses theologische Geschichtsverständnis
realhistorische Ereignisse im Sinne dieses Handelns Gottes
erklärt, ersetzt der Historiker das theologische
Geschichtsverständnis durch ein natürliches. Ein Beispiel:
Theologisch gesehen entspricht die Galut als Zerstörung des
Tempels und Exilierung des jüdischen Volkes einem Akt der
Strafhandlung Gottes, der, da Israel gesündigt hat, jetzt
gesühnt werden muß, damit Gott sich mit seinem Volk durch die
Aufhebung der Galut versöhnen kann. Diese theologisch-ethische
196 Baer, Galut, S. 99 f.82
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Kausalität ersetzt der Historiker nun durch eine natürlich-
politische Kausalität, der zufolge der kleine jüdische Staat –
zumal in einer bürgerkriegsähnlichen Situation – dem Ansturm
der römischen Weltmacht um 70 n. Chr. militärisch und
organisatorisch nicht gewachsen sein konnte.
So weit, so klar. Indem nun aber Baer das theologische
Verstehen der Geschichte als kausalen Grund für ein bestimmtes
Verhalten – nämlich das Aushalten der Galut – in Betracht
ziehen muß, wird dieses Verhalten selbst „unnatürlich“. Das
Überleben der kleinen jüdischen Minderheit innerhalb der
europäischen/christlichen Kultur widerspricht nämlich der
Gesetzlichkeit der natürlichen Geschichtskausalität, derzufolge
eben die schwachen von den starken Nationen zugrundegerichtet
werden. So muß der Historiker, der sich auf die natürliche
Erklärung stützt, davon ausgehen, daß die jüdische
Gesellschaft, insofern sie 2000 Jahre Galut überstanden hat,
sozusagen die natürliche Naturgesetzlichkeit suspendiert hat.
Das politisch-theologische Erbe richtig verstehen, heißt
damit zunächst: Die Geschichte nicht nur natürlich zu
konstruieren, sondern diese natürliche Konstruktion für die
Praxis umzusetzen. Dies soll in dem realpolitischen Akt
geschehen, mit dem der unnatürlichen Existenz eine natürlich-
politische Grundlage im jüdischen Staat verschafft werden soll.
Baer ist Zionist. Und indem er diese praktische Konsequenz aus
der natürlichen Geschichte zieht, ist die geforderte aktive
Politisierung der theologisch-messianischen Hoffnung auf die
einstige Aufhebung der Galut eben die „richtige“ Einsicht in
den universal-gesetzlichen Zusammenhang aller Politik.
83
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Wohl befindet sich das Judentum 1936 in der absoluten Krise,
aber dies vor allem, weil es an der Idee eines theologischen
Ausnahmezustands festhält. Zionist sein heißt, die Geschichte
restlos zu naturalisieren. Gerade aber von einer solchen
Naturalisierung erhofft sich Baer nicht weniger als die
„Erlösung“ Israels, d.h. er hofft, daß „für uns doch die letzte
Konsequenz des modernen kausal-geschichtlichen Denkens mit dem
letzten Schluß der alten jüdischen Geschichtsauffassung
zusammentrifft“197. In dieser Hoffnung auf eine mögliche
Konversion des theologischen und des natürlichen bzw. des
natürlichen und des theologischen Weltbildes liegt nun
sozusagen die für den Zionismus allgemein charakteristische
Ambivalenz zwischen Säkularisierung und Theokratie überhaupt.
Meine These ist, daß, wenn man Baers Bericht sehr genau
liest, sich ergibt, daß sowohl Baers Beschreibung als auch die
praktische Ableitung aus dieser Beschreibung sich einem
apokalyptischen Perspektivwechsel verdanken. Gerade die in der
Galut sich verstärkende theologisch-apokalyptische
Interpretation der geschichtlichen Ereignisse – der Aufenthalt
unter den Weltherrschern entspricht im Buch Daniel dem
Aufenthalt unter wilden Tieren – enthält sozusagen den
Schlüssel für eine natürliche Lesart der politischen
Ereignisse. Diese ergibt sich, wenn der Historiker das
Verhalten dieser politischen Tiere in ihrer baren Natürlichkeit
zu analysieren versucht, um sich etwa – natürlich – gegen deren
Wildheit zu schützen. Dieser Blickwechsel, der sozusagen die
Geburtsstunde der modernen jüdischen Geschichtsschreibung
ausmacht, vollzieht sich mit und nach der Vertreibung der Juden
197 Ebd., S. 103.84
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
aus Spanien, also am Anfang des 16. Jahrhunderts, bei solchen
Historikern wie Don Izchak Abravanell und vor allem Schlomo Ibn
Virga.
Wenn nun dieser historiographische Naturalismus zu einer
neuen politischen Kultur führt, in der Juden sich dem
nichtjüdischen König anempfehlen, indem sie – wie etwa Mosche
Chaijm Luzatto und Menasse Ben Israel – darauf hinweisen, daß
sie nicht nur besonders geeignet für Ökonomie und Diplomatie
sind, sondern daß sie als schwache Nation keine Gefahr für den
König darstellen, so ist dieser Naturalismus für den Historiker
Baer auf halbem Wege stehengeblieben. Er erkennt in dieser, aus
dem Naturalismus der politischen Situation der Galut gewonnenen
Realpolitik, eine „Krankheit der modernen jüdischen
Historiographie“, die in letzter Instanz zu einer fatalen
Entstellung, ja Verstümmelung des natürlichen Volkskörpers
führen muß. Die Transformation von der Apokalypse zur Natur zu
vollziehen, heißt für Baer, nicht nur diesen modernen Zustand
des Leidens aufzuheben, sondern den Eintritt in die aktive,
souveräne Politik im Sinne einer Restitution des natürlichen
Körpers zu vollziehen. Mit anderen Worten: Unter dem Eindruck
der Katastrophe von 1936 kann zuletzt die Kehre von der
apokalyptischen zur natürlichen qua real-politischen Geschichte
in ihrem vollen politisch-theologischen Sinn, d. h. praktisch
aktualisiert werden. Hiermit wäre dann die „religiös-politische
Erbschaft“ tatsächlich richtig begriffen.
Eben dies aber setzt in letzter Instanz voraus, daß Gott und
Natur in der Tat eins sind. Die metaphysische Bedingung der
Möglichkeit der politischen Theologie des Zionismus wäre also
85
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
der Pantheismus, und zwar so, wie er in einer
nationalreligiösen Sprache zu formulieren ist: als Kabbala.198
II Die Definition der Galut
Politische Knechtschaft, Zerstreuung, Sehnsucht nachBefreiung und Wiedervereinigung, Sünde, Buße und Versöhnung,das sind die großen Linien, die das Wesen der Galutbezeichnen.199
Baer stellt in dieser groben Skizze des Galutbegriffs zwei
Erklärungssysteme nebeneinander: das politische und das
theologische. System I: politische Knechtschaft, Zerstreuung,
Sehnsucht nach Befreiung und Wiedervereinigung. System II:
Sünde, Buße und Versöhnung.
Das theologische Selbstverständnis beruht auf einer Reduktion
des politischen auf das eigene Begriffssystem: Daß das jüdische
Volk in die Galut geführt wird, ist ein Strafgericht Gottes,
der die römische Weltmacht als Instrument einsetzt. Dieses
göttliche Handeln stellt die berechtigte Hoffnung auf eine
Wiedervereinigung Israels in seinem Land in Aussicht. Wenn das
politische Handeln gelingt, so ist dies sozusagen schon der
Beweis für das göttliche Handeln im Sinne der Versöhnung.
Für Baers natürliche Perspektive gilt, daß im Judentum der
zweiten Tempelperiode „Politeia [Gesetzes- und Lehrverfassung],
Volk und Land [zusammen-]gehören“200, das heißt, der sich
198 Über den Zusammenhang von Kabbala und politischer Theologie vgl. meinen Aufsatz, „Der häretische Imperativ. Gerschom Scholems Kabbala als politische Theologie?“, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 50. Jahrgang,Heft 1 (1998), S. 61–83. In erweiterter Buchform: Der häretische Imperativ. 199 Baer, Galut, S. 6.200 Ebd., S. 6.
86
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
ausbildende Begriff der Galut wird im Bezug zu einem zunächst
noch bestehenden politischen Zentrum in Palästina gedacht, in
der „der nationale Staat in Eretz Israel und das Heiligtum,
dessen sühnende Kraft der ganzen Menschheit gilt“201, also noch
existiert. Das Exil ist hier nicht nur negativ das Zeichen für
die politische Knechtschaft, sondern es besitzt durchaus eine
positive Funktion, nämlich die der „Vorbereitung der wahren
Lehre in der ganzen Welt“202. Wenn Baer also gleich mit der
Definition des heiligen Gefüges – Gesetz, Land, Volk – die
religiöse Gesetzeserfassung als Politeia beschreibt und die
Begriffe „Versklavung“, „gegenwärtiger Zustand“ und
„Wiedervereinigung“ ausdrücklich politisch definiert, dann
deutet er selbst offenbar die beiden Reihen der obengenannten
Begriffsbestimmung der Galut aus der ersten, der politischen
Perspektive, das heißt er reduziert die theologische Reihe
ausdrücklich auf die politische Reihe. Die Begriffe „Sühne“,
„Strafe“ und „Buße“ etc. kommen hier nur als Momente der
theologischen Deutung der realen historischen Erfahrung durch
die Träger dieser Geschichte vor.
Mit dieser ersten Definition, die sich in der Destruktion der
ursprünglichen Totalität von Politeia, Volk und Land nach der
Zerstörung des Tempels als eine im wesentlichen auf Tora und
Volk beschränkte Struktur herausbildet, sind die wesentlichen
Elemente der Galut benannt. Mit dem griechisch-römischen
Judenhaß und der schon in dieser Epoche voll ausgebildeten
Lehre vom Märtyrer für das Gottesreich zeigen sich aber schon
hier zwei weitere zentrale Elemente, die in späteren Epochen
immer größeres Gewicht erhalten werden.201 Ebd.202 Ebd.
87
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Die synchrone Einheit der Hauptmomente Politeia, Land, Volk
wird durch die Galut zu einer binären Struktur, die aus Volk
und Politeia (ohne Staat) besteht. Dieser Transformation
entspricht eine diachrone Abfolge von Exilierung, politischer
Knechtschaft, Sehnsucht nach Heimkehr: also die
Wiederherstellung der ternären Struktur Politeia, Volk und
Land.
III Die Geschichte der Galut
Die Geschichte der Galut verläuft nun über eine Reihe von
Stadien, Epochen, die zu bestimmten Akzentverschiebungen
innerhalb dieser Struktur führen, in der mit der Konstruktion
von Dominanten andere Elemente in ihrer Bedeutung zurücktreten
oder gar entfallen. Dieser Geschichte entspricht im Sinne der
Leidenserfahrung eine Bildmetaphorik, die das Volk als „Leib“,
„Körper“, „Statue“ usw. beschreibt, die zunehmend Schaden
nehmen, bis sie zu einem Torso werden und immer mehr entstellt
erscheinen. Auf der diachronen Achse unterscheidet Baer nach
der Epoche des Zweiten Tempels:
1) die Epoche der römischen Galut, die mit der Tempelzerstörung
im Jahre 70 der christlichen Zeitrechnung einsetzt;
2) die für diese Geschichte entscheidende Phase der
christlichen Herrschaft in Europa, der christlichen Auffassung
von der Galut als Zeichen des Heilsverlusts und der Usurpation
der Idee der heiligen Gemeinde durch die christliche Civitas
Dei;
88
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
3) innerhalb dieser christlichen Metaepoche das Mittelalter und
das Zeitalter der Kreuzzüge;
4) die Epoche der Vertreibung der Juden aus Spanien mit der
Ausbildung der verschiedenen Formen einer Marranentheologie bis
Sabbatai Zwi und Baruch Spinoza;
5) das Zeitalter der jüdisch-religiösen Aufklärung;
6) schließlich die eigentliche moderne Aufklärung als Ausdruck
der radikalen Krise, insofern diese Epoche sozusagen die
vollendete Galutvergessenheit repräsentiert.
Überblickt man die Entwicklung dieser verschiedenen Stadien in
der Darstellung Baers, so ergeben sich – wie mir scheint –
folgende historische Haupttendenzen:
Durch die Vertreibung aus dem Land wird „das immer gewaltiger
anwachsende System der Ausdeutung der Tora zum bestimmenden
Faktor im Leben des Volkes“. Diese Tendenz überschlägt sich
gewissermaßen in der mystischen Interpretation von Halacha und
Erlösungsgeschichte, die den realgeschichtlichen Aufschub der
Erlösung sozusagen kompensiert: „Durch die gewaltig anwachsende
kabbalistische Systematik wird das Galut-Problem in einen so
weitgespannten kosmisch-metaphysischen Rahmen eingebaut, daß
[am Schluß] eine Rückkehr zur Realität von hieraus kaum möglich
ist.“203 Es handelt sich also um einen eindeutigen Fall von
Überkompensation, wo die mystische Vertröstung zur Auflösung
der Realität führt, um deretwillen die Mystik entstanden ist.
Gegenüber dieser mystischen Reduktion der Geschichte erkennt
Baer eine Parallelentwicklung, nämlich eine Tendenz zur
Naturalisierung und zu einem historischen Realismus, der die
203 Ebd., S. 59.89
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
geschichtliche Situation zunehmend aus politischen, sozialen
und ökonomischen Gesetzmäßigkeiten zu begreifen versucht. Diese
Tendenz erkennt Baer schon bei Izchak Abravanell, aber vor
allem bei Schlomo Ibn Virga, der zum Begründer der modernen
jüdischen Geschichtsschreibung wird, weil er im Grunde schon
eine volle Reduktion des „Theologischen“ auf das „Politische“
vornimmt.
Es ist diese gegenläufige Dialektik einer radikalen
Mystifizierung einerseits und einer realistisch-natürlichen
Einschätzung andererseits, mit der sich das Bewußtsein einer
extremen Kluft ausbildet, das zuletzt unerträglich werden muß.
Die sabbatianische Krise, die moderne Aufklärung und das
Assimilationsjudentum sind für Baer radikale Artikulationen
dieses Krisenbewußtseins, das sich besonders eindrücklich in
der Bildmetaphorik vom entstellten Körper darstellt.
Die richtige politisch-theologische Erbschaft dieser
Geschichte antreten heißt nun, diese gewaltige Dynamik zu
erkennen, und das bedeutet, nicht nur den Ursprung der modernen
jüdischen Geschichtsschreibung in dieser Rekonstruktion
auszumachen, sondern den theologisch-apokalyptischen Ursprung
dieser natürlichen Geschichtsschreibung zu rekonstruieren.
Dieser erlaubt es, den politisch-theologischen Auftrag vor
allem dann in seiner ganzen Bedeutung zu realisieren, wenn die
Geschichte wieder, wie um 1936, in eine apokalyptische
Konstellation eintritt.
Ich skizziere jetzt etwas ausführlicher die beiden
auseinanderführenden Tendenzen, indem ich dem historischen
Bericht Baers folge:
90
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Erste Tendenz: Der entscheidende Einschnitt in der Galut-
Geschichte ereignet sich mit der Tempelzerstörung und der
Vertreibung aus dem Land Israel. Das heilige Gefüge Politeia,
Land, Volk wird zu einer binären Struktur: Volk und Tora. Mit
dieser Verkürzung, die endgültig mit der Zerstörung des (wie
auch immer unter schweren Bedingungen fortexistierenden)
jüdischen Lebenszentrums in Palästina während der Kreuzzüge
besiegelt wird, ist die Geschichte zunehmend aus der Relation
Volk-Gott verstanden, d.h. die Galut ist nunmehr Indiz für eine
„über alle naturgesetzlichen Zusammenhänge hinaus gehobene
Existenz“204. Die Historiographie der Galut beruht auf einer
Analogie zur siebentägigen Schöpfungsgeschichte:
Den ersten Tagen der heiligen Geschichte, da der Tempel nochstand, schließen sich der fünfte und der sechste Tag mit derHerrschaft der Tiere, d. h. der Weltreiche an, bis dann derWeltsabbath die gestörte Harmonie auf Erden und im Himmelwieder herstellen wird.205
Mit der Verschärfung der Bedingungen der Galut geht eine
Polarisierung der natürlichen und der heiligen Geschichte
einher. Die Galut, in der Israel unter die Herrschaft der Tiere
gerät – dies die apokalyptische Metapher für die in der
Naturgesetzlichkeit waltende Macht des Stärkeren –, ist eben
die Epoche, in der Israel, vollends land- und wehrlos, sich
gerade der natürlichen Gesetzlichkeit immer mehr entzieht. Den
ersten Höhepunkt der Verschärfung der Bedingungen bildet das
Vordringen der Herrschaft des römischen Christentums, das für
sich die Theologie der Galut „im Sinne der religiösen
Propaganda wie im Sinne des zum Zweck der Menschheitserlösung
übernommene Leiden“ beansprucht. Die Civitas Dei bestreitet 204 Ebd., S. 8.205 Ebd.
91
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
aber gerade damit den heilsgeschichtlichen Sinn der Galut und
weist den Juden als Zeugen der Strafe sowohl für den Gottesmord
als auch für die Wahrheit der christlichen Religion seinen
demütigenden Ort in der Welt zu. Die bisherige politische
Feindschaft wird zu einer politisch-theologischen Feindschaft
intensiviert. Die Juden sinken „zu einer in der ganzen Welt
politisch und religiös verfolgten Klasse“206 herab.
Mit den katastrophalen Ereignissen während der Kreuzzüge, den
Zwangstaufen, den blutigen Verfolgungen und vor allem dem
endgültigen Verlust von Jerusalem als dem wie auch immer
geschwächten „Schwerpunkt jüdischer Politik“, vollzieht sich,
was Baer als einen vollkommenen Rückzug des jüdischen Volkes
aus der aktiven politischen Geschichte beschreibt. „Das
jüdische Volk schied nun aus der Reihe der kämpfenden Nationen
aus und legt seine Geschichte ganz in die Hand Gottes – ein
einzigartiges geschichtliches Faktum, das noch kein Historiker
an der ihm gebührenden Stelle gewürdigt hat.“207 Es ist dieser
206 Ebd., S. 12.207 Ebd., S. 14. Theologisch ist der Rückzug des jüdischen Volkes aus jeder historisch-politischen Aktivität gerade in der deutsch-jüdischen Theologie immer schon Wahrzeichen einer wahren jüdischen Identität. Vgl. Cohen, Religion der Vernunft, S. 173: „So haben alle Völker auch ihre Staaten. Die Vereinsamung Israels muß konsequenterweise auch zur Staatenlosigkeit führen. […] Daher ist Israel in seiner Geschichte ein Prototyp des Leidens,ein Symbol des Menschenleids, des Menschenwesens. In der Liebe Gottes zu Israel prägt sich, nicht minder als in der zum Armen, die Liebe Gottes zu dem Menschengeschlechte aus.“ Ähnlich auch Rosenzweig, Stern, III. Buch: „Es[das jüdische Volk] muß, um das Bild der wahren Gemeinschaft unversehrt zu erhalten, sich die Befriedigung verbieten, die den Völkern im Staate wird.“In Nahum Norbert Glatzer, Geschichte der talmudischen Zeit, Berlin 1937 (der Text gehört zur Schocken Reihe), wird diese Auffassung von der notwendigen Staatenlosigkeit des jüdischen Volkes zur Grundlage einer Historiographie, die sich offenbar auf Rosenzweig bezieht: „Die jüdische Geschichtsschreibung ist nicht aus Mangel an Kraft erloschen“, schreibt Glatzer, „sondern aus der Erkenntnis, daß es eine jüdische Geschichte im eigentlichen Sinne des Wortes nicht mehr gab. Es gab vom Blickpunkt der Juden aus nur noch die Geschichte ‚der anderen‘, die in das Leben der jüdischen Gemeinschaft hinübergriff und die Verhältnisse schuf, unter denen
92
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
durch die politisch-theologische Leidenssituation bestimmte
Geschichtsverzicht, mit der die Galutlehre immer mehr in eine
reine Theologie sich verwandelt, die den Verlust der real-
politischen Macht zusehends mystisch-apokalyptisch
„kompensiert“208. In dem Traktat des Abraham Bar Chija – Megilat
HaMegale – von 1129 wird die schon erwähnte Analogie von
Schöpfung und Weltgeschichte nicht nur im Sinne einer
ziffernmäßigen Harmonie aufgerechnet, sondern das Weltende
selbst, insofern mit den Kreuzzügen nämlich die apokalyptische
Prophetie eines Daniel faktisch erfüllt sei: „Das Heiligtum ist
entweiht und die Juden endgültig aus Jerusalem vertrieben.“209
In diesem Kontext nun klafft die Spannung zwischen religiöser
Erwartung einerseits und real-politischer Situation immer
weiter auf. Während der philosophische Rationalismus des
Mittelalters und die christliche Apologetik die Grundlagen der
jüdischen Tradition erschüttern, übernimmt die Mystik die
besondere Rolle einer geistigen Neubegründung dieser Tradition.
„Die ganze Wunderwelt der Tradition erstrahlte in einem
magischen Glanze“, schreibt Baer, „der sich auch über die
Schrecken der Galut zu verbreiten schien. Aber der so belebte
Körper der Nation glich nun fast dem überirdischen Leib, mit
ihr äußeres Leben sich vollziehen mußte. Der Jude schuf nicht mehr Geschichte, sondern er erlitt sie.“ (S. 11) Baers ganze geschichtsphilosophische Tendenz ist auf die politische Destruktion dieses theologischen Mythos gerichtet, in dem er gleichsam die Krankheit auch des modernen Judentums erkennt, seine politisch-religiöse Verirrung. (Vgl. Anm.2) 208 Die Kategorie der Kompensation, die von Joachim Ritter, Subjektivität, Frankfurt a. M. 1974, eingeführt und bei Odo Marquard, Skepsis und Zustimmung. Philosophische Studien, Stuttgart 1994, eine wichtige Rolle spielt, könnte gerade zum Verständnis der politisch-theologischen Dialektik des modernen Judentums einiges beitragen. So läßt sich Baers Traktat im Prinzip auf dem Hintergrund der theologischen Kompensation für den politischen Bedeutungsverlust rekonstruieren.209 Baer, Galut, S. 21.
93
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
dem die Toten nach dem Jüngsten Gericht und der Auferstehung
bekleidet werden sollten.“210
Am Rande sei vermerkt: Israels „Volkskörper“ hat Schaden
genommen, er ist – folgt man Baers Metaphorik – schon fast
leblos, er kann aber belebt werden. Seine Restitution gelingt
mystisch, aber nur durch die Hypostase des Körpers in einen
mystischen Leib. In dem mystischen Trostbuch von Samuel Usque
(1553) wird dieser Prozeß der Kompensation des
Geschichtsverlustes durch die mystische Vision im Sinne einer
gegenläufigen Vision beschrieben: „Während das jüdische Volk
auf Erden das Joch der großen Weltmächte auf sich nahm“ – also
das Martyrium erleiden musste – „steigt es im Himmel
stufenweise bis zur letzten Sphäre, wohin die mit der Krone des
höchsten Martyriums Geweihten gelangen.“211 Dem Maß der
Unerträglichkeit der Galut als der politischen Knechtschaft
entspricht das himmlische Königtum als das Maß spirituell-
jenseitiger Herrschaft.
Zweite Tendenz: Mit dem ausgehenden Mittelalter beginnt eine
schrittweise Auseinandersetzung mit den natürlich-politischen
Bedingungen der Galut, der Existenz unter der Herrschaft der
Weltreiche. Eine solche Annäherung stellt Baer – ohne hier
explizite Folgerungen zu ziehen – bei dem großen spanischen
Staatsmann und Humanisten Don Izchak Abravanell fest.212 Zwar210 Ebd., S. 42.211 Ebd., S. 82 f.212 Zu Izchak Abravanell vgl. Benzion Netanyahu, Don Isaac Abravanel: Statesman and Philosopher, Philadelphia 1968. Leo Strauss’ Vorlesungen über Abravanell erwecken einiges Erstaunen, zumal sie den großen Politiker der Vertreibung aus Spanien 1937 (!) in ein gegenüber Netanyahu und Baer selbst so negatives Licht stellen. Vgl. John Brande Trend/Herbert Martin Loewe, (Hg.), Isaac Abravanel. Six Lectures, Cambridge 1937. Noch denkwürdiger ist, daß das, was Strauss hier Abravanell zuweist, nämlich ein bzw. der Theoretiker der Zerstörung des Staates zu sein, sich ausgerechnet mit den Aussagen deckt, die Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre Thomas Hobbes’. Sinn und
94
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
unterliegt „das jüdische Volk einer anderen Kausalität als die
der anderen Völker“. Aber indem Abravanell
Verfassungen und Literatur von Griechenland und Rom […]ebenso wie Staatsverfassungen der Gegenwart mit dem kausalenund ästhetischen Maßstab des Humanisten beurteilt, wird nichtnur das Naturgesetz, das in der Geschichte der Völkerherrscht, und seine Größe und Schönheit in sich trägt, zueinem legitimen Maßstab, sondern sogar die jüdischeGeschichte selbst dieser Naturgesetzlichkeit zugerechnet,genauer: für die Epoche des ersten jüdischen Staatswesens.213
In diesem Kontext fallen nun gerade die exegetischen Arbeiten
Abravanells auf, die – so Baer – „in die Zeit der größten
Umwälzungen in der jüdischen Geschichte“ gehören, also in die
Zeit der Vertreibung der Juden aus Spanien. Es ist eine Epoche
intensiver apokalyptischer Spekulation, die Abravanell zugleich
mit der Tradition der spanischen Auffassung von der Galut
übernimmt. „In den letzten zweiunddreißig Jahren – so schreibt
er im Jahre 1496 – hat sich überall für Israel so schreckliches
zugetragen, wie weder ihm noch irgendeinem anderen Volk vorher
begegnet ist, so lange es Menschen auf der Erde gibt.“214 So in
Baers Bericht über Abravanell.
Aus diesen Ausführungen aber ergibt sich implizit, daß der
moderne jüdische Historiker aus der apokalyptischen Situation
geboren wird, indem er die apokalyptische Szene – das Reich der
Tiere als das Reich der Politik – als eine nach eigenen
Gesetzen funktionierende Realität zu begreifen beginnt. Die
Fehlschlag eines politischen Symbols, Hamburg 1938, zu Kabbala und Messianismus trifft und die die Juden zu den Saboteuren von Staat und Souveränität erheben. Vgl. hierzu Gopal Balakrishnan, The Enemy. An Intellectual Portrait of Carl Schmitt, London/New York 2000, S. 210 f., mit der allerdings chronologisch unmöglichen Vermutung, Strauss’ Abravanell sei eine Antwort auf Schmitts Leviathan.213 Baer, Galut, S. 53.214 Ebd., S. 57.
95
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Apokalypse „enthüllt“ mit ihrer Metaphorik nur die in der
geschichtlichen Welt immer schon wirksame Naturgesetzlichkeit
der Macht, indem diese Metaphorik (die politische Welt als
Tierwelt) die Möglichkeit eröffnet, das Politische nach den
Gesetzen der natürlichen Tierwelt zu verstehen.
Dieser Übergang vom rein theologisch-apokalyptischen zum
historisch-naturgesetzlichen Standpunkt wird nun offenbar durch
den ästhetischen Aspekt, der an der Größe der Staaten eine
natürliche Schönheit wahrnimmt, gleichsam vorbereitet. Das
Ästhetische übernimmt hier sozusagen eine Brückenfunktion
zwischen dem „Theologischen“ und dem „Politischen“. Der aus dem
Spiel natürlicher Kräfte sich entwickelnde Staat kann die
politische Macht und Größe mit dem Prinzip der Harmonie dieser
Kräfte, der Schönheit vereinbaren, auch wenn diese Harmonie
gerade in dem apokalyptischen Augenblick zerstört ist.
Die Tendenz zu einer solchen Naturalisierung der Geschichte
tritt dann vor allem in dem Buch Schewet Jehuda (1520) des
ebenfalls aus Spanien exilierten Schlomo Ibn Virga in aller
Schärfe hervor.215 Es handelt sich um eine, wie Baer feststellt:
„Untersuchung der realen und psychologischen Ursachen der
Vertreibung der Juden aus Spanien.“216 Ibn Virga dehnt die
naturgesetzliche Perspektive jetzt auf die Galut selbst aus, ja
er naturalisiert sie. „Die Unterwerfung des jüdischen
Staatswesens [entspricht] einem Naturgesetz […]. Der Höhe des
Glücks folgt unvermeidlich der Sturz.“217 Konkret übersetzt
Virga diese Logik von Glück und Sturz in die folgende – von
215 Vgl. Fritz Izchak Baer, Untersuchungen über Quellen und Komposition des Schebet Jehuda, Berlin 1936 (Veröffentlichungen der Akademie für die Wissenschaft des Judentums. Historische Sektion).216 Ebd., S. 64.217 Ebd., S. 65.
96
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Baer rekonstruierte – Analyse: „Die Juden haben aber selbst
ihren Untergang dadurch beschleunigt, daß sie sich im
Bruderkampf zerfleischten und dabei fremde Mächte einluden,
sich in die inneren Angelegenheiten des jüdischen Staates
einzumischen.“218 Nicht nur universalisiert Ibn Virga den
natürlichen Standpunkt, sondern er zeigt, wie gerade das
theologische Geschichtsverständnis sich als illusionär erweisen
mußte, insofern die Juden „im Vertrauen auf die Hilfe Gottes
[…] ihre militärische Schulung vernachlässigten – und als ihnen
Gott wegen der Sünde seine Gnade entzog, so blieben sie auf
beiden Seiten kahl.“219
Mit anderen Worten: Der theologische Standpunkt bleibt pro
forma intakt – Ibn Virga nennt die Galut eine Zeit der
göttlichen Prüfung –, aber an dem zitierten Beispiel läßt sich
immerhin die mögliche Interpretation bewahrheiten, daß die
Sünde, deretwegen Gott Israel bestrafte, eben darin bestand,
daß Israel seine politisch-militärische Schulung
vernachlässigte. Die Sünde war nur die natürliche Schwäche,
bzw. sie bestand darin, daß Israel sich auf das theologische
Geschichtsverständnis von Sünde, Strafe und Erlösung verlassen
wollte. Das heißt also, mit Ibn Virga wird eine Reduktion des
theologischen auf den politischen Standpunkt möglich – ja es
zeichnet sich der Horizont einer Identifikation des natürlichen
mit dem theologischen Standpunkt ab. Gott wird hier – in Baers
Rekonstruktion – zum Prinzip von Natur und Selbsterhaltung.
Ibn Virga analysiert sogar den Antisemitismus – ganz
untheologisch – nicht mehr als Strafe Gottes, sondern als
Funktion des gesellschaftlichen Naturgeschehens, der sozialen218 Ebd.219 Ebd.
97
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Gesetzlichkeit also und ihrer Spannungen. Als politischer
Naturalist geht es ihm somit um real-praktikable Lösungen,
wobei er befürchtet, in einem „eigenen Staat (würden) sich die
Juden durch innere Zwietracht aufreiben“220. Entscheidend ist,
daß die Gründung eines jüdischen Staates für diesen politischen
Naturalisten immerhin in Betracht kommt. Er bevorzugt aber die
Idee einer Förderung gesetzlich-juristischer Maßnahmen, um die
natürlichen Spannungen zwischen dem christlichen Pöbel und der
jüdischen Minderheit abzubauen. Ibn Virga – so faßt Baer
zusammen – gibt die messianische Hoffnung „auf die volle
politische Erlösung nicht auf, und das heißt, er kritisiert vor
allem den Glauben an eine gottverhängte Galut“221.
Wenn nun für Baer ohnehin schon eine Analogie zwischen der
Vertreibung der Juden aus Spanien und der Zeit besteht, in der
er diese Untersuchung abfaßt (1936), wenn er also eine Analogie
erkennt zwischen den Marranen damals und den Marranen heute,
also jenen jüdischen modernen Assimilationisten und
Konvertiten, so besteht hier für ihn zugleich eine implizite
Analogie zwischen der – theologisch gesehen – apokalyptischen
Situation und einer naturalistischen Deutung dieser Apokalypse.
Gerade die Verschärfung der Galut-Bedingungen, der Herrschaft
durch ein tierisches Reich der Politik, führt zu einer
Wiederholung der Situation, mit der schon Ibn Virga sich
auseinanderzusetzen hatte. Wenn also, so lese ich den
esoterischen Subtext von Baers Rekapitulation der Geschichte
der Galut, die historische Gefahrensituation schon für die
spanischen Exilanten eine gleichsam „enharmonische
Verwechslung“ von Apokalypse und Naturgesetzlichkeit nahelegte,220 Ebd., S. 68.221 Ebd., S. 66 f.
98
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
so fördert die aktuelle Gefahrensituation 1936 nicht nur einen
Korrespondenzeffekt der historischen Erinnerung, sondern sie
verlangt eine konsequente Auflösung des Problems im Sinne einer
Transformation der historiographischen Einsicht in die
politische, das heißt die zionistische Praxis.
IV Die zwei Körper des Judentums
Die eigentliche jüdische Moderne – wie sie in Baers
„Konstruktion der jüdischen Geschichte“ (der Galut) erscheint,
ist durch eine Gegensätzlichkeit aus dem Extrem gezeichnet: auf
der einen Seite die mystische Theosophie, die gleichsam
apokalyptisch auf die Wirklichkeit herabblickt, auf der anderen
Seite ein politischer Realismus, der sich von der theologischen
Mythologie zu emanzipieren sucht. Dieser neue politische
Realismus denkt sozusagen „technisch“, d.h. er sucht „Lösungen“
für historische „Probleme“. Dieser theologisch-politischen
Dissoziation entspricht eine Metaphorik des Körpers, des
Volkskörpers, der sich jetzt – unter dem Druck der Verhältnisse
– in einen idealen mystischen Körper und einen realen irdischen
Körper spaltet. Der durch die Mystik neu belebte Leib der
Nation gleicht, wie Baer feststellt, einem überirdischen Leib,
während der irdische Leib zunehmend in seiner Entstellung und
Deformation erscheint.
Diese Deformation ist nicht zuletzt Funktion des Versuches,
die jüdische Gesellschaft rechtlich und politisch in den
jeweiligen Heimatländern zu integrieren. Schon der politische
Naturalist Ibn Virga sprach von der Notwendigkeit einer
99
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
verfassungsmäßigen Lösung der jüdisch-christlichen Spannungen.
Der real-naturalistische Blick für die Galut-Situation führt zu
einer real-politischen Strategie, die das Los der Juden in der
Galut dadurch zu mildern hofft, daß sie den Weltherrschern den
Nutzen anempfiehlt, der ihnen durch die Präsenz der Juden in
ihrem Herrschaftsbereich zukommen kann. Diese Nützlichkeit
ergibt sich dabei aus der Tatsache, daß die Juden nicht nur
Handel und Kultur fördern können, über gute internationale
Beziehungen verfügen etc., sondern, wie der religiöse Aufklärer
Simone Luzzato (1638) in seiner Verteidigung der Rechte der
Juden in Venedig feststellt, „nützlich für die Regierung“
selbst sind, da sie keinen Staat haben, also, obwohl
solidarisch, eine schwache Nation sind, von der keine
Revolution, keine Rebellion zu befürchten ist. Den letzten
Aufstand hätten sie gegen den römischen Kaiser Trajan geführt,
als ihnen, den Juden, noch eine „ursprüngliche Wildheit“ eigen
war.
Die Idee ist klar: Unter den politischen Tieren kann man sich
nur politisch einrichten, wenn man der eigenen Tierheit
abschwört, das heißt jedes eigene national-politische Interesse
unterdrückt. Für die natürliche Rettung des jüdischen
Volkskörpers wird so der Preis des ausdrücklichen Verzichts auf
politische Stärke, politisch-nationale Macht, kurz: die
Souveränität, entrichtet. Die Juden seien „ein Volk ohne Stolz
und Eitelkeit“. Wenn man bedenkt, welche Rolle diese beiden
Eigenschaften des Menschen noch bei Hobbes in der Formation des
Begriffs des Politischen spielen, erahnt man, was Luzatto mit
diesem Hinweis bezweckt.222 Baers Darstellung zitiert nun in222 Vgl. Leo Strauss, „Hobbes’ politische Wissenschaft in ihrer Genesis“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, hrsg. v. Heinrich Meier, Stuttgart 2001,
100
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
diesem Kontext einen bemerkenswerten Vergleich, der einerseits
die natürliche Perspektive in einem anschaulichen Bild
zusammenfaßt, der aber, da er in der Tradition des
italienischen Humanismus formuliert wird, diese natürliche
Perspektive zugleich ästhetisiert. Wenn schon bei Abravanell
die Gleichung von Größe und Schönheit gilt, so wird bei Simon
Luzatto das durch die Galut leidgeübte Israel mit einer Statue
vergleichbar, die Schaden genommen hat. Israel als Torso! Die
Pointe besteht natürlich darin, daß dieser Torso einen eigenen
ästhetischen Wert besitzt. In den folgenden Worten faßt Baer
Luzattos ästhetisches Argument zusammen:
Wenn das verwitterte Fragment einer alten Statue von Phidiasoder Lysipp des Preises wert ist, so darf die Reliquie desalten hebräischen Volkes nicht verachtet werden, obwohl sievon Leiden entstellt und von der langen Knechtschaftverunstaltet ist, da nach allgemeiner Übereinstimmung diesesVolk einmal vom höchsten Künstler die Form der Verwaltungaller Institutionen des Lebens erhalten hat.223
So entspricht in Baers Rekonstruktion dem mystischen Körper ein
realer Torso, der durch die Leiden und der für die Galut
S. 25 f.: „Wir erinnern […] nur an eine Tatsache, die, obwohl sie so offenbar ist, unseres Wissens bisher immer übersehen worden ist, nämlich anden Grund, der Hobbes dazu veranlasst hat, seiner ausgeführtesten Darstellung der politischen Wissenschaft den Titel ‚Leviathan‘ zu geben. AmSchluß des wichtigsten Teils dieses Werkes angelangt, sagt er: ‚Hitherto I have set forth the nature of Man, (whose Pride and other Passions have compelled him to submit himselfe to Government;) together with the great power of his Governour, who I compared to Leviathan, taking that comparisonout of the two last verses of the one and forthieth of Job; where God having set forth the great power of Leviathan, called him King of the Proud.‘ Nicht die gewaltige Macht als solche ist das tertium comparationis zwischen Leviathan und Staat, sondern die gewaltige Macht, welche die Stolzenunterwirft: der Staat gleicht darum dem Leviathan, weil auch er ‚King of all the children of Pride‘ ist. Nur der Staat ist imstande, den Stolz auf die Dauer niederzuhalten, ja sogar, er hat keine andere raison d’être als die, daß die natürliche Begierde des Menschen der Stolz, der Ehrgeiz, die Eitelkeit ist.“ 223 Baer, Galut, S. 75 f.
101
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
wesentlichen politischen Impotenz des jüdischen Volkes
gezeichnet ist.
Von Luzatto aus zieht Baer nun eine große Linie bis zur
Aufklärung und verfolgt über das marranische Problem bei
Menasse Ben Israel und Sabbatai Zwi diese Dialektik von
apokalyptischer Mystik und politischem Naturalismus, von den
beiden Körpern des Judentums, weiter. In der Tat läßt sich für
Baer mit dieser impliziten Visualisierung der beiden Körper der
Prozeß der Polarisierung jüdischer Politik in die mystische
Inthronisierung einerseits und die politische
Totalentmächtigung andererseits sehr eindrücklich darlegen.
Wir übergehen die Details dieser Rekonstruktion, die sich im
wesentlichen auf Gershom Scholems These von den marranisch-
sabbatianischen Ursprüngen der modernen jüdischen Aufklärung
stützt.224 Die jüdische Moderne ist aus dieser Perspektive der
offene Ausbruch der in der Dissoziation der Körper angelegten
Krise. Mit der Aktualisierung des Messianismus durch Sabbatai
Zwi kommt es in der Tat zu einem Kurzschluß der beiden
Lebenswelten: Die apokalyptisch-messianische Tathandlung wird,
indem sie die Galut und das Leiden in ihr beenden soll, zum Akt
einer Destruktion, die die gesamte traditionelle jüdische Welt
224 Vgl. etwa Gershom Scholem, „Mizwa HaBa BeAwera“, in: ders., Mechkarim WeMekorot LeToldot HaSchabtaut WeGilguleiha, Jerusalem 1964 (1935); ders., „Die Theologie des Sabbatianismus im Lichte Abraham Cardosos“, in: Judaica I, Frankfurt a. M. 1977 (1928); ders., Zum Verständnis des Sabbatianismus. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung, Berlin 1936, S. 4: „Wir wissen aufs bestimmteste, daß gerade die eifrigsten Anhänger der Aufklärung in Böhmen und Mähren sich großenteils aus den Familien rekrutierten, die mit gutem Grund als Sabbatianer oder Frankisten verschrien waren.“ Baer hat in der Zeitschrift Zion, V (1939/40), S. 1–44, den Essay „HaReka HaHistori schel Raja Mehemna“ publiziert, in dem er den Zusammenhang zwischen der trinitären Geschichtsmystik des Joachim di Fiori (die gerade auch die deutsch-jüdische Aufklärung mitbestimmt hat) und der antinomistischen Kabbala herausgearbeitet hat, die Sabbatianismus und jüdische Aufklärung mitgeprägt haben.
102
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
in Mitleidenschaft zu ziehen droht. Baer hebt hier vor allem
drei Momente hervor, die schon das Resultat dieser ultimativen
Krise bezeichnen: erstens die Katastrophe des Zusammenbruchs
der sabbatianischen Bewegung selbst, zweitens die
antinomistische Theologie, die sich im Gefolge des
Sabbatianismus entwickelt, und drittens die Idee, daß die Galut
nun den mystischen Sinn erhält, daß der Mystiker die
verborgenen Funken aus der Welt befreien muß. Mit diesen drei
Momenten beginnt für Baer die eigentliche Säkularisation als
Galut-Vergessenheit. Die Juden glauben von nun an an die
Möglichkeit ihrer vollen Emanzipation innerhalb der
europäischen Kultur und sind potentiell stets dazu bereit, ihr
eigenes Judentum als mögliche Bedrohung für die Nichtjuden
zurückzunehmen, zu spiritualisieren und zuletzt zu liquidieren.
Baer spricht angelegentlich der Reaktion des europäischen
Publikums auf den Traktat Sfat Emet von Mosche Chagis von einer
bequemen Marranen-Theologie, die den Juden das Leben in der
Galut als Befreiung von der Galut schmackhaft machen soll.
Die von der neuen Aufklärung ergriffenen Juden waren nicht,wie da Costa und Spinoza, Empörer und Rebellen gegen diebisherige Lebensordnung, sondern einfach Skeptiker undGenießer oder auch Menschen, die am überlieferten Glaubennicht zu rütteln dachten, aber die Verantwortung gegenüberdem Gesamtjudentum und seinen politischen Bindungen ablehntenund es sich in der „Heimat“, in der Gola [Exil] so bequem wiemöglich zu machen versuchten. Solche Typen hat es natürlichzu allen Zeiten gegeben, aber vom Ende des 17. Jahrhundertsan wurden sie immer häufiger, bis sie dann schließlich in denVordergrund traten.225
Es ist letztlich also die Kluft zwischen dem apokalyptischen
Horizont der Verheißung einerseits und dem entstellten
225 Baer, Galut, S. 97.103
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Volkskörper andererseits, der zur Zertrümmerung der national-
politischen Sonderverfassung jüdischer Existenz führt. Wenn die
sabbatianische Transformation der messianisch-apokalyptischen
Dimension jüdischer Existenz in die real-historische Dimension
in einer Katastrophe endet, so ist diese jüdische Existenz von
nun an gleichsam von innen ausgehöhlt. Ohne die Dimension des
Glaubens ist sie erst recht den Erosionen der Geschichte
ausgesetzt. Der reale jüdische Volkskörper nimmt auch ohne sein
mystisches Spiegelbild Schaden an der modernen liberalen
Existenz, die dem Juden, um den Preis seiner Emanzipation vom
Judentum, seine politische Emanzipation anbietet.
Die Konversion vom mystischen Körper zum realen, natürlichen
Leib und seiner Gesetzlichkeit endet also in einer weiteren
Entstellung und Verstümmelung des natürlichen Leibs. Diese
Verstümmelung erweckt aber auch wiederum apokalyptische
Assoziationen: Der Leib ist, wie in der Vision des Propheten
Jecheskels, gänzlich entstellt, seine Gebeine vertrocknet und
versprengt:
Die […] Vision Jecheskels ging voll in Erfüllung. Vomlebendigen Volkskörper waren nur noch versprengte,vertrocknete Gebeine übrig, von denen man zunächst nicht mehrahnte, daß sie nach dem Worte des Propheten wieder zu einemlebendigen Ganzen sich zu vereinen bestimmt waren.226
In der Tat zieht Baer jetzt selbst alle Register einer
apokalyptischen Rhetorik, aber nur, um von hier aus die
naturalistische Konsequenz der ersten realistischen „Kehre“ bei
Ibn Virga noch einmal zu radikalisieren. In Baers Verständnis
ist die Naturalisierung bisher auf halbem Wege stehengeblieben
und hat eben dadurch, daß sie nicht zu den richtigen politisch-
226 Ebd., S. 99.104
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
praktischen Konsequenzen gelangt ist, zu einer neuen
Entnaturalisierung des jüdischen body politique geführt. Das Zitat
aus der Prophetie des Jecheskel ist „natürlich“ zu
interpretieren: Die Auferstehung der vertrockneten Gebeine zu
einem lebendigen Ganzen bezieht sich auf die Herstellung eines
souveränen jüdischen Kollektivs.
Diese nunmehr zum zweiten Mal vollzogene Reduktion der
Theologie auf die Politik definiert Baer gleichsam visionär in
einem weiteren, diesmal kabbalistischen Zitat. Baer montiert es
geradezu gewaltsam in den Text hinein, um damit die politisch-
theologische Identität von Vorsehung und Natur mystisch zu
konstruieren. Es ist das zionistische Deus sive Natura:
Ein ganz im alten Judentum wurzelnder Autor des sechzehntenJahrhunderts, R. Jehuda Liwa ben Bezalel aus Prag (gest.1609), leitet sein Buch über die messianische Erlösung mitder Betrachtung ein, daß das Wesen der Erlösung erst ausihrem Gegensatz, der Galut, richtig erkannt werde. DieTatsache der Galut selbst ist ihm der entscheidende Erweisfür die erwartete Erlösung. Denn die Galut ist die Aufhebungder von Gott gesetzten Ordnung. Gott hat jeder Nation ihrenPlatz angewiesen und dem jüdischen Volk Erez Israel alsseinen Ort zuerteilt. Die Galut bedeutet das Verlassen desnatürlichen [!] Ortes. Aber alle Dinge, die ihren natürlichenOrt verlassen, verlieren ihren natürlichen Halt, bis sie aufihren Platz zurückkehren. Die Zerstreuung Israels unter denVölkern ist etwas Unnatürliches. Da die Juden eine nationaleEinheit bilden, und zwar in weit höherem Grade als dieanderen Völker, ist es nötig, daß sie wieder zu einerfaktischen Einheit werden. Auch ist es nach der Ordnung derNatur nicht erträglich, daß eine Nation die andere knechte;denn Gott hat jede Nation für sich geschaffen. Die Galut kannalso nach dem Naturgesetz nicht ewig dauern.227
Die Bedingung für die politisch-theologische „Erlösung“ ist die
metaphysische Einheit von Gott und Natur. Eine solche Einheit
227 Ebd., S. 102.105
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
kann aber nicht mehr von Spinoza her gedacht werden, der sie
als metaphysisches Prinzip für den europäischen Staat
konstruierte und seine Loyalität gegenüber der jüdischen
Gemeinde aufkündigte. Sie muß daher aus der nationalen, der
kabbalistischen Mythologie hergeleitet werden. Diese Mythologie
enthält das Prinzip der metaphysischen Einheit, die es erlaubt,
die Theologie in Politik zu überführen, und läßt sich zugleich
für eine nationale politische Theologie instrumentalisieren.
„Wir dürfen“, so folgert Baer im Anschluß an R. Jehuda Liwa
Bezalel, „uns heute auf derartige Auffassungen berufen, in dem
Bewußtsein, daß der alte Glaube einen neuen Sinn erhält“228.
228 Ebd.106
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Der apokalyptische Strukturwandel der Öffentlichkeit:Von der politischen Theologie zur Theopolitik
Anmerkungen zu Erik Petersons „Buch von den Engeln“ von 1935
I Vorwort
„Du bist erhaben über jeden Namen, der nicht nur in diesem,
sondern auch im zukünftigen Äon genannt wird.“ (Eph. 1,21)
Dieser Vers aus dem Brief des Paulus an die Epheser dient in
Erik Petersons Das Buch von den Engeln (1935)229 nicht nur als
Ausgangspunkt für eine theologische Ästhetik der Liturgie,
sondern deutet auf den politischen Sinn seiner liturgisch
orientierten Theologie, die mit der Thronbesteigung Christi das
Ende weltlich-politischer Gewalt zelebriert. Der Vers, den
Peterson dreimal zitiert und in seine zwei Grundaussagen
auseinandermontiert, lautet denn auch in seiner
Vollständigkeit: „Du bist erhaben über jede Obrigkeit und
Gewalt, Kraft und Herrschaft, und über jeden Namen, der nicht
nur in dieser, sondern auch in der zukünftigen Welt genannt
wird.“
Peterson stellt seinen Traktat über die Engel damit in einen
urchristlichen, spezifisch: apokalyptischen Zusammenhang. Aber
eben dieser Zusammenhang wird durch bestimmte, gezielt
eingesetzte Vokabeln auf die aktuelle politische Situation in
Deutschland im Jahr 1935 hin transparent. Von hier aus gelangt
er zu einer radikalen Kritik an der politischen Theologie der
229 Erik Peterson, Das Buch von den Engeln. Stellung und Bedeutung der heiligen Engel im Kultus, Leipzig 1935.
97
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Moderne und ihrer Ästhetik als Ausdruck eben dieses politisch-
theologischen Zusammenhangs. Nicht zufällig veröffentlicht
Peterson den Traktat über die Engel zur gleichen Zeit wie seine
Abrechnung mit Carl Schmitts politischer Theologie, die unter
dem Titel Der Monotheismus als politisches Problem230 sehr viel
bekannter geworden ist, deren Grundlagen er aber schon in
seiner Exegese des Römerbriefes, in den 1920er Jahren also,
ausformuliert.231
Im Folgenden soll es erstens um diesen von Peterson
inszenierten apokalyptischen Parallelismus gehen, wie dieser
ihn auf einer Tagung des katholischen Akademieverbandes im
August 1934 anläßlich einer Auslegung zu Off. 1,9–3,22 auf den
kruden theopolitischen Begriff bringt: „In [der in der
Johannes-Offenbarung erwähnten Gemeinde von] Pergamo gab es
230 Erik Peterson, Monotheismus als politisches Problem. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Theologie im Imperium Romanum, Leipzig 1935. Vgl. hierzu v. a. die Ausführungen von Barbara Nichtweiß, Erik Peterson. Neue Sicht auf Leben und Werk, Freiburg 1992, S. 753 ff., in deren die Verfasserin das Verhältnis von Schmitt und Peterson analysiert. Hier zitiert Nichtweiß auch einen Brief anKarl Barth von 1935, in dem Peterson die These seines Buches zusammenfaßt: „Ich sage darin, daß mit dem dreieinigen Gott nicht politische Theologie getrieben werden kann, wohl aber mit dem Monotheismus und dem Polytheismus.“ Bekannt ist, daß Carl Schmitt in Politische Theologie II, nicht nur Petersons These von der Erledigung der politischen Theologie zu widerlegen sucht, sondern dies durch den Nachweis der Bedeutung eben der Trinität für die politische Theologie tut. Nach wie vor stellt Peter Koslowski, „Politischer Monotheismus oder Trinitätslehre. Zur Möglichkeit und Unmöglichkeit einer christlichen politischen Theologie“, in: Taubes, Der Fürst dieser Welt, eine exzellente Darstellung der Diskussion zwischen Peterson und Schmitt dar. Er zeigt dabei, wie einerseits die Trinität zur Grundlage einer politischen Theologie werden kann, andererseits aber, wie die Trinität immer schon jede Form einer „identitären“ politischen Theologie, die den Herrscher als Bild Gottes einsetzt, unmöglich macht.231 Peterson, Paulus – Der Brief an die Römer. Die Aktualität von Petersons Paulus-Interpretation als Theopolitiker wird durch Jakob Taubes (Die politische Theologiedes Paulus, München 1995) vermittelt. Giorgio Agamben, Le temps qui reste. Un commentaire de l’Epître aux Romains, Paris 2000. nimmt die These von Taubes auf, ummit ihr u. a. gegen Alain Badiou, St. Paul. La fondation de l’universalisme, Paris 1997zu argumentieren, d.h. eine differenziertere Form von Paulus’ Gesetzeskritik zu entwickeln, die die Individualität rettet.
98
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
eine kultische Verehrung des Teufels, und jetzt steht der Altar
von Pergamo in Berlin.“232 Dabei soll aber die Kritik an der
modernen politischen Theologie aus der Perspektive von
Petersons Theopolitik im Zentrum stehen. Deren apokalyptische
Orientierung muß offenbar als radikale Kritik an der Aneignung
der Apokalypse durch die politische Theologie der Moderne
verstanden werden.
Die Untersuchung des Verhältnisses zwischen politischer
Theologie und Theopolitik soll zweitens zu einer Rekonstruktion
des Zusammenhangs von Theopolitik und Ästhetik führen. Auch
dieser Zusammenhang wird erst auf dem Hintergrund der modernen
Synthese von Ästhetik und politischer Theologie zu analysieren
sein.
II Auszug aus der Polis
„Der Weg aus der Kirche führt aus dem irdischen Jerusalem in
das himmlische, aus der Stadt der Juden in die Stadt der Engel
und Heiligen. Daß die Kirche zwischen der irdischen und
himmlischen Polis ihre Existenz hat, das macht ihr Wesen
aus.“233 So die Einleitung zu Petersons Traktat über die
„Stellung und Bedeutung der heiligen Engel im Kultus“. Der hier
festgestellte programmatische Auszug der Kirche aus der Polis
läßt sich – wie Peterson selbst zunächst nahelegt – als
Paraphrase auf den neutestamentarischen Hebräerbrief lesen,
aber er läßt sich ebenso als Signal auffassen, mit dem die
232 Vgl. Nichtweiß, Erik Peterson, S. 864 f.233 Peterson, Das Buch von den Engeln, S. 13.
99
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
politische Theologie der Moderne auf den Kopf gestellt werden
soll. Ging es dieser Moderne von Lessing, Schiller, Hölderlin
über Hegel, Heine bis Ernst Bloch, aber auch Moeller van den
Bruck um die Überführung der Kirche in den Staat – genauer: des
Gottesreiches in die real-geschichtliche und politische Sphäre
der Öffentlichkeit, nämlich in jenes dritte Reich des
(heiligen) Geistes, in dem sich nach dem Vorbild der
apokalyptischen Mystik des Joachim von Fiori die Geschichte
vollenden soll234 –, so signalisiert der programmatische Satz
bei Peterson das Ende dieser politischen Theologie, also das
Ende des „Einzugs“ der Kirche in die Polis.
Diese Bewegung des „Auszugs“ nimmt, da sie sich apokalyptisch
absichert, den apokalyptischen Gestus dieser Moderne auf, indem
sie ihn umkehrt. Wenn nämlich die Moderne die eigentliche
Apokalypse – Johannes-Offenbarung, 21,2: „Und ich sah die
heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel
herabkommen“ – als Vorlage für ein praktisch-politisches
Handeln des Subjekts sich aneignet, das „schon auf Erden das
Himmelreich errichten“235 will, knüpft Peterson an diese
apokalyptische Denkstruktur an, um die Moderne als radikale
Krise dieses apokalyptisch-innerweltlichen Denkens zu
überwinden. Es geht also in dieser theologischen
Auseinandersetzung über die Moderne letzten Endes um die
adäquate Deutung der Johannes-Apokalypse. Peterson intendiert
mit dem Signal vom Auszug aus der Polis eine Gegenbewegung zu
234 Vgl. Jürgen Moltmann, Gott im Projekt der modernen Welt. Beiträge zur öffentlichenRelevanz der Theologie, Gütersloh 1997; Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen;Erik Voegelin, The New Science of Politics. 235 Heinrich Heine, ?, S.?
100
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
der modernen translatio der civitas Dei in die civitas terrena, als
Besinnung auf ihre apokalyptische Bedingung:
Der Charakter der Kirche ist dadurch bedingt, daß dieChristen das irdische Jerusalem verlassen haben, und da sieauf Erden keine Polis kennen, die Bestand hat, nach demVorbilde Abrahams die künftige Polis suchen, die von Gotterbaut ist.236
Dabei ist dieser Auszug aus der Polis ganz und gar nicht im
Sinne eines Rückzugs aus der Polis und – wie ich meine – nicht
als Revision der Moderne, sondern als Strategie einer
Theopolitik gedacht, die mit dem Ereignis der Himmelfahrt
Christi das Faktum der Thronbesteigung als Ausgangspunkt eines
radikal herrschaftskritischen Handelns konzipiert, das in
vieler Hinsicht die Moderne sozusagen zu Ende denkt –
allerdings so, daß diese entgegen ihrem eigenen
Selbstverständnis nicht vollendbar ist, vielmehr unter einem
radikalen „eschatologischen Vorbehalt“237 steht. Die
apokalyptische Intention der Moderne auf eine Gründung des
Gottesreiches auf Erden muß notwendig scheitern. Der
programmatische Auszug aus der Polis kontrapunktiert den
modernen Einzug der Kirche in die Polis so, daß er deren
apokalyptische politische Theologie umkehrt, d.h. aus der
Unmöglichkeit und Katastrophalität der Identität von Absolutem
und Politik in der Geschichte, die Konsequenz einer notwendigen
Differenzierung zwischen beiden Sphären zieht, die – solange
die Geschichte andauert – voneinander getrennt und potentiell
236 Peterson, Das Buch von den Engeln, S. 13.2379 Peterson Paulus – Der Brief an die Römer, S. 185, bezeichnet die Geburtsstunde des Begriffs vom eschatologischen Vorbehalt, der dann in der neuen politischen Theologie bei Johann Baptist Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft, S. 80 eine besondere Rolle spielt. Vgl. hierzu Kurt Anglet, „Dereschatologische Vorbehalt. Eine Denkfigur Erik Petersons“, in: Nichtweiß (Hrsg.), Vom Ende der Zeit, S. 217–239.
101
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
in Konflikt einander gegenübertreten. Die Konzeption ihrer
Identität und Synonymität bezeichnet nun Peterson mit Carl
Schmitts Begriff der politischen Theologie, deren Umkehrung und
Konstruktion als Differenz und Analogie nennt er Theopolitik.
In der frühen Exegese zum Römerbrief differenziert Peterson
zwischen politischer Theologie und Theopolitik in einer Weise,
die zwar die apokalyptische Denkstruktur von Paulus
beschreiben, aber im Prinzip das Verhältnis von politisch-
theologischer Moderne und deren theopolitischer Kritik im Kern
treffen soll:
Wenn wirklich Christus den Thron bestiegen hat und ein neuerÄon begonnen hat, dann fordert das auch eine öffentlicheAnkündigung, und der, durch den diese öffentliche Ankündigungzu erfolgen hat, das ist nun der Apostel. Er hat als Heroldnicht den Glauben einer obskuren Sekte zu verkündigen,sondern er hat den Heiden zu sagen, daß Jupiter nicht mehr imHimmel thront, er hat den Juden zu sagen, daß Christus nebenJahwe auf dem Thron sitzt und mit ihm zusammen regiert […]und daß mit ihm ein neuer Äon begonnen hat, der – nachdem diedurch Tiere charakterisierten Äonen und Reiche zu Endegegangen sind – nur durch das Erscheinen des Menschensohnscharakterisiert ist. Aber wenn man die Dinge unter diesemAspekt betrachtet, erkennt man nun auch, daß demtheopolitischen Akt der Thronbesteigung Christi eintheopolitischer Apostolatsbegriff entsprechen muß. DerApostel sagt ja nicht einfach, Jupiter sitzt nicht mehr aufseinem Thron, Christus hat seinen Platz eingenommen, – was ersagt, das sagt er dem römischen Reich, dessen politischerBestand mit der politisch-theologischen Überzeugung verknüpftist, daß Jupiter im Himmel thront. Wenn Paulus nach Rom kommtund verkündet, Christus habe den Thron Jupiters umgestoßen,dann bedeutet das doch in die politische Sprache übersetzt,daß der Apostel mit der Verkündigung des Evangeliums dasRömerreich umstoßen und dem Kommen des Reiches Christi denWeg ebnen will.238
238 Peterson, Paulus – Der Brief an die Römer, S. 15 f.102
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
In der Tat erläutert Peterson den Zusammenhang zwischen der
Thronbesteigung Christi und dem theologisch-politischen
Charakter im Apostolatsbegriff an dem Beispiel, das
traditionell als die Legitimation schlechthin für den Rückzug
aus der Politik dient, also Röm. 13,1: „Jeder Mensch sei
Untertan den vorgesetzten Obrigkeiten. Denn es gibt keine
Obrigkeit außer von Gott, und die da sind, sind von Gott
geordnet.“ Peterson destruiert den traditionellen Sinn, indem
er eine einfache Frage formuliert, nämlich nach dem Gott, der
die Obrigkeit legitimieren soll. „Das Wort Gott“, schreibt
Peterson,
hat also immer auch einen politischen Sinn. Gerade wenn mansich des […] ontologischen Zusammenhangs von exousia und Gott,von Staat und Gott erinnert, leuchtet das ein. Wenn jedeexousia auch von Gott ist, dann fragt es sich immer noch, vonwelchem faktischen Gott ist die faktische exousia? Hierbeginnt ja eigentlich erst die Schwierigkeit, die durch dieabstrakte Formulierung von Paulus verdeckt wird. Der römischeKaiser hatte seine Macht von Zeus, von dem König der Götterund Menschen. Die Christen glaubten nicht an Zeus, sondern anden Vater Jesu Christi. Damit griffen sie die exousia desKaisers an.239
Die These vom Auszug aus der Polis besitzt also einen radikal
politischen Sinn, indem sie jede politische Herrschaft und
Gewalt in Frage stellt, d. h. deren Legitimität erschüttert.
Dieser Erschütterung der Legitimität politischer Herrschaft
entspricht damit immer schon eine Konfliktsituation, die jeden
politischen Konflikt zugleich transzendiert, weil die Christen
ja nicht einen Staat innerhalb des römischen imperiums, wiedie Juden bildeten. […] Sie bedrohten nicht als Staat,sondern als imperium, als imperium Christi das imperiumRomanum. Gerade die kosmische und eschatologische Ausweitung
239 Ebd., S. 342.103
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
ihres Glaubens machte sie gefährlich, denn nun entstand derKampf nicht im Konkret-Politischen, sondern in der Metaphysikdes Staates. Die Folge war, daß Christuskult und Kaiserkultzueinander in Gegensatz traten.240
Die volle Bedeutung des programmatischen Satzes vom „Auszug aus
der Polis“ erhellt sich aus dieser spezifischen Definition des
christlichen Verhältnisses zum „Politischen“: Indem die
Christen – so Peterson – den römischen Staat nicht als
staatliche Macht, sondern als Feinde der Metaphysik des Staates
in Frage stellen, ist ihre Stellung zum Politischen durch die
Position eines radikalen Widerstandes geprägt, die die Logik
des Politischen in toto – Herrschaft und Gewalt – zu sprengen
beabsichtigt. Gerade weil die Christen aus der Polis, d.h. aus
dem Politischen sich hinausbewegen und sich provisorisch in
einer an der himmlischen Polis sich orientierenden Gemeinde der
Kirche befinden, werden sie potentiell zu einer radikalen
Bedrohung für die Polis, nämlich eben auf der metaphysischen
Ebene, in der „das Politische“ faktisch schon destruiert ist.
Christliche Politik wäre also als Funktion eines
„apokalyptischen Strukturwandels der Öffentlichkeit“ zu
definieren, d.h. die Thronbesteigung Christi ist – in dieser
Konzeption von Theopolitik als eschatologisch-kosmisches
Ereignis – die Unterminierung des real-existierenden
politischen Äons, gerade und vor allem, wenn in ihm die
politische Realisierung des Gottesreiches behauptet wird. Das
jenseitige Ereignis kehrt schon im Diesseits alle Verhältnisse
um, so zwar, daß das Verhältnis Polis und Kirche durch eine
spezifische Simultaneität der beiden Äone, der realen
Geschichte und der angebrochenen messianischen Zeit „im Jetzt“,
240 Ebd., S. 324.104
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
determiniert ist. Das Ende von Zeit und Geschichte „beginnt“
nicht erst an einem vermeintlichen Ende der Zeit, sicher nicht
im Sinne einer in der realen geschichtlichen Zeit
kontinuierlich sich vollziehenden Erfüllung der Zeit, sondern
das Ende setzt schon in der real-geschichtlichen Zeit ein, es
ist präsent in der in jedem Augenblick möglich gewordenen
Umkehr der Logik der realen Geschichte.
Was Peterson als Wesen kirchlicher Existenz bezeichnet, ihr
Sein zwischen der irdischen und der himmlischen Polis, wird bei
Paulus in verschiedenen hermeneutischen Figuren expliziert,
etwa als Epiktesis oder Extendenz, also als ein
Ausgestrecktsein, das vor allem den temporalen Sinn des
Zwischen-Seins beschreiben soll. Aber am prägnantesten
vielleicht wird das Spezifikum dieser Existenz in der Formel
vom „als ob nicht“ (1 Kor 7,29 ff.) formuliert241:
Das sage ich aber, liebe Brüder: Die Zeit ist kurz. Fortansollen auch die, die Frauen haben, sein, als hätten siekeine; und die weinen, als weinten sie nicht; und die sichfreuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen, alsbehielten sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, alsbrauchten sie sie nicht: Denn das Wesen dieser Welt vergeht.Ich möchte aber, daß ihr ohne Sorge seid.
Inwieweit dieses „Als ob nicht“ die Verkündigung der
Bergpredigt unter den Bedingungen vom Tod Christi neu
formuliert, inwieweit also diese Figur vom „Als ob nicht“ die
Verkündigung der Bergpredigt, die dem Zustand der Gegenwart
eine andere Zukunft entgegenhält, korrigiert und diese beiden
Zeiten, Gegenwart und Zukunft, notwendig in ein Jetzt
kontraktiert, ist hier nicht die Frage. Es geht vielmehr um die
Struktur eines Handelns, das die bestehenden Verhältnisse von
241 Vgl. den Kommentar von Agamben, Le Temps qui reste, S. 44 ff.105
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
innen her revolutioniert, nämlich aus der Perspektive einer
„agapeischen Solidarität“242, die die bestehende Welt als
überwunden markiert. Von hierher ergibt sich dann, daß, wie
Peterson schreibt,
die Kirche keine Politik treiben [kann], sie kann nur in diePolitik eingreifen. Vom Standpunkt einer Politik, die denStaat und das politische Handeln nur von der immanenten Seiteher betrachtet, ist das Handeln der Kirche immer nur einEingriff in einen fremden Bereich. Aber gerade darin bekundetsich nun die eigentliche Kirche, denn damit drückt sie jaaus, daß ihr politisches Handeln nicht vom alten, sondern vomneuen Äon her bestimmt ist.243
Peterson spricht hier von „dem transzendental-politischen Sinn
der Kirchenpolitik“, um den in der apokalyptischen Zeitstruktur
begründeten interventorischen Charakter der Kirchenpolitik zu
definieren. Intervention aber heißt das Ereignis, in dem der
Christ den Messias selbst in Handeln und Reden bezeugt, und das
heißt nun, so Peterson, daß er „den Öffentlichkeitsbegriff
dieser Welt sprengt und den Öffentlichkeitsanspruch einer
anderen, einer kommenden Welt kundtut“244. Ultimativ bedeutet
solches Eingreifen in das Politische mit nicht-politischen
„Waffen“, daß der Christ Glaube und Liebe „bezeugt“, d.h. ein
Martyrium auf sich nimmt. Liebe bezeugen heißt unter den
verschärften Bedingungen eines Konflikts zwischen politischer
Theologie und Theopolitik, daß die Feindesliebe als Tod für den
anderen sich bewährt. Mit diesem Zeugnis wird das „Als ob
nicht“ radikal, insofern es das Ende dieses Äons gleichzeitig
242 Desmond, Ethics in the Between, S. 476 ff., wo Desmond den agapeischen Dienst am anderen der erotischen Souveränität gegenüberstellt. Beide, Eros und Agape, sind dabei nicht Funktionen zweier verschiedener Seinsordnungen, sondern Artikulationen derselben Dialektik des Seins als dem Guten. 243 Peterson, Paulus – Der Brief an die Römer, S. 344.244 Erik Peterson, „Zeuge der Wahrheit“, in: ders., Theologische Traktate, München1951, S. 178.
106
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
mit dem Beginn des anderen Äons existentiell einleiten soll.
Peterson schreibt:
Vergessen wir nicht, daß das Schwert, das die exousia nachPaulus nicht umsonst trägt, das Schwert des Henkers und nichtdas Schwert des Soldaten ist. Wie merkwürdig, daß diesesSchwert, das die Obrigkeit nicht umsonst trägt, später dasHaupt des Paulus von seinem Leibe getrennt hat.245
Mit dem Martyrium vollendet der christliche Theopolitiker die
Erkenntnis seines „Preisgegebenseins an diesen Äon und seine
Mächte“246, das Martyrium ist so „Durchgang durch eine
Verhaltensweise gegenüber Mensch, Kosmos, Äon, der es um die
letzte Ordnung und die höchste Form der Herrschaft geht.“ Nicht
um eine Revolution ist es Paulus oder Peterson zu tun, in der
die alten nur durch neue Herrschaftsstrukturen ersetzt werden
und die, gerade wenn sie mit politischer Gewalt das
innergeschichtliche Ende von Gewalt zu realisieren behauptet,
sich erst recht als brutaler Mechanismus von Terror und
Demütigung erweist. Die Geschichte erscheint aus der
spezifischen Zeitstruktur der Paulinischen Apokalypse als eine
ewige Wiederkehr desselben politischen Prinzips, der Sukzession
der Weltreiche, die in ihrer politischen Existenz die
Metaphysik der Politik perpetuieren und das heißt immer auch:
die Schwachen erdrücken und potentiell vernichten.
In Das Buch von den Engeln, das im ersten Teil einen Kommentar
zur Johannes-Offenbarung anbietet, faßt Peterson den Sinn der
apokalyptischen Umkehrung aller Werte so zusammen:
Gesiegt hat der Löwe aus Juda. […] Darum wird also das Lammfür würdig erachtet, die Buchrolle Gottes zu öffnen und ihreSiegel zu lösen. Die Öffnung des Buches [der Offenbarung] ist
245 Peterson, Paulus – Der Brief an die Römer, S. 345.24618 Erik Peterson, Marginalien zur Theologie und andere Schriften, hrsg. von Barbara Nichtweiß, Würzburg 1995, S. 75.
107
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
an den Sieg des Löwen aus Juda gebunden. […] Kein andererSieger kann das Buch öffnen, d. h. keine rein politische, d.h. an einen Sieg auf der Erde geknüpfte Entscheidung vermagdas Schicksalsbuch […] zur Verlesung zu bringen.247
Im martyrologischen Handeln, das sich an der Passion Christi,
an dem Löwen aus Juda, der eben ein Lamm ist, orientiert,
kündigt sich eine Revolution der Äonen an, eine Veränderung
aller Lebensverhältnisse, die durch die Öffnung des Siegels
symbolisiert, nicht durch ein politisches Handeln erzwungen
werden kann, sondern nur im öffentlichen Zeugnis und handelnden
Bekenntnis des Apostels und Strellvertreters der Kirche:
Das geschlachtete Lamm ist augenscheinlich schonReichssymbol, Symbol des neuen Äons, des letzten, ewigen undunerschütterlichen Reiches. Es steht damit im Gegensatz zuden Raubtieren, die nach dem Daniel-Buche die Weltreichesymbolisieren.248
Die Formel aus dem ersten Korintherbrief, die das Leben als ein
Leben im „Als ob nicht“ kennzeichnet, enthält den Satz, daß
„die Gestalt dieser Welt aber vergeht“, womit die
Weltgeschichte als ein nichtig-nihilistisches Geschehen in den
Blick kommt, das die Daniel-Apokalypse im Zyklus der durch
Gold, Silber, Kupfer und Eisen symbolisierten Weltreiche
imaginiert, die nur durch einen Stein, durch das Reich Gottes
also, zu Fall gebracht werden (Daniel 2,34).
Wie auch immer biblisch und liturgisch verschlüsselt und
kodiert, orientieren sich Petersons Texte an zwei historischen
Wirklichkeiten, nämlich an der Realität des Urchristentums im
römischen Weltreich und an der Situation der Kirche zur Zeit
der Weltkriege, die im nationalsozialistischen Regime real-
apokalyptische Dimensionen erhält. Indem Peterson die 247 Peterson, Das Buch von den Engeln, S. 30.248 Ebd., S. 34.
108
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Paulinische Theopolitik der politischen Theologie von der
Souveränität des Staates gegenüberstellt, stiftet er eine
apokalyptische Austauschbarkeit der Zeiten, die er jeweils zur
Erhellung des textuellen bzw. politischen Tatbestandes
mobilisiert, wie etwa – ohne jede Kodierung – in einem
öffentlichen Vortrag zur Exegese der Johannes-Offenbarung in
Heidelberg 1934. In Vers 2,12 der Offenbarung heißt es:
Und dem Engel der Gemeinde in Pergamon schreibe: Das sagt,der da hat das scharfe zweischneidige Schwert. Ich weiß, wodu wohnst, da wo der Thron des Satans ist; und du hältst anmeinem Namen fest und hast den Glauben an mich nichtverleugnet, auch nicht in den Tagen, als Antipas, mein treuerZeuge, bei euch getötet wurde, da, wo der Satan wohnt.
Petersons lapidarer Kommentar: „In Pergamo gab es eine
kultische Verehrung des Teufels und jetzt steht der Altar von
Pergamo in Berlin.“249
Barbara Nichtweiß hat in ihrer monumentalen Arbeit über
Peterson nicht nur sehr genau die Beziehung von Carl Schmitt
und Erik Peterson nachgezeichnet, ihre Analyse bestätigt auch
unseren eigenen Befund von dem apokalyptischen Kontrapunkt
zwischen politischer Theologie und Theopolitik bei Peterson. So
demonstriert Nichtweiß, wie Peterson gegen Schmitts Versuch,
die Feindesliebe auf den privaten Bereich zu reduzieren250, um
249 Zit. Nichtweiß, Erik Peterson.250 Vgl. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 29: „Die viel zitierte Stelle‚Liebet Eure Feinde‘ (Math. 5,44; Luk. 6,27) heißt ‚diligite inimicos vestros‘ […] und nicht diligite hostes vestros; vom politischen Feind ist keine Rede.“ Zu einer ausgewogenen Darstellung von Carl Schmitts Begriff des Politischen sei Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Politische Theologie und politische Theorie“, in: Taubes, Der Fürst dieser Welt, S. 16–25), empfohlen; vgl. auch ders., „Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts“, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt a. M. 1991. Jacques Derrida, (Politik der Freundschaft, Frankfurt a. M. 2000) dekonstruiert die Definition des Politischen als Unterscheidung zwischen Freund und Feind freilich so, daß die Unterscheidung undurchführbar wird bzw. zu einem Drama des souveränen Subjekts, das den
109
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
„das Politische“ als Unterscheidung, Bekämpfung und Vernichtung
des Feindes von jeder theologischen Interpretation
freizuhalten, an dem öffentlichen Charakter der Feindesliebe
als Bedingung der Möglichkeit der Intervention in „das
Politische“ unbedingt festhält. Aber sie hat auch zahlreiche
Hinweise dafür gegeben, daß der Begriff des Politischen, wie er
aus Schmitts politischer Theologie sich entwickelt hat, in
letzter Konsequenz für Peterson immer die Politik von
Totalitarismus und Terror bezeichnet, die Peterson lapidar als
Reich des Satans anspricht. „Denn das Nichts“, so zitiert
Nichtweiß aus Petersons Lukas-Kommentar, „das an die Stelle
Gottes getreten ist, sei ja kein leeres Nichts, sondern
bezeichnet gerade jenes Nichts, das das Wesen des Satans
ausmache […]. Er, der gegenüber Gott ein Nichts ist, schöpft
seine ganze Kraft und Stärke ja gerade aus dem Nichts“.251
Nichtweiß vergißt ihrerseits nicht, auf Petersons Hinweis auf
Carl Schmitts Begriff der politischen Entscheidung zu
verweisen, die eben eine „Entscheidung aus dem Nichts“ sei.
Wie auch immer direkt oder indirekt, der Begriff der
politischen Theologie von Carl Schmitt steht hier
stellvertretend nicht nur für jede Reichs- und Machtpolitik, er
fungiert offenbar als Chiffre, die den apokalyptischen
Feind in der eigenen Gestalt wahrnimmt (vgl. ebd., S. 224 ff.). 251 Nichtweiß, Erik Peterson, S. 758. Dem entspricht die Aussage Petersons über den Fürsten dieser Welt: „Fürst der Engelfürsten der Nationen. Die Versuchungen, die von ihm ausgehen, sind die Versuchungen, die im Politischen sich ergeben, durch die Beziehung auf eine Welt. Der Herrscher der Welt bietet nur die Reiche der Welt (Weltherrschaft) Gott an. Er meint über die Reiche verfügen zu können. So wird er auch seine Herrschaft im Himmel aufgefaßt haben. Als Tyrannis über die himmlischen Geister der Völker. Der Begriff des Politischen [!!] ist nicht nur von der irdischen Herrschaft aus zu bestimmen, sondern man muß die himmlische Herrschaft der Engel mit hinzunehmen.“ (Erik Peterson, „Offenbarung des Johannnes und politisch-theologische Texte“, in: ders., Ausgewählte Schriften, Bd. IV, S. 256)
110
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Parallelismus zwischen dem cäsarisch-neronischem Weltreich und
dem nationalsozialistischen Tausendjährigen Reich signalisieren
soll.252 Dem entspricht sowohl die berühmte und von Carl Schmitt
als solche erkannte Formel von der „Erledigung der politischen
Theologie“ durch den augustinischen Trinitätsbegriff, mit der
Peterson seine Untersuchung über den „Monotheismus als
politisches Problem“253 beschließt, als auch die
Parallelisierung von Cäsarenkult und politischer Theologie auf
der einen, Christuskult und Theopolitik auf der anderen Seite.
Carl Schmitts Begriff des Politischen, die Idee, daß
Souveränität korrelativ zur Unterscheidung und Vernichtung des
Feindes sich konstituiert, steht dabei bei Peterson – über die
historische Parallele hinaus – für die politische
Geschichtswirklichkeit im Ganzen, die in der Sukzession der
Weltreiche und politischen Systeme die ewige Wiederkehr
desselben Prinzips von Souveränität, Herrschaft und Gewalt
dokumentiert, die durch die apokalyptische Intervention
martyrologischen Handelns „gesprengt“ werden soll. Mit anderen
Worten: Schmitts politische Theologie, die das Politische aus
der Ausnahmesituation konstruiert, in der der Feind markiert,
bekämpft und im Ernstfall vernichtet werden soll, repräsentiert
eine Art apokalyptische Stagnation der Weltgeschichte, die
Macht und Gewalt, wie immer verbrämt, zur Religion erhebt,
während Petersons Theopolitik, indem sie in dieser politischen
Ausnahme der Feindesbekämpfung nur die Regel erkennt, diese
regelmäßige Ausnahme in der absoluten Ausnahme der Feindesliebe
252 Vgl. Andreas Koenen, Der Fall Carl Schmitt. Sein Aufstieg zum „Kronjuristen des Dritten Reiches“, Darmstadt 1995; oder Balakrishnan, The Enemy.253 Vgl. Schmitt, Politische Theologie II.
111
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
durchbricht.254 Politische Theologie und Theopolitik sind also
bei Peterson zuletzt die zwei Seiten bzw. Aspekte derselben
apokalyptischen Geschichtsvision, die, ähnlich wie in der
Prophetie des Daniel von der Sukzession der Reiche der
Raubtiere und deren Untergang, immer schon gleichzeitig gedacht
werden müssen. Unter den verschärften Bedingungen der
nationalsozialistischen Machtergreifung tritt diese Struktur
als die apokalyptische Wahrheit aller Politik und Theopolitik
und als Wahrheit über den wesenhaften Konflikt zwischen beiden
klar hervor.
Aus der Perspektive dieser endzeitlichen Verschärfung kann
Politik nur Machtentfaltung und Unterdrückung, Theopolitik nur
Martyrium sein. Damit müssen allerdings auch die „feinen“
Unterschiede verschwinden, die zu einer klaren Differenzierung
zwischen dem politischen Liberalismus und dem antiliberalen
254 Vgl. Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.2, Frankfurt a. M. 1980, S. 697: „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustandes vor Augen stehen, und dadurch wird unsere Position im Kampf gegen den Faschismus sich verbessern.“ Was bei Benjamin in rein politischen Begriffen von Macht und Gewalt formuliert wird, denkt Peterson so theologisch aus der Liebe, daß eben hiermit das Politische aus den Angeln gehoben wird. Mir scheint, hier liegt tatsächlich eine abgründige Differenz zwischen Benjamin und Peterson vor, die es klar zu konstatieren gilt. Vgl. hierzu Kurt Anglet, Messianität und Geschichte. Walter Benjamins Konstruktion der historischen Dialektik und deren Aufhebung ins Eschatologische durch Erik Peterson, Berlin 1995. Anglet gibt eine überaus differenzierte Analyse beider Denker, deren Tendenz in der Überschrift klar formuliert ist, im Verlauf der Analyse aber oft vor lauter Differenzierungen untergeht. Aber vielleicht habe ich sein Buch einfach nicht richtig verstanden. Das Pech von Anglets Untersuchung besteht freilich in der Tatsache, daß Petersons unveröffentlichtes Werk nach seiner Publikation in den Ausgewählten Werken benannt worden ist. Vgl. auch Paul Hirst, „Carl Schmitt’s Decisionism“, in:Chantal Mouffe (Hrsg.), The Challenge of Carl Schmitt, London 1999, S. 12 f. und Giorgio Agamben, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 2002, S. 26 ff., mit sehr präzisen Analysen der Funktionsweise der politischen Ausnahme.
112
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Nationalsozialismus zwingen.255 Die Moderne als Ganze gerät bei
Peterson ins grelle Licht einer satanischen Politik der
Selbstermächtigung, die, indem sie das Reich Gottes mit dem
entfalteten Subjekt identifiziert, mit dessen Souveränität am
Ende nur ein Regime des Terrors entfalten kann. Aus der
apokalyptischen Verschärfung der Situation selbst wie auch der
Perspektive, muß dann Carl Schmitts politische Theologie nicht
nur für die typische Logik der Macht einer jeden Politik
stehen, sondern gerade auch für deren spezifisch moderne
„politisch-theologische“ Form, die darin besteht, daß in ihr
die Transformation der civitas Dei in dem real-historischen Staat
ins Werk gesetzt werden soll. Indem das Gottesreich „auf Erden
schon errichtet werden soll“, erfährt das Subjekt, das diese
Transformation in der Geschichte vornimmt, eine absolute
Aufwertung als Gott. Diese Tendenz entspricht der kritischen
Einsicht der Moderne, die die Theologie im Ganzen als Schein
menschlicher Projektionen und also als Anthropologie
„enthüllt“. Diese Transformation der politischen Theologie in
eine politische Anthropologie, die sowohl die Gleichsetzung von
Gott und Subjekt als auch von Gottesreich und Staat bewirkt,
läßt in der Tat alle Differenzen zurücktreten, die an den
Versionen politischer Theologie bei Gotthold Ephraim Lessing
oder bei Moeller Van den Bruck festzuhalten sind. Sie erlaubt
255 Vgl. Erik Peterson, „Politik und Theologie. Der liberale Nationalstaatdes 19. Jahrhunderts und die Theologie“, in: ders., Ausgewählte Schriften, Bd.4. Hier bezeichnet Peterson den liberalen Staat im Anschluß an Papst PiusIX. als häretischen Staat (!!): „Die Behauptung, daß Politik und Theologienichts miteinander zu tun haben, konnte vom Liberalismus also nur unter derBedingung durchgeführt werden, daß der christliche Glaube häretischentstellt wurde. Als seine Häresie und nicht als seine politische Bewegungist der Liberalismus von Pius IX. mit Recht im Syllabus verurteilt worden.“(Ebd., S. 239) Zum Wandel der katholischen Kirche zum liberalen Staat vgl.etwa die ausgezeichnete Darstellung von Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Kirche.
113
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
es, sie mit dem römischen Cäsarenkult zu vergleichen, und
legitimiert noch einmal die Konstruktion des apokalyptischen
Parallelismus bei Peterson.
Petersons programmatische Feststellung, daß „die Christen das
irdische Jerusalem verlassen haben und, da sie auf Erden keine
Polis kennen, die Bestand hat, nach dem Vorbilde Abrahams, die
künftige Polis suchen, die von Gott erbaut ist“256, muß also als
Resumee dieser Gegenüberstellung von politischer Theologie und
Theopolitik nicht nur für den antiken, sondern gerade für den
aktuellen Kontext der Abfassung des Textes gelesen werden. Sie
bezeichnet damit aber eine apokalyptische Umkehrung nicht nur
der politisch-theologischen Metaphysik der Moderne und ihrer
Utopie vom dritten Reich, sondern erst recht von deren
Ästhetik, die in der eschatologischen Ausrichtung auf eine
Identität von Absolutem und Realem in der Erscheinung, auf eine
Synthese des Reiches der Freiheit und des Reiches der Natur in
eben jenem „dritten Reich“ von Schönheit und Spiel257 für
Peterson eben nichts anderes sein kann als der adäquate
Ausdruck des modernen Einzugs der Kirche in die Polis. Hier
genau kommt Petersons Begriff der Liturgie als kritischer
Begriff ins Spiel, insofern er mit der Liturgie das ästhetische
Pendant zu seinem Begriff der Theopolitik konzipiert.
256 Peterson, Buch von den Engeln, S.13257 Vgl. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, S. 508 f. Nach Lessing entwirft Schiller die Idee eines „dritten Reiches“ im ästhetischen Kontext,der allerdings für das Reich der Mensch gewordenen Götter des Olymps steht.Vgl. Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, 14. Brief ff., in: ders., Werke in drei Bänden, Bd. 2, hrsg. von Herbert G. Göpfert, München 1966, S. 476 ff. Mit Schiller vollzieht sich die translatio der politischen Theologie Lessings in die Domäne des Ästhetischen mit ihren verschiedenen mythologischen und polytheistischen Artikulationen,so daß man von nun an mit Recht bei Hölderlin und Schelling etwa von einer neuen (politischen) Mythologie spricht.
114
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
III Leben mit den Engeln – Existenz als Transzendenz zu den
Engeln
Der Weg der Kirche führt aus dem irdischen Jerusalem in dashimmlische, aus der Stadt der Juden in die Stadt der Engelund Heiligen. Daß die Kirche zwischen der irdischen undhimmlischen Polis ihre Existenz hat, das macht ihr Wesen aus.
Im ersten Durchgang haben wir die theopolitische Bedeutung
dieses Auszugs der Kirche hinsichtlich der irdischen Polis
nachzuzeichnen versucht, jetzt soll es um deren Bezug zur
himmlischen Stadt gehen. Die Kirche hat ihr Wesen in dem
„Zwischen“, das sich als Auszugsbewegung (aus der irdischen
Polis) und Annäherung (an die himmlische Polis) darstellt. Der
Christ qua Bürger zieht sich nicht aus der Polis in einen
privaten Glauben zurück, sondern er hat als Christ immer schon
ein anderes Bürgerrecht, nämlich das der himmlischen Polis, ein
Bürgerrecht, das auf sein Handeln in der irdischen Polis
entscheidend zurückwirkt. Peterson bestimmt aber mit dieser
Zwischenstellung schon die Unmöglichkeit der apokalyptischen
Version der modernen politischen Theologie, die Gottesstaat und
irdischen Staat identisch bzw. synonym setzen will und im
Fluchtpunkt eines innergeschichtlichen Prozesses ineinander
übergehen läßt. Mit dem Zwischen-Sein der Kirche ist
theologisch und institutionell nicht nur ein scharfer
„eschatologischer Vorbehalt“ gegen diese Identität und
Synonymität formuliert, sondern zugleich sind die beiden
radikal voneinander differierenden Öffentlichkeitsräume –
115
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
irdische und himmlische Polis – in eine analoge Beziehung
gesetzt. Begriffe wie „ekklesia“, „liturgia“, „evangelion“ etc.
stammen tatsächlich ursprünglich aus dem politischen Kontext
und erfahren eine Transposition und Umkehrung zugleich durch
das Ereignis von Kreuzigung und Auferstehung, das die Kirche
fundiert. Eben diese Analogien belegen für Peterson den
spezifisch theopolitischen Charakter der Idee vom Exodus, des
Auszugs der Kirche aus der irdischen Polis.
Man könnte vielleicht sagen, daß wie die profane Ekklesia derAntike eine Institution der Polis ist, so die christlicheEkklesia eine Institution der Himmelsstadt […] Wie dieprofane Ekklesia die zum Vollzug von Rechtsaktenzusammentretende Versammlung der Vollbürger einer irdischenPolis ist, so wäre in analoger Weise die christliche Ekklesiaals die zum Vollzug bestimmter Kulthandlungenzusammentretende Versammlung der Vollbürger der Himmelsstadtzu definieren.258
Die Ekklesia ist zwischen diesen beiden Öffentlichkeitssphären
angesiedelt, sie ist die Gemeinde zwischen den Äonen und damit
identisch weder mit der realen Polis noch mit der Himmelsstadt.
Sie ist damit sozusagen institutioneller Ort und Nicht-Ort,
Zeichen und Spur für An- und Abwesenheit des Absoluten
zugleich. Die Kirche ist die Institution gewordene Differenz
von beiden Öffentlichkeiten, der Ort also, an dem mit der
Zelebrierung der göttlichen Anwesenheit in der Eucharistie
zugleich der Aufschub des Endes manifest wird. Gegen jede
Behauptung einer innergeschichtlichen Vollendung und Präsenz,
wie sie charakteristisch für die politische Theologie der
Moderne ist, ist die Kirche das Ereignis gewordene Bewußtsein
vom schon angebrochenen Ende im Jetzt und als solches das
258 Peterson, Das Buch von den Engeln, S. 16.116
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Bewußtsein vom Aufschub dieses Endes. In diesem Sinn ist sie
Ausdruck des Katechons, der Figur, die das Ende eben nicht
apokalyptisch herbeiführt, sondern es – freilich im Rahmen der
schon angebrochenen apokalyptischen Doppelung der Zeiten –
aufschiebt. (2. Thess 2,4 ff.)259 Als Auszug und Annäherung ist
Kirche Zwischen-Sein schlechthin, das öffentlich gewordene „Als
ob nicht“.
In solcher Zwischenstellung aber konstituiert sich die Kirche
als Vorbereitung auf die Himmelsstadt, und das nicht nur in
einem privaten Raum der Innerlichkeit, sondern in einer
Öffentlichkeit, in der der Glaube kultisch-rechtlich bezeugt
und praktiziert werden soll. Insofern Petersons politisches
Denken an Paulus, dem Hebräerbrief und der Johannes-Offenbarung
sich orientiert, (re-)etabliert es die Himmelsstadt als eine
real-transzendente Größe, die in dem bereits angebrochenen Äon
gegründet wird. Nicht um Poetik oder Metaphorik handelt es sich
hier bei der Feststellung von der Annäherung der Kirche an die
Himmelstadt, sondern um eine Ontologie der transzendenten
Realität. Mit der real-existierenden Himmelsstadt werden auch
deren Bürger – also die Himmelsbürger, Engel und vollendeten
Gerechten – zu realen Existenzen. Peterson schreibt:
Es ist ohne weiteres klar, daß die hier angedeuteteAuffassung über das Verhältnis von Engels- und Himmelsstadtfür das Wesensverständnis von Bedeutung ist, denn wenn die
259 Vgl. Petersons Bemerkung zum Katechon in Politik und Theologie, S. 245: „Also mußte das letzte Imperium, das Reich des Augustus, unter dem der Heiland der Welt geboren wurde, fortdauern, bis es bei seiner zweiten Ankunft zugleich mit dem ganzen Kosmos ein Ende nimmt. Es ist ja bekannt, daß die Kirchenväter das den Antichristen jetzt noch Niederhaltende (2. Thess. 2,6)auf das römische Reich bezogen haben. Wenn aber die zurückhaltende Macht beseitigt ist, so heißt es Vers 7, dann wird der Gesetzlose enthüllt werden. Der Fortbestand des römischen Reiches in der Zeit seit der Ankunft Christi ist also wesentlich durch den Charakter der christlichen Eschatologie bedingt.“
117
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Kirche das irdische Jerusalem und seinen Tempel verlassen hatund sich auf der Wanderschaft nach dem himmlischen Jerusalemund seinem Tempel befindet, dann tritt sie notwendigerweiseauch mit den Bewohnern der Himmelstadt und das sind, wie wiraus dem Hebräerbrief gehört haben, Engel, Himmelsbürger undvollendete Gerechte, in eine durch den Kult vermittelteBeziehung.260
Peterson liebt solche Formeln der Selbstverständlichkeit, um
das Unglaubliche als Tatsache zu kennzeichnen, nämlich als
Tatsache des Glaubens, die er durch Textanalyse in ihrer
Objektivität sich bestätigen läßt. Eine solche „Hermeneutik des
Schocks“ will den Glauben aus der privaten Sphäre in die
Öffentlichkeit hineintragen und ihm damit eine Objektivität
zurückverleihen, die ihr selbst der philosophische Skeptiker
nicht absprechen kann, ist doch die Existenz der im Glauben für
wahr gehaltenen transzendenten Realitäten weder beweis- noch
widerlegbar. Auf die Realität des Glaubens läßt sich vorläufig
nur aus dem Handeln des Glaubenden bzw. der Bürger der Kirche
zurückschließen, die über das Gesetz der Selbsterhaltung und
„das Politische“ hinaus eine reale Form der Transsubjektivität
als Hingabe für den anderen praktizieren. In solcher
Transsubjektivität und Selbsttranszendenz demonstriert der
Glaubende „empirisch“ seine Orientierung an der im Glauben real
gewordenen Existenzform des Engels. Damit aber ist Petersons
Theopolitik trotz ihres radikalen Objektivismus im Kern ein
theologischer Existentialismus, denn erst von seiner Analyse
des Seins des Daseins als ein Sein der Möglichkeiten dieses
Daseins im Sinne eines Über-sich-hinaus-Seins erhält der
theologische Objektivismus sein Fundament.
Peterson bestätigt das Unglaubliche:
260 Ebd., S. 17.118
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Weil das aber alles so ist, weil die Engel bei seiner[Christi] Geburt, die Engel an seinem leeren Grabe sichtbargeworden sind, darum ist uns auch nicht gleichgültig, was dieEngel sind. Sie sind mehr als poetische Staffage aus demRepertoire der Volks- und Märchenpoesie. Sie gehören zu Ihm[Christus] und sie gehören zu uns. Und wenn sie auch zu Ihmanders gehören als zu uns, und wenn sie auch alle ihm dienenin einer Weise, wie sie das uns nicht tun, und wenn sie auchfür ihn das Niedrige, für uns aber das Höhere sind, – so sindsie doch nicht in dem Sinne für uns das Höhere, daß sie füruns je das werden könnten, was Christus für uns ist. Für unsbedeuten sie doch nur eine Möglichkeit unseres Seins, eineSteigerung und Intensivierung unseres Seins, aber dochniemals die Möglichkeit eines neuen Glaubens.261
Der Engel bezeichnet zunächst die Möglichkeit der Kreatur, über
sich selbst hinauszugehen, sich der himmlischen Polis zu
nähern. In den Überlegungen zur menschlichen Existenz als
Selbst-Transzendenz wendet sich Peterson prinzipiell gegen die
Rhetorik der dialektischen Theologen Barth und Gogarten, die,
indem sie die Differenz zwischen Mensch und Gott gegen ihre
modernen Verwechslungen und Idolatrien als eine unendliche
beschreiben, den Menschen ganz in die Rolle der niedrigen und
nichtigen Kreatur – als Adam – bannen, ohne der Dimension der
durch Christus begonnenen Erlösung in irgendeiner
existentiellen Weise Rechnung zu tragen.
Es gibt tausend Wege, auf denen der Mensch zum Engel eilt,nicht weil er sich vornähme, zum Engel zu werden, sondernweil das Sein, das er lebt, nur ein vorläufiges Sein ist, undnoch nicht erschienen ist, was wir sind. […] Und wenn unsgesagt wird – Gogarten wird nicht müde, es zu betonen – daßdas die Hauptsache wäre: zu bleiben, was wir sind,festzustehen, wo wir stehen, damit der Mensch Mensch und GottGott bleibe, so geht diese Forderung doch nur auf denMenschen überhaupt, auf den Adam, den wir alle mit unsherumtragen, sie geht aber nicht auf jene anderen Menschen,
261 Peterson, Marginalien zur Theologie, S. 111.119
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
der überhaupt nicht in jener Weise „da“ ist, der irgendwieimmer nur existiert, wenn er über sich hinausgeht und demEngel oder dem Dämon sich nähert.262
Barth und Gogarten betonen im Sinne Petersons zunächst ganz
richtig gegen jede Verwechslung von Gott und Mensch, von
Theologie und Politik deren radikale Differenz, verharren aber
in solcher Negativität und permanent zu wiederholender
„bestimmter Negation“ gegenüber dem Totalitätsanspruch der
identitären Moderne, ohne über diese dialektisch
fortzuschreiten und über die Analogien und Beziehungen zwischen
beiden Seinssphären die Existenz des Menschen in ihrer
Selbsttranszendenz „über sich hinaus“ zu Gott zu erfassen. Der
gegen Gott rebellierende Adam der Schöpfung geht in seiner
Bekehrung zum Glauben an Christus eben über sein bloß
kreatürliches Sein hinaus:
Dieser Mensch, der über sich hinaus geht, weil er eben nur indem Übersichhinausgehen da ist, der vermag zu steigen und zusteigen […] und in einem metaphysischen Sinne steigt er nunüber sich selbst hinaus und zum Genossen Engel undErzengel.263
Peterson unterscheidet also zwischen zwei prinzipiellen
Tendenzen der Selbsttranszendenz, der in Richtung auf den Engel
und der hin zum Dämon. Beschreibt die erste Tendenz eine
Selbstüberschreitung hin zum anderen, so die zweite Tendenz
eine Selbstüberschreitung, die über sich hinausgeht, um nur
sich selbst wieder zu begegnen. Das „Über sich hinaus“ des
Daseins ereignet sich hier als existentielle Intensivierung hin
zur je eigenen Souveränität im Sinne des Willens zur Macht.
Steht die angelologische Selbsttranszendenz im weitesten Sinne
262 Ebd., S. 111.263 Ebd., S. 111 f.
120
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
für eine „agapeische“ Selbstüberschreitung hin zum anderen, so
die dämonische Selbsttranszendenz für die Transzendenz der
kreatürlichen, ästhetisch-erotischen Souveränität, die sich als
Selbst und Selbstheit zu behaupten sucht. Die angelologische
Selbsttranszendenz dagegen vollzieht sich auf zwei zentralen
Weisen, die martyrologische und die hymnische, die sich
allerdings als zwei Aspekte derselben Form von
Selbsttranszendenz, nämlich als Zeugnis, erweisen sollen.
Zunächst wendet sich Petersons Angelologie der Existenz
wieder ganz konkret gegen die dialektische Theologie, die auf
der Trennung von Gott und Mensch gegen ihre Verwechslung
beharrt und damit notwendig eine negative Theologie darstellt:
Nicht dadurch predigt man Glauben, daß man vom Glauben immerredet, nicht dadurch zeugt man von diesem Letzten, daß man inunaufhörlicher Dialektik alle Aussagen wieder aufhebt,sondern daß man im Vorletzten zum Ausdruck bringt, daß mandas Letzte hat, daß man mit Engeln, Sonne und Mond, die dochalle nicht das Letzte sind, von dem zeugt, was das Letzteist, und was selber doch erst sichtbar werden wird, wennSonne und Mond vergangen sein werden und wenn auch der Todnicht mehr sein wird.264
Die unendliche Differenz zwischen Gott und Mensch soll
existentiell-theologisch überwunden werden, indem der Christ
sein kreatürliches Sein transzendiert und nicht mehr nur in
philosophischer Distanz objektive Aussagen über Gott macht, die
ohnehin – als Aussagen – nur negativ sein können.
Selbsttranszendenz verwirklicht sich dagegen in einer in der
hymnischen Anrede zu bezeugenden Annäherung an „das Letzte“.
Während also die begrifflich-negative Aussage der ersten Stufe
von Theologie in der Tat dem kreatürlichen Status des Adam
264 Ebd., S. 113.121
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
angemessen sei, verwirklicht sich Theologie in einem hymnischen
Sprechen, in dem dieser Adam sich selbst zu den Engeln hin
überschreitet.265 „Der Ausdruck ‚Theologia‘ ist zweideutig“,
schreibt Peterson.
„Das Wort bezeichnet auf der einen Seite in der antikenPhilosophie das Wissen um die höchsten Prinzipien des Seins.Auf der anderen Seite konnte mit Theologie aber nun nichtbloß die Wissenschaft, sondern auch der Logos, speziell diegleichsam poetische Rede der Sänger der Urzeit bezeichnetwerden.“266
In dieser doppelten Bedeutung findet der Begriff der Theo-logia
in der christlichen Mystik Verwendung, die, wie Peterson
selbst, beide Formen von Theologie, die diskursiv-negative und
die hymnisch-positive, in einer Stufenlehre integriert, die die
Annäherung an Gott als ein Über-sich-hinaus-Gehen des Daseins
in bestimmten Phasen und Graden beschreibt.
Mit anderen Worten: Die liturgische Hymne ist der authentisch
ästhetische Ausdruck der Theo-logia selbst. Insofern es ihr um
den Lobpreis dessen geht, der über alle Gewalten und Namen ist,
ist sie eine in ihrem Wesen ästhetische Rede, in der sich
zugleich das Über-sich-hinaus-gehen der Kreatur in Richtung auf
den Engel verwirklichen soll. Diese liturgisch-ästhetische Rede
– die Hymne auf Gott – ist der Logos der wahren Theologia, die
sich über die Negativität der dialektischen Theologie erheben
soll, die zugleich die Voraussetzung der Hymne ist. Als solche
ist die Hymne höchstes Zeugnis, das der über sich hinausgehende
Glaubende vor Gott ablegen kann. 265 Vgl. hierzu die philosophische Begründung hymnischen Sprechens bei Marion, The Idol and Distance, vor allem Paragraph 16: „The Discourse of Praise“, S. 180–195. Auch den Essay Marions „In the Name. How to Avoid speaking of „Negative Theologie““, in: John Caputo/Michael J. Scanlon, God, the Gift and Postmodernism, Bloomington 1999, S. 20–42.266 Peterson, Das Buch von den Engeln, S. 85.
122
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Mit dem Begriff des Zeugnisses wird aber nicht nur die
hymnische, sondern, wie wir sahen, auch die martyrologische
Dimension dieses Über-sich-hinaus-Gehens hin zu den Engeln in
Erinnerung gebracht. In letzter Instanz bedeutet „Zeugnis
ablegen“ eben das Zeugnis für Christus ablegen, mit dem dessen
Wort existentiell-politisch imitiert wird, nämlich in der
Selbtserniedrigung für den anderen:
Kein Apostel leidet für sich selber, kein Heiliger wirdheilig für sich allein, immer zieht der Märtyrer und derHeilige andere mit sich, immer führt es die Gläubigen übersich selbst hinaus in eine Liebe, die sich selber vergißt,und in eine Demut, die sich selber für nichts achtet.267
Das Über-sich-hinaus-Gehen ist hier kein Wille zur Macht, keine
erotisch-ästhetische Souveränität, die sich selbst um ihrer
selbst willen überbietet. Das Ich überbietet sich, indem es
sich in Demut und Selbsthingabe als Selbst gerade aufgibt.
Solches Über-sich-hinaus-Gehen als Selbstaufgabe und Liebe der
Selbsthingabe vollendet sich in dem Tod für den anderen, dem
Martyrium, das existentiell-theopolitisch die Umkehrung aller
Werte bezeichnet, die in der existentiell-politischen
Selbsterhaltung gründen. Aus dieser existentiellen Perspektive
sind Auszug (aus der irdischen Polis) und Annäherung (an die
himmlische Polis), wie sie das Sein der Kirche beschreiben,
Funktion des Über-sich-hinaus-Gehens des Ichs als
Selbsthingabe, die sich allerdings im Rahmen der kirchlichen
Gemeinde vollziehen soll.
Die Kirche bedarf zu ihrem Leben und Wachstum der Märtyrerund Heiligen, weil sie es sind, die in ihrem Hinausgehen übersich selbst, bis zur Preisgabe des Lebens, uns nötigen, inLiebe uns selbst zu vergessen und in Demut unserer selbst für
267 Peterson, Marginalien zur Theologie, S. 74.123
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
nichts zu erachten, um so die mystische Freude der LiebeChristi zu erfüllen.268
Damit ist aber, so scheint es, die Identität von Martyrium und
Hymne im „Zeugnis Ablegen“ bzw. im Über-sich-hinaus-Gehen für
Peterson evident geworden.
In dem Philipperkommentar von 1938, „Apostel und Zeuge
Christi“ überschrieben, geht Petersons Rhetorik selbst noch
einmal über ihre eigenen Grenzen hinaus und definiert,
ausgehend von Phil. 2,6 ff., den inneren Zusammenhang beider
Formen der Zeugenschaft:
Da liegt die letzte Wurzel der christlichen Demut, die bereitist, Armut und Niedrigkeit entgegenzunehmen, dem Tode sichhinhält im Wissen um die Niedrigkeit unserer Sklavengestaltund am Kreuze sich anheften läßt, in dem Erkennen desPreisgegebenseins an diesen Äon und seine Mächte. Demut istalso mehr als ein moralischer Akt, sie ist ein Wissen um dasSein des Menschen, des Kosmos und dieses Äons; aber damit istdann auch schon gesagt, daß in dieser eschatologischenVerhaltungsweise der Demut ein Hinweis auf eine Erhöhung undauf ein Herrschaftsbild gegeben ist, das sein Urbild in derErhöhung Jesu zu der höchsten Herrschaftswürde hat. Demut istalso nicht eine negative Tugend, die in sich selber Ziel undGenüge fände, sondern Durchgang durch eine Verhaltensweisegegenüber Mensch, Kosmos und Äon, der es um die letzteOrdnung und die höchste Form der Herrschaft geht. Wer bereitist, in der Demut Armut auf sich zu nehmen, tut es, weil erum den wahren Reichtum weiß; wer sich nicht scheut, derNiedrigkeit sich zu unterwerfen, hat eine Einsicht in das,was wahre Würde ist; wer sich dem Tode in Demut hinhält,erwartet die Überwindung des Todes in der Auferstehung derToten; wer sich den Mächten dieses Äons zur Kreuzigungpreisgibt, glaubt an das Kommen und die Nähe desGottesreiches. So wird denn Christus, der aller Demut Urbildist, auch in urbildlicher und besonderer Weise erhöht und indem Namen, den Gott ihm gibt, der Triumph über einMenschenbild, einen Kosmos und einen Äon sichtbar, der Engel,Menschen und Tote in den bewundernden Ruf „Herr ist Jesus
268 Ebd.124
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Christus zur Verherrlichung Gottes des Vaters!“ ausbrechenläßt.269
Damit werden Kult und Liturgie zum ultimativen Zeichen der
Tatsache des Zwischenseins der Kirche, das sich als Bewegung
von Auszug und Annäherung auszeichnet und dem Über-sich-hinaus-
Gehen des Glaubenden als Selbsthingabe der Liebe verdankt. Kult
und Eschatologie stehen somit für Peterson in keinem
Widerspruch zueinander, vielmehr ist der Kult von dem
apokalyptischen Drama gar nicht zu trennen, wie dies Peterson
am Beispiel der Johannes-Offenbarung auch textuell belegen
will. In diesem Text sind bekanntlich liturgische Hymnen in die
eigentliche Erzählung vom Endgeschehen einmontiert. Diesen
Hymnen kommt nun im Sinne der „Ökonomie der Erzählung“, wie
Peterson erklärt, eine „retardierende Funktion“ zu.270 Aus der
Perspektive des überzeitlich-göttlichen Äons ist die textuelle
Einheit von apokalyptischem und liturgischem Geschehen nämlich
Ausdruck der theologischen Tatsache,
daß alles eschatologische Weltgeschehen in Gottes ewiger Weltgründet, so daß die Schilderung der eschatologischenEreignisse im Kosmos notwendigerweise den Hintergrund einerewigen Welt und die grausame Beschreibung alles Leidens inder eschatologischen Zeit notwendigerweise die Schilderungeiner leidentrückten Welt, die nur das Lob Gottes kennt,sichtbar machen muß.271
Da also Kult und Eschatologie bei Peterson nicht Gegensätze,
sondern komplementäre Aspekte desselben Ereignisses des Auszugs
und der Annäherung darstellen, heißt es im hymnischen Lobpreis
Gottes folgerichtig, daß Gott der ist, „der da war, der da ist
und der da kommt.“ Diese christliche Variation einer jüdischen
269 Ebd., S. 75.270 Peterson, Das Buch von den Engeln, S. 19.271 Ebd., S. 21.
125
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Gebetsformel weist für Peterson darauf hin, daß die Ewigkeit
göttlichen Seins, daß der ontologische Ewigkeitsbegriff durch
den eschatologischen Begriff sowohl „durchbrochen“ wird, wie er
eben auch zu diesem Sein gehört. Der Simultaneität der Äone,
die die Theopolitk als interventorische Praxis begründet,
entspricht eine parallele Simultaneität von Sein und Kommen in
der göttlichen Sphäre. Eben diese Gleichstellung von Sein und
Kommen in Gott ist es denn auch, die die für Peterson als
selbstverständlich gesetzte Beteiligung der Kirche am Kult der
Engel und umgekehrt der Engel am Kult der Kirche ermöglichen
soll. Wenn nämlich dem in der hymnischen Formel artikulierten
Tatbestand von Gottes Gewesensein, Sein und Kommen die
liturgische Dreiteilung von Preis, Ehre und Danksagung
entspricht, so wird in der Danksagung, der Eucharistie, immer
schon die reale Manifestation Gottes zelebriert.
Die Eucharistie ist so nicht nur der kultisch-liturgischeAusdruck dafür, daß Gott seine kosmisch-ontologische Ewigkeitdurchbrochen hat und sich in der Knechtsgestalt erniedrigt undselbst hingegeben hat, sondern sie ist es, die die Verbindungzwischen irdischem und englischem Kult, den Übergang zwischenKirche und himmlischer Polis ermöglicht.272
Im Martyrium, der existentiellen Bezeugung von Gottes Kommen,
wird die Umkehr aller politischen Werte vollzogen, die im
Siegeshymnus dann als Lobpreisung der Gerechten und der Engel
vor Gott hymnisch bezeugt wird. In diesem Sinne zitiert
Peterson den hymnischen Lobpreis aus Off. 5,3:
Würdig bist du, zu nehmen das Buch und zu öffnen seineSiegel, denn du wurdest geschlachtet und hast erkauft mitdeinem Blute aus allen Stämmen, Sprachen, Völkern und
272 Ebd., S. 24.126
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Nationen und machtest sie zu einem Königtum und zu Priestern,und herrschen werden sie auf Erden.
Der Kult ist die liturgische Inszenierung und zugleich
Vorwegnahme der schon vollzogenen Identität von Sein und
Kommen, mit der der Fürst dieser Welt, das imperium romanum mit
seinem Kaiserkult bzw. das nationalsozialistische
Tausendjährige Reich endgültig als besiegt imaginiert werden
darf. Dieser Sieg wird durch das Martyrium eingeleitet und
besiegelt zugleich, insofern es nicht zu politischen Mitteln,
nicht zur Gewalt greift, also Politik als besiegt ausweist.273
Dieser Überwindung der Politik entspricht das Symbol von der
Öffnung des Buches.
Der Hymnus ist also als Siegeshymnus – kein anderer Siegerkann das Buch öffnen, d. h. keine rein politische, an einenSieg auf der Erde geknüpfte Entscheidung vermag dasSchicksalsbuch, das in Gottes Hand ruht, zur Verlesung zubringen. Nur der Sieg des Löwen aus Juda löst das Siegel vondem Schicksalsbuch der Geschichte […]. Wenn die Kirche inihrem Hymnus „das geschlachtete Lamm“ preist, so geschiehtdas, weil sie von der Überlegenheit des Löwen aus Judagegenüber allen Königen der Erde weiß, weil sie ein König-und Priestertum kennt, das allen anderen Königtümern undPriestertümern überlegen ist, da es aus allen „Stämmen,Sprachen, Völkern und Nationen“ gewonnen ist. Der Hymnus derKirche ist die Transzendierung aller nationalen Hymnen, wiedie Sprache der Kirche die Transzendierung aller Sprachen
273 Vgl. Erik Peterson: „Der Fürst dieser Welt“, in: ders., Ausgewählte Werke,Bd. IV, S. 256 f. In diesem Fragment beschreibt Peterson denapokalyptischen Sieg über die Mächte dieser Welt aus eben der angelischenPerspektive, deren kultische und existentielle Dimension er hier als seinengenuinen „Begriff der Politischen“ (!!) zu deuten versucht. „Der Begriffdes Politischen ist nicht von der irdischen Herrschaft aus zu bestimmen,sondern muß die himmlische Herrschaft der Engel mit hinzunehmen.“ Erst soerhellt sich die theopolitische Bedeutung von Martyrium und Kult, die dasBuch von den Engeln bestimmt. „Der Genius der Weltgeschichte (Napoleon usw.)ist in diesem Sinn ein von Engeln (guten und bösen) bestimmter Mensch.“Diese existentielle Angelologie ist offenbar immer schon eingebaut inPetersons „Begriff des Politischen“.
127
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
ist, und das darum, weil der Sieg des Löwen aus Juda den Siegaller Könige der Erde transzendiert hat.274
Die Hymne ist somit Ausdruck des Sieges über Herrschaft und
Gewalt, die in einer Sprache vorgetragen wird, die alle
nationalen und partikularen Sprachen transzendieren soll. Die
apokalyptische Theopolitik gipfelt in dem ästhetischen Ausdruck
hymnischen Sprechens – der eigentlichen Theo-logie also, deren
Sinn der Vers des eingangs zitierten Verses aus dem Brief des
Paulus an die Epheser in prägnanter Form zusammenfaßt: „Du bist
erhaben über jede Obrigkeit und Gewalt, Kraft und Herrschaft
und über jeden Namen, der nicht nur in dieser, sondern auch in
der zukünftigen Welt genannt wird.“
IV Ästhetik als Theologia
Der Hymnus der Liturgie ist also der authentische Ausdruck der
Theologia und als solcher der höchste Ausdruck martyrologischer
Theopolitik. Diese Hymne, dieser Lobpreis Gottes ist als
poetische (An-)Rede, zumal Gebet, liturgischer Gesang und
mystische Ekstase wesenhaft „ästhetische“ Rede. Petersons
Theopolitik findet ihren adäquaten Begriff in einer Ästhetik
als Theologia, deren Sinn der unaussprechliche Name Gottes ist,
der in solcher Transzendenz aller Namen das Ende von Herrschaft
und Gewalt indiziert. Der Vers aus Paulus’ Brief an die Epheser
ist nicht zufällig einmontiert in die von Peterson ausführlich
diskutierte Markus-Liturgie; er enthält die Quintessenz seiner
Theo-logia als Liturgie und Theopolitik.
274 Ebd., S. 31.128
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Gerade aber in dieser Zusammenstellung von unaussprechlichem
Namen und überwundener Herrschaft erscheint Petersons Theologie
der Grundtendenz moderner Ästhetik zum Verwechseln ähnlich. Der
Namenlosigkeit und Transzendierung der Herrschaft entspricht
scheinbar der moderne Begriff autonomer Schönheit als
Begrifflosigkeit, deren Sinn die Negation von Interesse und
Herrschaft ist. Wenn bei dem Begründer der autonomen Ästhetik,
bei Kant, Begriff und Interesse im ästhetischen Urteil
suspendiert werden275, so bezeichnet die von keinem Begriff
fixierbare Schönheit die Sphäre des Spiels freier
Deutungsversuche und somit einer unverzerrten Kommunikation,
die dann spätestens bei Schiller eine politisch-theologische
Bedeutung erhält: nämlich als die historisch-innerweltliche
Utopie des dritten Reiches der Schönheit276, das die
joachitische Apokalypse vom dritten innergeschichtlichen Reich
kantianisch im Sinne einer Sphäre der idealen Vermittlung von
Natur und Freiheit (um)bestimmt und damit in der Schönheit den
gottgewordenen Menschen utopisch zelebriert. Dieser
Zusammenhang von Begriffs- und Machtkritik bestimmt die moderne
Ästhetik bis zu Adorno, Marcuse und Heidegger, insofern das
„Ästhetische“, ob negativistisch oder affirmativ, das Ereignis
der historischen Realisierung des Absoluten in der Geschichte
bezeichnen soll. Damit aber entspricht das Ästhetische nicht
nur einer anderen Verfassung von Gesellschaft, sondern vor
allem einer anderen Form von Subjektivität, die ästhetisch
„über sich hinaus“, das naturgeschichtliche Wesen des Menschen
275 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, und Schriften zur Naturphilosophie, Darmstadt 1981, §§ 5 und 9.276 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, S. 476 ff.
129
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
überwunden haben soll. Ob dieses Ereignis im Sinne eines
ursprünglich ontologisch abgesicherten Bezugs zum Sein jenseits
des Willens und des Interesses (Heidegger)277 oder, wie bei
Adorno, nur in den seltenen Augenblicken ästhetischer
Erschütterung möglich wird, in denen das Subjekt sich seiner
Subjektivität wie eines Panzers entledigen kann278 – die
Transformation des Subjekts ist als ein „Über sich hinaus“
immer zugleich auch als ein „Zu-sich-selbst-Kommen“ konzipiert,
das in der Geschichte sich ereignen und vollenden soll. In
diesem Sinne bezeichnet die Epiphanie des von Herrschaft
befreiten Menschen das Ereignis der Transposition des
Gottesreiches auf die realpolitische Ebene der Geschichte:
Erlösung. Die Ästhetik der Moderne konstruiert das synthetische
Menschenbild, das glänzende Idol, das in der politischen
Theologie der Moderne utopisch vorausgesetzt wird, insofern es
dieser – von Lessing und Schiller über Feuerbach bis Adorno –
um die Emanzipation des Subjekts im Sinne einer idealen
277 Vgl. etwa Martin Heidegger, „Wozu Dichter?“, in: ders., Holzwege, Frankfurt a. M. 1977, S. 296 ff.: „Wenn aber der Mensch der Gewagte ist, der mit dem Wagnis geht, indem er es will, dann müssen die Menschen, die manchmal noch wagender sind, auch noch wollender sein.“ An Rilkes Poesie entlang entwickelt Heidegger hier zum ersten Mal seine Idee von einem Wollen des Nichtwollens, mit der der Wille zur Macht als Urmacht herrschaftlicher Metaphysik überwunden werden soll. Wenn nämlich der Wille zur Macht selbst nicht das letzte, sondern schon Ausdruck einer fundamentalen Schutzlosigkeit ist, dann bedeutet das „Wollender sein“ die Möglichkeit der Umkehr: „Das Auszeichnende des Wendens besteht darin, daß wir das Schutzlossein als das Drohende gesehen haben. Erst solches Gesehenhaben sieht die Gefahr. Es sieht, daß das Schutzlossein als solches unser Wesen mit dem Verlust der Zugehörigkeit in das Offene bedroht.“ (Ebd., S. 300)278 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1973, S. 401 etwa: „Das von Kunst erschütterte Subjekt macht reale Erfahrungen; nun jedoch, kraft der Einsicht ins Kunstwerk als Kunstwerk solche, in denen seine Verhärtung in der eigenen Subjektivität sich löst, seiner Selbstsetzung ihre Beschränktheit aufgeht.“
130
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Inkarnation des Göttlichen im Menschen geht, also
paradoxerweise: um die Menschwerdung Gottes.
Wenn formal Theologia und moderne Ästhetik zunächst zum
Verwechseln ähnlich zu sein scheinen, so zeigt der Rekurs auf
die mit dem Begriff der Schönheit korrelierende ästhetische
Subjektivität zugleich die radikale Differenz zwischen diesen
beiden Formen von Ästhetik, insofern nämlich die Emanzipation
des Subjekts sich exemplarisch in der Emanzipation des Genies
von den Ketten der Tradition verwirklicht. Nicht zufällig
stellt Peterson seiner angelologischen Konzeption von
Humanität, die sich als Selbsttranszendenz von Demut und Liebe
entfaltet, eine andere Selbsttranszendenz gegenüber, die als
Steigerung und Intensivierung des Ichs in der Selbstliebe und
damit als Wille zur Macht alle Konventionen, Normen und Gesetze
transzendiert. Diese Form der Selbsttranszendenz benennt
Peteson mit dem Daimon, lateinisch: genius, der gemeinsam mit
dem Begriff des ingenium, die ästhetische, ja die moderne
Subjektivität im Ganzen definiert. Der Schönheit jenseits von
Begriff und Interesse entspricht auf der Seite der Produktion
das Subjekt als Genie, das, um diese Schönheit zu realisieren,
ein Kunstwerk so produzieren muß, daß es den bekannten
Regelkanon stets transzendiert. Kants Definition des Genies
stellt diesen Zusammenhang im Sinne einer Korrelation von
Schönheit und ästhetischer Subjektivität folgendermaßen dar:
Denn eine jede Kunst setzt Regeln voraus, durch derenGrundlegung allererst ein Produkt, wenn es künstlich heißensoll, als möglich vorgestellt wird. Der Begriff der schönenKunst aber verstattet nicht, daß das Urteil über dieSchönheit ihres Produkts von irgendeiner Regel abgeleitet
131
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
werde, die einen Begriff zum Bestimmungsgrunde habe, mithineinen Begriff von der Art, wie es möglich sei, zum Grundelege. Also kann die schöne Kunst sich selbst nicht die Regelausdenken, nach der sie ihr Produkt zu Stande bringen soll.Da nun gleichwohl ohne vorhergehende Regel ein Produktniemals Kunst heißen kann, so muß die Natur im Subjekte […]der Kunst die Regel geben, d. i. die schöne Kunst ist nur alsProdukt des Genies möglich.279
Wenn diese Definition von Kunst durch Kant selbst sofort
eingeschränkt wird, insofern nämlich eine Einbildungskraft ohne
Aufsicht durch die Urteilskraft und den Geschmack „in ihrer
gesetzlosen Freiheit nichts als Unsinn hervor[bringen]“280 soll,
so zeichnet sie doch das Telos der sich stetig
autonomisierenden Kunst vor, das, ausgehend von einer solchen
eingeschränkten Freiheit, sich zuletzt, in der Avantgarde, als
radikale Freiheit aktualisieren wird. Ausgehend von einer
bestehenden Verfassung von Kunst, setzt das Genie diese
zunächst ideal ins Werk um, also so, daß die eigentliche
Anwendung der Regel unerkenntlich bleibt, um dann im Namen der
Freiheit und des individuellen Ausdrucksbedürfnisses des
Subjekts diese Verfassung zunehmend kritisch zu modifizieren,
bis am Ende eben diese Verfassung der Kunst vom ästhetischen
Subjekt in toto suspendiert wird. Das Gesetz der Schönheit als
Freiheit von Norm, Begriff und Gesetz wird vom ästhetischen
Subjekt vollstreckt, das damit selbst seine souveräne Freiheit
aktualisiert und, da es sich nun von der Verfassung emanzipiert
hat, nunmehr mit jedem Werk, wie Adorno für den modernen
279 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 46.280 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 255. Vgl. hierzu meinen Aufsatz „Die Endzeit des Genies. Zur Problematik des ästhetischen Subjekts in der (Post)moderne“, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 69. Jahrgang 1995, S. 181–184.
132
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Komponisten feststellt, eine „creatio ex nihilo“281 vollziehen
muß.
Die Dialektik dessen, was man als die ästhetische Form
bezeichnen kann, also der Prozeß, in dem das Ausdrucksmoment
gegen das Formmoment radikalisiert wird, besitzt – im Rahmen
der politischen Theologie der Moderne – einen paradigmatischen
Charakter, weil das ästhetische Subjekt immer schon als idealer
Repräsentant für die politische Freiheit des Subjekts gilt.
Wenn der Genius klassisch Natur und Freiheit, Neigung und
Gesetz in sich und seiner Poesis harmonisch ins Werk zu setzen
versteht, so ist das ästhetische Subjekt hier sowohl Modell für
eine allgemeine Form von Subjektivität wie auch Ausnahme,
insofern es dieses Allgemeine in sich schon real antizipiert.
Aber eben die Teleologie der Schönheit selbst, die sich als
Wesen vor Begriff und Interesse realisiert, verlangt eine
Dissoziation von Form und Subjektivität, die das ästhetische
Subjekt zuletzt zu einer Suspension der Verfassung zwingt, mit
der es als Ausnahme und souveräne Instanz vor jedem Gesetz und
vor jeder Norm auch einen ganz anderen Typus von Politik zu
repräsentieren hat. Insofern nun „das Ästhetische“ die ideale
Darstellung „des Politischen“ bildet, wird das ästhetische
Subjekt potentiell zum Prototyp einer souveränen Politik, die
in Carl Schmitts Politische Theologie folgerichtig und in ihrer
ganzen Tragweite zur Formulierung gelangt. Schmitts Einsicht,
daß „im Normalfall das selbständige Moment der Entscheidung auf281 Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, Frankfurt a. M. 1978, S. 101: „Der Triumph der Subjektivität über die heteronome Tradition, die Freiheit,jeden musikalischen Augenblick subsumtionslos ihn selber sein zu lassen, kommt teuer zu stehen. Die Schwierigkeiten der geforderten Sprachschöpfung sind prohibitiv. Nicht bloß wird dem Komponisten als Arbeit aufgebürdet, was vordem die intersubjektive Sprache der Musik weithin ihm abgenommen hatte.“
133
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
ein Minimum zurückgedrängt werden kann, während im Ausnahmefall
die Norm vernichtet“282 wird, erscheint wie ein Analogon zu der
Formulierung des Künstlers Busoni etwa, der der Routine als
Anwendung einiger weniger Regeln „auf alle vorkommenden Fälle“
eine Kunst vorzieht, „bei welcher jeder Fall eine neue, eine
Ausnahme wäre“283.
So wie Schmitt die Souveränität aus dem Ausnahmefall
konstruiert, nämlich als Akt einer notwendigen Aufhebung der
Rechtsordnung „in einer Entscheidung aus dem Nichts“, so
folgert Busoni aus der neuen Situation der Kunst nach der
Destruktion der ästhetischen Verfassung einen Akt der creatio ex
nihilo, der das Kunstwerk „aus nichts“ erzeugen soll. Nicht nur
handelt es sich hier um analoge Fälle, die in der Tat den
Diskurs der Avantgarde der 20er Jahre beherrschen, sondern das
ästhetische Subjekt ist die ultimative Realisierung des
politischen Subjekts, insofern das ästhetische Subjekt das
Prinzip souveräner Grenz- und Normüberschreitung radikal ins
Werk setzt. Eine solche Grenzüberschreitung bedarf aber der
Macht, die die Grenze als eine durch die Gesellschaft, das
Allgemeine, gegen die Willkür des Ichs errichtete Grenze zu
durchbrechen wagt. Die ästhetisch-politische Souveränität als
Selbstranszendenz des Subjekts verwirklicht sich als Wille zur
Macht, der sich, dieser Logik der Normenkritik entsprechend,
jeweils von neuem als Ausnahme zu konstituieren hat. Die
Selbsttranszendenz als ein „Über-sich-hinaus-Sein“ muß so
jeweils den erreichten Stand der Souveränität, wie er sich als
282 Schmitt, Politische Theologie, S. 19.283 Ferruccio Busoni, Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, Wiesbaden 1954 (1916),S. 31. Vgl. meinen Aufsatz „Logik der Ausnahme. Zum ästhetischen Subtext der Politischen Theologie von Carl Schmitt, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Bd. XLI/2 (1996), S. 259–279.
134
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Begriff, Norm, Wahrheit darstellt, auf neue Möglichkeiten des
Selbst-Seins hin überschreiten. Was Heidegger an Nietzsches
Konzept vom Willen zur Macht herausstellt, erhellt nicht nur
dieses ästhetische „Über-sich-hinaus-Sein“, sondern weist das
„Ästhetische“ als die Sphäre des Seins selbst aus, die in ihrer
Orientierung an der Möglichkeit die „Wahrheit“ als Bestand und
Wirklichkeit immer schon überbietet.
Im Hinblick auf die Sicherung der jeweils erreichtenMachtstufe ist die Wahrheit der notwendige Wert. Aber siereicht nicht zu, um eine Machtstufe zu erreichen; denn dasBeständige, für sich genommen, vermag niemals das zu geben,dessen der Wille allem zuvor bedarf, um als Wille „über sichhinaus“ und das heißt erst in Möglichkeiten des Befehlshinauszugehen. […] Das Schaffen von Möglichkeiten desWillens, aus denen sich der Wille zur Macht erst zu sichselbst befreit, ist für Nietzsche das Wesen der Kunst.284
In solcher Reduktion des Willens zur Macht ist die
Selbsttranszendenz des Subjekts konsequent auf die „jemeinige“
Machtsteigerung hin angelegt und erweist sich in dieser
Jemeinigkeit – aus der theologischen Perspektive – als Ausdruck
einer radikalen Selbstliebe, oder, um mit dem amerikanischen
Philosophen William Desmond zu sprechen: einer radikalen
„erotischen Souveränität“285. Die moderne politische Theologie
und moderne Ästhetik wollen seit Lessing das Gottesreich auf
Erden gründen und die christliche Nächstenliebe zum Grundgesetz
ihrer utopischen Politik erheben. Wie dies Feuerbach fordert,
„enthüllen“ sie Gott selbst als Spiegelbild und Metapher des
Ichs und reduzieren mit der Gottesliebe auch zunehmend die
Nächstenliebe konsequent auf die Selbstliebe und „erotische
284 Heidegger, „Nietzsches Wort ‚Gott ist tot‘“, S. 240 f.285 Desmond, Ethics in the Between, S. 443.
135
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Souveränität“.286 Dieser Tendenz entsprechend, werden mit dem
metaphysischen Schein dann auch beide, Gottes- und
Nächstenliebe, tatsächlich als fundamentales „Unrecht“
entlarvt. So schreibt Freud:
Eine der sogenannten Idealforderungen der Kulturgesellschaftkann uns hier die Spur zeigen. Sie lautet: Du sollst denNächsten lieben wie dich selbst […]. Warum sollen wir das?Was soll es uns helfen? […] Meine Liebe ist etwas mirWertvolles, das ich nicht ohne Rechenschaft verwerfen darf.Sie legt mir Pflichten auf, die ich mit Opfern zu erfüllenbereit sein muß. Wenn ich einen anderen liebe, muß er es aufirgendeine Art verdienen. […] Er verdient es, wenn er mir inwichtigen Stücken so ähnlich ist, daß ich in ihm mich selbstlieben kann […]. Aber wenn er mir fremd ist und mich durchkeinen Wert, keine bereits erworbene Bedeutung für meinGefühlsleben anziehen kann, wird es mir schwer, ihn zulieben. Ich tue sogar unrecht damit, denn meine Liebe wirdvon all den Meinen als Bevorzugung geschätzt; es ist einUnrecht an ihnen, wenn ich den Fremden ihnen gleichstelle.287
Die ästhetische Souveränität, in ihrer Logik und Repräsentanz
zu Ende gedacht, erweist sich als ästhetische, erotische und
politische Souveränität, die sich in dem Maße zu behaupten
versteht, als das sie sich im Selbst die ultimative
Machtstellung zu verschaffen weiß und den anderen als Störung,
Fremden und Feind aus seinem Lebensumkreis verbannen kann.
Potentiell findet der erotische Souverän, um seiner
Machtsteigerung willen, in dem Feind seine eigentliche raison
d’être.288
286 Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Leipzig, 1958, S. 122: „Die Religion ist die Reflexion, die Spiegelung des menschlichen Wesens in sich selbst. Was ist, hat notwendig einen Gefallen, eine Freude an sich selbst, liebt sich und lebt sich mit Recht. […] Sein heißt sich behaupten, sich bejahen, sich lieben; […] Gott ist der Spiegel des Menschen.“287 Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: ders., Das Unbewußte. Schriften zur Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1960, S. 381 f.288 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 26 ff.
136
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
In der scheinbar einfachen Sprache, die Peterson in seinem
Buch über die Engel verwendet, wird diese Form der
Selbsttranszendenz mit der angelologischen Selbsttranszendenz
vergleichbar, aber als deren Umkehrung und Perversion ins
Dämonische. Der Daimon ist allerdings die griechische Vorlage
eben des lateinischen Genius, der zusammen mit dem Begriff des
Ingeniums seit dem ausgehenden Mittelalter den Prozeß der
Emanzipation der Subjektivität zunächst in der Poesie, dann
aber auch in Philosophie und Wissenschaft inspiriert. Peterson
schreibt:
Es gibt viele Wege, auf denen der Mensch zum Engel eilt,nicht, als ob er sich eigentlich vornähme, zum Engel zuwerden, sondern weil das Sein, das er lebt, nur einvorläufiges Sein ist und weil noch nicht erschienen ist, waswir sind. Und wenn wir nicht zum Engel eilen, der vor Gottsteht, dann eilen wir sicherlich zu jenem Engel, der sich vonGott abgewandt hat, dann nähern wir uns dem Daimon.289
Ist der Heilige die Gegenfigur zum Herrschersouverän, so
verschärft sich das Paradox ihrer Beziehung noch einmal
dadurch, daß ästhetisch-erotische Souveränität einerseits und
agapeische Bereitschaft zur Selbstaufopferung andererseits in
ihrer Beziehung zum Gesetz – faktisch: in der Tatsache, daß
beide, Souveränität und Agape, über dem Gesetz stehen –
einander ähnlich werden. In letzter Instanz stehen beide für
die Grenzformen von Subjektivität schlechthin und in solcher
Transzendierung des Gesetzes für den politischen Extremfall:
Gründet der Souverän seine politische Macht auf den durch den
Feind provozierten Ausnahmezustand, so der Heilige seine
Heiligkeit in dem ihm befohlenen Akt, auch den Feind noch zu
lieben, womit er die politische Ausnahme durch die
289 Peterson, Das Buch von den Engeln, S. 93.137
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
theopolitische Liebe noch einmal überbietet und als Ausnahme
der Ausnahme durchbricht. Da, wo sich der erotische Souverän
als Repräsentant der modernen politischen Theologie und
politischen Ästhetik und der agapeische Heilige als
Repräsentant der Theopolitik und ihrer liturgischen Ästhetik,
scheinbar ähnlich werden, aber nur im ultimativen Konflikt
begegnen können, da ereignet sich eine Revolution der Moderne,
die scheinbar den Weg zurück von Nietzsche ins Mittelalter
weist, zur angelologischen Mystik etwa eines Dionysius
Areopagita290. Für Peterson aber bedeutet diese Rückkehr in
Wahrheit die wahre Zukunft desjenigen Denkens, das die Liebe
wie bei Lessing und Feuerbach für eine universale Politik der
Gerechtigkeit einsetzen wollte, aber – der innergeschichtlich-
apokalyptischen Logik der Moderne, also jenem Einzug des
Gottesreiches und der Engel in die real-politische
Öffentlichkeit entsprechend – dem Machtdenken der erotischen
Souveränität überlassen mußte.
290 Vgl. Pseudo-Dionysius Areopagita, Die Namen Gottes, Stuttgart 1988. Zur Bedeutung der radikalen Ästhetik (im Dada) für die Wiederentdeckung des Dionyius vgl. Hugo Ball, Byzantinisches Christentum. Drei Heiligenleben, Frankfurt a. M. 1979; hierzu auch Bernd Wacker (Hrsg.), Dioysius DADA Areopagita. Hugo Ball und die Kritik der Moderne, Paderborn/München 1996; aber auch mein Buch Die Apokalypse des Subjekts, Kapitel IX. Bei Marion, God without Being, wird Dionysius Areopagita zu einem Modell für die neue Theologie „jenseits des Seins“. Hier ist vor allem interessant, wie er zu einem Gegenmodell zu Nietzsches Metaphysik der Macht avanciert. Vgl. hierzu auch Marion, The Idol and Distance.
138
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Nach dem Gesetz Das politische Unbehagen an der Kultur. Leo Strauss liest Carl
Schmitt
Ein fundamentales Unbehagen an der Kultur verbindet Carl
Schmitt und Leo Strauss in den zwanziger Jahren.291 Sie sind
sich einig darüber, daß die Tiefendimension dieses Unbehagens
unmittelbar mit dem säkularen Charakter der Kultur zu tun hat.
Beide entziffern diese Säkularisation als ein Phänomen der
Depotenzierung ursprünglicher Einsichten über die Natur des
Menschen, die durch die Idee der Kultur als Entfaltungsraum
subjektiver Autonomie fatal verdrängt worden sind.
Es gilt bei Schmitt und Strauss, eben diese verdrängten
Einsichten, das politisch-theologische Unbewusste der Kultur
gleichsam, zu Bewußtsein zu bringen. Die zu diesem Zweck
inszenierten Archäologien bzw. Genealogien der Moderne
produzieren die für beide typischen telegraphischen
Reduktionen, in denen diese Depotenzierung sich schlüssig
dokumentieren soll. So bringt Schmitts Politische Theologie von 1922
den Verfallsprozeß des „Politischen“ bekanntlich auf den
simplen Begriff der Analogie von Theologie und Politik, deren
Verfallsprozeß sich in der Transformation von der Offenbarung
291 Die folgenden Überlegungen beziehen sich vor allem auf den Zeitraum von 1922 bis etwa 1938. Es handelt sich bei Schmitt um die Epoche, an deren Anfang Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (1922) und an deren Ende Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines Symbols (Hamburg 1938) stehen. Für Leo Strauss kommen hier vor allem seine „Anmerkungen zu Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen“, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 67. Bd., Heft 6, Tübingen 1932; dann seine Untersuchung Hobbes’ politische Wissenschaft, Neuwied 1965 (1935) und ders., Philosophie und Gesetz. Beiträge zum Verständnis Maimunis und seiner Vorläufer, Berlin 1935, in Betracht.
123
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
zur Vernunft Gottes und zuletzt zur Vernunft ohne Gott in den
politischen Institutionen von Souveränität, konstitutioneller
Monarchie und parlamentarischer Demokratie widerspiegeln
soll.292
Ähnlich konstruiert Leo Strauss in Philosophie und Gesetz (1935)
einen Prozeß der Entpolitisierung, der sich in der Entwicklung
der jüdischen politischen Theologie nach Maimonides abzeichnet,
bei Rabbi Levi ben Gerschon einen spezifischen, dem Deismus der
Aufklärung vergleichbaren Ausdruck erhält und sich in Rabbi
Isaak Abravanels anarchischem Utopismus vollendet.293 Wenn
Gerschon schon die politische Dimension des Maimonides nicht
mehr zu erfassen vermag, so verfalle Abravanel dann einem
292 Siehe Schmitt, Politische Theologie, S. 43, wo Schmitt die politisch-theologische Analogie mit dem ausdrücklichen Hinweis auf ihren analogischenCharakter vorführt.293 Strauss, Philosophie und Gesetz, S. 66: „Lewi nähert sich also nicht bloß dem neuzeitlichen Deismus, er nähert sich damit zugleich in erstaunlicher Weisederjenigen modernen Politik, die zuerst ausdrücklich, später unausdrücklichauf Grund eines scheinbar radikalisierten, in Wahrheit abstrakten, die Macht des Bösen übersehenden Vorsehungsglaubens die Wirksamkeit des Staatesin die allerengsten Grenzen einschließen zu können glaubt.“ Vgl. auch Strauss’ Essay „On Abravanel’s Philosophical Tendency and Political Teaching“, in: Trend/ Loewe, Isaac Abravanel, S. 110: Abravanel „conceives of urban life and of coercive government, as well as of private property, as productions of human rebellion against the natural order instituted by God:the only life in accordance with nature is a state of liberty and equality of all men, and the possession in common of the natural goods. […] his criticism of political organization is truly all-comprehensive. And the ultimate reason of this anti-political view is Abravanel’s anti-rationalism.“ Während Lewi den Übergang vom Monarchismus zum Liberalismus bezeichnet, steht Abravanel für die endgültige Leugnung des Politischen, für den Anarchismus. In beiden Texten läßt sich also ohne weiteres die Wirksamkeit der politisch-theologischen Analogie nachweisen, die Schmitt inder Politischen Theologie von 1922 in Erinnerung ruft. So schön es wäre, wenn Strauss’s Abravanel von 1937 als eine Antwort auf Carl Schmitts Leviathan verfasst wurde, der bekanntlich die für Abravanel typische jüdische Mystik und ihren Messianismus für die Zerstörung des Staates verantwortlich macht,chronologisch geht, wie ich bereits bemerkte, diese Vermutung von Gopal Balakrishnan: The Enemy, S. 211 f. nicht auf. Strauss’s Abravanel stammt aus dem Jahre 1937, während Schmitt seinen Leviathan erst 1938 verfaßt hat. Aber die Korrespondenz ist einigermaßen erstaunlich und nicht nur, was Schmitt angeht, anrüchig.
124
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
anarchischen Utopismus, der das Königtum und mit ihm Staat und
Herrschaft überhaupt zugunsten einer natürlichen Idylle
menschlicher Gemeinschaft ohne Herrschaft und Besitz verwerfe.
Beide Denker des Politischen, der katholische Jurist und der
jüdische Philosoph, sind dabei besonders besorgt über die
eigentliche Entwicklung der modernen Kulturidee, die sich seit
dem 17. und 18. Jahrhundert im Sinne einer Ethik der Autonomie
durchsetzt. Sie orientieren sich bewußt an Denkern, die
traditionell zu den Ahnherren der Gegenaufklärung gezählt
werden. Macchiavelli294 und Hobbes295 werden vor Rousseau und
Kant bevorzugt. Sie setzen auf politischen „Realismus“ gegen
jede Form von mystischem oder häretischem Illusionismus, und
zwar im Namen der Natur des Bösen und der Gefährlichkeit des
Menschen, die die liberale Forderung nach einem Konsensus um
jeden Preis aufkündigt. Schmitt und Strauss meinen es beide
ernst. Sie begnügen sich nicht mit Max Webers Befund, die
restlos entzauberte Kultur gleiche einem eisernen Gehäuse,
einer Maschine, die zwar perfekt funktioniere, deren
eigentlicher Zweck aber nicht mehr einsichtig sei. Die Kultur
befindet sich – laut Strauss, der hier Maimonides und Al Farabi
paraphrasiert, in „einer tieffinsteren Nacht, in der das
Menschengeschlecht ziellos umhertappt“.296 Schmitt hält es
294 Leo Strauss, Thoughts on Machiavelli, Glencoe 1958.295 Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Leo Strauss, The Political Philosophy of Hobbes. Oxford 1936. Es handelt sich bekanntlich um eine Übersetzung aus dem Deutschen, die allerdings erst 1965 im Original unter dem Titel Hobbes’ politische Wissenschaft, Neuwied und jetzt in ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3 (hrsg. v. Heinrich Meier, Stuttgart 2001) erneut publiziert wurde.296 Vgl. Strauss, Philosophie und Gesetz, S. 116, wo Strauss durchaus affirmativ Maimonides’ Perspektive auf die politische Mündigkeit der Menschheit zitiert: „[...] so wie nach Platon der vollkommene Staat nur durch den Philosophen verwirklicht werden kann, der aus der Höhle in das Licht hinaufgestiegen ist, der die Idee des Guten geschaut hat, ebenso kann nach
125
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
bekanntlich mit Donoso Cortes, wenn es darum geht, die Moderne
als Katastrophe zu beschreiben: „Die Menschheit taumelt blind
durch ein Labyrinth, dessen Eingang, Ausgang und Struktur
keiner kennt, und das nennen Geschichte.“297
Bei näherem Hinsehen zeigen sich jedoch sofort gravierende
Differenzen, die in letzter Instanz das Einvernehmen in einen
unversöhnlichen Gegensatz verwandeln:
1) Da, wo Carl Schmitt die Souveränität als
Entscheidungsvermögen über den Ausnahmezustand und als Instanz
über dem Gesetz definiert, wird Leo Strauss gerade eine
Souveränität des Gesetzes behaupten.
2) Wenn Carl Schmitt in seinem Angriff auf das Gesetz den
Neukantianismus kritisiert, so meint er implizit die Lehre des
Gesetzes, die bei Hermann Cohen in der Formel von der
„Souveränität des Gesetzes“ ihren prägnanten Ausdruck findet.
Eben diese Formel von Cohens „Souveränität des Gesetzes nimmt
Strauss auf, um sie allerdings von ihren neukantianischen
Maimuni […] der vollkommene Staat nur durch den Propheten verwirklicht werden, dem die Nacht, in der das Menschengeschlecht umhertappt, durch Blitze aus der Höhe, durch unmittelbare Erkenntnis der oberen Welt erleuchtet werden.“ Von der Fußnote aus der Einführung zu Philosophie und Gesetz, S. 13, weiß der Leser, daß Strauss mit der Formel von der Rückkehr in die Höhle das eigene politisch-philosophische Programm zusammenfaßt: „[...] nur die Geschichte der Philosophie ermöglicht den Aufstieg aus der zweiten ‚unnatürlichen‘ Höhle, in die wir weniger durch die Tradition selbst als durch die Tradition der Polemik gegen die Tradition geraten sind, in jene erste ‚natürliche‘ Höhle, die Platons Gleichnis schildert, und aus der ans Licht zu gelangen der ursprüngliche Sinn des Philosophierenist.“297 Schmitt, Politische Theologie, S. 63: „[...] die Menschheit ist ein Schiff, das ziellos auf dem Meer umhergeworfen wird, bepackt mit einer aufrührerischen, ordinären, zwangsweise rekrutierten Mannschaft, die gröhltund tanzt, bis Gottes Zorn das rebellische Gesindel ins Meer stößt, damit wieder Schweigen herrsche.“
126
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Implikationen zu emanzipieren und im Platonischen und jüdischen
Gesetz neu zu begründen.298
3) In letzter Instanz handelt es sich damit bei diesen beiden
Theoretikern des politischen Unbehagens an der Moderne um einen
theologisch begründeten Gegensatz, den Strauss an der Stellung
der europäischen Kultur zu Paulus festmacht.299 Während Schmitt
die „radikale Gesetzeskritik“ des Paulus politisch zu
aktualisieren versucht, will Strauss selbst das „Politische“
gegen seine Paulinische „Entstellung“ wieder so im Gesetz und
Nomos verankern, das es im Einvernehmen mit Moses’ Offenbarung
(be)stehen kann.
4) Wenn Strauss die politische Problematik schließlich analog
zu der ästhetischen Diskussion über den Status der Moderne in
einer „Querelle des Anciens et des Modernes“ zugunsten der
normativen Antike entscheidet, und also gleichsam „eine
Rückkehr in die platonische Höhle“300 vorsieht, so verirrt sich
Schmitt gegen das eigene Selbstverständnis in den Abgründen
eines ästhetischen Ultramodernismus, der sich von allen Normen,
Regeln und Gesetzen der Tradition emanzipiert, um in einem der
ästhetischen Avantgarde vergleichbaren Akt souverän jede
Gesetzesverfassung zu suspendieren.
298 Leo Strauss, „Cohen und Maimuni“, unveröffentlichte Rede aus dem Jahr 1931, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, hrsg. v. Heinrich Meier, Stuttgart1997, S. 393–436.299 Ebd., S. 428: „Der Gedanke des Gesetzes, des nomos, ist es, der Juden und Griechen vereinigt: der Gedanke der konkreten verbindlichen Ordnung desLebens, dieser Gedanke, der uns durch die christliche und die naturgesetzliche Tradition, in deren Bann sich mindestens unser philosophisches Denken bewegt, verdeckt wird. Durch die christliche Tradition: die einsetzt mit der radikalen Gesetzeskritik des Apostels Paulus. Durch die naturrechtliche Tradition, ein abstraktes Normensystem statuiert, das vom positiven Recht erst ausgefüllt und brauchbar gemacht werden muß.“300 Vgl. Anm. 6.
127
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Seit Heinrich Meiers detaillierter Rekonstruktion von Schmitts
drei verschiedenen Auflagen von Der Begriff des Politischen (1927–
1933) und der Rekonstruktion der Korrekturen, die Schmitt im
Anschluß an Leo Strauss’ „Anmerkungen zu Carl Schmitt, Der Begriff
des Politischen“ von 1932 in seiner letzten Revision des Traktats
von 1933 vorgenommen hat301, gilt die These vom Dialog unter
Abwesenden, in dem Carl Schmitt den Namen seines Dialogpartners
verschweigt, sich dessen Argumentation aber stillschweigend
zueigen macht. Die These von der verborgenen Dialogizität
scheint dabei weitaus überzeugender als die aus dieser
Dialogizität folgenden Schlußfolgerungen für das von Heinrich
Meier konstatierte Verhältnis von „politischer Theologie“ (Carl
Schmitt) und „politischer Philosophie“ (Leo Strauss). Der
Gegensatz zwischen diesen beiden Modi politischer
Konzeptualisierung läßt zumindest für die Jahre, in denen diese
Auseinandersetzung stattfindet, geradezu eine umgekehrte
Deutung zu: nämlich daß der politische Theologe Carl Schmitt
sich mit Der Begriff des Politischen gerade von der Theologie zu
emanzipieren und der Kritiker des Traktats, Leo Strauss, seine
eigene Position – in letzter Instanz zumindest – theologisch zu
verankern sucht. 302
301 Heinrich Meier, Carl Schmitt, Leo Strauss und der „Begriff des Politischen“.302 Heinrich Meier, Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung Politischer Theologie und Politischer Philosophie, Stuttgart 1994, bestäigt und verschärft die Unterscheidung von politischer Theologie und Philosophie so stark, daß das ganze Werk Schmitts zum Ausdruck einer einzigen katholischen Verschärfung wird. „Die Höhepunkte der großen Politik sind zugleich die Augenblicke, in denen der providentielle Feind erkannt, in denen die eigene Bestimmung erfüllt wird.“ (S. 98) Diese Interpretation wendet sich explizit gegen HansBarion, „Weltgeschichtliche Machtform: Eine Studie zur politischen Theologie des II. Vatikanischen Konzils“, 1968, in: ders., Kirche und Kirchenrecht, Paderborn 1984, der auf S. 606 behauptet, daß Schmitt „nach 1922 einen Weg eingeschlagen [habe], der ihn schließlich zu einer Position
128
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Gegen Meiers Befund, Schmitt verberge in Der Begriff des Politischen
seine ursprüngliche theologische Agenda, an die Strauss ihn
dann erinnere, möchte ich zunächst die These vertreten, daß
Carl Schmitt in seinem Traktat Der Begriff des Politischen (1927)
tatsächlich die säkulare Konsequenz zu vollziehen versucht, die
sich allerdings schon in Politische Theologie (1922) abzuzeichnen
beginnt. Nur so scheint verständlich zu werden, warum Schmitt
in der Analyse des Politischen plötzlich von einer „reinen
Politik“ spricht. Zwar betont er hier noch den „methodischen
Zusammenhang theologischer und politischer
Denkvoraussetzungen“, aber er setzt sofort hinzu, daß „die
theologische Unterstützung die politischen Begriffe öfters
verwirrt“303.
Vergewissern wir uns: Schmitts Politische Theologie von 1922 läuft
bekanntlich auf eine Definition der Souveränität als Macht
hinaus, die den Ausnahmezustand zu erkennen und über ihn zu
entscheiden vermag. Schmitts Deduktion ist ebenso bekannt.
führte, welche ‚einer thetischen Zerschneidung der geschichtlichen Nabelschnur zwischen Theologie und Politik gleichkommt.‘“ Die These geht wahrscheinlich auf Hugo Balls Text, „Carl Schmidts politische Theologie“ (1923/4) in: ders., Der Künstler und die Zeitkrankheit, zurück, der diese noch vor dem Erscheinen des Begriffs des Politischen formuliert! Indem Meier das gesamte Werk Schmitts zur freien Verfügung von Zitaten bereitstellt, fällt es ihm nicht schwer, entsprechende Zitate aus den verschiedensten Zusammenhängen zu zitieren, die theologisch geprägt sind. Daß der Schmitt der Kriegsgefangenschaft wieder den gläubigen Katholiken spielt, der er angeblich einmal gewesen sein soll, gehört zu den Farcen derselben Überlebenstaktik, die ihn 1933 Staat, Bewegung, Volk, Hamburg 1933 hat verfassenlassen, das eben den Führer jenseits aller Theologie zum ästhetischen Absoluten erhebt. Ähnlich gilt für den jungen Strauss zumindest, daß seine angeblich rein philosophische Orientierung sich oft genug theologisch versichert, wie dies etwa in Strauss, „Cohen und Maimuni“, klar wird. Ohnehin muß die Unterscheidung von Politischer Theologie und Politischer Philosophie, die Meier hier suggestiv einsetzt, immer schon von einer sauberen Trennung beider ausgehen, wie sie etwa ein Heidegger, der Ontologie und Theologie sauber trennen will, sich gewünscht haben mag, aberfaktisch ist sie eine Fiktion. 303 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 64.
129
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Solange der Monarch als souveräner Repräsentant Gottes in der
Welt aufgefaßt wurde und solange dieser im Wunder der
Offenbarung die Staatsverfassung und ihre Gesetze, um ihre
Verteidigung zu sichern, aufheben konnte, war der Staat
ideologisch vor seinen Feinden sicher. Mit der deistischen
Metaphysik beginnt für Schmitt ein Verfallsprozeß, in dem die
für „das Politische“ prägende und analoge Macht Gottes durch
die von ihm selbst geschaffenen Gesetze neutralisiert wird, bis
zuletzt das universale Gesetz der Vernunft jede personale
Instanz der Macht suspendiert. Mit der Auflösung des Wunders
könne diese Gesetzesvernunft keine Ausnahme mehr denken,
sondern sie definiere den Menschen jetzt als vernünftiges und
gutes Wesen, das mit der Befreiung von jeder Herrschaft eben
das Böse und die Feindschaft abgeschafft hat, so daß von nun an
Konflikte in einer „unverzerrten Kommunikation“ durch den
sanften Zwang des besseren Arguments beigelegt werden können.
Schmitts Begriff des Politischen definiert nicht nur das Politische
als Polemik und Konflikt, er versteht sich als einzige Polemik
gegen die neukantianische Verfassungslehre von Hans Kelsen, der
das „Problem des Souveränitätsbegriffs“ dadurch zu lösen
versuche, „daß er es negiert.“304 „In der Sache ist das die alte
liberale Negierung des Staates gegenüber dem Recht“, stellt
Schmitt fest, um die eigene Auffassung einer personalen
Souveränität gegen die Souveränität des Gesetzes
herauszustellen. Geradezu berauscht von der Rhetorik des
Entweder-Oder, die die liberale Diskussion und
Unentschiedenheit ersetzen soll, erweist sich dabei schon die
politische Theologie als Strategie der Ambivalenz, nämlich
304 Schmitt, Politische Theologie, S. 29. 130
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
hinsichtlich der theologischen Dimension des Politischen
selbst, die im Grunde durch die absolute Radikalisierung des
Souveränitätsbegriffs, also durch die Emanzipation von jeder
kommissarischen Einsetzung zugunsten einer vollen
diktatorischen Souveränität, überflüssig wird. Deren
Entscheidung stützt sich nicht auf einen „päpstlichen Befehl“
oder auf eine unmittelbar im Glauben verankerte göttliche
Transzendenz, sondern, wie Schmitt feststellt, „auf das
Nichts“. Die Souveränität, wie sie Schmitt hier konzipiert, ist
die Entscheidung „aus dem Nichts“305.
Mit dieser Selbstlegitimation „aus dem Nichts“ will Schmitts
politische Theologie im Prinzip eine zu der aus dem
Protestantismus hervorgegangenen Säkularisation alternative
Säkularisation konstruieren, die nicht das göttliche Prädikat
der Gerechtigkeit und Vernunft, sondern das der Macht
verweltlicht und gegen das Prinzip der Gerechtigkeit ausspielt.
Mit anderen Worten: Der Begriff des Politischen wird nicht als
Taktik einer esoterischen Verbergung des „Theologischen“,
sondern im Sinne dieser Tendenz und Konsequenz der politischen
Theologie durch Schmitt gerade von dem Theologischen
emanzipiert, um damit allerdings das Gewicht von der
Souveränität Gottes auf die Frage nach dem Feind zu verlegen.
Da wo die politische Theologie den Gott der Offenbarung als
transzendentes Prinzip der Ausnahme einsetzte, genügt im
305 Ebd., S. 69: „Sobald Donoso Cortes erkannte, daß die Zeit der Monarchie zu Ende ist, weil es keine Könige mehr gibt und keiner den Mut haben würde,anders als durch den Willen des Volkes König zu sein, führte er seinen Dezisionismus zu Ende, das heißt, er verlangte eine politische Diktatur. Schon in den zitierten Äußerungen von de Maistre lag eine Reduzierung des Staates auf das Moment der Entscheidung, konsequent auf eine reine, nicht raisonnierende und nicht diskutierende, sich nicht rechtfertigende, also aus dem Nichts geschaffene absolute Entscheidung.“
131
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Begriff des Politischen der innerweltliche Feind, um die
Forderung nach einer Ausnahmehandlung zu legitimieren.
Der Begriff des Politischen ist so gesehen die Fortsetzung
der Souveränität mit anthropologischen Mitteln. So heißt es in
der Version von 1932, die Instanz der Entscheidung über Freund
und Feind „genüge, einen vernünftigen Begriff von Souveränität
zu begründen“306. Die alternative Säkularisation, die Schmitt
vorschlägt, beruht also in letzter Instanz auf der Ersetzung
Gottes durch den Feind, dessen Instanz (und Präsenz) durchaus
ausreicht, um Souveränität zu begründen.
Schmitt formuliert so implizit eine Art Anti-Feuerbach, das
heißt seine eigene Version von der Formel, die Theologie müsse
Anthropologie307 werden: „Man könnte alle Staatstheorien und
politischen Ideen auf ihre Anthropologie prüfen und danach
einteilen, ob sie, bewußt oder unbewußt, einen von Natur bösen
oder von Natur guten Menschen voraussetzen.“308 Genau an dieser
Stelle nun beruft sich Carl Schmitt auf Thomas Hobbes’ Lehre
vom Naturzustand als Modell für den Typ Anthropologie, der es
erlaubt, Souveränität nunmehr jenseits der Theologie zu
begründen.
306 Ebd., S. 43.307 Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Leipzig, 1958, S. 6: „Was nämlich in dieser Schrift sozusagen a priori bewiesen wird, daß das Geheimnis der Theologie die Anthropologie ist, das hat längst a posteriori die Geschichte der Theologie bewiesen und bestätigt.“ Diese Reduktion wird allerdings über die Liebe vollzogen, das heißt das Wesen des Menschen ist die auf Gott projizierte Selbst- und Nächstenliebe als Grundlage für eine Politik der Emanzipation. „Gott wird geliebt und liebt wieder, in der göttlichen Liebe vergegenständlicht, bejaht sich nur die menschliche Liebe.In Gott vertieft sich nur die Liebe in sich als die Wahrheit ihrer selbst.“(Ebd., S. 112) Dort, wo Feuerbach an die Stelle Gottes Selbst und Nächsten dialogisch einsetzt, wird Schmitt Gott durch den Feind ersetzen, der die Souveränität begründet. 308 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 59.
132
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Leo Strauss’ Lesung von Carl Schmitt setzt hier ihren eigenen
spezifischen Akzent, insofern Strauss mit Schmitt den Versuch
bejaht, die Systematik der neukantianischen Kulturtheorie, des
Liberalismus und der Autonomie zu überwinden. Mit Schmitt
erkennt er auch, daß es noch kein alternatives System zum
Liberalismus gibt. Strauss bestätigt hier nur, was Schmitt
selbst betont: „Das Verständnis des Politischen impliziert eine
grundsätzliche Kritik zum mindesten des herrschenden
Kulturbegriffs.“309 Insofern nun mit Schmitt gilt, daß das
Politische auf der Auffassung der Natur des Menschen gründet,
also auf der Annahme eines status naturalis und status belli, so
bedeutet das „in Schmitts Terminologie“, wie Strauss
ausdrücklich betont, daß der „status naturalis […] der
eigentliche politische Stand“310 ist.
Wenn Strauss zunächst nur Schmitts Selbstverortung bei Hobbes
wiederholt, so zeigt er durch einen näheren Vergleich
gewichtige Unterschiede auf. Während Hobbes von einem
Naturzustand ausgeht, in dem sich nur Individuen ausschließlich
in Feindschaft gegenüberstehen, geht Schmitt von einem
Naturzustand aus, in dem Kollektive von „Freunden“ einander als
Feinde begegnen. Vor allem aber setze Hobbes den Naturzustand
nur, um ihn durch den status civilis aufzuheben, während bei Schmitt
der Eindruck entsteht, als wolle er diesen „politischen“
Naturzustand der Feindschaft positiv setzen. Dementsprechend
konstruiere Hobbes den Staat, um das Leben des Individuums zu
sichern, während Schmitt vom Bürger fordert, sein Leben für den
Staat aufs Spiel zu setzen. Hobbes „illiberaler Naturzustand“
309 Strauss, Anmerkungen zu Carl Schmitt, S. 103.310 Ebd., S. 106.
133
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
besitze nur einen polemischen Status, dessen Sinn darin
bestehe, seine Aufhebung durch den status civilis zu begründen.
Er [Hobbes] setzt in einer liberalen Welt wider dieilliberale Natur des Menschen die Grundlegung desLiberalismus durch, während die Späteren, unwissend über ihreVoraussetzungen und Ziele, auf die in Gottes Schöpfung undVorsehung begründete ursprüngliche Güte des Menschenvertrauen und auf Grund naturwissenschaftlicher NeutralitätHoffnungen auf eine Verbesserung der Natur hegen, zu denendie Erfahrung des Menschen über sich selbst kein Rechtgibt.311
Aus der Perspektive dieser Antithese zwischen Schmitt und
Hobbes kann Strauss dann den überraschenden Schluß ziehen, daß
der Kulturliberalismus, den Schmitt (wie Strauss selbst) „in
seiner Systematik überwinden“ möchte, in eben der politischen
Philosophie begründet ist, auf die Schmitt sich in seiner
Anthropologisierung des Politischen modellhaft beruft. Mit
anderen Worten: An Schmitts Konstruktion der Geschichte der
Moderne als Prozeß fortschreitender Neutralisierungen dämmert
das Bewußtsein auf, das Strauss durch seine Analyse von Hobbes
in einer formelhaften These verschärft: Die moderne Kultur mit
ihrer Verdrängung der Natur und der Gefährlichkeit des Menschen
besitzt in Hobbes’ Überwindung des Naturzustands durch den
status civilis eine paradigmatische Urszene der Überwindung und
Verdrängung. Von hierher erscheint die Anamnesis des
„Politischen“ entweder als unpolemisch-positive Setzung
(Schmitt) oder als schicksalhafte Wiederholung der Hobbesschen
Urszene (Strauss), ein Da Capo de al Fine gleichsam, mit dem der
Naturzustand gesetzt wird, um von neuem in der Kultur
aufgehoben und vergessen zu werden. In beiden Fällen aber
311 Ebd., S. 108 f.134
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
bestätigt sich die Diagnose, daß es noch kein Gegensystem zum
Liberalismus gibt.
Im zweiten Fall ergibt sich das Bild einer potentiell sich
ewig wiederholenden Geschichte der Moderne, die im Augenblick
ihrer radikalen Autonomisierung und Individualisierung zu dem
durch die Kultur verdrängten Naturzustand zurückkehrt, um den
Prozeß der Zivilisierung und Aufklärung von Hobbes, Spinoza,
Pufendorf, Rousseau, Kant, Hegel bis Nietzsche nur zu
wiederholen. Strauss’ Buch über Hobbes von 1935 interpretiert
die Moderne als eine solche „ewige Wiederkehr“ der gleichen
modernen Politik aus dem Prinzip der Souveränität als der
Metaphysik des Willens zur Macht. Wenn Strauss jedenfalls den
Naturzustand, den Hobbes als Konflikt zwischen zwei
axiomatischen Affekten – der vanity und der anxiety – beschreibt,
auf den „Willen zur Macht“ (= vanity) und die „Angst, getötet
zu werden“ (= anxiety), zurückführt, also auf Nietzsches
Willensmetaphysik einerseits und auf Carl Schmitts Der Begriff des
Politischen (als Gefahr der Feindschaft) andererseits anspielt312,
dann schließt er Anfang und Ende der eigentlichen Geschichte
312 Vgl. Strauss, Hobbes’ politische Wissenschaft in ihrer Genesis, S. 23: „Der vollkommenste und klarste Ausdruck für die naturalistische Auffassung der menschlichen Begierde ist der Satz, daß der Mensch spontan und kontinuierlich, also in einem Strahl des Begehrens, die unzählige isolierteWahrnehmungen hervorgerufen würden, nach Macht und immer größerer Macht begehrt.“ Legen diese Sätze, mit denen Strauss eines der Grundmotive menschlichen Handelns bei Hobbes, die vanity, beschreibt, eine Analogie mit Nietzsches Metaphysik nahe, so die folgenden, die die Angst beschreiben, eine Analogie zu Schmitts „Metaphysik“ des Politischen: „Nicht die vernünftige und also immer ungewisse Erkenntnis, daß der Tod das größte undhöchste Übel ist, sondern die Furcht vor dem Tod, d. h. das affektive, unvermeidliche und daher notwendige und gewisse Zurückweichen vor dem Tod.“(Ebd., S. 30) Möglicherweise ist mit der „Furcht vor dem Tod“ auch eine Anspielung auf Heideggers Analytik des Daseins in Sein und Zeit (1927) (obwohl hier natürlich von „Angst“ die Rede ist) gemeint, mit der Heidegger ja die Grundlagen der bürgerlichen Kultur und ihrer Philosophie zu erschüttern beabsichtigte.
135
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
der politischen Moderne so kurz, daß an ihr der mythische
Charakter der Willensmetaphysik aufgeht. Der souveräne Wille
begründet den modernen Staat, wie er, wenn die Souveränität zur
Souveränität eines jeden Individuums wird, diesen Staat wieder
auflöst.
Im ersten Fall, den Strauss für Schmitt annimmt, nämlich daß
das Politische als Naturzustand positiv gesetzt wird, würde das
Politische mit seiner Tendenz, sich in der kriegerischen
Auseinandersetzung zu manifestieren, zum unbedingten Ziel des
Handelns erhoben, ohne daß es bei dieser Auseinandersetzung
noch um irgendeinen Inhalt gehen würde. Es ginge nur noch rein
formal um die Auseinandersetzung als Auseinandersetzung. Eben
damit, meint Strauss, reproduziert Schmitt nur den
neutralisierenden Liberalismus, den er bekämpft.313 Wie der
Liberalismus das Politische neutralisiert, so neutralisiert
„das Politische“ die Inhalte. Das, so Strauss, könne nicht die
Intention Schmitts sein, der an anderer Stelle eben gerade die
moralische Bedeutung des Konflikts, also dessen Inhalt und Wozu
betont, also den Sachverhalt, daß das Politische eine
Auseinandersetzung „um das Gute“ ist. Strauss zitiert aus
Politische Theologie, um Schmitt gegen seine eigenen Konsequenzen zu
313 Vgl. Nasser Behnegar, Leo Strauss, Max Weber, and the Scientific Study of Politics, Chicago 2003, S. 52, stellt Strauss Kritik an Schmitts Liberalismus mit umgekehrtem Vorzeichen neben Hans Kelsens liberalen Relativismus (S. 42), den Strauss mit folgender Aussage über die Despotie zitiert: „The assertionthat in despotism there is no rightful order but only the rule of arbitrarywill of the despot is completely meaningless […] In a despotically ruled state there is also some sort of an order of human affairs […] This order is precisely the rightful order. To deny its rightful character is only a natural right naïvieté or presumption. What is referred to as an arbitrary will is only the rightful possibility of the autocrat to appropriate every decision to himself in order to determine unconditionally the activity of subordinate agents and to challenge or invalidate the legal norms at any time with general or special authority.“ Die Kritik am Liberalismus trifft sowohl den Relativismus der Werte wie den des Dezisionisten.
136
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
verteidigen: „Nur so kann Schmitt mit sich selbst in Einklang
bleiben, wenn anders ‚der Kern der politischen Idee die
moralisch anspruchsvolle Entscheidung‘ ist.“314
Strauss zitiert hier aus Schmitts Politische Theologie, um auf die
moralische Dimension des Politischen hinzuweisen und die Aporie
zu kennzeichnen, in der sich Schmitts Begriff des Politischen
verirrt, wenn er den Liberalismus überwinden will. Eben weil
Schmitt mit dem Politischen keine Wertung ins Spiel bringen
wolle, die ihrer Natur nach wieder nur liberal wäre, behaupte
er die Notwendigkeit des Politischen als eines Schicksals und
müsse damit das Politische als Konflikt um jeden Preis setzen.
Eben damit aber bleibe das Politische „wertlos“ und verkomme
nur zum konfliktuellen Gegenbild des liberalen Kompromisses um
jeden Preis: Beiden geht der Inhalt, die Moral verloren.315
Indem Schmitt sich an der „Moralauffassung seiner Gegner“, also
der liberalen Moral orientiert, die das Böse, die Gefahr, den
Feind aus ihrem Vokabular gestrichen hat, bleibe er zuletzt „in
der von ihm bekämpften Auffassung befangen“316.
Es ist jetzt aber die Frage, ob Strauss’ Hinweis auf die
politische Theologie Schmitts dessen Begriff des Politischen
auf eine vermeintlich verborgene theologische Dimension
vereidigen will, wie Heinrich Meier meint. Vielmehr scheint mir
immerhin plausibel zu sein, daß Strauss hier durchaus die
nicht-theologische Grammatik des Politischen bei Schmitt als
solche erkennt und würdigt, aber eben die Schwierigkeiten
314 Strauss, „Anmerkungen zu Carl Schmitt“, S. 117.315 Vgl. Slavoj Zizek, „Carl Schmitt in the Age of Post-Politics“, in: Mouffe, The Challenge of Carl Schmitt, der dieses Argument wiederholt, S. 18: „his [Schmitt’s] very polemics against liberal – democratic formalism inexorablygets caught in the formalist trap.“ 316 Ebd., S. 122.
137
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
kennzeichnet, in die sich ein solcher Versuch verstrickt. Er
möchte Schmitt gleichsam „weiterhelfen“, das Projekt der
Überwindung des Liberalismus konsequent zu vollenden, und das
heißt: eine andere Moral zu entwickeln, die den „Anspruch der
humanistisch-pazifistischen Moral, Moral zu sein“, in Frage
stellen kann.317 Nichts hat Schmitt – im Sinne von Strauss –
besser getan als eben das: indem er nämlich aufzeigt, wie die
liberale Moral de iure zwar das Politische negiert, aber de
facto mit ihrem Ideal von der Menschheit eben den Menschen, der
diesem Ideal nicht entspricht, ultimativ zum Unmenschen
transformiert und damit im Grunde das brutalste Feindprinzip –
hinter den Kulissen pazifistischer Ideologie – ins Werk setzt.
Indem Schmitt die verborgene liberale Politik auf einen solchen
krassen Begriff bringt, rührt er, so darf man vermuten, an
genuin jüdische Erfahrungen mit dem modernen Liberalismus, der
– so die Formel – die Emanzipation des Juden an die Bedingung
seiner Emanzipation vom Judentum knüpft. Wird das Ideal der
Menschheit zum Prinzip der Liquidation von Individualität, so
bewahrheitet sich die von Schmitt aufgezeigte politische Crux,
die Strauss weiter, d.h.: zu Ende denken will. Dabei mutet er
offenbar weder Schmitt noch sich selbst zu, diese Crux einfach
theologisch zu übergehen. Eben weil es Strauss wie Schmitt um
die Rettung des Ernstes der Auseinandersetzung geht, zuletzt
also um die Rettung des Menschen, dessen Menschlichkeit in der
Frage nach dem Guten als dem Grund seines Menschseins liegt,
erkennt er die Gefahr, die – posttheologisch – in der Umkehrung
der liberalen (Nicht-)Moral durch eine politische (Nicht-)Moral
liegt. Eben weil es ihm ernst ist, ahnt Strauss hier eine sehr
317 Ebd.138
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
ernst zu nehmende Gefahr. Er erkennt Schmitts Aversion gegen
den „Massenglauben eines antireligiösen Diesseitsaktivismus“,
die er teilt, aber er weiß selber eben nicht, wie der
entgegengesetzte „Glaube“ aussehen könnte. Er beteuert
vielmehr, daß dieser Glaube, „wie es scheint, noch keinen Namen
hat“318. Auch wenn er mit Schmitts Politische Theologie an die
moralische Dimension des Politischen erinnern will, hält er
doch daran fest, daß es um eine Moral geht, deren Definition
noch aussteht. Keine politische Theologie also, sondern eine
noch namenlose Politik wird hier mit Schmitt anvisiert.
Anders als Meier meint, der hier eine verborgene theologische
Agenda bei Schmitt erkennen will (die sich bei Schmitts durch
Politische Theologie bedingtem Ruf tatsächlich merkwürdig ausnehmen
würde), geht es Strauss hier um die Bedeutung des Ästhetischen
als der akuten Gefahrenzone, in die Schmitt, indem er das
Politische vom Theologischen reinhalten will, in der Gefahr
ist, sich zu begeben.
Während bei Hobbes die natürliche und darum unschuldigeBosheit zuletzt darum hervorgehoben wird, damit sie bekämpftwird, spricht Schmitt von der nicht moralisch zu verstehendenBosheit mit einer unverkennbaren Sympathie. Diese Sympathieist aber nichts anderes als die Bewunderung der natürlichenKraft und von dieser Bewunderung gilt, was Schmitt über dasÄsthetische sagt.319
318 Ebd., S. 124.319 Ebd., S. 117.
139
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
In der Tat bezeichnet das Ästhetische für Schmitt schon in
Politische Romantik320 und dann in Politische Theologie321 die „Ursünde“
der Moderne, nämlich die Auflösung aller Begriffe, Zwecke und
Gegensätze des Menschlichen im Spiel. Steht das Schöne seit
Kants Kritik der Urteilskraft für die begrifflose Erscheinung, die
sich in einem unendlichen Spiel von ultimativ scheiternden
Sinnentwürfen je von neuem der Subsumtion entzieht, so wird es
für Schmitt in seiner romantischen Hypostasierung bei Schlegel,
Tieck und Novalis zum Symbol bürgerlich-liberaler
Unentschiedenheit, also jenes unendlichen Gesprächs über den
möglichen, nie wirklichen Sinn. Das Ästhetische steht bei
Schmitt für Realitätsvermeidung und Ausweichen vor der
320 Carl Schmitt, Politische Romantik, Berlin 1991, S. 168: „Im engen Bereich seiner spezifischen Produktivität, im Lyrisch- und Musikalisch-Poetischen, mag der subjektive Occasionalismus eine kleine Insel freien Schöpfertums finden, aber selbst hier unterwirft er sich unbewußt der nächsten und stärksten Macht, und seine Überlegenheit über die bloß occasionell genommene Gegenwart erleidet eine höchst ironische Umkehrung: alles Romantische steht im Dienste anderer, unromantischer Energien, und die Erhabenheit über Definition und Entscheidung verwandelt sich in ein dienstbares Begleiten fremder Kraft und fremder Entscheidung.“ Vgl. auch meinen Aufsatz „Logik der Ausnahme“. S. 259 ff. Im übrigen hat Jürgen Habermas, „Die Schrecken der Autonomie. Carl Schmitt auf Englisch“ (in: ders., Eine Art Schadensabwicklung. Kleine politische Schriften 6, Frankfurt a. M. 1987) auf den fundamental ästhetischen Charakter der politischen Theorie Schmittsverwiesen. Ähnlich stellt Manfred Gangl, „Gesellschaftliche Pluralität und politische Einheit. Zu Carl Schmitts politischer Theorie“, in: Wolfgang Bialas/Manfred Gangl, Intellektuelle im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M./Berlin 2000, S. 112 fest: „Die von Anhängern wie Gegnern Schmitts so gerühmte Fähigkeit zu scharfen und klaren Begriffesbestimmungen erweist sich bei näherem Hinsehen als durchaus fragwürdig. Gerade die zentralen Begriffe seiner politischen Theorie sind abstrakte inhaltslose Leerformeln, hinter die man sehr Beliebiges und Heterogenes subsumieren und damit freilich sehrbestimmte Inhalte transportieren und sehr konkrete politische Zielsetzungenverfolgen konnte. In ihrer anscheinenden theoretischen Schwäche verbirgt sich aber ihre eigentliche politische Brisanz. Ernst Jünger hatte 1930 in bezug auf den Begriff des Politischen und die dort entwickelte Freund-FeindUnterscheidung in einem Brief an Carl Schmitt bewundernd die „vollkommene Sicherheit, Kaltblütigkeit und Bösartigkeit Ihres Hiebes“ gewürdigt und bezeichnete ihn als „eine Mine, die lautlos explodiert.“321 Vgl. Schmitt, Politische Theologie, S. 59 ff., wo Schmitt das „ewige Gespräch“mit der Entscheidung kontrapunktiert.
140
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
(politischen) Entscheidung und somit für eine im wesentlichen
konsumierende und genießende Haltung. Zugleich freilich ist das
Ästhetische auch das Geschehen, das durch seine Regelkritik das
Moment in der Moderne darstellt, das – gegen Schmitts
Pauschalbehauptung – die Ausnahme zum Grundgesetz erhebt und
damit immerhin eine „Souveränität“ des ästhetischen Subjekts
vorsieht. Gerade wenn der Künstler der Avantgarde der 20er
Jahre – also zur Zeit der Abfassung von Politische Theologie und Der
Begriff des Politischen – die letzte Konsequenz aus dieser Logik des
Schönen zieht und – wie Ferruccio Busoni322 oder Hugo Ball323
etwa – die Verfassung der Tradition in einem Akt souveräner
ästhetischer Entscheidung suspendiert, so wird er immerhin zum
Prototyp des politischen Souveräns, insofern dieser wie sein
ästhetisches Pendant die rechtlichen Verhältnisse ex nihilo neu
begründen soll. Gegen Schmitts eigene Polemik gegen das
Ästhetische bewahrheitet er mit jedem Feldzug nur dessen Macht:
Da, wo die Kunst für die Modalität des Möglichen steht, da
setzt Schmitt einfach die Wirklichkeit, eine Umbesetzung, die
sich freilich in der Kunst selbst vollziehen muß, insofern
diese die ihr traditionell gesetzten Grenzen von Kunst und
Schein mit eben der Suspension ihrer traditionellen Verfassung
auch schon zur Realität hin überschreitet.
322 Ferruccio Busoni, Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, Wiesbaden 1954 (1916), S. 31: „Routine bedeutet: Erlangung und Anwendung weniger Erfahrungen und Kunstgriffe auf alle vorkommenden Fälle. Demnach muß es eine erstaunliche Anzahl verwandter Fälle geben. Nun erträume ich mir gerneeine Art Kunstausübung, bei welcher jeder Fall ein neuer, eine Ausnahme wäre.“323 Vgl. mein Buch Die Apokalypse des Subjekts, S. 52: „Wenn Hugo Ball, vom eschatologischen Accelerando der Avantgarde mitgerissen, verkündet, daß ‚der Entschluß der Poesie, […] die Sprache fallen zu lassen […], nahe bevorsteht‘ oder daß es jetzt gelte, ‚den flatternden Text, den andere geschrieben, auszulöschen‘, so besteht er stets darauf, daß das ästhetischeExperiment politisch werde.“
141
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Indem Schmitt in Politische Theologie Souveränität in letzter
Instanz als eine „Entscheidung aus dem Nichts“ charakterisiert
und so prinzipiell schon säkularisiert, verstrickt sich sein
Begriff des Politischen in eben das Ästhetische, das ihm als
Feindprinzip entgegenzutreten scheint und das Schmitt in seiner
Konstruktion der Souveränität ständig verleugnet. Souveränität
ist der zu Ende geführte ästhetische Antinomismus unter den
Bedingungen des spätbürgerlichen Individualismus, dessen
eindeutigen Ausdruck Schmitt ihm dann in Staat, Bewegung, Volk324
geben wird: Der Führer als der restlos säkularisierte Souverän,
die Macht um der Macht willen, die jeden Begriff und damit
jeden Nomos transzendiert – wie das Schöne steht der Führer für
eine reine „begrifflose Präsenz“.
Die römisch-katholische Kirche hat für ihre Herrschaftsgewaltüber die Gläubigen das Bild vom Hirten und der Herde zu einemtheologisch-dogmatischen Gedanken ausgeformt. Wesentlich andiesem Bilde ist, daß der Hirt der Herde absolut transzendentbleibt. Das ist nicht unser Begriff von Führung. Eineberühmte Stelle in Platons Schrift Politikos behandelt dieverschiedenen für den Staatsmann in Betracht kommendenVergleiche mit einem Arzt, einem Hirten oder einemSteuermann, um das Bild vom Steuermann zu bejahen. Es istdurch den gubernator in alle lateinisch beeinflußten Sprachender romanischen und angelsächsischen Völker übergegangen, unddas Wort für Regierung geworden als gouvernement, governo,government oder als das Gubernium der früheren habsburgischenMonarchie. Die Geschichte dieses gubernators enthält eingutes Beispiel dafür, wie ein bildhafter Vergleich zu einemjuristisch-technischen Begriff wird. Ein anderescharakteristisches Bild ist das vom Roß und dem Reiter, dasder große französische Historiker Hippolyte Taine für dieHerrschaft Napoleons über das französische Volk verwendet.[…] Keines dieser Bilder trifft wesentlich das, was unterpolitischer Führung im wesentlich deutschen Sinn des Worteszu verstehen ist. Dieser Begriff von Führung stammt ganz aus
324 Schmitt, Staat, Bewegung, Volk.142
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
dem konkreten, substanzhaften Denken dernationalsozialistischen Bewegung. Es ist bezeichnend, daßüberhaupt jedes Bild versagt und jedes treffende Bildsogleich schon mehr als Bild oder Vergleich, sondern ebenschon Führung in der Sache selbst ist. Unser Begriff isteines vermittelnden Bildes oder eines repräsentierendenVergleichs weder bedürftig noch fähig. […] Er ist ein Begriffunmittelbarer Gegenwart und realer Präsenz.325
Dies scheint mir die wahre Ahnung von Strauss zu sein, daß er
die Gefahr der Verirrung des nicht mehr theologischen Begriffs
des Politischen in seiner Ästhetisierung klar erkennt.
Souveränität als letztes politisches Prinzip erfüllt sich in
der „Entscheidung aus dem Nichts“ und ist so gleichsam der
„schöpferisch-destruktive Grund“ der politischen Realität, der
seine Macht-Möglichkeit in die Wirklichkeit umsetzt. Von hier
aus wird dann zunächst zweierlei an Strauss’ Position
verständlich: 1. die Forderung von Strauss, zu Hobbes
zurückzukehren, um von ihm aus hinter den Kreislauf der Kultur
bzw. hinter den durch Hobbes erst tatsächlich voll ausgeführten
Begriff von Souveränität und Herrschaft zu gelangen. An
Schmitts aporetischer Verirrung wird sich Strauss über das
eigene Projekt klar: Es geht darum, die mythische Wiederkehr
desselben Souveränitätsprinzips zu überwinden. 2. Von hier
zeigt sich, warum Strauss in seiner positiv-kritischen Aufnahme
Schmitts den Begriff der Souveränität, der auch für Hobbes das
Zentrum seiner politischen Philosophie charakterisiert, gar
nicht aufnimmt, auch wenn dieser Begriff die ursprüngliche
Definition des Politischen sowohl in Politische Theologie wie in Der
Begriff des Politischen bezeichnet.
Beide Strategien verweisen natürlich aufeinander, insofern
der Begriff der Souveränität nicht nur bei Schmitt, sondern 325 Ebd., S. 41 f.
143
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
eben schon für Hobbes zentrale Bedeutung besitzt. Die negative
Besetzung dieses Begriffs weist schon die mögliche Richtung
über oder hinter Hobbes zurück. Einmal nur nimmt Strauss in
seinem Essay über Schmitt auf diesen Begriff eindeutig
negativen Bezug, nämlich mit Hinweis auf seine
produktionsästhetische Bedeutung:
Dem herrschenden Kulturbegriff zufolge sind aber nicht erstdie einzelnen Kulturprovinzen im Verhältnis zueinander,sondern ist zuvor schon die Kultur als ganzes autonom; diesouveräne Schöpfung, die reine Erzeugung des menschlichenGeistes.326
Folgt man dem Vorwort von Strauss’ Philosophie und Gesetz (1935),
so zeigt sich, daß die Souveränität für Strauss nicht den
Ausweg aus der Krise von Moderne und Kultur bezeichnet, sondern
eben deren Ursprung und den Grund für deren Katastrophe.
Souveränität wird hier als der Versuch charakterisiert, Gottes
Schöpfung durch das System des autonomen Subjekts zu ersetzen.
Der Kampf um die Wahrheit, das Gute, wird bei Strauss als Kampf
zwischen der jüdischen Orthodoxie, die an der Offenbarung des
Gesetzes festhält, und dem modernen atheistischen Judentum
konstruiert, das alle Mittel zur Bekämpfung der Orthodoxie
einsetzt. So schreibt Strauss:
Die Widerlegung der Orthodoxie hing ab vom Gelingen einesSystems. Der Mensch mußte sich theoretisch und praktisch alsHerr der Welt und Herr seines Lebens erweisen, die von ihmgeschaffene Welt mußte die ihm bloß „gegebene“ Welt zumVerschwinden bringen, dann war die Offenbarung mehr alswiderlegt – sie war überlebt.327
Den Willen zur Selbst-, Welt- und Staatsbegründung erkennt
Strauss vor allem in dem großen Mythos vom Leviathan als dem
326 Strauss, „Anmerkungen zu Carl Schmitt“, S. 105.327 Strauss, Philosophie und Gesetz, S. 21.
144
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Mythos der Selbstermächtigung des Subjekts schlechthin,
insofern nunmehr alles auf den Willen des Subjekts ankommt.
Weil also die Vernunft grundsätzlich ohnmächtig ist, darumgenügt die Auskunft nicht, daß der Ursprung und Sitz derHerrschaft die Vernunft sei, und darum wird es von Grund auffraglich, welche von den untereinander gleichen Menschen überdie anderen herrschen […] dürfen […] darum kommt es zu einemProblem der Souveränität […]. Weil alle gleich vernünftigsind, darum muß willkürlich, als künstlicher Ersatz für diefehlende natürliche Vernunftüberlegenheit eines oder mehrererdie Vernunft eines oder mehrerer beliebiger Individuen zurmaßgebenden Vernunft gemacht werden.328
Die Souveränität des Subjekts bezeichnet bei Strauss die
Nullstunde der Genese der Moderne, die auf die Krise der
Vernunft, vor allem auf die Krise der antiken durch Plato
begründeten Vernunft folgt. Diese platonische Vernunft wird bei
Hobbes durch eine mathematische Technik der Herrschaft über die
Leidenschaften ersetzt. Hobbes’ neue Wissenschaft der Politik
steht für den dramatischen Umbruch von der antiken, auf das
objektive Gesetz der Vernunft gegründeten Politik, zu der
modernen Politik des souveränen Willens des Subjekts. Jenseits
des monumentalen Diskurses der durch Hobbes’
Souveränitätsbegriff begründeten modernen Vernunft hebt sich
nunmehr der aus der Antike stammende Diskurs einer im
transzendenten Gesetz verankerten Vernunft ab. Der antike
Begriff einer objektiven Vernunft steht nunmehr in Strauss’
Konstruktion der „Querelle des Anciens et des Modernes“ einem
modernen Vernunftbegriff gegenüber, der ganz in der
Subjektivität des Subjekts begründet ist.
The Greeks believed in the need of education to tame and toharmonize social opinions to the spirit and tune of a fixed
328 Strauss, Hobbes’ politische Wissenschaft in ihrer Genesis, S. 180 f.145
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
and fundamental law. The modern belief is in need of arepresentation to adjust and harmonize a fluid and changingand subordinate law to the movement of a sovereign publicopinion or a general will.329
Der souveräne Wille ist Ersatz für die Macht des Gesetzes. Eine
„neue Politik“ jenseits der Aporie des Liberalismus bzw. seiner
mythischen Struktur kann nur über das, was Strauss die
„Souveränität des Gesetzes“ nennen wird, begründet werden.
Strauss findet sie bei Platon und den jüdischen und arabischen
Philosophen des Mittelalters, die sich in ihrer Prophetologie
und ihrem „Begriff des Politischen“ auf Platon stützen. Diese
Souveränität des Gesetzes bezeichnet nun genau den Punkt, von
dem aus Leo Strauss mit und gegen Schmitt dessen Kritik des
Gesetzes im Sinne des neukantianischen Gesetzes der modernen
(liberalen, sozialistischen) Kultur noch einmal überbietet, um
eine vor-moderne Souveränität des Gesetzes zu statuieren, die
eben nicht mehr im Subjekt begründet ist.
Mit anderen Worten: Im Namen des Politischen, der Einsicht in
die fundamentale Konfliktualität menschlicher Existenz, bedarf
es einer politischen „Ordnung der Dinge“, die hinter den
Begriff der neukantianischen Kultur, hinter das Gesetz der
individuellen Selbstbestimmung, die Autonomie, zurückgeht, aber
dieser Rückgang muß noch über Hobbes’ Grundlegung des Gesetzes
in der Macht des souveränen Subjekts hinausgehen, insofern
diese das Gesetz begründende Macht des souveränen Subjekts für
Strauss nur die von der autonomen Subjektivität verdrängte
Urform ihrer selbst darstellt. Andernfalls würde die Kritik an
Liberalismus und Kultur nur wieder in die an Schmitt kenntlich
gewordene Aporie verwickeln – und das Drama der Moderne
329 Ebd., S. 182.146
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
mythisch wiederholen. Die „Ordnung der Dinge“, die Strauss von
Schmitt aus entfalten will, zielt auf ein Gesetz, das nicht
durch den Menschen gesetzt, sondern den Menschen erst zu seinem
Handeln ermächtigt.
Strauss konstruiert also einen inneren Zusammenhang zwischen
der Souveränität vor dem Gesetz (Hobbes und Schmitt) und der
Souveränität des autonomen Gesetzes (Kant und Cohen), die
gewöhnlich (auch bei Schmitt) als die beiden politischen
Antipoden der Moderne aufgefaßt werden. Der Tradition von
Hobbes’ politischem Denken der Souveränität im Sinne des
„auctoritas facit legem, non veritas“ wird die Tradition des
John Locke mit ihrem Grundsatz „Law gives authority“
entgegengestellt. Aus der hier von Strauss eingenommenen
metaphysikgeschichtlichen Perspektive, die an Heideggers Kritik
der Metaphysik des Willens erinnert330, ist die Moderne die
Epoche nicht nur der Subjektivität, sondern der in der
Souveränität des Willens begründeten Subjektivität, deren
Differenzierungen als Einzel- oder Gesamtwillen nichts an der
Krisenhaftigkeit einer solchen Metaphysik zu ändern vermögen.
Weil also die Vernunft wesentlich ohnmächtig ist, darumgenügt die Auskunft nicht, daß der Ursprung und Sitz derHerrschaft die Vernunft sei; darum wird es von Grund auffraglich, welche von den untereinander gleichen Menschen überdie anderen herrschen können und dürfen, und unter welchenBedingungen und innerhalb welcher Grenzen sie einen Anspruchauf Herrschaft haben; darum kommt es zu einem Problem derSouveränität. Weil alle Menschen gleich vernünftig sind,darum muß willkürlich, als künstlicher Ersatz für diefehlende natürliche Vernunft-Überlegenheit einer odermehrerer beliebigen Individuen zur maßgebenden Vernunft
330 Vgl. Martin Heidegger, „Nietzsches Wort ‚Gott ist tot‘“ in: ders., Holzwege. Frankfurt a. M. 1977, S. 238 f., wo Heidegger die Genealogie des autonomen Bewußtseins von Descartes bis Nietzsche gleichsam telegraphisch entfaltet.
147
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
gemacht werden […] Aus demselben Grund, aus dem die Ersetzungder Vernunft durch die souveräne Gewalt notwendig wird –nämlich weil die Vernunft ohnmächtig ist – verliert nun aberauch das vernünftig „law of nature“ seine Dignität, tritt anseine Stelle das zwar vernunftgemäße, aber nicht eigentlichvon der Vernunft, sondern von der Todesfurcht diktierte„right of nature“. Der Bruch mit dem Rationalismus ist alsodie entscheidende Voraussetzung sowohl desSouveränitätsbegriffs als auch der Verdrängung des Gesetzesdurch das Recht […]. Der Bruch mit dem Rationalismus, derdemnach die Möglichkeitsbedingungen aller spezifisch modernenPolitik ist, findet bei Hobbes seinen schärfsten Ausdruckdarin, daß er die souveräne Gewalt, welche die von der Naturfehlende allgemeine Vernunft ersetzt, nicht als Vernunft,sondern als Willen auffaßt. […] Ausdrücklich wendet er sichgegen die in seinem Zeitalter noch herrschende Ansicht, daßder Inhaber der obersten Gewalt zum Staate in demselbenVerhältnis stehe wie der Kopf zum Menschen: der Inhaber derobersten Gewalt ist nicht der „Kopf“, d.h. das beratende undplanende Vermögen, sondern die „Seele“, d.h. das befehlendeVermögen im Staate. Von hier aus bedarf es nur noch einesSchrittes bis zur Lehre Rousseaus, daß der Ursprung und Sitzder Herrschaft die „volonte generale“ ist.331
Wenn Strauss die mythische Struktur moderner Selbstbegründung,
wie sie das politische Denken des Hobbes über Rousseau und von
hier zu Kant, Nietzsche und bis zur Philosophie der Kultur
(Hermann Cohen) bestimmt, überwinden will, so verdankt er
immerhin Hermann Cohen selbst den Hinweis auf den möglichen
Horizont einer Neubegründung des Politischen. Bei seiner
Analyse der Philosophie des Moses ben Maimon, des Maimonides,
stößt Cohen auf die Tatsache, daß das politische Verständnis
des Aristotelikers Maimonides sich nicht auf Aristoteles’ Idee
des Politischen, sondern nur auf Plato stützen kann, und weist
damit nicht nur der Philologie der mittelalterlichen
Philosophie den Weg zu einem neuen Verständnis der Rezeption
der Politeia im Mittelalter überhaupt. Cohen will die Politeia 331 Strauss, Hobbes’ politische Wissenschaft in ihrer Genesis, S. 180 ff.
148
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
allerdings auf dem Hintergrund seines eigenen kantianischen
Verständnisses von Politik und Nomos als „Sittlichkeit“
verstehen, Maimonides also gleichsam kantianisieren. Auf dem
Hintergrund dieser „Verwechslung“ kündigt sich mit Hermann
Cohens Einsicht in den Platonischen Hintergrund des Begriffs
des Politischen bei Moses ben Maimon für Strauss die
Möglichkeit einer Transformation des subjektiven
(Kultur-)Gesetzes in den Platonischen Nomos an. In seiner
Zusammenfassung zu „Cohen und Maimuni“ von 1931 formuliert
Strauss das Programm:
Der Cohensche Ansatz „Der Gott des Aristoteles in Ehren, aberder Gott Israels ist er nicht“ führt nicht weiter, wenn manden Gott Israels als Gott der Sittlichkeit interpretiert. Manmuß statt (kantianischer) Sittlichkeit sagen: Gesetz. DerGedanke des Gesetzes, des Nomos, ist es, der Juden undGriechen vereinigt: der Gedanke der konkreten verbindlichenOrdnung des Lebens […]. Auf den Weg zur Wiedergewinnungdieses Grundbegriffs der Menschheit bringt uns Cohen selbst,indem er den Gesichtspunkt der Gesinnung durch den derHandlung ersetzt.“332
Die von Strauss imaginierte Synthese von Juden und Griechen,
von jüdischer Gesetzesoffenbarung und Platonischer Nomos-
Gesetzlichkeit soll die Voraussetzung für eine Umkehrung aller
modernen politischen Werte werden, insofern diese Moderne vor
332 Strauss, „Cohen und Maimuni“, S. 428 f. In Leo Strauss’ Einführung zu der amerikanischen Übersetzung von Cohens Religion der Vernunft, dem Introductory Essay to „Hermann Cohen, Religion of Reason out of the Sources of Judaism“ (1972), in: Leo Strauss, Jewish Philosophy and the Crisis of Modernity. Essays and Lectures in Modern Jewish Thought, hg. von Kenneth Hart Green, New York 1997, S. 267–282, tritt die Kritik an Cohen zugunsten einer distanzierten Würdigung vollkommen zurück. Es handelt sich dabei offenbar um den letzten Text, den Strauss verfaßt hat. David N. Myers, Resisting History. Historicism and its Discontents in German-Jewish Thought, Princeton 2003, hebt neben der Nähe von Strauss zu Karl Barth, Martin Heidegger, Rudolph Otto, Franz Rosenzweig und Max Scheler (S.119) vor allem die mit Hermann Cohen zu vergleichende Biographie von Leo Strauss hervor (S. 123 ff.), die immerhin zu sehr verschiedenen Auffassungen vom Wert der liberalen Kultur führt.
149
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
allem durch die christliche, gesetzeskritische Theologie,
letzten Endes also durch Paulus, bestimmt sein soll. „Der
Gedanke des Gesetzes, des Nomos“, fährt Strauss fort, „dieser
Gedanke [ist] uns durch die christliche und naturgesetzliche
Tradition, in deren Bann sich mindestens unser philosophisches
Denken bewegt, verdeckt […]. Durch die christliche Tradition,
die einsetzt mit der radikalen Gesetzeskritik des Apostels
Paulus.“333
Die Kritik, die mit Schmitt die Bedingungen des liberalen
Kulturbegriffs überschreiten will, gewinnt über Hobbes die
Einsicht nicht nur in die aporetische Situation eines solchen
Überwindungsversuches, sondern sie erkennt die Notwendigkeit,
hinter Hobbes zu einem „objektiven“ Begriff gesetzlicher
Ordnung vorzudringen. Diesen Ordnungsbegriff entdeckt Strauss
nun an Platon und der jüdisch-arabischen Philosophie des
Mittelalters, um von hier aus eine für die Geschichte der
Moderne maßgebende politisch-theologische Alternative zu
konstruieren. Auf der einen Seite gibt es eine griechisch-
jüdische Tradition, die für die Objektivität des Nomos, auf der
anderen Seite eine christliche Tradition, die für eine
gesetzeskritische Subjektivität steht. In letzter Instanz führt
die politische Reflexion, die sich am „Unbehagen an der Kultur“
entzündet, auch bei Strauss zu einer theologischen Einsicht in
die Ursprünge europäischer Politik. Wie auch immer
säkularisiert und philosophisch artikuliert, in letzter Instanz
wendet sich Strauss an die theologischen Bedingungen des
333 Strauss, „Cohen und Maimuni“, S. 428 f. Vgl. zu Strauss’s Theorie des Gesetzes und seine Bedeutung für seine Wiederentdeckung der jüdischen und vor allem islamischen Theologie des Gesetzes als Grundlage einer Kritik vonSäkularisation Leora Batnitzky, „Leo Strauss’s Disenchantment with Secular Society“, in: New German Critique, Number 94, Winter 2005, S.106–126.
150
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Politischen, spielt auch er, zumindest in den späten 1920er und
dann vor allem in den 30er Jahren, die politisch-theologische
Karte!
Aus dieser Perspektive nun gerät die Tradition der modernen
Souveränität des Subjekts, wie auch immer säkularisiert, in das
Licht der Paulinischen Gesetzeskritik und ihrer Begründung der
Subjektivität des Glaubens. Ihre Überwindung stellt sich als
Rückkehr zu einer präsubjektiven Gesetzesordnung dar, die
Strauss an dem Denken der Antike, wie es Griechen und Juden
eignete, festmachen will. Der Gegensatz von Antike und Moderne,
den Strauss hier mobilisiert, wird damit zugleich immer auch zu
einem politisch-theologischen Gegensatz zwischen Judentum und
Christentum.
Carl Schmitts Begriff des Politischen ist aporetisch, weil er in
einer theologischen Tradition verankert ist, die auf Paulus
zurückgeht und das Gesetz nur aus der Perspektive seines
Ungenügens für das Subjekt begreifen kann, während Leo Strauss’
Kritik des Politischen auf dem Hintergrund dieser fundamental
theologischen Einsicht eben diese moderne christliche Struktur
politischen Denkens im Sinne einer Besinnung auf das jüdische
Gesetz umkehren will. Schmitts Souverän ist der Feind einer
jeden Theorie und Theologie des Gesetzes, während Strauss’
Gesetzeslehre Souveränität nur als Gesetzlosigkeit verurteilen
kann. Wie immer philosophisch und säkularistisch drapiert,
beide Theorien des Politischen stehen einander als die
ultimative Opposition und Antithese gegenüber.
Aber unter welchen Bedingungen kann es denn tatsächlich einen
Rückschritt zum „objektiv“ gültigen Gesetz geben? Ist die von
Strauss initiierte Umkehr aller modernen politischen Werte
151
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
unter den Bedingungen einer subjektivistischen Moderne
tatsächlich möglich oder muß Strauss nicht selbst den
ultimativen Akt einer Souveränität voraussetzen, den er
negiert, wenn er eine Neubegründung des Politischen
beabsichtigt? Hier nun zeigt sich die Aporie von Strauss’
Begriff des Politischen: daß er die Souveränität setzen muß,
die er nicht setzen darf. Aus dieser Aporie kann ihn nur noch
die Theologie retten, nämlich ein Offenbarungsakt, wie er an
Moses ergangen ist, dem Gott am Berge Sinai das Gesetz
mitgeteilt hat.
Von daher ergibt sich immerhin, daß Strauss Schmitt nicht an
seine theologischen Ursprünge erinnert, um gegen diese eine
philosophische Argumentation aufzunehmen, sondern daß Strauss’
Position in letzter Instanz, jedenfalls in dieser frühen Phase
seines Denkens, ebenso theologisch motiviert ist, wenn sie eine
Rückkehr zum „präsubjektiven“ Gesetz ins Auge faßt. Schmitt
geht in die eine Falle der liberalen Aporie, wenn er das
Politische als Faktum setzt, damit alle Gegensätze in
kriegerische Konflikte verwandelt und so, in letzter Instanz,
die liberale Wertneutralität reproduziert. Strauss verläuft
sich in die andere Falle des liberalen Autonomismus, wenn er
die Souveränität über dem Gesetz durch einen ultimativen Akt
der Souveränität überwinden will, die sich dann unter das
Gesetz stellen soll. Es ist die klassische Aporie der
Möglichkeit einer Tradition nach der Traditionskritik. Ist
Schmitts Begriff des Politischen ultimativ ein Epiphänomen
christlicher Gesetzeskritik, für die der Name Paulus steht und
die sich unter den säkularistischen Bedingungen der Moderne nur
im Ästhetischen verirren kann, so erweist sich, daß Strauss’
152
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Begriff des Politischen in letzter Konsequenz nur als Theologie
möglich ist: Nur in einer Offenbarung an das Subjekt könnte
dieses Subjekt tatsächlich seinen Anspruch auf Souveränität
revidieren.334
334 Es nimmt aus dieser Perpektive kein Wunder, daß ein Kritiker der Liberalismuskritik wie John P. McCormick, Carl Schmitt’s Critique of Liberalism, die Trennung zwischen Politischer Theologie und Politischer Philosophie von Heinrich Meier nicht nur nicht erwähnt, sondern Schmitt und Strauss in dieselbe Tradition des Antiliberalismus als aktuelle politische Strömung inAmerika einrückt, vor der er gerade unter den neuen globalen Bedingungen warnen will – und dies noch lange vor 9/11: „Thus, there are clear lines ofsuccession back to Schmitt in all of the major components of contemporary American conservatism: cultural conservatism via Strauss, technoeconomic conservatism via Hajek, and foreign policy conservatism via Morgenthau. [...] In the absence of the Soviet enemy, these conservative tendencies maybecome less moderate than the word ‚conservative‘ connotes, and they may – and in fact at last rhetorically – set their sights on liberalism itself asan enemy.“ (S. 304). Zu einer kritischen Beurteilung von Strauss im Kontextder amerikanischen Politik nach 9/11 siehe Anne Norton, Leo Strauss and the Politics of American Empire, New Haven/London, 2004, die immerhin zwischen Straussund den Straussianern, William Kristol, Robert Kagan, Richard Perle etc. unterscheidet. Dabei wird man ihr kaum zustimmen können, wenn sie Strauss zuletzt eben dem Hermann Cohen zurechnet, den Strauss in den zwanziger Jahren durch Maimonides und Plato ersetzt.
153
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
„Sein eigenes Gesetz sein …“Politisch-theologische Voraussetzungen und Konsequenzen der
Theorie der
Kabbala der symbolischen Formen bei Gershom Scholem
I Vorüberlegung
Scholems Theorie der Kabbala beruht in letzter Instanz auf
einer Theorie des mystischen Symbols, die sich gerade aus der
radikalen Krise des Symbols im Sabbatianismus erklärt.335 Beruht
der sabbatianische Messianismus auf einem symbolischen
Ausnahmezustand, in dem das Gesetz beziehungsweise die
normative Grammatik der Tradition suspendiert wird, so versucht
Scholem, vor dem Hintergrund der durch den Sabbatianismus
vollzogenen Kritik aller traditionellen Autorität eine
Theologie auf der Basis der „eigenen Erfahrung“ des Subjekts
des Mystikers und von dieser aus, die Funktionsweise des
religiösen Symbols neu zu begründen.
Damit führt Scholems Kritik an der jüdischen
Säkularisation336, Autonomie und Emanzipation nicht zu einer
Theologie der Offenbarung zurück, sondern sie setzt über die
335 Gershom Scholem, Zum Verständnis des Sabbatianimus. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung. Berlin 1936; ders., „Die Krise der Tradition im jüdischen Messianismus“ in: ders., Judaica III, Frankfurt a. M. 1973, S. 152–196; ders., „Die kryptojüdische Sekte der Dönme (Sabbatianer) in der Türkei“, in: NumenVII, Dezember 1960, S. 93–122; ders., „Karriera schel Frankist. Mosche Dobruschka WeGilgulaw“, in: Mechkarim WeMekorot Be Toldot HaSchabtaut WeGilguleiha, Jerusalem 1974, S. 141–216; ders., Sabbatai Zvi. The Mystical Messias, Princeton 1975 (deutsch: Sabbatai Zwi. Der mystische Messias, Frankfurt a. M. 1992).336 Zu Scholem und der Theorie der Säkularisation vgl. Stéphane Mosès, Sprache und Säkularisation, in: ders., Der Engel der Geschichte. Franz Rosenzweig, Walter Benjamin. Gershom Scholem, Frankfurt a. M. 1994; mein Buch Der häretische Imperativ.
142
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
immer schon gültige sabbatianische Voraussetzung das autonome
Subjekt in eine hermeneutische Souveränität ein, die als die
letzte Instanz aller religiösen Autorität, auch noch der von
Moses selbst, fungiert. Damit gelingt es ihm, den politisch-
theologischen Absolutheitsanspruch sowohl der orthodoxen
Tradition als auch der sabbatianischen Destrukteure dieser
Tradition so zu relativieren, daß beide Positionen als mögliche
theologische Hypothesen prinzipiell in das Ensemble der
verschiedenen theologischen Interpretationen des Wortes Gottes
integriert werden können.
Auf diese Weise entwirft Scholem nicht nur eine theologische
Semiotik, die aus der modernen Perspektive der hermeneutischen
Subjektivität stets von einer prinzipiellen Differenz zwischen
Zeichen und Bedeutung ausgehen muß, sondern diese semiotische
Differenz wird zum Indiz einer zweifachen ontologischen
Differenz in Gott selbst. Ist das Zeichen als Deutung immer
schon unzureichender Ausdruck einer „Gestaltlosigkeit der
ursprünglichen Erfahrung“, so tritt Gott selbst in das Spiel
der symbolischen Ent- bzw. Verdeckung, als sein „Nichts“ und
„Sein“ ein, das in der spezifisch jüdischen Form gnostischer
Theologie reflektiert wird. Läßt sich diese ontologische
Differenz als ein Effekt der semiotischen Differenz
beschreiben, so ergibt sich von hier aus immer auch die
Möglichkeit, daß das durch die Sprache unerreichbare „Nichts“
Gottes in Wahrheit immer schon das „Nichtsein“ Gottes bedeutet,
das dann vor allem die bekannte säkularistisch-ästhetische
Reflexion über die mystische Symbolik etwa bei Kafka in die
Wege leitet.337
337Vgl. Nathan Rothenstreich, „Symbolism and Transcendence. On Some Philosophical Aspects of Gershom Scholem’s Opus“, in: Revue of Metaphysics, 31
143
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Mit einem solchen offenen Horizont semiotischer Bezeichnung
setzt Scholems „Kabbala der symbolischen Formen“ auf eine Ethik
des religiösen Symbols, die sich nicht nur auf den „Binnenraum“
der jüdischen Tradition, sondern gerade auch auf den
„exterritorialen“ Raum der anderen (monotheistischen)
Religionen erstreckt. Diese Ethik des Symbols, die einen
posttraditionellen politisch-theologischen Horizont eröffnet,
erinnert nicht zufällig an Ernst Cassirers Philosophie der
symbolischen Formen. Beide Symboltheorien deduzieren das Symbol
aus der Gefahr seiner Suspension, beide erkennen in dem
symbolischen Ausnahmezustand den katastrophalen Versuch, das
Absolute in reiner Präsenz mit der historischen Situation
kurzzuschließen. Beiden Symboltheorien geht es zuletzt um die
Begründung einer Ethik des Symbols.338
Wenn aber Scholems Kabbala der symbolischen Formen
tatsächlich den sabbatianischen Ausnahmefall zum Ausgangspunkt
einer Rekonstruktion der jüdischen Tradition aus der
Perspektive des Symbols erhebt, so ernennt sie Sabbatai Zwi
selbst indirekt zu demjenigen Messias, der die jüdische
Tradition vom Messianismus endgültig befreit. Indem Sabbatai
(1977/78), S. 605: „Symbolik einerseits und die Leugnung von unio mystica und Pantheismus andererseits bilden anscheinend die beiden korrelierenden Achsen, die sozusagen die epistemologische und die ontologische Komponente von Scholems exegetischem Schaffen ausmachen.“338 Moshe Idel, „Zur Funktion von Symbolen bei G. Scholem“, in: Stéphane Mosès/Sigrid Weigel, Gershom Scholem. Literatur und Rhetorik, Köln/Weimar 2000, stellt sich kritisch gegen David Biale, Gershom Scholem. Kabbala and Counterhistory, Cambridge 1982, S. 138–140, der Scholems Symboltheorie auf Goethe, Creuzer, Mallarmé und Benjamin zurückführt. Idel meint dagegen, daßder Begriff Symbol faktisch kaum eine Rolle in der Kabbala spiele und daß Scholems Symboltheorie sich am ehesten von Johannes Reuchlins De Arte Cabbalistica, Stuttgart 2006 (1517), ableiten lasse (S. 55). Für meine eigene Rekonstruktion spielt es keine große Rolle, woher der Begriff stammt, sondern welches Problem damit ins Spiel kommt. Die Nähe zu Cassirer scheintmir, was die Symboltheorie angeht, für Scholem dennoch wahrscheinlich, zumindesten läßt sich eine analoge Problematik erkennen.
144
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Zwi nämlich das moderne Judentum durch den letzten
„metaphysischen“ Akt der Destruktion der Symbolordnung selbst
zu einer Neubegründung auf der Grundlage einer Ethik des
Symbols zwingt, „erlöst“ er es von der Intention auf einen in
der Geschichte sich ereignenden Akt der Erlösung.339 An die
Stelle des zerstörten Tempels rückt in Scholems impliziter
Rekonstruktion der Tradition die Ruine der messianischen
Handlung als Ursymbol der Unmöglichkeit einer jeden (auch
jüdischen) politischen Theologie der Moderne, die das Reich
Gottes auf Erden errichten will. An die Stelle der halachischen
Ethik, die sich aus der Katastrophe der Tempelzerstörung in der
rabbinischen Kultur entwickelt, rückt jetzt die Symbolethik,
die auf die Katastrophe der politischen Messianologie der
Moderne reagiert. In beiden postmessianischen Formen der Ethik
geht es dabei also um eine Bewahrung der messianischen
Dimension des jüdischen Lebens im Sinne einer katastrophalen
Erinnerung, die ihrerseits das messianische Ereignis wieder
zurück in eine unerreichbare Zukunft verlegt. Wegen der
strukturellen Nähe dieser Form von Postmessianismus zu Paulus
verwundert es freilich nicht, daß Scholem seine eigene Theorie
des mystischen Symbols immer wieder von Paulus abgrenzt, dessen
Messianismus ja als eine Emanzipation von jedem „äußeren“
geschichtlich-politischen Messianismus verstanden werden muß.340
339 Vgl. Walter Benjamin, „Politisch-theologisches Fragment“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II.1, Frankfurt a. M. 1980, S. 203.340 Vgl. Jakob Taubes, „Der Preis des Messianismus“, in: ders., Vom Kult zur Kultur. Bausteine zu einer Kritik der historischen Vernunft, hrsg. v. Aleida und Jan Assmann, München 1996, S. 44: „Wie anders läßt sich Erlösung definieren, nachdem der Messias die äußere Welt eben nicht erlöst hat, als durch eine Verlagerung in die Innerlichkeit?“ Mit dieser Frage stellt Taubes die für Scholem konstitutive Unterscheidung zwischen einem äußeren jüdischen und einem verinnerlichten christlichen Messianismus in Frage, wie Scholem sie in „Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum“ (Judaica I, Frankfurt a. M. 1977) vertritt. Thomas Macho („Zur Frage nach dem Preis des
145
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
II Von der Autorität zur eigenen Erfahrung
Scholems implizite Theorie des mystischen Symbols geht immer
wieder von dem Grenz- und Ausnahmefall aus, nämlich dem
Augenblick der Suspension bzw. Destruktion der symbolisch-
halachischen Ordnung. „Frank lehrte die Notwendigkeit, durch
alle ‚Gewänder‘ hindurchzugehen und alle zu verleugnen, um in
dem Abgrund der Vernichtung aller Gesetze […] das anarchische
Leben zu finden.“341 Der sabbatianische Messianismus und der aus
diesem sich entwickelnde mystische Nihilismus Jakob Franks
bezeichnet für Scholem dabei den historischen Ausdruck oder das
historische Symptom eines fundamentalen strukturellen Problems
der religiösen Symbolik überhaupt, nämlich des Problems der
„Gestaltlosigkeit der ursprünglichen Erfahrung“. Insofern
Scholem die Krise der jüdischen Moderne und der Säkularisation
als das Resultat des Verfalls der symbolischen Ordnung des
Judentums versteht und den historischen Ursprung dieser
Destruktion am Sabbatianismus und seinen Ausläufern erkennt,
ist damit die Einsicht in das historische Problem immer schon
an das strukturell-epistemologische Problem gebunden. Der
gezielte Akt der messianischen Destruktion symbolischer Formen
und Handlungen durch den sabbatianischen Mystiker läßt sich fürMessianismus. Der intellektuelle Bruch zwischen Gershom Scholem und Jacob Taubes als Erinnerung ungelöster Probleme des Messianismus“, in: Moses/Weigel: Gershom Scholem: Literatur und Rhetorik) kommentiert das Dilemma sehr klar: „Das Dilemma wurde zwar auf Scholem projiziert: Doch war und ist es ein echtes Dilemma, ein ungelöstes Problem. Es ergibt sich schlicht aus derKomplexität messianischer Logik, aus dem Zwang, den erscheinenden Messias entweder (paulinisch) als die Figur der Aufhebung des Messianismus zu denken, oder aber als den prinzipiell ‚falschen‘ Messias zu verwerfen.“ 341 Scholem, Zum Verständnis des Sabbatianismus. S. 11.
146
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Scholem immer nur als eine im Absoluten selbst angelegte
dialektische Konsequenz konstruieren. Offenbart sich das
absolute Sein Gottes nämlich auch dieser mystischen Erfahrung
als ein schlechthin „Namenloses“, „Undarstellbares“,
„Gestaltloses“ und, was die Möglichkeiten von Denken und
Sprache angeht, als „Nichts“, so enthält das Absolute schon in
sich selbst eine negative und destruktive Macht, die im
sabbatianischen Messianismus dann nach außen schlägt.
Die Gestaltlosigkeit der ursprünglichen Erfahrung kann zurAuflösung aller Gestalt auch in der Deutung führen. Es istdiese Perspektive zerstörerisch, aber doch dem ursprünglichenAntrieb des Mystikers nicht unverwandt, die uns den Grenzfalldes nihilistischen Mystikers als den eines allzu legitimenErben mystischer Erschütterungen erkennen läßt.342
Diese Perspektive erfaßt den Sabbatianismus also als einen
symbolischen Ausnahmezustand, mit dem die Tradition von
Offenbarung und Gesetz im Namen ihrer messianischen
Verwirklichung suspendiert und, da hier nur das Absolute in die
partikulare Realität einstürzt, destruiert wird. Damit aber
erweist sich der historische Augenblick der Suspension der
halachischen Ordnung nicht nur als ein dramatisches Stadium in
der Geschichte von Deutung und Auslegung von Gottes Wort. Die
Tatsache, daß dieser historische Augenblick in dem
dialektischen Wesen Gottes selber begründet ist, erlaubt auch
ein tieferes Verständnis für das Wesen der Krise und der
Säkularisation, das auf diese Weise eine Neubegründung von
jüdischer Theologie und Tradition möglich machen soll.
Die geschichtliche Situation und die Auffassung von Gottes
Wesen, die häretische Destruktion der Symbolordnung einerseits
342 Gershom Scholem, „Religiöse Autorität und Mystik“, in: ders., Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Zürich 1960, S. 20 f.
147
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
und die Seinsweise Gottes andererseits, bilden damit die
extremen Pole und Korrelate von Scholems Grammatik des
mystischen Symbols, wie sie aus der postsabbatianischen
Perspektive unter gleichsam posttraumatischen Bedingungen
rekonstruierbar wird. Die „ursprüngliche Gestaltlosigkeit der
Erfahrung“, die im Sabbatianismus historisch evident wird, ist
so gesehen ein geschichtlich vermitteltes Konstitut, das erst
innerhalb der Tradition, also der Geschichte der Auslegung sich
darzustellen beginnt. Sie entwickelt sich aus und innerhalb der
Dialektik zwischen dem durch die Autorität des Moses
vorgegebenen Symbol und seiner Interpretation, Explikation und
Applikation343 durch ein mystisches Subjekt, das sich in
Scholems Darstellung zunächst gerade in den Grenzen bewegt, die
ihm durch den Gründungsakt des Moses vorgegeben sind. So
entdeckt der Mystiker die Autorität zunächst noch einmal, wenn
er seine Erfahrungen „in einer Sprache, in Bildern und
Begriffen“ formuliert, „die vor ihm und für ihn geschaffen
wurden“344. Zugleich aber reproduziert der Mystiker nicht nur
die traditionelle Sprache, sondern er wird sich in der
mystischen Erfahrung eben der Dimension des „gestalt- und
namenlosen Seins“ bewußt, das die traditionellen Symbole
umkreisen, indem sie es zu benennen versuchen. Anders
formuliert: Im Prozeß der Vermittlung zwischen Erfahrung und 343 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1975, vor allem das Kapitel „Die exemplarische Bedeutung der juristischen Hermeneutik“, S. 330–346, das unter anderem auchdie politischen Konsequenzen für die jeweilige Stellung gegenüber dem Gesetz skizziert. „So ist es für die Möglichkeit einer juristischen Hermeneutik wesentlich, daß das Gesetz alle Glieder der Rechtsgemeinschaft in gleicher Weise bindet. Wo das nicht der Fall ist, wo etwa wie im Absolutismus, der Wille des absoluten Herrschers über dem Gesetz steht, kann es keine Hermeneutik geben, da ‚ein Oberherr seine Worte auch wider die Regeln gemeiner Auslegung erklären kann‘.“ 344 Scholem, Religiöse Autorität und Mystik, S. 16.
148
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Bezeichnung erfährt der Mystiker die Diskrepanz zwischen beiden
und damit den tatsächlich symbolhaften Charakter des Symbols.
Ist es doch eben dieses Element des Unbestimmbaren, derAbwesenheit, der Fähigkeit zum Ausdruck, die die größteSchwierigkeit der mystischen Erfahrung darstellt. Sie läßtsich nicht einfach und restlos in klar umrissenen Bilder oderBegriffe umsetzen.345
Die Offenbarung Gottes, seine Rede beziehungsweise seine Stimme
stellen sich immer mehr als die absolute Bedeutung vor jedem
konkreten, den Sinn eingrenzenden Wort dar. „Das Wort Gottes
muß unendlich sein […], das absolute Wort ist zwar in sich noch
bedeutungslos, aber es ist bedeutungsschwanger.“346 Mit dem sich
einstellenden Bewußtsein dieser symbolischen Differenz wird
nicht nur die unendliche Macht von Gottes Wort und dem
biblischen Text neu begründet und vertieft, sondern auch die
Kompetenz des Mystikers selbst, der nunmehr nicht nur „einen
Faktor dar[stellt] im Prozeß der Hochhaltung der Tradition,
sondern zugleich in dem Prozeß, der sie entwickelt und
vorwärtstreibt“347. Die sich konstituierende eigene Erfahrung,
die sich aus der Differenz von prästabilierter Symbolordnung
und der konkreten Situation der Interpretation entwickelt,
artikuliert sich als Nachvollzug, Anpassung und Modifikation
der vorgegebenen Regel, im Zweifelsfalle auch in der Erfindung
neuer Regeln und Symbole. Ist die mystische Subjektivität also
zunächst durch die interpretatorisch-modifizierende „Differenz“
konstituiert, die in den Falten des Wortes sich „einnistet“, so
verwirklicht sie sich eigentlich erst in dem Fall, wo die
eigene Erfahrung sich von der vorgegebenen Struktur der Sprache
345 Ebd., S. 19 f.346 Ebd., S. 22.347 Ebd., S. 17.
149
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
emanzipiert, sich also gegen die prästabilierte Symbol- und
Gesetzesordnung kehrt und diese suspendiert. Der häretische Akt
der Interpretation ist die Geburtsstunde des nunmehr sich auf
sich selbst verlassenden, souveränen mystischen Subjekts, das
sich über alle Autorität erhebt und damit den messianischen
Anspruch erhebt, „sein eigenes Gesetz zu sein“348.
Damit enthält die Tradition nicht nur das Ereignis ihrer
Selbstüberwindung, sie ist ganz auf dieses Ereignis hin
ausgerichtet. Das objektiv geltende Gesetz bzw. Symbol, wie es
durch die Tora des Propheten Moses übermittelt wurde, wird
gerade im Namen des absoluten Wesens Gottes durch das mystische
Subjekt suspendiert.
Es ist dabei gerade der heilige Status des (Gesetzes-)Textes,
der die verschiedenen hermeneutischen Strategien ermöglicht,
deren sich der Mystiker bedient, um seiner Erfahrung Ausdruck
zu verleihen. Der heilige Text der Tora ist eben dadurch
heilig, daß er einer unendlichen Interpretation fähig ist, daß
alles in ihm Sinn besitzt. Als ein solcher Speicher unendlichen
Sinns ist der Text der Tora Symbol des unendlichen Wesens
Gottes selbst, das so immer unendlicher, unergründlicher wird,
bis es zu dem Wesen jenseits aller Sprache, zum Wesen jenseits
des Gesetzes erhoben werden muß. Hier kündigt sich dann die
fundamentale symbolische Differenz an, die Gott in die
ontologische Differenz von Wesen und Erscheinung so versenkt,
daß das Wesen sich jeder Signifikation verweigert. Da, wo
Gottes Macht tatsächlich absolut und unendlich geworden ist,
kommt es dann zu der Suspension der objektiven symbolischen und
gesetzlichen Ordnung, die das Subjekt zu dem Akt einer
348 Ebd., S. 20.150
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
souveränen Interpretation und Gesetzgebung ermächtigt. Von nun
an hat das Gesetz seinen objektiv offenbarten Charakter
verloren und kann nur noch als eine Deutung durch das Subjekt
begriffen werden, das nunmehr „sein eigenes Gesetz“ geworden
ist.
Sabbatai Zwi bezeichnet damit für die jüdische Moderne den
fundamentalen epochalen Umbruch, den Leo Strauss auf
europäischer Ebene für die Genese von Hobbes’ politischer
Philosophie feststellt: die Begründung des Gesetzes aus dem
Subjekt.349 An die Stelle der Souveränität des Gesetzes, das dem349 So sehr verschieden die Kontexte, so läßt sich dieselbe Tendenz wiedererkennen. Vgl. Leo Strauss, Hobbes’ politische Wissenschaft in ihrer Genesis. Leo Strauss beschreibt diesen Übergang vom objektiven Gesetz zum subjektiven Gesetz bei Hobbes folgendermaßen: „Die beiden fundamentalen Neuerungen, dieHobbes zuzuschreiben sind, die Vorordnung des Rechts vor das Gesetz und dieErkenntnis der vollen Bedeutung der Idee der Souveränität, stehen in unmittelbarem Zusammenhang. Ihren gemeinsamen Ursprung erkennt man, wenn man nach der Möglichkeitsbedingung des Problems der Souveränität zurückfragt. Das antike Analogon zu diesem modernen Problem ist die Frage: wer oder was soll herrschen? Die antike Antwort lautet: das Gesetz. Diese Antwort wird von den Philosophen, die sich bei der göttlichen Herkunft des Gesetzes nicht beruhigen können, folgendermaßen begründet: herrschen soll, zu herrschen verdient das Vernünftige über das Unvernünftige (die Alten über die Jungen, der Mann über das Weib, der Herr über den Sklaven) und darum das Gesetz über die Menschen. Zum Problem der Souveränität kommt es erst dann, wenn das Herrschaftsrecht der Vernunft oder der Vernünftigen angezweifelt wird. Der Zweifel richtet sich zunächst bloß gegen die Anwendbarkeit des Prinzips, daß zu herrschen berechtigt ist, wer oder was vernünftig ist: zugegeben, daß es Menschen gibt, die kraft ihres Verstandesden anderen unbezweifelbar überlegen sind – würden die anderen sich ihnen schon darum unterwerfen und ihnen gehorchen? Würden sie ihre Überlegenheit anerkennen? Der Zweifel macht hierbei nicht halt: es wird geleugnet, daß eseinen erheblichen Unterschied hinsichtlich der Vernünftigkeit zwischen den Menschen gibt; in allen praktischen Angelegenheiten ist grundsätzlich jederMensch so vernünftig wie jeder andere. […] Von Natur sind alle Menschen gleich vernünftig […]. Weil also die Vernunft wesentlich ohnmächtig ist, darum genügt die Auskunft nicht, daß der Ursprung und Sitz der Herrschaft die Vernunft sei; darum wird es von Grund auf fraglich, welche von den untereinander gleichen Menschen über die anderen herrschen können und dürfen, und unter welchen Bedingungen und innerhalb welcher Grenzen sie einen Anspruch auf Herrschaft haben; darum kommt es zu einem Problem der Souveränität. Weil alle Menschen gleich vernünftig sind, darum muß willkürlich, als künstlicher Ersatz für die fehlende natürliche Vernunftüberlegenheit eines oder mehrerer die Vernunft eines oder mehrerer
151
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Subjekt Autorität gibt, tritt die Autorität des Subjekts, das
das Gesetz stiftet. „Auctoritas facit legem, non veritas.“ Da
aber eben die Autorität des Subjekts nur noch auf der eigenen
Subjektivität beruht, wird damit der Status des subjektiven
Gesetzes unendlich problematisch, gerade weil es sich in
letzter Instanz nur durch einen puren Machtspruch des
souveränen Subjekts durchsetzen kann.
Die eigentliche Pointe Scholems ist nun zunächst folgende:
Statt wie Leo Strauss einen Weg zu suchen, der die verlorene
objektive Qualität des „antiken“ Gesetzes für das „moderne“
Zeitalter restaurieren könnte, verschärft er das Problem, indem
er aus der modernen Perspektive nun auch den Status des
„antiken“ Gesetzes, also das Gesetz des Moses in seiner
Autorität erschüttert. Während zunächst Moses eine Autorität zu
besitzen schien, die ihm durch das objektive Gesetz zukommt,
sind Sabbatai Zwi und Jakob Frank souveräne Agenten ihrer
eigenen, subjektiven Erfahrung, die eben diese Autorität
unterminiert. Von dieser eigenen Erfahrung stellt Scholem fest,
daß sie „im äußersten Fall den Anspruch erheben wird, über
aller Autorität zu stehen“, und der Häretiker mit dieser „sein
eigenes Gesetz zu sein“350 beansprucht. Indem Scholem aber aus
der Perspektive des Grenz- und Ausnahmefalls die Funktionsweise
der symbolischen Ordnung rekonstruiert, denkt er implizit jede
Autorität, also auch die Autorität des Moses aus der
Perspektive der sabbatianischen „eigenen“ Erfahrung. In seiner
Exposition der Deutung des Rabbi Mendel Torum von Rymanow zur
beliebigen Individuen zur maßgebenden Vernunft gemacht werden. […] Der Bruch mit dem Rationalismus ist also die entscheidende Voraussetzung sowohldes Souveränitätsbegriffs als auch der Verdrängung des Gesetzes durch das Recht.“ (S. 180 f.)350 Scholem, Religiöse Autorität und Mystik, S. 20.
152
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Offenbarung am Sinai faßt Scholem das Problem von Autorität und
Mystik für die Situation des Moses so zusammen, daß die
sabbatianische Katastrophe, die Symbol, Gesetz und Gemeinschaft
sprengt, sowohl als Grundlage für die Auffassung vom Symbol wie
für seine Bewahrung sich darstellt. Der Preis, der für diese
Rettung der Tradition entrichtet werden muß, ist die radikale
Umwertung des Moses als Volksgründer aus dem Geiste der
Offenbarung.
Was eigentlich, läßt sich fragen, ist das wirklich Göttlichean der Offenbarung, wie sie Israel am Sinai gegeben wurde,einer Offenbarung, die, wohlverstanden, ein ungemein scharfumrissenes Stück von Lehre und ein Aufruf an die menschlicheGemeinschaft ist, eine Offenbarung, die in allen Stückenüberaus artikuliert ist und in keiner Weise eine mystische,im unendlich Deutbaren bleibende Losung darstellt? Schon imTalmud gibt es eine Diskussion über diese Frage der ErfahrungIsraels beim Empfang der Zehn Gebote. Was eigentlich konntensie hören, und was hörten sie? Nach einigen wären alle Geboteihnen durch das ungebrochene Medium der göttlichen Stimmezugekommen. Nach anderen hätten sie nur die ersten zweiGebote – „Ich bin der Herr, dein Gott“ und „Du sollst keineanderen Götter neben mir haben“ (Ex. 20,2/3) – unmittelbaraus Gottes Munde vernommen. Dann aber sei die überwältigendeMacht dieser Erfahrung zu viel für das Volk gewesen, und siehätten der göttlichen Stimme nicht standhalten können. Daherhätten sie sich an Moses halten müssen, durch dessenVermittlung sie nun die übrigen Gebote empfingen. Mosesallein konnte die Wucht der Stimme ertragen und wiederholtenun in menschlicher Stimme jene Aussagen höchster Autorität,die die Zehn Gebote sind.Diese Funktion Moses’ als Deuter der göttlichen Stimme fürdas Volk – über die schon Maimonides sich sehr viel weitergehende Gedanken gemacht hatte – konnte nun noch weiterausgedehnt werden, und das ist es eben, was dem R. Mendel vonRymanow zugeschrieben wird, der im Grunde nur die Gedankendes Maimonides in voller Zuspitzung ausdrückt. Ihm zufolgestammen nicht einmal die ersten beiden Gebote aus einerunmittelbaren Offenbarung an die ganze Gemeinde Israel.
153
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Alles, was ihnen offenbart wurde, was Israel hörte, warnichts als jenes Aleph, mit dem im hebräischen Text der Bibeldas erste Gebot beginnt, das Aleph des Wortes „anochi“, Ich.Dies scheint mir in der Tat ein überaus bemerkenswerter undnachdenklich stimmender Satz. Der Konsonant Aleph stelltnämlich im Hebräischen nichts anderes dar als den laryngalenStimmeinsatz […], der einem Vokal am Wortanfang vorausgeht.Das Aleph stellt also gleichsam das Element dar, aus demjeder artikulierte Laut stammt, und in der Tat haben dieKabbalisten den Konsonanten Aleph stets als die geistigeWurzel aller anderen Buchstaben aufgefaßt, der in seinerWesenheit das ganze Alphabet und damit alle Elementemenschlicher Rede umfaßt. Das Aleph zu hören ist eigentlichso gut wie nichts, es stellt den Übergang zu allervernehmbaren Sprache dar, und gewiß läßt sich nicht von ihmsagen, daß es in sich einen spezifischen Sinn klar umrissenenCharakters vermittelt. Mit seinem kühnen Satz über dieeigentliche Offenbarung an Israel als die des Alephreduzierte also Rabbi Mendel diese Offenbarung zu einermystischen, das heißt zu einer Offenbarung, die in sichselbst zwar unendlich sinnerfüllt, aber doch ohnespezifischen Sinn war. Sie stellt etwas dar, das, umreligiöse Autorität zu begründen, in menschliche Spracheübersetzt werden mußte, und das ist es, was im Sinne diesesAusspruchs Moses tat.351
Scholem projiziert am Beispiel dieser Deutung des Rabbi Rymanow
die moderne Erfahrung interpretatorischer Souveränität zurück
auf die Autorität des Moses selbst. Von daher muß nun der
Gründungsakt der Tradition durch Moses selbst als „Deutung
einer gestaltlosen Erfahrung“ durch das Subjekt behauptet
werden. „Jede Aussage, die Autorität begründet, wäre demzufolge
nur eine, wenn auch noch so gültige und hochrangige, aber immer
nur menschliche Deutung von etwas, das sie transzendiert.“352 Im
Sinne dieser Rückprojektion der häretischen Deutung des
mystischen Souveräns, die ihrerseits erst eigentlich die
Subjektivität als autonomes Prinzip der Deutung und des 351 Ebd., S. 46 ff.352 Ebd., S. 48.
154
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Gesetzes begründet, muß dann die Autorität des Moses zum
Ausdruck einer möglichen und legitimen Deutung „durch das
Subjekt“ herabsinken. Damit aber kann die traditionell
orthodoxe Auffassung von dem für diese Autorität maßgeblichen
Absolutheitsanspruch des Moses gar nicht mehr aufrechterhalten
werden. Das semiotisch-hermeneutische Prinzip der mystischen
Symbolizität erhebt nunmehr seinen eigenen und neuen
universalen Anspruch:
The binding character of Revelation for a collective hasdisappeared. The word of God no longer serves as a source forthe definition of possible contents of a religioustradition.353
Die Tradition ist damit nicht mehr in dem Sinne bindend, wie es
der Begriff der Tradition selbst verlangt. Und doch erlaubt die
symbolische Neuauflage der Tradition als Werk der Deutung,
gerade auch durch ihre Projektion auf die begründende
Autorität, eine neue Existenzform von Tradition, die von nun an
allerdings auf der autonomen Entscheidung des Subjekts beruht,
ihre Legitimität also aus dieser Entscheidung gewinnt.
III Die sabbatianische Krise und die Krise des Lebens in der
Kultur
Der ganze Sinn dieser hermeneutisch fundierten Theorie des
Symbols liegt jedoch nicht nur in der Rückprojektion der
häretischen Suspension auf den Gründungsakt des Moses, dessen
Autorität durch die eigene Erfahrung relativiert, historisiert
353 Gershom Scholem, „Reflection on Jewish theology today“, in: ders., On Jews and Judaism in Crisis. Selected Essays, New York 1976, S. 268 f.
155
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
und subjektiviert werden muß, sondern gerade auch in der
Konsequenz für die Autorität dessen, der die symbolische
Verfassung im Namen einer neuen messianischen Ordnung
suspendiert. Gerade der messianische Absolutheitsanspruch des
häretischen Subjekts selbst wird nun ebenfalls durch die
Verankerung seiner „eigenen Erfahrung“ im namenlosen Absoluten,
im Nichts, das seine Entscheidungen bestimmen soll, radikal
entschärft.354 Wenn nicht durch die Macht der Tradition, die
politische Macht oder ein Charisma, wie soll sich die nur noch
auf die individuelle Erfahrung gründende Autorität anders auf
die Dauer behaupten als durch den freien Konsensus der anderen
Subjekte, die diese Erfahrung der je eigenen Erfahrung als
entsprechend wahrnehmen?
Vergleichbar ist die Situation des Häretikers, der das Gesetz
der Tradition suspendiert, mit der eines modernen Künstlers wie
etwa Arnold Schönberg. Nachdem die musikalische Verfassung der
Tradition – die Tonalität – mit der Autonomisierung des
Künstlers und Komponisten seit Ludwig van Beethoven den
Bedingungen des subjektiven Ausdrucks zunehmend angepaßt und in
ihrem Sinne modifiziert wurde, hat sie Arnold Schönberg zu
Beginn des 20. Jahrhunderts schließlich im Namen eben seiner
354 Vgl. Carl Schmitt, Politische Theologie, S. 69: „Sobald Donoso Cortes erkannte,daß die Zeit der Monarchie zu Ende ist, weil es keine Könige mehr gibt und keiner den Mut haben würde, anders als durch den Willen des Volkes König zusein, führte er seinen Dezisionismus zu Ende, das heißt, er verlangte eine politische Diktatur. Schon in den zitierten Äußerungen […] lag eine Reduzierung des Staates auf das Moment der Entscheidung, konsequent auf eine reine, nicht raisonnierende und nicht diskutierende, sich nicht rechtfertigende, also aus dem Nichts geschaffene absolute Entscheidung. Dasist aber wesentlich Diktatur, nicht Legitimität.“ Scholems Strategie der symbolischen Verankerung des sabbatianischen Absolutheitsanspruchs im „Nichts“ Gottes gilt der Kritik eben einer solchen diktatorischen Dezision,wie sie immerhin gerade bei Jakob Frank und seinen Ideen zu einem militärischen Feldzug seiner mystischen Soldaten angelegt ist.
156
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
„eigenen Erfahrung“, also seines individuellen
Ausdrucksbedürfnisses suspendiert. Schönbergs Versuch, den
eigenen souveränen Akt der Suspension der tonalen Verfassung
durch einen Akt der souveränen Gesetzgebung zu kompensieren,
nämlich durch die Zwölftonmusik, ist durch die radikale
Freisetzung der ästhetischen Subjektivität von Anfang an zum
Scheitern verurteilt gewesen. Die nur durch die Autorität und
das Charisma des Komponisten Schönberg begründete Tradition
mußte an eben dem Prinzip der Subjektivität scheitern, das
Schönberg selbst für sich in Anspruch genommen hatte, als er
die tonale Verfassung suspendierte. Schönberg hat diese
Problematik der Autorität des Gesetzes bekanntlich in seiner
unvollendeten Oper Moses und Aron auf der religiösen Ebene
thematisiert, die seine „eigene Erfahrung“ in der Tat für die
Symboltheorie Scholems zu einem mehr als nur kommensurablen
Fall erhebt. Als Moses nämlich nach der Sünde des Volkes und
seines Bruders Arons mit dem goldenen Kalb, das als sinnliches
Zeichen für den unerkennbaren Gott fungiert, sich auf das
absolute Gesetz beruft, das von dem wahren Gott offenbart
worden ist, begnügt Aron sich mit dem lapidaren Hinweis, dieses
Gesetz sei „auch nur ein Bild“, woraufhin Moses ausruft: „So
zertrümmere ich diese Tafel und will Gott bitten, daß er mich
von diesem Amt abruft.“
Beide Ansprüche auf Absolutheit, der orthodoxe auf die
Objektivität des Gesetzes und der moderne auf die absolute
Subjektivität, sollen durch die Rückprojektion der
sabbatianischen Krise auf das Gesamt der Tradition
zurückgewiesen und relativiert werden. Dabei ist es zunächst
und zuerst durchaus die destruktive Macht, die der
157
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Sabbatianismus freigesetzt hat und um die es in Scholems
Reintegration dieser Revolution des Subjekts in die Tradition
tatsächlich geht. Scholems Rekonstruktion der Tradition aus der
Perspektive ihrer symbolischen Funktionsweise ist im Grunde
immer schon ganz auf „eine Schadensbegrenzung“ eben dieser
Katastrophe hin angelegt. „Man kann von drei Wegen sprechen,
auf denen die Tradition sich in der Geschichte entfaltet und
entwickelt“, faßt Scholem seine eigene Repräsentation der
Dynamik der Tradition an anderer Stelle zusammen.
Sie kann kontinuierlich fortgesetzt werden; sie kann sich ineinem natürlichen Prozeß verwandeln und neue Gestaltannehmen, und sie kann schließlich einem Bruch ausgesetztsein, der mit der Verwerfung der Tradition selber verbundenist. In unseren Tagen steht im Vordergrund der Aufmerksamkeitgerade der Bruch, die Aufgabe, ja die totale Negierung derTradition im Interesse eines Neuaufbaus.355
Scholems Überlegungen münden in die Frage, ob „der Bruch einer
Tradition wirklich ein Bruch“ sei. „Setzt sie sich nicht, auch
wenn die Metamorphose scheinbar abgelehnt wird, auch in anderen
Formen und Gestalten irgendwie fort?“356
Die messianische Autorität des Sabbatai Zwi, die Gesetz,
Symbol und Norm im Namen der Erlösung und messianischen
Befreiung zerstört, muß, da die Erlösung infolge der
antinomistischen Ekstasen nicht stattfindet, zerbrechen. Die
Katastrophe besteht so zunächst in der Möglichkeit einer
solchen messianischen Autorität überhaupt und dann, wenn diese
Autorität sich als Schein entlarvt, in der Destruktion von
Ordnung und religiöser Autorität als solchen. Scholem erkennt
im Sabbatianismus bekanntlich die für die jüdische Moderne
355 Scholem, „Die Krise der Tradition im jüdischen Messianismus“, S. 152.356 Ebd.
158
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
konstitutive Katastrophe, die nicht nur alle Lebensbereiche in
Mitleidenschaft zieht und deren zahlreiche Symptome er seiner
modernitätskritischen Diagnose unterstellt, sondern es geht ihm
um eine dialektische Rekonstruktion dieser Katastrophe im Sinne
einer Heilung und Restauration eben dieser Tradition. Damit ist
immer schon mit behauptet, daß eine einfache Rückkehr zur
Orthodoxie nach der messianischen Destruktion, zumindest für
den, der diese Destruktion mitvollzogen hat, unmöglich geworden
ist. Scholems dialektische Interpretation der sabbatianischen
Katastrophe verfährt dabei nach dem Telephos-Prinzip, indem sie
den Stachel, der den Leib tödlich verwundet, noch tiefer
treibt, um den Heilungsprozeß zu ermöglichen.
Scholem entwirft ansatzweise immer wieder eine Typologie der
postsabbatianischen Krisensymptome. Hierzu rechnet er zuerst
vor allem die jüdische Aufklärung des 18. und 19. Jahrhunderts
als ein Symptom der Entleerung jüdischer Vitalität. Aufklärung
als einseitige Betonung von Vernunft und Rationalität
bezeichnet für Scholem radikale Entfremdung vom Judentum, am
eindrücklichsten vielleicht im sechsten unhistorischen Satz
über die Kabbala:
Wie die Natur, kabbalistisch gesehen, nichts ist als derSchatten des göttlichen Namens, so kann man auch von einemSchatten des Gesetzes, den es immer länger und länger auf dieLebenshaltung des Juden wirft, sprechen. Aber die steinerneMauer des Gesetzes wird in der Kabbala allmählichtransparent, ein Schimmer der von ihm umschlossenen undindizierten Wirklichkeit bricht hindurch. Diese Alchimie desGesetzes, seine Transmutation ins Durchsichtige, ist einesder tiefsten Paradoxe der Kabbala, denn was im Grunde könnteundurchsichtiger sein als dieser Schimmer, diese Aura desSymbolischen, die nun erscheint. Aber im Maße der immersteigenden, wenn auch immer unbestimmter werdendenTransparenz des Gesetzes lösen sich auch die Schatten auf,
159
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
die es auf das jüdische Leben wirft. So mußte am Ende diesesProzesses logischerweise die jüdische „Reform“ stehen: dieschattenlose, unhintergründige, aber auch nicht mehrunvernünftige, rein abstrakte Humanität des Gesetzes als einRudiment seiner mystischen Zerstörung.357
Eben diese Transformation von Gesetz und Symbol in ein
abstraktes Gesetz der Humanität in der Aufklärung und jüdischen
Reform findet ihren eklatanten Ausdruck in der Adoption der
Philosophie Immanuel Kants durch den Frankisten und
Berufsrevolutionär Moses Dobruschka, dessen Karriere der Masken
und Verwandlungen zudem ein dramatisches Beispiel für den
postsabbatianischen Identitätsverlust liefert.358
Ein zweites Symptom der Krise findet Scholem dann in der
schon für Dobruschka typischen Identifikation der jüdischen
Intelligenz mit den verschiedenen Formen weltrevolutionärer
Aktivität, in denen die messianische Energie des Judentums sich
gleichsam verausgabt und leerläuft. Hier lebt die Hoffnung auf
Erlösung und Befreiung der Juden fort, ohne daß die eigentlich
jüdische Dimension überhaupt noch artikulierbar ist. In der
Mobilisierung für die Weltrevolution reproduziert der Jude
einen sabbatianischen Impetus, insofern er sich hier wie Zwi
oder Frank eine andere Identität zulegt, um die Welt zu
erlösen, nur ist er sich bei seinem Enthusiasmus für die
357 Gershom Scholem, „Zehn unhistorische Sätze über die Kabbala“, in: Judaica III, S. 269.358 Scholem, „Karrierra Schel Frankist: Mosche Dobruschka WeGilGulaw“, S. 194 ff. Scholem skizziert hier zunächst Dobruschkas politisch-theologischesCredo, das auf der Grundannahme beruht, daß „jede Regierung eine Art Religion“ sei, die ihre eigene Theologik habe, weswegen Dorbuschka die theologischen Grundzüge der Demokratie definieren wolle. Zuletzt habe Dobruschka nach einem Gesetz gesucht, das wahrhaft innerlich sei, und in diesem Kontext vor allem Kants Denken gelobt. Nirgends habe der frankistische Revolutionär so viel Wahrheit gefunden wie in den Reden des Sokrates, dem Evangelium und den Schriften des unsterblichen Kant.
160
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Revolution dieser auch im Jüdischen prinzipiell katastrophalen
messianischen Dimension nicht mehr wirklich bewußt.
Aber auch Assimilation und Zionismus besitzen eine mögliche
sabbatianische Dimension: die Assimilation, weil sie als
Adoption derjenigen Strategie postsabbatianischer Theologen
sich auffassen läßt, die aus messianischen Motiven einen
Übertritt ermöglicht, der zuletzt zu einem Verlust von jeder
jüdischen Identität führen muß; der Zionismus, weil er
potentiell in eine antinomistische politische Erlösungslehre
umschlagen kann und damit die Realpolitik, also den Staat
zerstört. „Die messianische Phraseologie des Zionismus“,
schreibt Scholem schon 1928, „besonders in entscheidenden
Momenten, ist nicht die geringste jener sabbatianischen
Verführungen, die die Erneuerung des Judentums, die
Stabilisierung seiner Welt aus ungebrochenem Sprachgeist, zum
Scheitern bringen können.“359
Diese durchaus nicht vollständige skizzenhafte Typologie der
postsabbatianischen Krisenformen ist Funktion eben jener
radikalen Mystik des Lebens, die zur Zerstörung der
traditionellen Lebensform aus dem Geist des halachischen
Gesetzes führt. Es ist das Symbol des Lebens, das sowohl die
exzessive Orgiastik als auch die anarchistische Freiheit der
Sabbatianer in ihrem messianischen Zerstörungswerk bestimmt
hat. Sowohl im dionysisch-vitalistischen als auch im
anarchisch-politischen Fall ist Leben Ausdruck einer reinen
Unmittelbarkeit und Intuition, die jede Form, jedes Gesetz und
Symbol transzendieren muß. Immer wieder weist Scholem auf die
Zentralität des Symbols des Lebens und auf den Zusammenhang 359 Gershom Scholem, „Die Theologie des Sabbatianismus im Lichte Abraham Cardosos“, in: Judaica I, S. 146.
161
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
zwischen diesem reinen Leben und der Gewalt hin, immer wieder
betont er den Zusammenhang von diesem unmittelbaren Leben und
der Gestaltlosigkeit der mystischen Erfahrung.
Die messianische Freiheit in der Erlösung und der Inhalt derErleuchtung, die das Wesen dieser Freiheit betrifft,kristallisieren sich um das Symbol des Lebens. Der Mystikerbegegnet in der mystischen Erfahrung dem Leben. Dies Lebenbedeutet aber hier nicht die harmonische Fülle des sich inseinen eigenen Gesetzen erfüllenden Zusammenhangs aller Dingemit Gott, also ein Bild des von einer Autorität herWohlgeordneten und sich ständig Aufbauenden, sondern etwasganz anderes. Es ist das von keinem Gesetz und keinerAutorität in Fesseln geschürte frei Wachsende und sichWandelnde, das hemmungslose Verströmen und die unaufhörlicheVernichtung aller aus ihm auftauchenden Gestalt, die diesenBegriff von Leben bestimmt.360
Die mystische Kategorie des Lebens ist nicht nur Ausdruck eben
der katastrophalen Unmittelbarkeit mystischer Erfahrung, die
nunmehr anarchisch-dionysisch die Formen, die Leben
ermöglichen, liquidiert. Sie erlaubt zugleich eine
überraschende Parallelisierung der gesamten Problematik des
mystischen Symbols und seiner Hermeneutik mit der für Scholems
formative Jahre sicher prägenden Lebensphilosophie und deren
späterer Integration in Georg Simmels Metaphysik der Existenz361
und Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Mit
anderen Worten: Die im Kontext der Lebensphilosophie
diskutierte Problematik und Krise der Kultur als eine
entfremdete Lebensform, dient Scholem offenbar als Modell für
die Thematisierung des jüdischen Lebens in der Moderne. 360 Scholem, „Religiöse Autorität und Mystik“, S. 45. Vgl. auch Scholem, „Die Krise der Tradition im jüdischen Messianismus“, S. 206.361 Simmel, Das individuelle Gesetz; ders., Der Krieg und die geistigen Entscheidungen, München 1917; ders., Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, München 1922. Vgl. Leck, Georg Simmel and Avantgarde Sociology. S. 180: „Existential illiberalismwas politically undecidable and was the elemental metaphysics of both left and right politics.“
162
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Zugleich kann man mit der Dialektik von Leben und Form eine
Reintegration des an sich destruktiven Lebens in die
Kontinuität von Geschichte und Tradition gewährleisten. Die für
die Epoche der 10er und 20er Jahre im Ganzen charakteristische
eschatologische Hoffnung auf eine symbolfreie Begegnung und
Selbstbegegnung des Lebens im Sinne einer Selbstpräsenz im
Absoluten bildet sozusagen die kulturelle Folie, den
potentiellen Ausnahmezustand der Kultur, auf den Scholems
Theorie des mystischen Symbols je schon reagiert. Von hier aus
interpretiert er die Problematik jüdischer Existenz in der
liberalen Kultur und deren Tiefendimension in der Krise des
sabbatianischen Antinomismus.
Von Henry Bergsons vitalistischer Metaphysik362 bis zu Georg
Simmels früher Mystik des Lebens, Max Schelers
lebensphilosophisch geprägter Phänomenologie363 oder etwa Ludwig
Klages’ Kritik des Logozentrismus364 wird das „Leben“ zu einer
Urkategorie erhoben, das sich selbst nur in einer unmittelbar
intuitiven Anschauung zugänglich wird. Um eben dieses reinen
und absoluten Zugangs des Lebens zu sich selbst willen, bedarf
es einer umfassenden Destruktion all der traditionellen Formen,
Symbole und Gesetze, in denen das Leben sich je schon
sedimentiert hat. Nicht zufällig wird gerade bei Simmel und
Scheler der Erste Weltkrieg zu einem eschatologisch-
apokalyptischen Showdown des ekstatischen und über sich
hinausgreifenden Lebens selbst.365 362 Henry Bergson, Einführung in die Metaphysik, Jena 1916.363 Max Scheler, „Versuch einer Philosophie des Lebens“, in: ders., Abhandlungen und Aufsätze II, Leipzig 1915, S. 169–228; ders., Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg, Bd. I.2, Leipzig 1915.364 Klages, Vom kosmogonischen Eros.365 Vgl. vor allem Scheler, Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg, ders., Der Krieg und die geistigen Entscheidungen, München 1917.
163
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Ein Absolutes [kann] nur in einer Intuition gegeben werden[…], während alles übrige von der Analyse abhängig ist.Intuition heißt jene Art von intellektueller Einfühlung,kraft deren man sich in das innere eines Gegenstandesversetzt, um auf das zu treffen, was er an Einzigem undUnausdrückbarem besitzt,
schreibt Bergson und schließt: „Metaphysik ist deswegen der
Bruch mit den Symbolen“366. Bei Ludwig Klages wird die Intuition
des dionysischen Lebens gegenüber seinen Formierungen dagegen
schon auf den Begriff von Hirn und Blut gebracht. „Nicht in dem
Hirn, dem Sitz des Bewußtseins, sondern im Blut quillt die
Rauschwoge auf.“367 Ob im Krieg oder in Kunst und Philosophie,
die Destruktion ist Präludium zu einer großen Befreiung des
anarchisch-dionysischen Lebens, das also eine messianisch-
eschatologische Dimension besitzt, die damit zugleich der
Destruktion der kulturellen Lebensformen eine politische
Dimension zuweist. Mit der Befreiung von den Symbolen und
Gesetzen ereignet sich die Enthüllung des Lebens im Sinne einer
„Ankunft des Reiches“, mit der sich die ursprüngliche
Gemeinschaft des Lebens national, kommunal, universal
restituieren soll. Von dieser eschatologischen Dimension her
bezeichnen die 20er Jahre also die Wiederkehr derjenigen
mystischen Hoffnung, die seit dem Mittelalter in den
verschiedensten Formen und Transformationen die europäische und
vor allem die deutsche Geschichte beherrscht hat und die jetzt
in ihrer vitalistischen Form das Ende der Geschichte als
Befreiung des ekstatischen Lebens verkündet. Es ist die
Hoffnung auf eine in der Geschichte sich ereignende Apokalypse
366 Bergson, Einführung in die Metaphysik, S. 49.367 Ludwig Klages, „Georges künstlerische Gesinnung“, in: ders., Der Georgekreis. Eine Auswahl aus seinen Schriften, hrsg. von Georg Peter Landmann, Stuttgart 1980, S. 492.
164
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
des Gottesreiches, wie sie in der Drei-Reiche-Lehre des Joachim
di Fiori so einflußreich geworden ist, deren Quintessenz die
reine Selbstpräsenz des Menschen ohne symbolisch-normative
Vermittlung ist.368 Ob als franziskanische Messianologie oder
Reichsmystik der Stauffenkaiser, als Hoffnung des Thomas Münzer
auf die Restauration eines himmlischen Jerusalems für die Armen
und Entrechteten369 oder als Gotthold Ephraim Lessings Utopie
von einem dritten Reich der Verwirklichung der praktischen
Vernunft370, als kommunistische Utopie des Moses Hess371 oder
Ernst Blochs oder als nationalistische Hoffnung auf die
konservative Revolution bei Moeller van den Bruck372, überall
richtet sich die eschatologische Phantasie auf eine reale
Präsenz in der Geschichte, in der die Bedeutung der Symbole
sich unmittelbar, also als lebendige Realität enthüllt. Von
daher kann man den metaphysischen Intuitionismus der
Lebensphilosophie als die allen diesen mystischen Utopien
eigene Quintessenz der Hoffnung auf ein erfülltes Leben
„jenseits des Gesetzes“ auffassen. Das zu sich findende
ekstatische Leben ist das Wesen messianisch-eschatologischer
Hoffnung, in der sich freilich stets das dionysische Moment
(Nietzsche) und das anarchische Moment (Bakunin) in einer
Synthese zusammenschließen, die dann auch jenseits aller
traditionellen Zurechnung nach links oder rechts schlechthin
destruktiv sich artikulieren muß.
368 Hierzu vor allem Ernst Benz, Ecclesia Spiritualis. Kirchenidee und Geschichtstheologie in der Franziskanischen Reformation, Stuttgart 1964 (1934). Zur Geschichte der Reichsidee siehe Taubes, Abendländische Eschatologie; Voegelin, New Science of Politics.369 Vgl. Ernst Bloch, Thomas Münzer als Theologe der Revolution, München 1921.370 Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, Paragraph 87 ff., S. 508 ff. 371 Moses Hess, Die europäische Triarchie, Leipzig 1841.372 Arthur Moeller van den Bruck, Das dritte Reich, Hamburg 1931.
165
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Bedenkt man nun, daß dieser radikale eschatologisch-
destruktive Vitalismus die prägnante Form eines gegen die
neukantianische Ethik der liberalen Kultur gerichteten
Antinomismus darstellt, daß das Leben sich ekstatisch von eben
der Kultur des Gesetzes als Kultur der Selbstbestimmung des
Subjekts zu emanzipieren sucht, das gerade jüdisch-national
denkende Juden wie Gershom Scholem, Jakob Klatzkin373 oder
Theodor Lessing374 als die ultimative Form ihrer eigenen
existentiellen jüdischen Entfremdung erkannten, so erschließt
sich auch ein erster positiver Horizont, eine Umwertung aller
Werte sozusagen, die in dem anarchisch-messianischen Leben, für
das Sabbatai Zwi und Jakob Frank einstehen, nunmehr eine neue
Grundlage für die kritische Reflexion über die Kultur
kennzeichnet. Der „Aufstand des Lebens gegen das Gesetz“, wie
er die epochale Atmosphäre der Kulturkritik der zwanziger Jahre
bestimmt, ist eine Wiederkehr des durch die aufklärerische
Vernunft des Gesetzes verdrängten Lebens und damit auch der
messianischen Lebensenergie, die gerade die jüdische Lebenswelt
definiert hat. Von hierher wird die vitalistische und
antinomistische Rebellion des Lebens gegen das Gesetz der
Kultur zu einem Spiegelbild eben der Transformation der
frankistischen Lebensenergie und Destruktion in die Aufklärung,
deren Wertesystem 1920 aus der Perspektive jüdisch-
existentieller Erfahrung nur noch als die Ideologie
wahrgenommen werden konnte, die das individuelle jüdische Leben
nur dann zu integrieren bereit ist, wenn es das Judentum und
damit seine spezifische Lebensqualität liquidiert.
373 Klatzkin, Probleme des modernen Judentums; ders., Schkiat HaChajim.374 Vgl. Lessing, Der jüdische Selbsthaß.
166
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Der Prozeß der Restauration der jüdischen Tradition setzt so
voraus, daß eben zuallererst die messianische Dimension des
Lebens in ihrer anarchisch-dionysischen und vor allem auch in
ihrer destruktiven Gewalt rehabilitiert wird, symbolisiert
diese doch die Möglichkeit einer Rückkehr zu dem epochalen
Augenblick, in dem das Leben und mit ihm die Stimme der
Offenbarung durch die aufklärerische Moderne verdrängt worden
sind. In diesem Sinn besteht Scholem bekanntlich auf der
Genealogie der Aufklärung als Verdrängung ihrer sabbatianischen
Ursprünge.
Unser Bild von der inneren Geschichte des Judentums amVorabend der Emanzipation ist nicht vollständig. DieGeschichte der Verwandlung eines ungeheuren positivenAuftriebs und messianischen Hoffens in eine halb oder ganznihilistische Geisteshaltung, die Einflüsse dieserGeisteshaltung auf sehr weite Schichten der Gelehrten undUngelehrten unter den Juden des 18. Jahrhunderts und dasschließliche Umschlagen solch mystischen Nihilismus in dieGeisteshaltung der Aufklärung ist schwerer zu schreiben alsjedes andere Kapitel unserer neueren Geschichte.375
Die lebensphilosophische Kritik des Gesetzes und des Symbols
als Grundlage für eine Kritik der jüdischen Selbstentfremdung
in der neukantianisch geprägten liberalen deutsch-jüdischen
Kultur erlaubt ein Wiederanknüpfen an die verschüttete
Dimension des jüdischen Lebens im Sinne eines Anfangs, der
dieses anarchisch-destruktive Leben allerdings in eine Theorie
des kabbalistischen Symbols integriert und so zuletzt
„kultiviert“. In mancher Hinsicht bezeichnet dieses Anknüpfen
an die messianische Tradition des Lebens den Beginn einer
national-zionistischen Rückbesinnung, die Scholem allerdings
nur als Ausgangspunkt gelten läßt, um sofort vehement vor der
375 Scholem, Zum Verständnis des Sabbatianismus, S. 2 f.167
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
destruktiven Gewalt des Messianischen im Kontext des
„Politischen“ zu warnen. Eine solche Reintegration des Lebens
zurück in die Tradition setzt also voraus, daß der in den
radikalen Lebensanschauungen vertretene Intuitionismus
dialektisch zu überwinden ist.
Eine solche dialektische Überwindung der Dichotomie von Leben
und Form, Leben und Gesetz oder Leben und Symbol findet sich
schon bei dem späten Georg Simmel, der damit den von ihm
anfangs so exzessiv inszenierten Krisencharakter der Kultur zu
beheben versucht. Simmel erinnert in seinem Essay
Lebensanschauung von 1918 zunächst an diese tragische Dimension
der Kultur.
Möglichst kurz und allgemein formuliert ist es dies: daß dasLeben auf der Stufe des Geistes, als seine unmittelbareÄußerung objektive Gebilde erzeugt, in denen es sichausdrückt und die wiederum, als seine Gefäße und Formen,seine Weiterströmungen in sich aufnehmen wollen, während ihreideelle und historische Festgelegtheit, Umgrenzung undStarrheit früher oder später in Gegensatz und Gegnerschaft zudem ewig variablen, grenzverwischenden, kontinuierlichenLeben treten.376
Kann das Leben so gegenüber seiner Entäußerung in den Formen
der Kultur sich selbst nur begrenzt repräsentieren, so bedeutet
dies für Simmel, daß eben an dieser Antithetik von Leben und
Form das zutiefst dialektische Wesen des Lebens im Sinne seiner
formalen Daseinsstruktur sich erfassen läßt. Das Wesen des
Lebens ist Transzendenz, das heißt, es ist, indem es dieses
Sein negieren kann. Leben ist Setzung und Überschreitung in
einem.
Dies ist das einzige, was uns der Verzweiflung über sie, überunsere Beschränktheit und Endlichkeit zu entheben vermag: daß
376 Simmel, Lebensanschauung, S. 160 f.168
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
wir nicht einfach in diesen Grenzen stehen, sondern weil wiruns ihrer bewußt sind, sie überflügelt haben. Daß wir unserWissen und Nichtwissen selbst wissen und auch diesesumgreifende Wissen wiederum wissen und so fort in daspotentziell Endlose – dies ist die eigentlich Unendlichkeitder Lebensbewegung auf der Stufe des Geistes. Hiermit istjede Schranke überschritten, aber freilich nur dadurch, daßsie gesetzt ist, daß also etwas zu überschreiten da ist. Mitdieser Bewegung in der Transzendenz seiner selbst erst zeigtsich der Geist als das schlechthin Lebendige.377
Die Leben-Form-Problematik kommt damit in der Struktur dessen,
was Simmel die formale Struktur des Daseins bezeichnet, zu
einer Lösung, die Leben und Form nunmehr im Sinne der
dialektischen Logik des Geistes bei Hegel für die Struktur des
individuellen Lebens reformuliert.
Die einfachste und grundlegendste Tatsachenform des hierGemeinten ist das Selbstbewußtsein, das zugleich dasUrphänomen des Geistes als eines unendlich-lebendigenüberhaupt ist. Indem das Ich nicht nur sich selbst sichgegenüberstellt, sich, als das wissende, zum Gegenstandseines eigenen Wissens macht, sondern auch sich wie einendritten beurteilt, sich achtet oder verachtet, und damit übersich selbst stellt, überschreitet es dauernd sich selbst undverbleibt doch in sich selbst, weil sein Subjekt und Objekthier identisch sind. Es legt diese Identität, da sie keinesubstanzialistische ist, in den geistigen Lernprozeß desSich-selbst-wissens auseinander.378
Damit behauptet Simmel eine notwendige und unauflösliche
Bezogenheit von Leben und Form, von Absolutem und Konkretem
aufeinander, die dann auf der Ebene der symbolischen Form bei
Scholem die Reintegration des mystischen Lebens ermöglicht, das
bei Sabbatai Zwi ungebrochen und unvermittelt alle symbolische
und gesetzliche Form vernichtet und in solcher Destruktion
gerade die unerläßliche Dialektik von Leben und Form sowie
377 Ebd., S. 7.378 Ebd., S. 14.
169
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Leben und Symbol einfordert. In beiden Fällen, der Katastrophe
des Lebens in der Kultur und der sabbatianischen Krise des
mystischen Lebens, führt die Katastrophe zu einer Rückbesinnung
auf die formale Grundstruktur von Leben und damit zu einer
Neubegründung von Leben und mystischer Subjektivität als
dialektischem Sein.
In diesem Kontext nun scheint vor allem Ernst Cassirers
Philosophie der symbolischen Formen für die Reformulierung der Leben-
Form-Problematik auf der Ebene des Symbols eine wichtige Rolle
für Scholems Kabbala der symbolischen Formen zu übernehmen.
Zumindest ist doch die Affinität zwischen beiden unübersehbar.
So formuliert Cassirer das Problem von Leben und Form für den
Zusammenhang von Leben und Symbol so, daß an ihm die
spezifische Symbolizität des Symbols in eben dem Sinn
transparent wird, den Scholem auf der Grundlage der
sabbatianischen Reduktion immer schon als Dialektik von
Gestaltlosigkeit und Gestalt behauptet.
Die reine Unmittelbarkeit des Lebens […] kann […] nur ganzoder gar nicht geschaut werden: sie tritt in die mittelbarenDarstellungen, die wir von ihr versuchen, nicht ein, sondernbleibt als ein prinzipiell anderes, ihnen Entgegengesetztesaußerhalb ihrer stehen. Nicht in irgendeiner Form derRepräsentation, sondern nur in der reinen Intuition läßt sich derursprüngliche Gehalt des Lebens erfassen. […] Es gilt dieEntscheidung, ob wir das Substantielle des Geistes in seinerreinen Ursprünglichkeit […] suchen – oder ob wir uns derFülle der Vielfaltigkeit eben dieser Vermittlungen hingebenwollen.379
Tatsächlich geht Cassirer also davon aus, daß die „Negation der
symbolischen Formen […], statt den Gehalt des Lebens zu
erfassen, vielmehr die geistige Form zerstören [würde], an
379 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, S. 49.170
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
welche dieser Gehalt sich für uns notwendig gebunden weiß“380.
Diese Grundannahme bestimmt Cassirers ganze Philosophie der
symbolischen Formen und hier insbesondere seine Theorie des
religiösen Symbols, die als Dialektik von Mythos und Religion
die fundamentale semiotische Differenz von Intuition und
faktischer Kapazität des Symbols in Bewegung setzt. Die
religiöse Symbolik, die Gottes „namenlose Nichtigkeit“
auszusprechen versuche, sei insofern der Versuch, die „Gestalt
der Gestaltlosigkeit“381 zu konstruieren. Damit ist „das
Symbolische […] nicht als der Gegensatz des Objektiven, Realen
zu denken, sondern es ist das Geheimnisvolle, Gottgewirkte, dem
das Natürliche gegenübersteht.“382
380 Ebd.381 Der Begriff der „Gestalt der Gestaltlosigkeit“ findet sich, so sehr er sich anhört, als stamme er aus Scholems Symboltheorie der Kabbala, in ErnstCassirers, Philosophie der symbolischen Formen (Bd. II, S. 307). Es lohnt sich, einmal das Kapitel „Die Dialektik des mythischen Bewußtseins“ zu lesen. Vgl. S. 306 f.: „Aber auch hier ist es die Mystik, die den Versuch unternimmt, den reinen Sinn der Religion als solchen, unabhängig von jeder Behaftung mit der ‚Andersheit‘ des empirisch-sinnlichen Daseins und der sinnlichen Bild- und Vorstellungswelt, zu gewinnen. In ihr wirkt sich die reine Dynamik des religiösen Gefühls aus, die alle starre und äußere Gegebenheit abzustreifen und aufzulösen bestrebt ist. [...] Demgemäß stößt die Mystik wie die mythischen, so auch die historischen Elemente des Glaubensinhalts von sich ab. [...] Um zur Erfassung des Göttlichen zu gelangen, müssen zuvor alle Bedingungen des endlichen und empirischen Seins, des ‚Wo‘, des ‚Wann‘ und des ‚Was‘ abgestreift werden. Gott hat – nach Eckhardt und Suso – kein Wo, er ist ‚ein zirkeliger Ring, des Ringes mittler Punkt allenthalben [...] und sein Umschwank nirgend‘, und ebenso ist jeder Unterschied und Gegensatz der Zeit, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in ihm ausgelöscht: seine Ewigkeit ist ein gegenwärtiges Jetzt,das nichts von der Zeit weiß. So bleibt ihm nur die ‚namenlose Nichtigkeit‘, die Gestalt der Gestaltlosigkeit. Immer droht auch für die christliche Mystik die Gefahr, daß diese Nichtigkeit und Gehaltlosigkeit wie das Sein, so auch das Ich ergreift.“ Paul Tillich hat die von Cassirer beschriebene Dialektik explizit zur Grundlage seiner Theorie des theologischen Symbols erhoben: „Das Göttliche ist erfaßt als das Unbedingte, Seins-Jenseitige, es geht nicht ein in Raum und Zeit. Aber es ist nur anschaubar in Symbolen, die raum-zeitlichen Charakter haben.“ Paul Tillich, Mythos und Mythologie, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 5, Berlin, 1964,S. 189.382 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, S. ?
171
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Wenn also die sabbatianische Destruktion für Scholem den
Stellenwert bezeichnet, den die destruktive Intuition in der
kritischen Lebensphilosophie einnimmt, so bedeutet das zunächst
nicht nur eine Reintegration eben der Kategorie des Lebens
gegen seine rationalistische Reduktion und Auflösung, sondern
die Reinterpretation dieses Lebens als unerreichbaren Grund
einer jeden Semiotik. Leben ist der Grund aller symbolischen
Form und als solches die Gestaltlosigkeit vor und in jeder
Gestalt.
Am Sabbatianismus geht dem Religionsphilosophen nicht nur das
problematische Wesen aller Eschatologie und Apokalypse auf,
sondern das Wesen des religiösen und theologischen Symbols,
insofern dieses die Lebensquelle bzw. das Leben selbst
symbolisiert und in solcher Symbolizität immer schon in der
Gefahr steht, eschatologisch oder apokalyptisch suspendiert zu
werden. Das Leben will sich selbst in der unverstellten und
unmittelbaren Transparenz seiner selbst „haben“. Im Symbol des
Lebens liegt damit immer schon die eschatologische Tendenz zu
seiner Selbstaufhebung. Das Leben drängt zu einer unmittelbaren
Intuition, mit der es den Prozeß der unendlichen Vermittlung
durch das Symbol durchbricht. Wenn Bergson Metaphysik bestimmt
als „den Bruch mit den Symbolen“, so formuliert er damit nicht
seine private metaphysische Ansicht, sondern das metaphysische
Wesen des Lebens selbst, das im Sabbatianismus sowohl seinen
spezifisch jüdischen als auch seinen spezifisch politisch-
theologischen Ausdruck erhält.
Scholem betont gerade diese Tendenz zur Selbstaufhebung des
Symbols im Sinne einer inhärenten eschatologisch-
apokalyptischen Tendenz, die auf die Aufhebung der symbolischen
172
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Distanz drängt. Er spricht geradezu von einer im religiösen
jüdischen Leben angelegten „Verführung“, die das von Halacha
und Philosophie errichtete Tabu gegen die messianische
Unmittelbarkeit, gegen einen aus solcher Unmittelbarkeit
folgenden Aktivismus zu durchbrechen sucht.383 Die spezifische
Qualität der Verführung rührt dabei auch von der Tatsache her,
daß das Messianische in der illusorischen Gestalt sich
gleichsam als Fata Morgana einer idealen Realisierung des
Lebens darstellt.
Dieser Projektion des Besten im Menschen auf seine Zukunft,wie sie gerade der jüdische Messianismus in seinen utopischenElementen so gewaltig herausstellte, wohnt die Verführung zurAktion, der Aufruf zum Vollzug inne.384
Die Deutung der sabbatianischen Krise des Lebens in ihrer
ganzen restaurativen Tiefendimension vornehmen, heißt so
zunächst, diese Tendenz des Symbols zur Selbstsuspension
ihrerseits symbolisch zu kodifizieren. Eine solche 383 Vgl. den Abdruck eines Briefes von Scholem an Salman Schocken von 1937: „Denn der Berg, das Korpus der Dinge, bedarf gar keines Schlüssels; nur dieNebelwand der Historie, die um ihn hängt, muß durchschritten werden. Sie zudurchschreiten – daran habe ich mich gemacht.“ (Biale, Gershom Scholem. S. 215) Scholem erklärt dem großen Verleger nicht nur seine Absicht, die „Metaphysik der Kabbala zu schreiben“, sondern inszeniert geradezu diese Metaphysik als Verführung zum Durchbruch. In diesem Sinne scheint mir Scholems „Schreiben“ nicht im Sinne einer postmodernen „écriture“ darstellbar, wie dies Daniel Weidner (Gershom Scholem: Politisches, esoterisches und historiographisches Schreiben, München 2003) vorschlägt, sondern eher wie ein Schreiben um dieses offene Problem der Gestalt der Gestaltlosigkeit herum, also als Akzeptanz der Unüberschreitbarkeit des Symbols und des Überschreitungsversuchs zugleich. Die metaphysische Problematik wird zu derdes Schreibens, das diese einzuholen versucht (ist).384 Scholem, „Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum“, S. 33 f. Zur Unterscheidung von Mystik und Messianismus bei Scholem vgl. Josef Dan, „Gershom Scholem and Jewish Mysticism“, in: Paul Mendes-Flohr (Hrsg.), Gershom Scholem. The Man and his Work, New York 1994, S. 74: „By treating each asan individual historical and cultural form, and by analysing their seperatehistorical development Scholem showed that each is an independent element of Jewish spiritual life.“ Die Pointe der Unterscheidung liegt freilich darin, zu zeigen, daß diese Differenz mit der lurianischen Kabbala und dannim Sabbatianismus aufgehoben wird (ebd., S. 77 ff.).
173
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Symbolisierung der spezifisch apokalyptischen Funktionsweise
des Symbols ortet Scholem immer wieder in der kabbalistischen
Symbolik selbst. So sei dieser Tatbestand vorbildlich etwa in
dem Symbol von den beiden paradiesischen Bäumen symbolisch
formuliert.
Diese Symbole sind der Baum des Lebens und der Baum derErkenntnis oder des Wissens von Gut und Böse, der, weil seineFrucht den Tod mit sich trägt, auch der Baum des Todes heißt.Diese Bäume beherrschen jeweilig den Stand der Welt, sei esder Schöpfung überhaupt, sei es der Tora als des siedurchwaltenden und bestimmenden göttlichen Gesetzes. ImZentrum des Paradieses stehend, höhere Ordnungenrepräsentierend, beherrschen sie dort vielmehr als dasparadiesische Dasein allein. Seit Adams Fall ist die Weltnicht mehr vom Baum des Lebens regiert, wie es ihreursprüngliche Bestimmung war, sondern vom Baum derErkenntnis. Der Baum des Lebens stellt die reine,ungebrochene Macht des Heiligen dar, die Ausbreitung desgöttlichen Lebens durch alle Welten und die Kommunikation, inder alles Lebendige mit seinem göttlichen Ursprung steht. Inihm gibt es keine Beimischung des Bösen, keine Schalen, diedas Lebendige eindämmen und ersticken, keinen Tod und keineBeschränkung. Seit Adams Fall aber […] ist die Welt vomMysterium des zweiten Baumes beherrscht, in dem Gut und Böseihre Stelle haben. Daher gibt es unter der Herrschaft diesesBaumes in der Welt geschiedene Sphären, die des Heiligen unddes Profanen, des Reinen und des Unreinen, des Erlaubten unddes Verbotenen, des Lebendigen und des Toten, des Göttlichenund des Dämonischen. […] In der messianischen Erlösung aberbricht der volle Glanz des Utopischen wieder hervor […]. Ineiner Welt, in der die Macht des Bösen gebrochen ist,verschwinden auch all jene Scheidungen, die sich aus seinerNatur herschreiben. In einer Welt, in der nur noch das reineLeben waltet, haben die Verfestigungen des Lebensstromes,seine Verkürzungen im Äußerlichen und in Schalen keineGeltung und keinen Sinn mehr.385
Unübersehbar ist zunächst auch hier die Parallele zwischen der
Rhetorik der Lebensphilosophie und der der kabbalistischen
385 Ebd., S. 149 f.174
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Mystik, wie sie Scholem hier in der Begrifflichkeit des Lebens
rekonstruiert. Der Satz: „In einer Welt, in der nur noch das
reine Leben waltet, haben die Verfestigungen im Äußerlichen und
in Schalen keine Geltung und keinen Sinn mehr“ könnte so
jedenfalls in der Tat in einem lebensphilosophischen Traktat
von Georg Simmel stehen. Man könnte noch andere von den
sabbatianischen Mystikern messianisch eingesetzte, klassisch
kabbalistische Symbole zitieren. In all diesen Symbolen geht es
um die Kodifizierung der utopischen Tendenz des Symbols, sich
selbst aufzuheben. Der Sinn all dieser „Metasymbole“ liegt
damit sowohl in der Bezeichnung der dem Symbol inhärenten
utopischen Tendenz zur Selbstsuspension, als auch in der
Warnung vor dieser dem Symbol innewohnenden Tendenz, mit der
die mystische Kompetenz absolut und destruktiv überschritten
wird.
IV Von der Gnosis zur Ethik des Symbols
Enthält die utopische Grammatik des Symbols aber einen
spezifischen symbolischen Code der Auflösung des Symbols, so
ist diese Struktur des Symbols, zumal des Symbols des Lebens,
ontologisch in der Seinsweise Gottes, und das heißt
religionsgeschichtlich, in der mystischen Gnosis des Judentums
verankert, die Gott in der Doppelform von Wesen und Existenz,
vom Grund aller Symbolizität und seiner realen, symbolisch
artikulierten Erscheinung beschreibt. Ist aber diese mystische
Gnosis der eigentliche Grund für die Katastrophe des mystischen
Lebens im Sabbatianismus, so wird sie potentiell, also aus der
175
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
postsabbatianischen Perspektive zu der Bedingung der
Möglichkeit nicht nur aller Symbolizität, sondern, insofern das
Symbol an sich nicht überschreitbar ist (ohne destruktiv sich
zu entladen), zu der durchaus positiven Bedingung eines
symbolischen Pluralismus, dessen fundamentaler Sinn ein
ethischer ist. Die gnostische Verdopplung Gottes in Wesen und
Erscheinung als ontologischer Grund der semiotischen Differenz
zwischen Zeichen und Bezeichnetem ist damit die permanente
reelle Gefahr, die zugleich immer schon die Möglichkeit einer
Rettung enthält. Scholems Kabbala der symbolischen Formen
setzt, indem sie die historischen, strukturellen, ontologischen
und semiotischen Bedingungen der Katastrophe und Destruktion
jüdischer Lebensordnung über die Analyse des Sabbatianismus
freilegt, zu einer positiven Reinterpretation dieser Krise an,
die die Destruktion selbst positiv messianisch wenden wird.
Gnosis bedeutet aus der Perspektive des kritischen Bewußtseins
von der Funktionsweise des Symbols, daß erstens, insofern jedes
Symbol Gottes Wesen zugleich ent- und verhüllt, jedes Symbol
prinzipiell legitim ist und daß es zweitens, insofern jede
Autorität prinzipiell eine Autorität ist, die auf Deutung
beruht, keine Autorität im klassischen Sinne mehr gibt, daß
also jede symbolische Autorität prinzipiell legitim ist. Damit
aber läßt sich die Gnosis hier als Voraussetzung für eine
radikale pluralistische Ethik auffassen, die die orthodoxe
Lebensform mit all den jüdischen Lebensformen vom konservativen
und Reformjudentum bis zum jüdischen Säkularismus im Sinne
eines Ensembles legitimer Lebensformen nebeneinanderstellt,
ohne deren Differenzen zu leugnen und ohne daß einer dieser
176
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Deutungen ein dominanter Status zukommen könnte.386 Wenn so die
sabbatianische Katastrophe die symbolische Dimension aller
Mystik und Theologie unverrückbar zu Bewußtsein bringt und
damit die gnostische Grundlage der jüdischen Mystik freilegt,
so können beide – Gnosis und Symboltheorie – zu einer positiven
Grundlage der jüdischen Moderne im Sinne einer Rettung jener
Werte der Aufklärung werden, die als Instrument bürgerlicher
Herrschaft und vor allem als Politik, die die jüdische
Individualität durch das universale Gesetz zu vernichten droht,
durch die Rückbindung an die verborgene Dimension des Lebens
zunächst negiert werden sollten. Der Protest des jüdischen
Lebens war als „Aufstand gegen das Gesetz“ zunächst gerade
gegen die Gesetzeslehre der Aufklärung und der liberalen Kultur
gerichtet und lieferte den anarchisch-destruktiven Impetus für
die jüdisch-nationale Selbstbesinnung. Aber dieser Impetus
sollte nicht nur destruktiv wirksam werden, er bedurfte wie die
radikale Lebensphilosophie einer Reintegration des verdrängten
und verborgenen Lebens in die Form – durch eben die Form, das
Gesetz und vor allem das Symbol –, von der her der „Aufstand
gegen das Gesetz“ zu einer dialektischen Aufhebung des Lebens
im Gesetz führen konnte, die dem Leben nunmehr seine
spezifische Gesetzlichkeit im Ensemble der anderen Lebensformen
und Lebensgesetze einräumt und zuweist. Voraussetzung für diese
Reformulierung des Gesetzes als individuelles Gesetz ist
386 Es wäre zu überlegen, inwieweit Scholems Deutung der kabbalistischen Gnosis nicht auch als eine Position in der Diskussion über die Legitimität der Neuzeit sich auffassen läßt, wie sie in Blumenbergs Die Legitimität der Neuzeit gegen Voegelins Gnosisverdacht (The New Science of Politics) formuliert wird. Vgl. Taubes, Gnosis und Politik. In jedem Fall läuft Scholems Theorie der jüdischen Gnosis auf eine mögliche Rettung der Gnosis für die Moderne hinaus, die also nicht zu überwinden, sondern nur anders zu interpretieren wäre.
177
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
allerdings die Zerstörung der absoluten Autorität, sei sie
halachisch (Moses) oder messianisch (Zwi).
Die Kabbala der symbolischen Formen als eine jüdische
Fortsetzung der Aufklärung auf der Grundlage der Dialektik von
Leben und Form ist in ihrem Kern eine durch das Symbol
begründete Ethik, die sowohl die Idee einer Vollendung von
Geist und Kultur in der Geschichte, wie sie Hegel denkt, wie
auch die absolute Liquidation von Geist und Kultur radikal
verwirft. In dieser Zwischenstellung zwischen einer
Verabsolutierung der Form und des Geistes einerseits und der
Verabsolutierung des Lebens andererseits erinnert Scholems
Kabbala der symbolischen Formen auch hier an die spezifische
Symbolethik, wie sie für Ernst Cassirers Denken
charakteristisch ist und wie sie sich für den Philosophen des
Symbols in einmaliger Weise in der rationalen Mystik des
Nikolaus Cusanus kristallisiert hat – als die dem Leben eigene
notwendige Selbstbegrenzung und Offenheit für die andere
Lebensform.
Der Glaubensinhalt selbst ist, soweit er immer und notwendigmenschlicher Vorstellungsinhalt ist, zur „conjectura“geworden: er untersteht der Bedingung, das Eine Sein und dieEine Wahrheit nur in der Form der „Andersheit“ aussprechen zukönnen. Dieser Andersheit, die in der Art und im Wesen dermenschlichen Erkenntnis selbst begründet ist, kann sich keineeinzelne Glaubensform entziehen. Jetzt tritt also nicht mehreiner allgemein-gültigen und einer allgemein-verbindlichen„Orthodoxie“ eine Fülle bloßer „Heterodoxien“ gegenüber;sondern die Andersheit, das heteron ist als das Grundmomentder doxa selbst erkannt. Die Wahrheit, die in ihrem An sichunangreifbar und unfaßbar bleibt, kann nur in ihrerAndersheit gewußt werden. […] Von dieser Grundansicht ausergibt sich für Cusanus eine wahrhaft großartige „Toleranz“,die aber alles andere als Indifferenz ist. Denn die Mehrheitder Glaubensformen wird jetzt nicht als ein bloßes
178
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
empirisches Nebeneinander geduldet, sondern sie wirdspekulativ gefordert und erkenntnistheoretisch begründet. Indem Dialog „De pace fidei“ erhebt einer der Abgesandten derVölker, ein Tartare, gegen die geplante Glaubensvereinigungden Einwand, daß sie angesichts des radikalen Unterschiedsnicht nur der theoretischen Grundanschauungen, sondern auchder Gebräuche und Sitten unvollziehbar sei. Kann es einengrößeren Gegensatz geben, als daß die eine Religion dieVielweiberei erlaubt, ja gebietet, die andere sie zumVerbrechen macht, – daß im christlichen Meßopfer der Leib unddas Blut Christi genossen wird, während eben dies jedemNicht-Christen, als Verschlingen und Verzehren desHeiligsten, fluchwürdig und abscheulich erscheinen muß? „Sobegreife ich nicht, wie in all diesem, was nach Ort und Zeitwechselt, sich je eine Einigung ergeben sollte: und, solangedies nicht geschieht, wird auch die Verfolgung kein Endenehmen. Denn die Verschiedenheit erzeugt Trennung undFeindschaften, Haß und Krieg.“ Aber gegen diesen Einwurf wirdnun von dem göttlichen Wort Paulus zur Entscheidungangerufen. Es muß gezeigt werden – so fällt er dieseEntscheidung – daß die Erlösung der Seele nicht nach ihrenWerken, sondern nach ihrem Glauben dargeboten wird; dennAbraham, der Vater aller Gläubigen, mögen sie nun Christenoder Araber oder Juden sein, glaubte an Gott und dies dientezu seiner Rechtfertigung. Hier fällt also jede äußereSchranke: anima justi haereditabit vitam aeternam. Nimmt mandies an, so bildet auch jene Verschiedenheit der Riten keinHemmnis mehr: denn alle Einrichtungen und Gebräuche sind nursinnliche Zeichen für die Wahrheit des Glaubens und nur dieseZeichen, nicht das Bezeichnete, unterliegt dem Wechsel undder Veränderung. […] Man sieht, wie der Kosmos der Religionenfür Cusanus dieselbe Nähe und Ferne zu Gott, dieselbeunverbrüchliche Identität und dieselbe unaufheblicheAndersheit, dieselbe Einheit und dieselbe Besonderungaufweist […].387
Auch für Scholem gilt dieses Prinzip symbolischer Einschränkung
und Offenheit für Andersheit. Doch ist das mystische Leben bei
Scholem auch und zuerst jüdisches Leben und ist damit im
Judentum zentriert, hat also eine primär nationale Dimension,
387 Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, S. 31 f. 179
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
die aus der Perspektive der Liquidierung eben dieser nationalen
und individuellen Dimension in der liberalen Kultur den
Ausgangspunkt bilden muß. Aber indem die messianische Dimension
des Lebens durch das Symbol „aufgehoben“, also sowohl bewahrt,
erhöht und überwunden wird, kann das im Symbol transformierte
Leben hier zur Grundlage zunächst einer nationalen Ethik
werden, die sich allerdings zugleich radikal offen für die
(nationale und religiöse) Andersheit hält. Damit aber ergibt
sich hier keine Ethik auf der Grundlage des jüdischen
Messianismus wie etwa bei Hermann Cohen oder Martin Buber,
sondern Scholem begründet seine Ethik aus der Neutralisierung
des Messianischen. Diese Neutralisierung ermöglicht zunächst
einen radikalen Pluralismus auf der nationalen Ebene, also
einen Pluralismus jüdischer Lebensformen, setzt aber diese
nationale Ebene ihrerseits als eine symbolische Deutungsebene,
die damit an sich selbst wieder eine Einschränkung darstellt,
die der Andersheit bedarf. Scholem unterscheidet so
folgerichtig zwischen einer jüdischen Binnenethik und einer
Ethik, die die jüdische Symbolsprache in das Ensemble der
anderen, potentiell einander widersprechenden religiösen
Symbolsprachen integriert. Zwischen beiden, innen und außen,
verläuft eine Grenze, deren Sinn zunächst in der unbedingten
Bejahung jüdisch-nationaler Existenz liegt. Diese bildet aber
in der Bejahung keinen Widerspruch zur universalen
Gesetzlichkeit der praktischen Vernunft, sondern deren
individuelle Ergänzung und Erfüllung. Die „Gestaltlosigkeit der
ursprünglichen Erfahrung“ ermöglicht also nicht nur die
Koexistenz des Divergenten im Binnenraum der jüdischen Kultur,
sondern interpretiert diesen Binnenraum der jüdischen Kultur
180
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
als eine religiöse Symbolform unter anderen, die auf Grund
ihrer eigenen Beschränkung die anderen Symbolformen, wie
Cassirer für Cusanus feststellt, einfordert. „Warum sieht
eigentlich ein christlicher Mystiker immer wieder christliche
Visionen und nicht die eines Buddhisten?“ fragt Scholem,
warum sieht ein Buddhist die Gestalten seines eigenenPantheons und nicht etwa Jesus oder die Madonna? Warum trifftein Kabbalist auf seinem Wege der Erleuchtung den ProphetenElias und keine Figur aus einer ihm fremden Welt? Die Antwortist natürlich, daß der Ausdruck ihrer Erfahrungen sich sofortin traditionelle Symbole aus ihrer eigenen Welt umsetzt, auchwenn die Objekte dieser Erfahrung im Grunde dieselben sindund nicht etwa […] wirklich im Grunde ganz verschiedene.388
Wenn aber in letzter Instanz die Symbole konvergieren, sich in
einer coincidentia oppositorum aufheben, so bedeutet das gerade
nicht, daß sie obsolet werden und durch eine Metasprache der
Vernunft ersetzt werden könnten, sondern sie stehen für den
besonderen Status traditioneller Lebensformen, die sich
allerdings als Deutungen „desselben“ wissen und einander in
offen kritischer Kommunikation begegnen können.
V Sabbatai Zwi als der Messias der jüdischen Moderne
Der Sabbatianismus öffnet sich aus der historischen
Perspektive, wie sie Gershom Scholem Schritt für Schritt
entwickelt, einer möglichen positiven Deutung, die nicht nur
die durch Sabbatai Zwi bewirkte Destruktion im Sinne einer
Restauration zu überwinden hofft; Sabbatai Zwi erweist sich
nicht nur als ein mögliches Indiz für den positiven Charakter 388 Scholem, „Religiöse Autorität und Mystik“, S. 26 f. Vgl. mein Buch Der häretische Imperativ, S. 150.
181
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
der Gnosis für die Moderne, sondern – dies wäre dann die
radikale Konsequenz aus den bisherigen Überlegungen zu Scholems
Kabbala der symbolischen Formen – er muß im Rahmen dieser
Rekonstruktion durchaus als der Messias der jüdischen Moderne
begriffen werden. Er ist allerdings, um mit dem Benjamin des
„Theologisch-politischen Fragments“ zu sprechen, der Messias,
der das (moderne) Judentum gerade von dem Messianischen befreit
und ihm damit eine neue Beziehung (auf der Grundlage der
symbolischen Theorie) zu diesem ermöglicht.389 In der Tat:
Bedenkt man, daß und wie oft Scholem darauf hinweist, daß das
Absolute an sich, das reine Leben, die messianische Vitalität
etc. in der konkreten Realität von Geschichte und Politik nur
destruktiv wirken kann, daß das Messianische zwar die
Verführung des Lebens schlechthin ist, zugleich sich aber nur
in der Zerstörung darstellen kann, dann allerdings ist das
Erlösungs- als Zerstörungswerk des Sabbatai Zwi nicht nur
exemplarisch für die Aporie des messianischen Lebens. Gerade
weil Sabbatai Zwi, anders als die sogenannten Pseudo-Messiasse
vor ihm – Bar Kochba, David Alroy und andere – keine rein
politisch-theologische Befreiungstat beging, sondern das
metaphysisch-theologische Wesen aller messianischen Befreiung
inszeniert hat, kann sich an ihm sozusagen ein für allemal
erhellen, daß das Messianische keine reale Möglichkeit
jüdischer Existenz und Politik darstellt. Im Gegensatz zu
Scholems vehementem Insistieren, daß das Messianische im
Judentum anders als im Christentum eben ein öffentliches und
389 Benjamin, „Politisch-theologisches Fragment“, S. 203. Damit hätte BaruchKurzweil, BaMaavak al Arkenu HaJehudiim, Jerusalem 1969, recht, wenn er Scholem für einen Sabbatianer hält, der selber die Konjunktion von Sabbatianismus und Zionismus vertritt, nur eben in dem negativen Sinn, daß Sabbatai Zwi die Erlösung vom Messianischen bezeichnet.
182
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
historisches Ereignis sei, ist die ganze restaurative Energie
seiner Forschungsarbeit auf die Gegenthese hin angelegt, daß
das Messianische als öffentlich-politisches Ereignis die
Katastrophe kat exochen bedeutet.390 Das Zerstörungswerk des
Sabbatai Zwi erhält aus der Perspektive der symbolisch-
metaphysischen Restauration damit allerdings den positiven Sinn
einer notwendigen, im Wesen der mystischen Theologie angelegten
Zerstörung, die aus der Perspektive rückblickender Erinnerung
zugleich als „Heilung“ von aller messianischen Politik zu
begreifen ist. Sabbatai Zwi wird in Gershom Scholems Theorie
der Kabbala, die alle Formen sabbatianischer Theologie von
Nathan von Gaza bis Abraham Cardoso kennt, zum Messias, dessen
Funktion aber in der Befreiung von dem Messianischen liegt. Es
ist gleichsam die List der symbolischen Vernunft der Kabbala,
die dieses Zerstörungswerk in ein solches – vom Messias aus
gesehen – unbewußtes Werk der Heilung zu transformieren vermag.
Damit aber soll die Zerstörungstat in ihrem fundamentalen
Scheitern zum Zeichen und Symbol der Unmöglichkeit des
Messianischen in der realen Geschichte werden. Sie wird zum
zweiten Ereignis einer Zerstörung des Tempels, nämlich des
Tempels der Moderne, die in dem politischen Messianismus
beziehungsweise der politischen Theologie der Realisierung des
Gottesreiches ihr eigenes Wesen behaupten will und es doch in
der Zerstörung immer wieder widerlegt. Da also, wo die
halachische Ordnung beziehungsweise das durch die jüdische
Philosophie des Mittelalters errichtete Tabu gegen jeden
Messianismus in Gefahr gerät, da, wo jene exilarische
390 Vgl. Gershom Scholem, „Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum“. Hierzu Taubes, „Der Preis des Messianismus“, in: ders., Vom Kult zur Kultur.
183
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Lebensordnung nach der Zerstörung des Tempels durch einen
mystischen Geist des Messianismus bedroht ist, da gilt es nun
nach der sabbatianischen Destruktion, eine neue Ordnung zu
schaffen, die nicht nur, wie die symbolische Lebensform, eine
eigene moderne Tragfähigkeit besitzt, sondern es gilt, im Drama
des Sabbatai Zwi die Zerstörung des Messianismus als Symbol zu
kommemorieren, das somit – wie der zerstörte Tempel von 70 nach
Christus – als unmißverständliches Warnzeichen die Restauration
des Lebens kodifiziert.391 Die neue symbolische Lebensordnung,
die die halachische Lebensordnung ersetzt, bedarf ihres eigenen
Gründungssymbols, das diese Ordnung vor ihrer Zerstörung
schützen soll.
Damit steht Gershom Scholems „Kabbala der symbolischen
Formen“ für eine nachmoderne politische Theologie des
Judentums, die im Symbol dieses ultimativen Scheiterns aller
messianischen Aktion diejenige politische Theologie der Moderne
verabschiedet, die auf der Theorie und Praxis einer historisch
aktiven Transformation des Gottesreiches auf Erden beruht. Mit
dem sabbatianischen Symbol der Zerstörung, das im Prinzip
symbolisch errichtet wird, um den Kosmos der Symbole
funktionsfähig zu machen, das heißt für eine symbolische Ethik
zu öffnen, wird Scholems Theorie selbst zu einer Theologie des
391 Vgl. Nahum Norbert Glatzer, Geschichte der talmudischen Zeit, Berlin 1937, S. 31: „Der messianische Glaube an die Errichtung des Gottesstaates verhieß nicht eine Erhebung des Menschen über sein irdisches Werk, und hob die Pflicht des Menschen, den Boden zu bearbeiten, nicht auf. Das Haupt der Lehre in Jawne, R. Jochanan Ben Sakkai, lehrte: ‚Wenn du deinen Setzling inder Hand hältst und man sagt dir, der Messias sei gekommen, so pflanze zuerst den Setzling ein und gehe dann, den Messias zu empfangen.‘“ Glatzer zeigt an diesem und vielen anderen Beispielen den Zusammenhang zwischen demScheitern der politischen und messianischen Erhebungen gegen Rom und der Entwicklung des Lehrhauses.
184
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Sabbatianismus, und das heißt zum Ausgangspunkt einer radikalen
Kritik des politischen Messianismus der (jüdischen) Moderne.
Im Unterschied zur halachischen Kultur und vor allem zur
mittelalterlichen Philosophie, etwa des Maimonides, die den
Messianismus so weit wie möglich zurückzudrängen suchten, sei
es eben das Charakteristikum der jüdischen Moderne und vor
allem der modernen jüdischen Philosophie, diesen politischen
Messianismus nicht nur nicht zu neutralisieren, sondern ihn
utopisch zu radikalisieren.
Diese [Maimonidessche] rationale Einschränkung desMessianischen auf die restaurativen Momente an ihm liegt nun,wie zu betonen ist, keineswegs im Wesen der rationalistischenTendenzen im Judentum überhaupt. Sie findet vielmehr nur inderen mittelalterlichen Formen statt, und es besteht hier eintiefer Unterschied zwischen dem mittelalterlichen und demneuzeitlichen Rationalismus, der gegenüber naheliegendenVerwischungstendenzen festgehalten werden muß. Denn gerade indem Maß, in dem der Rationalismus der jüdischen undeuropäischen Aufklärung die messianische Idee einer immerfortschreitenden Säkularisierung unterwarf, befreit er sichvon dem restaurativen Element. Im Gegenteil, er betont dasutopische Element, wenn auch auf eine ganz neue, demMittelalter fremde Weise. Der Messianismus geht dieVerbindung mit der Idee des ewigen Fortschritts und derunendlichen Aufgabe einer sich vollendenden Menschheit ein.Dabei wird im Begriff des Fortschritts selber ein nicht-restauratives Element ins Zentrum der rationalen Utopiegerückt. Je stärker die nationalen und historischen Elementeder messianischen Idee dabei einer rein universalistischgerichteten Interpretation gegenüber in den Hintergrundtreten, verlieren auch die restaurativen Momente ihr Gewicht.Hermann Cohen, gewiß ein so vornehmer Repräsentant liberal-rationalistischer Umdeutung der messianischen Idee imJudentum, wie man ihn nur denken kann, ist zugleich, und zwaraus den eigenen Antrieben seiner Religion der Vernunft her,
185
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
ein echter und ungehemmter Utopist, der das Restaurativevöllig liquidieren möchte.392
Die jüdische Moderne ist hier nur ein exemplarischer Fall der
europäisch-christlichen Moderne, deren Spezifikum in der
Konstruktion einer innerweltlichen Eschatologie, eines
politischen Messianismus liegt, der „hier auf Erden schon das
Himmelreich errichten“ will. Es ist die vor allem seit der
Aufklärung, also seit Gotthold Ephraim Lessing spezifische
Modernität der Moderne, daß sie „das Theologische“ ins
„Politische“ (zurück-)projiziert und damit die apokalyptische
Phantasie vom Reich Gottes politisch-theologisch
rationalisiert. Die apokalyptische Vorstellung des Joachim di
Fiori von einem dritten Reich des heiligen Geistes, mit dem die
Geschichte sich vollendet, wird im Zuge häretischer Deutungen
im Christentum zu einem dritten Reich in der Geschichte, in dem
der symbolische Gehalt der Verheißung in der Realität erfüllt
und damit das Symbol suspendiert wird. Die Moderne als
mystische Häresie erscheint in beiden Kontexten der Moderne –
jüdisch und christlich – als Säkularisierung ihrer
apokalyptischen Utopie im Sinne einer innergeschichtlichen
politischen Theologie. Scholem selbst weist auf die Parallele
zwischen der jüdischen antinomistischen Mystik des Raja Mehemna
und dem Encharidion in Apocalypsim des Joachim di Fiori hin, um die
häretische Adoption beider Texte in ihrer Bedeutung für die
Moderne hervorzuheben, namentlich bei den spirituellen
Franziskanern und den Sabbatianern.
Was sich in dem großen Ausbruch des spiritualistischenMessianismus abspielte, in dem sich der radikale Flügel der
392 Scholem, „Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum“, S. 153 f.Vgl. Dan, „Gershom Scholem and Jewish Mysticism“.
186
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
sabbatianischen Bewegung erging, weist auffallende Parallelenzu der Weiterentwicklung der Lehren des Joachim di Fiori auf,als die radikalen Spiritualen des Franziskanerordens sie inder Mitte des 13. Jahrhunderts übernahmen. Was Joachim unterdem „Ewigen Evangelium“ verstand, fällt im wesentlichen mitdem zusammen, was bei den Kabbalisten Tora de Aziluth hieß.Joachim meinte, daß in diesem Evangelium Aeternum dermystische Sinn der Schrift in einem neuen Zeitalter desGeistes offenbart werden würde und an die Stelle desWortsinns des Evangeliums zu treten bestimmt sei. Genau dasist es, was für die Kabbalisten vor der sabbatianischenBewegung mutatis mutandis der Begriff der Tora de Aziluthdarstellte.393
Scholem erkennt also in beiden Grundtexten der antinomistischen
Mystik die theologische Voraussetzung für deren messianische
Adoption durch eine Moderne, die die radikale apokalyptische
Diskontinuität und Differenz von realer Geschichte und
Erlösung, von Politik und Religion, wie sie für das Mittelalter
noch typisch war, im Sinne einer Kontinuität und Identität
aufhebt.
Es ist ja gerade die Übergangslosigkeit zwischen der Historieund der Erlösung, die bei den Propheten und Apokalyptikernstets betont wird. Die Bibel und die Apokalyptiker kennenkeinen Fortschritt in der Geschichte zur Erlösung hin. DieErlösung ist kein Ereignis innerweltlicher Entwicklungen, wieetwa in den modernen abendländischen Umdeutungen desMessianismus seit der Aufklärung, wo noch in seinerSäkularisierung im Fortschrittsglauben der Messianismus seineungebrochene und ungeheure Macht beweist. Sie ist vielmehrein Einbruch der Transzendenz in die Geschichte, einEinbruch, in dem die Geschichte zugrunde geht, in diesemUntergang sich freilich wandelnd, weil von einem Lichtbetroffen, das von ganz woanders her in sie strahlt.394
In der Identifizierung von Gottesreich und Kultur, von
Theologie und Politik liegt nicht nur das Wesen der Moderne und
393 Gershom Scholem, „Der Sinn der Tora in der jüdischen Mystik“, in: ders., Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Zürich 1960, S. 113.394 Scholem, „Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum“, S. 133.
187
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
ihrer politischen Theologie, in ihr bestimmt sich auch für
Scholem nun ihrerseits das durch die Moderne vorläufig nicht
und noch nicht durchschaute katastrophale Wesen ihrer
Utopie(n). Die Lebensphilosophie der zwanziger Jahre, ob sie
nun mit Nietzsche die dionysische Dimension oder mit Bakunin
die anarchische Dimension hervorhebt, ist gerade, weil sie sich
der Notwendigkeit einer radikalen Destruktion bewußt zu werden
beginnt, die Artikulation des verborgenen Wesens der
politischen Theologie der Moderne und damit in der Tat und für
das reflexive Bewußtsein der Umschlag des realpolitischen
Messianismus in eine realhistorische Apokalypse im Sinne von
Katastrophe und Destruktion. Ist es Zufall, daß Scholem gerade
im Kontext seiner Überlegungen zum Verführungscharakter
messianischen Handelns die Legende von Rabbi Josef de la Reyna
in Erinnerung ruft? In dieser Legende ist
die Erlösung nur noch auf das Durchstoßen eines letztenHindernisses konzentriert, das von Magie bewältigt werdensoll und eben darin scheitern muß. Die Legende von dem großenMagier und Kabbalisten, der Sammael, den Teufel fesselt unddamit die Erlösung bringen könnte, wenn er ihm dabei nichtselbst verfallen wäre, ist eine großartige Allegorie auf allesolche „Bedrängung des Endes“. An solchen Josef de la Reynashat es in der jüdischen Wirklichkeit nie gefehlt, gleich obsie nun anonym geblieben sind, in irgendeinem Winkel desExils versteckt, oder unter Preisgabe ihrer Identität undÜbersteigerung ihrer eigenen Magie in die Weltgeschichtegesprungen sind. Dieser messianische Aktivismus liegtübrigens in jener merkwürdigen Doppellinie der gegenseitigenBeeinflussung von Judentum und Christentum, die mit innerenEntwicklungstendenzen beider Religionen Hand in Hand geht.Der politische und chiliastische Messianismus bedeutenderreligiöser Bewegungen innerhalb des Christentums erscheintoft als eine Widerspiegelung eines eigentlich jüdischenMessianismus.395
395 Ebd., S. 140.188
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Die Legende von Josef de la Reyna ist offenbar eine
allegorische Version der politisch-theologischen Phantasie der
Moderne, die die Gründung des Gottesreiches an die Überwindung
des Bösen knüpft, mit deren Scheitern sich denn auch die
Gründung des Gottesreiches notwendig in die Herstellung der
politischen Hölle verkehrt. Lessings großer Entwurf der
modernen politischen Theologie des dritten Reiches, das das
nunmehr vernünftige Subjekt in der Geschichte begründen soll,
ist an eben diese Überwindung der Sünde und des Bösen
gebunden.396 Apokalyptisch gesprochen kann das Himmelreich erst
dann auf Erden errichtet werden, wenn die Macht des Bösen, wenn
der Teufel für tausend Jahre in Fesseln gelegt werden kann. Das
Ereignis, das im 21. Kapitel der Johannesapokalypse berichtet
wird – „Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott
her aus dem Himmel herabkommen“ –, bedarf in der Apokalypse
bekanntlich des Akts, den das 20. Kapitel als Fesselung des
Teufels beschreibt:
Dann sah ich einen Engel vom Himmel herabsteigen; auf seinerHand trug er den Schlüssel zum Abgrund und eine schwereKette. Er überwältigte den Drachen, die alte Schlange – dasist der Teufel oder der Satan – und er fesselte ihn fürtausend Jahre.
Negativ gewendet heißt das, daß die moderne politische
Theologie, die in ihrem Wesen die Apokalypse säkularisiert, an
der Macht der Sünde scheitern muß, die den kontinuierlichen Weg
von der Geschichte zur Erlösung, von der Politik zur Theologie
verstellt. Realgeschichtlich äußert sich diese Macht des Bösen
in der Destruktivität des Messianischen und bestätigt so immer 396 Vgl. hierzu die Bemerkungen von Jürgen Moltmann, Gott im Projekt der modernen Welt. Beiträge zur öffentlichen Relevanz der Theologie, Gütersloh 1997, S. 20; aber auch Löwith, Weltgeschichte als Heilsgeschehen; Voegelin, The New Science of Politics; Taubes, Abendländische Eschatologie; Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit.
189
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
wieder seine Unüberwindlichkeit und damit die Schranke zwischen
Geschichte und Erlösung, Theologie und Politik und damit die
Unmöglichkeit der modernen politischen Theologie im Ganzen.
Scholems Theorie des Symbols erscheint von hier aus als der
gezielte Versuch, durch die Tiefendimension dieser
messianischen Katastrophe hindurch die Moderne, das heißt vor
allem die jüdische Moderne, in ihrem messianischen Utopismus so
zu überwinden, daß das Symbol an die Stelle einer jeden
politisch-theologischen Unmittelbarkeit und Präsenz rückt. Das
Symbol steht damit immer schon für den Aufschub dieser
politisch-theologischen Präsenz. Es ist in seiner
Funktionsweise als Symbol eben immer schon auch Symbol für die
Nichtpräsenz des Absoluten. Indem es sich auf Präsenz bezieht
und diese verschiebt, ermöglicht es aber die ethisch-
pluralistische Ordnung der Vielfalt der Symbolordnungen, die an
die Stelle der halachischen Lebenswelt tritt. Scholems Theorie
des kabbalistischen Symbols verständigt sich so nicht nur mit
Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, sondern
vor allem mit derjenigen nach-modernen christlichen Theologie,
die wie etwa bei Karl Barth und Erik Peterson die Krise der
Moderne in eben diesem innergeschichtlichen politischen
Messianismus erkennt und entgegen dieser modernen Intention die
theologisch-politische Präsenz auf jene klassische
Gründungsfigur christlicher Theologie zurückführt, die für den
Aufschub des Endes steht. Gemeint ist der „Katechon“, jene
rätselhafte Figur des Aufhalters, der im zweiten Brief des
Paulus an die Thessaloniker (Kap. 2,2 ff.) erwähnt und
spätestens seit Augustinus zu dem Prinzip erhoben wird, das,
weil es für den Aufschub des Endes steht, Staat und Kirche in
190
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
ihrer real existierenden Form als konservierende Kräfte
legitimiert. Scholems implizite Theologie des kabbalistischen
Symbols ist in diesem Sinne „katechontisch“, auch wenn Scholem
nicht nur in jeder messianischen Politik, sondern gerade auch
in der Politik des Aufschubs des messianischen Handelns, wie
sie die Galut bestimmt hat, eine radikale Problematik entdeckt.
Ich will zum Abschluß dieser Erörterungen noch ein Wort übereinen Punkt sagen, der bei Diskussionen über die messianischeIdee […] entschieden zu kurz gekommen ist. Ich meine damitden Preis des Messianismus, den Preis, den das jüdische Volkfür diese Idee, die es der Welt geschenkt hat, aus seinerSubstanz hat bezahlen müssen. Die Größe der messianischenIdee entspricht der unendlichen Schwäche der jüdischenGeschichte, die im Exil zum Einsatz auf der geschichtlichenEbene nicht bereit war. Sie hat die Schwäche des Vorläufigen,des Provisorischen, das sich nicht ausgibt. Denn diemessianische Idee ist nicht nur Trost und Hoffnung. In jedemVersuch ihres Vollzugs brechen die Abgründe auf, die jedeihrer Gestalten ad absurdum führen. In der Hoffnung leben istetwas Großes, aber es ist auch etwas tief Unwirkliches. Esentwertet das Eigengewicht der Person, die sich nie erfüllenkann, weil das Unvollendete an ihren Unternehmungen geradedas entwertet, was ihren zentralen Wert betrifft. So hat diemessianische Idee im Judentum das Leben im Aufschub[Hervorhebung C. S.] erzwungen, in welchem nichts inendgültiger Weise getan und vollzogen werden kann. Diemessianische Idee ist die eigentliche anti-existentialistische Idee. Es gibt, genau verstanden, jenesKonkrete gar nicht, das von nichterlösten Wesen vollzogenwerden könnte. Das macht die Größe des Messianismus aus, aberauch seine konstitutionelle Schwäche. Die jüdische sogenannteExistenz hat das Gespannte, niemals sich wahrhaft Entladende,das nicht Ausgebrannte an sich, das, wo es sich in unsererGeschichte entlädt, mit einem törichten Wort dann als Pseudo-Messianismus verschrien, oder sollte man sagen, entlarvtwird. Die […] brennende Landschaft der Erlösung hat denhistorischen Blick des Judentums wie in einem Brennpunkt aufsich gesammelt. Es ist kein Wunder, daß die Bereitschaft zumunwiderruflichen Einsatz aufs Konkrete, das sich nicht mehrvertrösten lassen will, eine aus Grauen und Untergang
191
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
geborene Bereitschaft, die die jüdische Geschichte erst inunserer Generation gefunden hat, als sie den utopischenRückzug auf Zion antrat, von Obertönen des Messianismusbegleitet ist, ohne doch – der Geschichte selber und nichteiner Metageschichte verschworen – sich ihm verschreiben zukönnen. Ob sie diesen Einsatz aushält, ohne in der Krise desmessianischen Anspruchs, den sie damit mindestens virtuellheraufbeschwört, unterzugehen – das ist die Frage, die ausder großen und gefährlichen Vergangenheit heraus der Jude anseine Gegenwart und seine Zukunft hat.397
Während alle Indizien darauf hinweisen, daß Scholem auch hier,
wo er den Messianismus würdigt, die „Schwäche des Vorläufigen,
des Provisorischen, das sich nicht ausgibt“, der „Größe der
messianischen Idee“ in jedem Fall vorzieht, ja auch hier
feststellt, daß „es jenes Konkrete gar nicht gibt, das von
nichterlösten Wesen vollzogen werden könnte“, so bezieht sich
diese Ambivalenz hier offenbar auf die Einsicht in die
messianische, das heißt politisch-theologische Dimension des
Zionismus. Wenn dieser ohne jeden messianischen Anstoß kaum
hätte wirksam werden können, so steht er damit immer schon
unter dem Zeichen derselben politischen Theologie der Moderne,
die, sobald sie ihren Messianismus zu realisieren beansprucht,
die Katastrophe herbeiführt.
Scholems Ambivalenz gegenüber dem Messianischen ist hier also
Funktion der am Zionismus sich bewährenden Einsicht, daß dieser
selbst noch ganz der Moderne zuzurechnen ist, ja ihr sich
verdankt. Ihr hält er das Symbol von Sabbatai Zwi entgegen398, 397 Scholem, „Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum“, S. 166 f.398 Schon Theodor Herzl, Altneuland, Berlin 1902, S. 106 beschwört das Vorbilddes Messias Sabbatai Zwi, der, hätte er über das technisch-strategische Know-how verfügt, schon die politische Erlösung herbeigeführt hätte. Hugo Bergman, Jawne und Jerusalem, Berlin 1919, S. 47: „Während die Bewegung Sabbatai Zwi revolutionär und mutig genug war, die Verbote aufzuheben, Festtage in Freudentage zu verwandeln, am 9. Ab zu tanzen, drapierte der Zionismus nur die alten religiösen Symbole in nationale um. So hat nach Ansicht Bertoldis der Rabbinismus den Gedanken eines irdischen Judentums
192
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
als Warnung und Hoffnung zugleich, daß der Zionismus nicht an
seiner messianischen Dimension scheitern möge, sondern eben
diesen modernen Ursprung überwinde in einer nachmodernen
Ordnung des Aufschubs und der Nichtpräsenz. Nur wenn sich der
Zionismus in die Welt der Galut integriert, die er messianisch
beseitigen wollte, kann er dann wirklich den Weg in die
Geschichte finden. Als Erlöser vom Messianischen soll Sabbatai
Zwi den Weg in die reale Geschichte eröffnen, der durch seine
ungebrochen messianische Interpretation immer wieder verstellt
wird.
VI Zwischen Paulus und Sabbatai Zwi
Scholems Theorie des kabbalistischen Symbols stößt bei diesem
Versuch eines utopisch-symbolischen Rückzugs in die eigene
Tradition stets auf einen Grenzfall, der als der radikalste Typ
jüdisch-mystischer Souveränität, zugleich aber als die
Metonymie für die Überschreitung der national definierten
Legalität und Legitimität auftritt. In jedem Text, der das
Problem Sabbatai Zwi verhandelt, beschwört Scholem bekanntlich
unmittelbar daneben die mystische Autorität des Paulus. Um nur
ein Beispiel von vielen zu zitieren, heißt es etwa in dem Essay
über „Religiöse Autorität und Mystik“:
Ganz anders verhält es sich mit Paulus, dem hervorragendstenBeispiel eines revolutionären jüdischen Mystikers, das wirkennen. Paulus hat eine mystische Erfahrung, deren Deutungbei ihm zu einer völligen Sprengung des Rahmens der
verschlungen.“ Bergmann gibt hier die Meinung eines radikalen Zionisten wider, der den Sabbatianismus zum Modell für den Zionismus erheben will, keineswegs seine eigene Meinung.
193
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
überlieferten Autorität führt. Er ist nicht imstande, sie zubewahren; da er aber zugleich auf den Autoritätscharakter derHeiligen Schrift als solcher nicht verzichten will, muß ersie als zeitlich begrenzt und dadurch abrogierbar erklären.Eine rein mystische Exegese der alten Worte tritt an dieStelle des ursprünglichen Rahmens und begründet nun die neueAutorität, die aufzurichten er sich berufen fühlt. DerZusammenstoß des Mystikers mit der religiösen Autoritätvollzieht sich bei ihm mit voller Schärfe. Die unglaublicheGewaltsamkeit, mit der Paulus das alte Testament, wenn man sosagen dürfte, „gegen den Strich“ liest, zeigt nicht nur, wieunvereinbar seine Erfahrung mit der des Sinnes der altenTexte war, sondern auch, mit welcher konsequentenEntschlossenheit er darauf beharrte, sich, und sei es auchnur in rein mystischen Exegesen, die Rückbeziehung auf denheiligen Text nicht zu verbauen. Der Preis ist jenes Paradoxdes restlos aufgesprengten heiligen Textes, das den Leser derPaulinischen Briefe immer wieder erstaunt. Die neueAutorität, die aufgerichtet wird und der die PaulinischenBriefe selber nun zum Text dienen, ist revolutionärer Natur.Sie bricht von der im Judentum konstituierten fort, weil sieeine neue Quelle gefunden hat, aber sie investiert sich auchweiterhin mit einem Teil der Bilderwelt der nun ins reinSpirituelle aufgelösten alten Autorität.399
Paulus ist das „hervorragendste“ Beispiel eines revolutionären
jüdischen Mystikers einerseits, aber er „bricht von der im
Judentum konstituierten [Autorität] fort“. Der Vergleich mit
Sabbatai Zwi betrifft dessen mystische Autorität und verkehrt
sich in ein Mißverständnis, sobald der Messias und der Apostel
miteinander identifiziert werden. Paulus entspricht auf dieser
Ebene dem Nathan von Gaza, der das Auftreten des Sabbatai Zwi
messianisch interpretiert. Die Parallelisierung von Sabbatai
Zwi und Paulus in der Kabbala der symbolischen Formen erhält
dabei den Charakter einer Weichenstellung:
1) Sie hält an der Konfiguration von Moses und Sabbatai Zwi
fest, um das Problem der symbolischen Konstitution im Rahmen 399 Scholem, „Religiöse Autorität und Mystik“, S. 25.
194
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
einer wie weit auch immer definierten jüdischen Legitimität zu
verhandeln.
2) Die Konfiguration von Moses und Sabbatai Zwi dient bei
Scholem damit implizit dem Versuch, das Problem Paulus, besser:
die Herausforderung Paulus für das moderne Judentum, zu lösen.
Paulus, der Kritiker des halachischen Gesetzes, steht für
dessen messianische wie auch kosmopolitisch-universale
Aufhebung und symbolisiert damit gerade für das modern-säkulare
Judentum eine reale politisch-kulturelle Existenzform, die
allerdings „von der im Judentum konstituierten Autorität
fortbricht.“ Sabbatai Zwi steht dagegen für den Aspekt bei
Paulus, der sozusagen genuin jüdisch ist, aber er erlaubt eine
Integrationsstrategie, die Gesetzeskritik und Kosmopolitismus
in den jüdischen Kontext zurückbringt.
3) Mit der sabbatianischen Ausgrenzung des Paulus wird gerade
dessen Christologie verworfen. Zugleich aber wird diese
Strategie durch die Anerkennung des Sabbatai Zwi als Messias so
kompensiert, daß dieser mit der Destruktion das Judentum vom
Messianismus „erlöst“.
4) Damit aber rückt Scholem vom Historiker, der Gründe,
Wirklichkeit und Folgen der sabbatianischen Katastrophe
beschreibt, immer schon potentiell in die Rolle des Theologen
auf, der nun selber das messianische Ereignis Sabbatai Zwi
deutet und, indem er es historiographisch einordnen und
integrieren will, ihm die messianische Rolle der Heilung
zuspricht, allerdings in der Weise, daß der Sinn dem Messias
selbst verschlossen blieb. Die interpretatorische Figur, die
Scholem hier ins Spiel bringt, attestiert dem Messianischen
eine List der theologischen Vernunft, die das Gegenteil von dem
195
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
bewirkt, was sie bewirken will. Indem sie aber dieses Gegenteil
bewirkt, bestätigt sich die originäre Intention auf Heilung.
Sabbatai Zwi wird damit zur Inkarnation derjenigen nachmodernen
politischen Theologie, die Walter Benjamin in dem berühmten
Fragment als Akt beschreibt, der die Geschichte vom
Messianischen „erlöst“.
5) Sabbatai Zwi soll also das moderne Judentum nicht nur vom
Messianischen erlösen, sondern zugleich von der Paulinischen
Theologie und deren „Verführung“. Er befreit das moderne
Judentum zu seiner eigenen Säkularisation, zu einem Judentum,
das allerdings im Leiden – zumal nach den Grauen von Auschwitz
– keine Heilsperspektive entdecken kann. Damit wird auch die
Transposition des Kreuzestodes auf das kollektive Schicksal des
jüdischen Volkes, wie sie etwa Hermann Cohen vollzieht400,
absolut undenkbar.
6) Zuletzt bezeichnet der Name Paulus eine reale politisch-
theologische Gefahr, zumal Paulus in einer langen christlichen
Tradition, die aufgrund seiner Kritik des halachischen Gesetzes
beziehungsweise von deren Aufhebung durch die christliche Liebe
einen Antijudaismus lehrte und praktizierte, der oft die Grenze
hin zur Gnosis überschritt und das Judentum dämonisch
verzerrte. Paulus ist allerdings im Rahmen der Kulturkrise und
-tragödie, wie sie in der Lebensphilosophie der 1910 und 1920er
Jahre virulent wird, der Name für die große theologische
Revolution, die nicht nur das Problem von Gesetz und Leben zu
beantworten sucht, sondern potentiell in einen neuen
Antijudaismus umzuschlagen droht. Paulus als der Kritiker des
Gesetzes wird in diesen Jahren geradezu zur Metonymie der
400 Vgl. Cohen, Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, S. 311 ff.196
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
epochalen Krise des Lebens, das durch Gesetz und Form sich von
sich selbst entfremdet und gegen das Gesetz rebelliert, für das
dann ebenso metonymisch gerade die jüdische Kultur einstehen
muß. Mit anderen Worten: Paulus ist das politisch-theologische
Symbol für eine mögliche radikale Krise in den jüdisch-
christlichen Beziehungen, die potentiell in einer neuen
gnostischen Eruption sich zu entladen droht.401 Gegen diese
potentielle, in der traditionellen Auslegung von Paulus
angelegte Gefahr, für die Adolph von Harnacks Rekurs auf
Marcion signalhaft einsteht402, bedarf es einer Gegenstrategie,
die den Antinomismus zurück ins Judentum selbst integriert und
als jüdische Abwehrstrategie gegen die paulinisch-gnostische
Gefahr einsetzt. Vergegenwärtigt man sich aus dieser
Perspektive noch einmal die Rolle, die die Gnosis, der
Antinomismus, die Symbollehre, die moderne Lebensphilosophie in
der Rekonstruktion des sabbatianischen Ereignisses bei Scholem
spielen, so erhält der Name Paulus Schlüsselcharakter für diese
Rekonstruktion, setzt er doch fast dieselben
geistesgeschichtlichen Momente voraus.
401 Vgl. hierzu mein Buch Der häretische Imperativ; ferner vor allem Taubes, Die politische Theologie des Paulus; ders. (Hrsg.), Gnosis und Politik.402 Adolph von Harnack, Marcion – das Evangelium vom fremden Gott, Leipzig 1921. Vgl. auch Christian Nottmeier, Adolph von Harnack und die deutsche Politik 1890–1930. Eine biographische Studie zum Verhältnis von Protestantismus, Wissenschaft und Politik, Tübingen2004.
197
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Die theopolitische StundeMartin Bubers Begriff der Theopolitik, seine prophetischen
Ursprünge, seine
Aktualität und Bedeutung für die Definition zionistischer
Politik
I Vorwort
Bubers Begriff der Theopolitik403, wie schon die Umstellung
innerhalb des Begriffes zeigt, ist als eine „Erlesigung“ der
politischen Theologie von Macht und Souveränität gemeint.404
Eine solche Theopolitik orientiert sich biblisch an der
antimonarchistischen Politik von Gideon, Samuel und den
Propheten, um an ihnen ein Modell für einen theologisch
begründeten Anarchismus individueller und kollektiver Freiheit
zu gewinnen. Bubers Einsetzung des Begriffs der Theopolitik,
der sich gegen jede Instrumentalisierung der Theologie für eine
Theorie des autoritären Staates wendet, versteht sich dabei
immer schon als Reaktion auf die aktuellen politischen 403 Buber, Königtum Gottes. Es ist interessant, daß Erik Peterson in den zwanziger Jahren den Begriff der Theopolitik in einem ähnlichen Kontext gegen Carl Schmitts politische Theologie wendet, allerdings ganz aus der Theologie des Römerbriefs von Paulus entfaltet. Vgl. hierzu Erik Peterson, „Paulus – Der Brief an die Römer“, S. 15. Vgl. auch die ausgezeichnete Darstellung von Barbara Nichtweiß, Erik Peterson. Neue Sicht auf Leben und Werk.404 Carl Schmitt, Politische Theologie; ders., Politische Theologie II stellt im Untertitel das Anliegen der Schrift klar: „Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie“. Es geht bekanntlich um Erik Peterson, Monotheismus als politisches Problem. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Theologie im Imperium Romanum, Leipzig 1935, auf das Schmitt sich bezieht: „Auf den letzten Textseiten (S. 99/100) wird die Erledigung jeder politischen Theologie in aller Schärfe als Schlußthese behauptet.“ (S. 13) Nach wie vorscheint Peter Koslowski, „Politischer Monotheismus oder Trinitätslehre“, in: Taubes, Der Fürst dieser Welt, S. 26–44 eine der besten kritischen Diskussionen sowohl von Schmitts als auch von Petersons Position zu sein.
177
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Kontexte, in deren Zusammenhang der Begriff entstanden ist,
nämlich einerseits die totale Krise der modernen säkularen
Kultur in der politischen Theologie des Dritten Reiches und
andererseits der entstehende zionistische Staat als möglicher
Horizont einer utopischen Verwirklichung seiner Theopolitik.
Im folgenden soll Bubers Verständnis der neuen politischen
Situation in Deutschland nach 1933 in seiner Auseinandersetzung
mit Carl Schmitt und Friedrich Gogarten in Die Frage nach dem
Einzelnen405 rekonstruiert werden, in deren politischer Theologie
er eine radikale Verkehrung dessen wahrnimmt, was er den
theopolitischen Auftrag nennt. 1) Die neue politische Situation
in Palästina enthält, entgegen der realpolitischen Tendenz, für
Buber die Möglichkeit einer Theopolitik, die zu einem
binationalen arabisch-jüdischen Staat führen kann. 2) Aus der
Perspektive dieser aktuell-politischen Genese des Begriffs der
Theopolitik läßt sich dann zeigen, daß Bubers Begriff der
Theopolitik eine komplexe temporale Struktur entfaltet, die
derart die biblische Urgeschichte zum Modell des Verständnisses
der Gegenwart erhebt, daß diese in jedem Augenblick in ihrer
eigensten messianischen Zukunftsmöglichkeit ergriffen werden
kann. 3) Am Beispiel der Verweigerung der Königskrone durch den
Richter Gideon, die Buber in Königtum Gottes zur Grundlage einer
jeden Theopolitik erhebt, und am Beispiel der
Auseinandersetzung des Propheten Jesaja mit König Ahas von
Judäa, die er in Der Glaube der Propheten406 entfaltet, soll dann 405 Zu Bubers Werk im allgemeinen vgl. Paul Mendes-Flohr: Von der Mystik zum Dialog. Martin Bubers geistige Entwicklung bis hin zu ‚Ich und Du‘, Königsstein 1979; Dan Avnon, Martin Buber – The hidden dialogue, New York/Oxford 1998. Paul Mendes-Flohr (Hrsg.), Martin Buber: A Contemporary Perspective. 406 Buber, Der Glaube der Propheten. Zum Kontext der Abfassung vgl. das Vorwort zum Buch, S. 9 ff. Teile des Textes erschienen noch 1940 in Holland, das Buch wurde dann 1942 zuerst in Hebräisch und dann 1950 erst in Deutsch
178
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
der Sinn der Theopolitik als Dialektik der Macht und ihrer
Kritik bei Buber zusammenfassend erläutert werden. 4) Das
Kapitel über Jesaja und Ahas ist „Theopolitische Stunde“
überschrieben und tatsächlich 1938, im Jahre von Bubers
Emigration von Deutschland nach Palästina, abgefaßt worden,
steht also auch biographisch ganz unter dem Eindruck der
aktuell-politischen Situation zwischen beiden Kontexten.407
II Die politische Stunde
Martin Buber versucht in Die Frage an den Einzelnen von 1936, die
aktuell-politische Situation in Deutschland nach 1933 am
Beispiel der Konstellation Carl Schmitt und Friedrich Gogarten
sozusagen als Bericht zur „geisteswissenschaftlichen Lage nach
der Verabschiedung des Parlamentarismus“ auf den Begriff zu
bringen. Er stellt diese eher skizzenhafte Auseinandersetzung
mit den beiden politischen Theologen des souveränen Staates in
den Kontext der nachhegelianischen Philosophie, spezifisch der
philosophischen Besinnung auf den Einzelnen und die
Individualität bei Sören Kierkegaard und Max Stirner. Bubers
publiziert. 407 „Im Sommer 1938, bald nachdem ich das Lehramt für Sozialphilosophie an der Universität Jerusalem angetreten hatte, erhielt ich von Prof. Gerardus van der Leeuw in Groningen die Aufforderung, für ein von ihm geplantes holländisches Sammelwerk ‚Die Religionen der Welt‘ die Religionsgeschichte Israels zu bearbeiten. [...] So ging ich an die Arbeit, die ich [...] der Glaube Israels benannte, und schrieb sie in verhältnismäßig kurzer Zeit nieder, mußte aber, am Schlusse angelangt, merken, daß sie für ihren Zweck viel zu umfangreich geworden war. Ein Freund unternahm es, sie zu kürzen, und der so entstandene Text wurde abschnittweise nach Amsterdam gesandt, woer übersetzt werden sollte. Den letzten Abschnitt, der das Leidensmysteriumbehandelt, erhielt ich von der Post als unbestellbar zurück: inzwischen warHolland von den Heeren Hitlers besetzt worden.“
179
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Frage an den Einzelnen ordnet sich damit selber einerseits in
diesen existentialistischen Kontext ein, um andererseits am
Beispiel Schmitts und Gogartens die falschen politischen
Konsequenzen dieser Orientierungen am Einzelnen zu
kennzeichnen.
Man kann die durch Buber zum Verständnis der aktuellen
politischen Situation in Deutschland ins Spiel gebrachten
denkerischen Positionen zunächst in eine Art
geistesgeschichtliches Parallelogramm eintragen. Die Namen
Stirner und Schmitt bezeichnen die anthropologische, die Namen
Kierkegaard und Gogarten die theologische Achse, wobei der
jeweils erste Name (Stirner, Kierkegaard) die Orientierung am
einzelnen, der jeweils zweite Name (Schmitt, Gogarten) die
Projektion dieser Auffassung vom einzelnen in die politische
Sphäre repräsentiert.
Das Parallelogramm Stirner und Schmitt, Kierkegaard und
Gogarten steht nun bei Buber offenbar für eine Reihe von
fundamentalen Disjunktionen: des Individuums von der
Gesellschaft, der Macht von der Gerechtigkeit, des Politischen
vom Theologischen und, implizit am Rande auch, des Christlichen
vom Jüdischen. Die Diagnose Bubers betont zunächst die Trennung
von Politik und Theologie: „Das moderne Abendland steht auf der
sanktionierten Entzweiung von Politik und Religion. Die Politik
ist unverklärt, aber mächtig, die Religion ist […]
unverbindlich.“408 Während das Christentum sich vom Politischen
grundsätzlich zu distanzieren versuche, stehe das Judentum in
einer permanenten politisch-theologischen Spannung, weil „die
Propheten Israels […] dem König in Jerusalem, als dem
408 Buber, Die Frage an den Einzelnen, S. 121.180
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Schutzherrn des Unrechts im Lande“ mit ihrem
„religionspolitischen Wort“ 409 entgegentreten mußten.
Kierkegaard und Stirner repräsentieren für Buber zunächst die
notwendige existentialistische Abwendung vom Idealismus des
reinen, sich selbst erzeugenden souveränen Subjekts und Geistes
und damit die Wende zur konkret-geschichtlichen Existenz des
Individuums.
Wenige Jahre, ehe Kierkegaard unter dem Titel ‚DerGesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller‘seinen „Rapport an die Geschichte“ entwarf, in dessenBeilagen die Kategorie des Einzelnen ihre zureichendeFormulierung fand, verfaßte Max Stirner sein Buch über denEinzigen. Auch dies ist ein Randbegriff wie der Einzelne,aber einer vom anderen Ende.410
Beide Individuen stehen nämlich für eine Konstellation der
radikalen Polarisierung von Theologie und Politik. Kierkegaard
bezeichnet die Wiederentdeckung des Theologischen unter
Abwendung von der Politik, Stirners praktischer Solipsismus
dagegen die restlose Säkularisation des Politischen: den
reinen, rücksichtslosen Egoismus als äußerste Konsequenz einer
von jedem religiösen bzw. moralischen Vorbehalt emanzipierten
Politik.
Man pflegt dieses Randbild eines deutschen Protagoras[Stirner] zu unterschätzen: die unsere Stunde kennzeichnendeEntwirklichung der Verantwortung und der Wahrheit hat hier,wenn auch nicht ihren geistigen Ursprung, so doch ihre exaktebegriffliche Ansage. „Der Eigene […] ist ursprünglich frei,weil er nichts als sich anerkennt“ und „Wahr ist, was Meinist“ sind Vorformeln einer von Stirner in all seinerrednerischen Sicherheit ungeahnten Vereisung der Seelen.411
409 Ebd., S. 127.410 Ebd., S. 12.411 Ebd., S. 13.
181
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Zunächst bricht die Hegelianische Dialektik, die vom Sein zur
Idee, vom blutigen Kampf zwischen Herr und Knecht zu einer
Gesellschaft der gegenseitigen Anerkennung führen soll, infolge
der radikalen Kritik Stirners und Kierkegaards an der
Metaphysik der Identität und Totalität von Theologie und
Politik vollends ab, doch die epochale Antithese zwischen
Kierkegaard und Stirner demonstriert zugleich den Preis für die
notwendige Emanzipation dieser Typen von Individualität von der
metaphysisch-theologischen Zwangsveranstaltung der
verwirklichten Identität von Sein und Idee, Theologie und
Politik. In dieser Auseinanderdividierung beider wird nämlich
gerade wieder ein Einvernehmen zwischen beiden im Sinne einer
real-praktikablen Synthese bzw. eines gegenseitigen
Nichteinmischungspaktes zwischen Theologie und Politik möglich.
Die hemmungslose Machtentfaltung des souveränen Egoisten
(Stirner) hat von dem theologischen Existentialisten
(Kierkegaard) nichts zu befürchten, da dieser sich von jeder
Politik fernhält und sie doch damit immer schon legitimiert.
Umgekehrt hat der theologische Existentialist in seinen
privaten Abenteuern des Glaubens nichts von der absoluten Macht
zu befürchten. Der Individualismus Stirners stellt sich als die
logische Konsequenz der sich säkularisierenden Politik dar,
insofern mit der radikalen Aufhebung aller theologischen und
ethischen Restbestände das Politische nur noch auf den reinen
Willen zur Macht, den reinen Egoismus reduziert werden muß,
der, durch keine moralische Schranke gehindert, sich
unbeschränkt entfesseln kann. Der Rückzug von Kierkegaards
Einzelnem aus der Politik bezeichnet deren Pendant, insofern
der Einzelne hier rein theologisch definiert, die
182
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
gesellschaftlich-politische Dimension sich selbst überlassen
wird. Die Hegelianische Totalität von Sein und Idee als
Identität von Gott und Staat wird also durch die Extreme der
politischen und theologischen Individualität gesprengt, nur um
die Totalität des Politischen auf einer individualistischen
Ebene zu reproduzieren.
Buber selbst wird dagegen versuchen, den Einzelnen und
Existentialisten wieder in den gesellschaftlichen Zusammenhang
einzusetzen, so, daß er weder als Herr über der Gesellschaft
(Schmitt, Gogarten) noch als reine Funktion des Allgemeinen und
Gesellschaftlichen (Hegel), sondern als der Einzelne auftritt,
der für die Gesellschaft und in ihr kritische Verantwortung
übernimmt. Die Negation der Hegelianischen Metaphysik soll das
jeweilige Dasein eben nicht absolut setzen, sondern muß dessen
kritische (Re-)Integration in die Gesellschaft auf der Basis
individueller Verantwortung vorbereiten. Buber sucht nach einer
Form existentialistischer Individualität, die sich an der Idee
einer wahren, an-archischen Gemeinschaft orientiert und von
dieser aus kritische Verantwortung in der realen, von konkreten
Machtstrukturen bestimmten Gesellschaft übernimmt.
Seine dialektische Kritik der Extreme setzt dabei bei dem Typ
eines theologischen Existentialismus an, der ihm selbst am
nächsten steht, bei Kierkegaard. Zwar sei das „Ich-sagen-
Können“, so Buber, die Bedingung der Möglichkeit für das
Theologische, aber biblisch gesehen sei doch immer das Volk im
Ganzen der Partner der Gottheit, indem es allerdings immer
durch namentragende Einzelne vertreten wird. Buber findet wie
Kierkegaard das Urmodell für den Einzelnen in Abraham412, dessen
412 Ebd., S. 18.183
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Singularität erst eigentlich durch die Offenbarung Gottes
zutage tritt, also in jener doppelten Aufforderung, „sich
aufzumachen“ (hebr.: Lech Lecha), nämlich einmal aus der
Heimatstadt Ur und einmal, um den Sohn zu opfern. Der biblische
Narrativ berichtet zunächst über Abrahams radikale Loslösung
von allen sozialen Bindungen, von der Welt der Väter und Söhne,
aber diese Loslösung von der Gesellschaft ist ohne die ihr
vorhergehende Ansprache durch Gott nicht denkbar, die ja
immerhin die Gründung einer neuen Gemeinschaft verspricht, in
der sich die dialogisch-ethische, und das heißt politische
Dimension der Existenz erst ganz verwirklichen kann.
Buber wirft Kierkegaard vor, eben diese gesellschaftlich-
politische Dimension der theologischen Urbeziehung der Existenz
und mit dieser die Schöpfung im ganzen zu überspringen, womit
er eine Art theologischen Egoismus praktiziere, in dem der
Einzelne Gott sozusagen für sich allein beanspruche. Es spielt
hier für den Kontext keine Rolle, daß Buber Kierkegaard viel zu
schnell auf seine Oberflächenrhetorik vereidigt und damit etwa
dessen Begriff einer gegen das bürgerliche Christentum
„streitenden Kirche“, die in der Idee des Wahrheitszeugen
gipfelt, gar nicht in den Blick bekommt.413 Für Buber ist
413 Vgl. Sören Kierkegaard, Furcht und Zittern, Hamburg 1992, S. 51: „Der Glaube ist eben dieses Paradox, daß der Einzelne größer ist als das Allgemeine, daß er diesem berechtigt gegenübersteht, nicht subordiniert, sondern übergeordnet, doch wohlgemerkt so, daß der Einzelne […] nur durch das Allgemeine der Einzelne wird, der als der Einzelne übergeordnet ist; daß der Einzelne als der Einzelne in einem absoluten Verhältnis zum Absoluten steht.“ Vgl. auch Sören Kierkegaard, Einübung im Christentum, in: ders., Gesammelte Werke, Abteilung 26, Düsseldorf 1951, S. 202 f.: „Sobald das Reich Christi mit dieser Welt einen Vergleich schließt und ein Reich von dieser Welt wird, ist das Christentum abgeschafft. Wenn hingegen das Christentum die Wahrheit ist, ist es freilich ein Reich in dieser Welt, jedoch nicht von dieser Welt, das heißt es steht im Streite. […] Die Kirche kann in dieser Welt in Wahrheit nur bestehen, indem sie streitet, das heißt jeden Augenblick darum kämpft, daß sie bestehe.“ Vgl. Gillian Rose, „Reply from
184
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Kierkegaards persönliches Verhältnis zur Ehe symptomatisch für
das, was er als dessen Sprung über Schöpfung und Gemeinschaft
hinaus bestimmt. „Um zum Lieben zu kommen“, zitiert ihn Buber
über seine Loslösung von Regine Olsen, „mußte ich den
Gegendstand der Liebe entfernen“. Das heißt aber, kommentiert
Buber, „Gott auf die subtilste Weise mißverstehen. Die
Schöpfung ist kein Hindernis auf der Bahn zu Gott, sie ist
diese Bahn selbst.“414 Wenn also Ehe und Politik bei Kierkegaard
die ausgeblendete Dimension der Schöpfung repräsentieren
sollen, so stehen sie bei Buber für dasselbe ethische Problem
der Alterität. Was immer man vom Modell der Ehe halten mag, so
ist es doch plausibel, wenn Buber, indem er sie zum Urmodell
dialogischer Beziehung erhebt, an ihr neben dem Moment der
Intersubjektivität gerade das Moment der alltäglichen und
intensiven Auseinandersetzung mit dem anderen betonen will. Der
Gottesbezug wird nur im Bezug zum Nächsten, dieser aber in
einer realen Lebensform aktuell, in der Menschen alltäglich mit
der Denkweise, Haltung, Lebensform des anderen umgehen und
diese anerkennen lernen.
Von diesen skizzenhaften Anmerkungen zur Konstellation von
Stirner und Kierkegaard geht Buber zu der zweiten, nicht
weniger skizzenhaft entworfenen Konstellation über, um die
aktuell-politische Situation zu kennzeichnen. Carl Schmitts Der
Begriff des Politischen ist die Fortsetzung von Stirners absolutem
Individualismus der Macht „jenseits der Moral“; Friedrich
‚The Single One‘“, in: Mendes-Flohr (Hrsg.), Martin Buber, S. 162: „Buber hasconfused Kierkegaard and his personal life, Kierkegaard and his authorship,Kierkegaard and his pseudonyms, Kierkegaard and the Stages of Life's Way. To suspend the ethical is not to renounce relationships for an exclusive devotion to God.“414 Buber, Die Frage an den Einzelnen, S. 34.
185
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Gogartens politische Ethik, die die theologische Legitimation
für den souveränen Staat nachliefert, versteht Buber offenbar
als Fortsetzung von Kierkegaards theologischem
Existentialismus.
Zunächst geht es um Schmitts Buch Der Begriff des Politischen, der
Stirners Idee einer Selbsterzeugung des Ichs „aus seinem
eigenen Nichts“ auf die politische Sphäre projiziert.
Unausgesprochen liegt diesem Bezug das Argument zugrunde, daß
Schmitts Politische Theologie von 1922 den Souverän schon nicht mehr
theologisch, sondern, wie Schmitt schon damals fordert, als
„reine aus dem Nichts geschaffene Entscheidung“415 definiert.
Konsequent heißt es in Der Begriff des Politischen dann explizit, daß
der Begriff des Souveräns keiner theologischen Begründung
bedürfe, insofern ihm mit einer richtig verstandenen
Anthropologie von der gefährlichen Natur des Menschen besser
gedient sei, die genüge, um die Auseinandersetzung mit dem
Feind zu begründen.416
In diesem Sinne wird ja nicht nur in jener berühmten Fußnote
aus Der Begriff des Politischen die christliche Feindesliebe auf die
private Domäne beschränkt und damit
„das Theologische“ vollends entpolitisiert, sondern in
Schmitts Staat, Bewegung, Volk417 wird dann der Führer als Souverän
jenseits aller theologischen, philosophischen und politischen 415 Schmitt, Politische Theologie, S. 69: „Schon in den zitierten Äußerungen von de Maistre lag eine Reduzierung des Staates auf das Moment der Entscheidung, konsequent auf eine reine, nicht raisonnierende, also aus demNichts geschaffene absolute Entscheidung.“ 416 Schmitt, Der Begriff des Politischen: „Der methodische Zusammenhang theologischer und politischer Denkvoraussetzungen ist also klar. Aber die theologische Unterstützung verwirrt öfters die Begriffe, weil sie die Unterscheidung gewöhnlich ins Moraltheologische verschiebt oder wenigstens damit vermengt […]“ Von daher empfehle es sich eben, „alle Staatstheorien und politische Ideen auf ihre Anthropologie“ zu prüfen. (S. 59).417 Carl Schmitt, Staat, Bewegung, Volk, Hamburg 1933,
186
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Traditionen als die „unmittelbare Gegenwart und Präsenz“
definiert, vor der überhaupt „jeder Begriff und jedes Bild“418
versagen. Der Souverän Schmitts als „ästhetisch-begrifflose
Erscheinung“ reiner Präsenz ist das Mensch gewordene Ereignis
des avantgardistischen Logos der Ausnahme, den Max Stirner mit
seinem einzelnen „jenseits von Moral und Gesetz“ in der Figur
des skrupellosen und kriminellen Einzelgängers vorgedacht hat.
Bubers Interesse gilt vor allem Schmitts Definition des
„rein“ Politischen als „Unterscheidung von Freund und Feind“,
die im Ernstfall die Möglichkeit physischer Tötung mit
einschließt. Einem solchen Begriff politischer Feindschaft
entspreche die Auffassung des Politischen als Duell. „Diese
Situation liegt dann vor, wenn zwei Menschen einen zwischen
ihnen bestehenden Konflikt als einen unbedingten empfinden, der
also nur in der Vernichtung des einen durch den anderen seine
Lösung finden könne.“419 Bubers Lesung, die zunächst auf nicht
argumentierte Feststellungen und Entgegenstellungen
hinausläuft, zielt im wesentlichen darauf, dort, wo Schmitt
Situationen global setzt, zu differenzieren, das heißt
seinerseits Unterscheidungen vorzunehmen.
So akzeptiert Buber zwar die anthropologische Voraussetzung
von der bösen Natur des Menschen, insofern das Böse soviel
bedeute wie „keineswegs unproblematisch und gefährlich“420, aber
er hält die Radikalisierung dieser bösen Natur im Sinne einer
absoluten Sündhaftigkeit ihrerseits für gefährlich, ohne dies
zunächst weiter auszuführen. Vor allem aber gelte es innerhalb
des Feindbegriffes zwischen Feind und Feind zu unterscheiden,
418 Ebd., S. 41 ff.419 Buber, Die Frage an den Einzelnen, S. 79.420 Ebd., S. 83.
187
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
nämlich zwischen dem äußeren und dem inneren Feind. Während
nämlich der äußere Feind „kein Interesse an der Erhaltung des
Staates“ habe, sei der innere Feind – Buber nennt ihn den
Empörer – durchaus an dem Fortbestand des Staates
interessiert.421 Er wolle den Staat nur verändern. Somit sei der
äußere Feind kein eigentlich politisches Problem, womit also
erst der innere Feind, wenn er die existierende Ordnung in
Frage stellt, tatsächlich „das Politische“ meint. Buber
konstatiert, indem er Schmitts Rhetorik aufnimmt:
Die Höhepunkte der konkreten Politik sind nicht, wie Schmittmeint, zugleich die Augenblicke, in denen der Feind inkonkreter Deutlichkeit als Feind erblickt wird, sondern essind die Augenblicke, in denen eine Ordnung vor derernstesten Verantwortung des sich mit ihr konfrontierendenEinzelnen die Rechtmäßigkeit ihrer Statik, ihren wenn auchnotwendigerweise nur relativen Erfüllungscharaktererweist.“422
Was Buber mit diesen Unterscheidungen anzeigen will, ist
offenbar folgendes:
Wenn mit dem Begriff des Politischen gerade die Theologie
entmächtigt, das heißt ins Private abgedrängt werden soll, so
gelingt diese Entmächtigung nur um den Preis einer
Dämonisierung des Menschen, die in letzter Instanz eben doch
wieder theologisch begründet ist. Die Idee von der absoluten
Sündhaftigkeit ist damit für Buber zugleich die Bedingung der
Möglichkeit wie eben die Verhinderung des rein Politischen. Auf
der einen Seite soll mit ihr die Politik von jedem
innerweltlichen Messianismus befreit werden, auf der anderen
Seite aber muß diese Politik, weil jede Kritik schon als
421 Ebd., S. 80.422 Ebd., S. 82.
188
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Extremfall von Rebellion gegen die Ordnung an sich begriffen
wird, in einer absoluten Statik gefrieren.
Den verborgenen theologischen Untergrund von Schmitts Begriff
des Politischen analysiert Buber am Beispiel des Schmitt
nahestehenden dialektischen Theologen Friedrich Gogarten423.
Wenn Schmitt Stirners Lehre vom Ich politisch aktualisiert, so
vollstreckt Gogarten – im Sinne des geisteswissenschaftlichen
Parallelogramms Bubers – die politischen Konsequenzen der rein
theologischen Begründung des Individuums bei Kierkegaard. Beide
Versuche nun begegnen sich auf der Grundlage der Lehre von der
absoluten Sündhaftigkeit des Menschen, von der her die
existentialistischen Positionen Stirners und Kierkegaards sich
als ein Nichteinmischungsprinzip auf der politischen Ebene
darstellen, das auf einem positiven und vollen Einvernehmen
beruht.
Die in der Ich-Du-Beziehung zwischen Mensch und Gott424 sich
offenbarende böse Natur des Menschen, die in der Einsicht des
Römerbriefes sich ausspricht: Das Gute, das ich will, tue ich
nicht, und das Böse, das ich nicht will, tue ich (Röm. 7,19),
führt bei Gogarten zu der entscheidenden Rechtfertigung des
Politischen als notwendige Beherrschung der in sich bösen
423 Vgl. Gogarten, Politische Ethik. In der Vorbemerkung zur zweiten Ausgabe seines Buches Politische Theologie, S. 8, schreibt Schmitt: „Von protestantischenTheologen haben besonders Heinrich Forsthoff und Friedrich Gogarten gezeigt, daß ohne den Begriff einer Säkularisation ein Verständnis der letzten Jahrhunderte unserer Geschichte überhaupt unmöglich ist. Freilich stellt in der protestantischen Theologie eine andere, angeblich unpolitische Lehre Gott in derselben Weise als das ‚Ganz Andere‘ hin, wie für den ihr zugehörigen politischen Liberalismus Staat und Politik das ‚Ganz Andere‘ sind.“ Schmitt hat zumindest Gogartens intensive Auseinandersetzung mit seiner Politischen Theologie offenbar nicht wahrgenommen, vgl. etwa Politische Ethik, S. 135424 Gogarten bezieht sich in seiner Theologie tatsächlich positiv auf MartinBuber, Ich und Du, Leipzig 1923, um das unmittelbare Verhältnis Mensch/Gott zubeschreiben, s. Gogarten, Politische Ethik, S. 127
189
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Freiheit des Menschen. Mit Römer 13 rechtfertigt Gogarten die
strenge Obrigkeit, die gegen „den Haß und das Gegeneinandersein
der Menschen Schranken“ errichtet, „so daß es nicht zum
Schlimmsten kommt und die Menschen sich gegenseitig zerstören
und verzehren“425. Betrifft der Glaube und die Rechtfertigung
durch den Glauben dabei immer nur die Dimension der
individuellen Beziehung des Menschen zu Gott, so hat sich
dieser Mensch, was den Staat angeht, dessen Macht zu
unterstellen, weil sie aus dem Glauben an die von Gott
eingesetzte Macht gegen die Sünde legitimiert ist.
Indem nun Gogarten die Lehre Schmitts vom Feind explizit
theologisch begründet, nämlich aus der Erbsünde, zeigt sich für
Buber nicht nur das erwähnte Einvernehmen zwischen autoritärer
Politik und individualistischer Theologie im Sinne eines
Nichteinmischungspaktes bei gegenseitigem vollem Einvernehmen,
sondern es zeigt sich vor allem der ganze Widerspruch beider –
der politischen Theologie Schmitts und der dialektischen
Theologie Gogartens. Zunächst nämlich ergebe sich schon aus der
Paulinischen Lehre, die den Menschen als erlöst und unerlöst
zugleich auffaßt, das Problem, wie Gogarten „aus der
dialektischen Verbundenheit beider Momente die Unerlöstheit
herausbrechen und gesondert verwenden kann. Im Angesicht von
Menschenordnungen kann der Mensch nicht rechtmäßig als
schlechthin sündhaft bezeichnet werden, weil die Distanz fehlt,
die allein die Unbedingtheit zu begründen vermag.“426 Damit aber
sagt Buber im Grunde, daß der Politiker für sich selbst diese
425 Ebd., S. 107. Gogarten verweist in diesem Zusammenhang auf Gal. 5,15: „Wenn ihr einander beißt und verschlingt, dann gebt darauf acht, daß ihr euch nicht gegenseitig umbringt.“426 Buber, Die Frage an den Einzelnen, S. 85 f.
190
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Distanz in Anspruch nehmen muß und sich selbst zu der Instanz
verabsolutiert, die dem Bösen selbst enthoben sein muß. Besteht
die eigentliche politisch-theologische Ironie darin, daß
Gogarten die Beziehung des Ich zu Gott ausgerechnet über Bubers
dialogische Lehre von „Ich und Du“427 zu begründen versucht, um
von dort aus Schmitts politische Theologie mit Paulus’
Verständnis von Sünde und Obrigkeit zu legitimieren, so zeigt
Buber nun, daß die Autorität des Staates, indem sie zwar durch
das Böse gerechtfertigt werden und im Sinne Gogartens als
Souveränität und Autorität schon das „Eingesetzte“ und die
„Vollmacht“ sein soll, selbst eigentlich schon das vom Bösen
Erlöste sein muß.428
Die Theologie des autoritären Polizeistaates erlaubt es nicht
nur, die latenten Widersprüche von Schmitts Theorie des
Politischen aus dem Begriff des Feindes in ein klares Licht zu
stellen, sondern sie demonstriert ihre eigenen Widersprüche,
die sich aus der dem rein Politischen gemeinsamen Definition
der absolut bösen Natur des Menschen ergeben. Wenn Schmitt und
Gogarten nämlich den Kern der Sünde des Menschen – und die
Moderne mit ihrer Politik der Emanzipation ist für beide der
Inbegriff der Sünde bzw. des Bösen – im Mißbrauch der Freiheit
als Autonomie und Individualismus erkennen, die darauf
hinauslaufen, den Menschen von dem Bösen zu befreien und somit
selbst als Gott einzusetzen, dann widerlegen sich beide
Theorien des Politischen in dem Augenblick, wo sie die
politische Macht an sich schon als göttliche Vollmacht
definieren, die dem Kreis der Schöpfung und damit der
Anfälligkeit zum Bösen enthoben sein soll. Beide reproduzieren 427 Buber, Ich und Du, vgl. Anm. 22.428 Buber, Die Frage an den Einzelnen, S. 89.
191
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
damit nur die Problematik, die sie an der emanzipatorischen
Moderne kritisiert haben, auf der Ebene der souveränen Macht.
In diesem Kontext einer aus den Grundlagen des Denkens
deduzierten radikalen Krise von Humanität, Ethik und Politik
entwickelt Buber nun seine eigene Konzeption des dialektischen
Verhältnisses von Individuum, Gesellschaft und Politik aus der
biblischen Auffassung der „Vollmacht“ als dem von Gott
eingesetzten Amt: „Das Alte Testament weiß in Geschichten von
Königen Israels und in Geschichten von Fremdherrschern von der
Abartung der Rechtmäßigkeit in Unrechtmäßigkeit und der
Vollmacht in Widermacht zu berichten.“429 Mit der göttlichen
Beauftragung ist zunächst immer schon die Möglichkeit gegeben,
daß der beauftragte einzelne gegen Gottes Auftrag handelt und
den Auftrag verrät. Dieses Zuwiderhandeln ist für Buber nichts
anderes als die Umdeutung des für eine bestimmte, zeitlich
begrenzte Aufgabe definierten Gottesauftrages in eine
Dauerlizenz. Statt den Auftrag im Sinne einer durch Gott
aufgetragenen Verantwortung für die Gesellschaft „ins Werk zu
setzen“, dient er in diesem Fall zu einer souveränen
Selbstermächtigung durch den Beauftragten.
Mit Gogarten also besteht Buber auf der Idee einer im Dialog
zwischen Gott und dem einzelnen erfolgten „Einsetzung“ der
Vollmacht. Gegen Gogarten aber erkennt er diesen Auftrag nicht
als eine Einsetzung über die Gesellschaft, sondern für die
Gesellschaft, also nicht im Sinne einer Legitimation souveräner
Herrschaft, sondern im Sinne der Herstellung einer mit der
dialogischen Beziehung zu Gott gleichsam schon mitdefinierten
dialogischen Verfaßtheit der Gesellschaft, d. h. einer auch im
429 Ebd.192
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Dissens herrschaftsfreien Kommunikation der Gesellschaft. Der
von Gott Berufene soll an den dialogischen Auftrag erinnern,
sofern er in Vergessenheit geraten ist. Im Sinne eines von
vornherein temporal begrenzten Auftrages für die Gesellschaft
muß der mit einer besonderen Verantwortung beauftragte einzelne
immer auch von seinem Auftrag zurücktreten, sobald er erfüllt
ist.
Wenn Buber den Auftrag mit Max Webers Begriff des Charismas
tatsächlich als Charis, nämlich als „Gabe" definiert, in der
sich Gott dem einzelnen mitteilt und ihm den göttlichen Auftrag
erteilt430, dann besteht die eigentlich „politische“ Verkehrung
dieses Auftrages darin, sich diese Gabe als Besitz anzueignen
und sich durch diese Aneignung eine besondere Autorität
zuzusprechen, die sich über die Gesellschaft stellen will.431
Diese Verkehrung des Auftrags ist Funktion der grundsätzlich
bösen und gefährlichen Natur des Menschen. Gegen eine solche
Verdinglichung und Aneignung der Gabe als des göttlichen
Geistes bedarf es allerdings, sobald sich aus ihr eine Macht
konsolidiert, der rebellischen Gegeninstanz eines Einzelnen,
der an den ursprünglichen Auftrag erinnert und im Namen derer,
die unter der verfestigten Machthierarchie leiden, dessen
unmittelbare Umsetzung einklagt. Dieser einzelne ist der
„innere“ Feind, in dem Buber den wahren politischen Feind
erkennt und der in der Notsituation der Aufkündigung des 430 Buber, Königtum Gottes, S. 144. Dort stellt Buber fest, daß „die soziologische Utopie einer Gemeinschaft aus Freiwilligkeit nichts anderes als die Immanenzseite der unmittelbaren Theokratie“ sei. Nicht unwahrscheinlich ist, daß Buber den eigenen Entwurf des Königtums Gottes inBegriffe etwa der Soziologie Karl Mannheims (Ideologie und Utopie, Frankfurt a. M. 1952 [1929]) übersetzen will. Zu Bubers Utopiebegriff vgl. Martin Buber,Pfade in Utopia, Heidelberg 1985 (1950); ders., Der utopische Sozialismus, Köln 1967.431 Buber, Königtum Gottes,
193
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
göttlichen Auftrags, dem Staatswesen gegenübertritt. Buber
erkennt den Archetypen dieses Rebellen in der biblischen
Instanz des Propheten.
III Die Aporie des jüdischen Begriffs des Politischen
Buber ist zuerst und vor allem engagierter Zionist.432 Mit Herzl
erkennt er im politischen Zionismus die Möglichkeit einer
radikalen und gerechteren Einrichtung der jüdischen
Gesellschaft. Gegen den politischen Zionismus macht Buber
allerdings schon früh geltend, daß diese Gerechtigkeit für das
jüdische Volk nicht die Ungerechtigkeit gegen das arabische
Volk in Palästina rechtfertigen darf.433 Der Zionismus ist so
für Buber immer schon in der Gefahr, den eigenen
theopolitischen Auftrag zu verraten, d. h. nun seinerseits die
Autonomie des Politischen gegen das Theologische zu behaupten
und im Sinne von Herrschaft und Macht zu instrumentalisieren.434
Die Trennung von Theologie und Politik gehört zum Wesen der
exilischen Tradition selbst, die zwei Jahrtausende lang durch
die rabbinische Theologie bestimmt ist, gegen die der Zionismus
432 Martin Buber, Kampf um Israel – Reden und Schriften 1921–1932, Berlin 1933; Michael Walzer, „Martin Buber’s Search for Zion“, in: ders., The Company of Critics. Social Criticism and Political Commitment in the Twentieth Century, London 1988, S.64–79kann zwar mit Bubers dialogischer Philosophie nichts anfangen, sieht allerdings auch nicht die enge Verbindung von Bubers Idee der Theopolitik und seinem politischen Engagement, aber seine Rekonstruktion von Bubers Stellung zu Zionismus und zum arabisch-jüdischen Problem gibt vor allem denpragmatischen Sinn von Bubers Haltung wider. 433 Buber, Kampf um Israel ,S.427 ff434 Dan Avnon, „Limmud and Limmudim: Guiding Words of Buber's Prophetic Teaching“, in: Mendes-Flohr, Martin Buber, S.108: „The goal of Zionism shouldbe commensurate with and a continuation of the mission of Israel: to establish a social form of life that will enable the spirit of Elohim to bepresent in the single person and in the community.“
194
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
mit seinem Programm, das Exil zu beenden, zwar aufbegehrt, um
nun allerdings die Trennung von der politischen Seite her nur
zu reproduzieren. Seit der Zerstörung des Tempels 70 n. Chr.
und dem endgültigen Ende der politischen Souveränität Israels
existiert das jüdische Volk als eine Theokratie, die allerdings
politisch einem nichtjüdischen Souverän untersteht. Dina de
Malchuta Dina lautet der rabbinische Grundsatz435, der die
nichtjüdische Obrigkeit als politische Macht anerkennt, solange
die religionsgesetzliche Autonomie der jüdischen Theokratie
unangetastet bleibt. Die Idee einer jüdischen Staatlichkeit ist
prinzipiell an das Erscheinen des Messias gebunden, der mit der
Restauration des jüdischen Staates den Weltfrieden stiftet.
Steht also die politische Souveränität Israels grundsätzlich
unter einem messianischen Tabu, so ist das Exiljudentum
Ausdruck einer fundamentalen Trennung von Theologie und
Politik. In diesem Sinne etwa definiert der neo-orthodoxe
Rabbiner und Rechtsgelehrte Isaak Breuer 1918 das jüdische Volk
als die „messianische Nation, der der Zug zur Souveränität
abgeht, nämlich das Streben nach politischer Macht“436.
Wenn man nun von einem Begriff des Politischen vor dem
Zionismus sprechen möchte, so beruht dieser auf einer radikalen
Trennung von Religion und Politik, also der jüdischen
Theokratie vom Staat. Der Zionismus, in den Worten eines ihrer
radikalsten Vorkämpfer, Jakob Klatzkin, die Säkularisation
435 Yosef Hayim Yerushalmi, Diener von Königen und nicht von Dienern; Glatzer, Geschichte der talmudischen Zeit, hat die Haltung der Rabbiner gegenüber dem eigenen Staat und dem Staat der Nichtjuden nach der Tempelzerstörung und dem Scheitern des Bar-Kochba-Aufstandes systematisch dargestellt.436 Breuer, Programm oder Testament, S. 79. Aber auch weniger orthodoxe Theologen wie Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums oder Leo Baeck, Die Pharisäer. Ein Kapitel jüdischer Geschichte, Berlin 1934 erkennen in der Staatenlosigkeit, der Nichtsouveränität das theologische Wesen Israels.
195
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Israels und die Negation des Exils437, wäre also zunächst nichts
anderes als die Transformation der Theokratie in den Staat und
somit die Suspension der im Exil ausgebildeten
religionsgesetzlichen Verfassung. Indem der Zionismus das
messianische Tabu bricht, vollstreckt aber die Rückkehr zur
jüdischen Souveränität prinzipiell nur die umgekehrte Trennung
von Religion und Politik.438
Wenn aber der Zionismus tatsächlich die Negation des Exils
sein soll, dann bedeutet das natürlich für Buber, daß es sich
hier nicht nur um eine geopolitische Suspension handeln darf,
sondern um einen theologischen Auftrag, der die Trennung von
Politik und Theologie aufhebt und den Zionismus unter den
theopolitischen Auftrag stellt. Buber vollzieht einen so
einfachen wie genialen Schritt, wenn er zu den vorexilischen,
biblischen Ursprüngen des Judentums zurückkehren will und damit
im Grunde die gesamte exilische Geschichte, die gleichsam nur
Spiegelbild der christlichen Trennung von Religion und Politik
ist, als Symptom von Krise und Trennung überspringt. Er
definiert damit die Forderung nach einer radikalen Umwertung
aller rabbinisch-exilischen und aller zionistischen Werte, die
die Wiederherstellung der politischen Souveränität durchaus
auch aus dem biblischen Reich Israels abzuleiten versuchten.
Bubers Theopolitik wendet sich also sowohl gegen die
rabbinische Theokratie als auch gegen die biblisch begründete
zionistische Idee politischer Souveränität. Die Umwertung aller
Werte Bubers zielt nicht auf einen biblisch begründeten Willen
437 Klatzkin, Probleme des modernen Judentums, S. 35.438 Mathias Acher, Die jüdische Moderne, Leipzig 1896, S. 35 definiert die jüdische Moderne geradezu als Rückkehr zur Souveränität.
196
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
zur Macht439, sondern auf einen theopolitischen Auftrag zur
Gerechtigkeit.
Diesen Auftrag zur Gerechtigkeit vertritt Buber, der auf den
zionistischen Kongressen sozusagen selber als Charismatiker in
der Notsituation auftritt und einen Zionismus predigt, der auf
jede Heiligung des nationalen Egoismus verzichten muß.440 Von
hier aus entwickelt Buber seine unbedingte Forderung nach einer
Verständigung mit dem arabischen Volk in Palästina und die Idee
vom binationalen Staat. Buber will die biblische Theopolitik,
und das heißt die Idee eines absoluten Königtums Gottes, für
den Zionismus aktualisieren.441
IV Das Königtum Gottes
Buber entwirft den Begriff der Theopolitik als des Königtums
Gottes in dem gleichnamigen Buch von 1932 (1936) am Beispiel
des sogenannten Gideonspruches (Richter 8,21), also Gideons
Ablehnung der ihm durch das israelitische Volk angebotenen
Königskrone.
Sein Nein, aus der Situation geboren, will für alle Zeitenund Geschichtszeiten als ein unbedingtes gelten. Denn esleitet zu einem unbedingten Ja hin, dem einerKönigsproklamierung in aeternum. Ich, Gideon, werde nichtüber euch walten, mein Sohn wird nicht über euch walten.Darin ist beschlossen: kein Mensch soll über euch walten,
439 Klatzkin, Schkiat HaChaijim; Micha Josef Berdyczewski, Nachgelassene Schriften, Berlin 1926. Zu Bubers Verhältnis zu Nietzsche vgl. Paul Mendes-Flohr, „Zarathustras Apostel – Martin Buber und die jüdische Renaissance“, in: Jakob Golomb (Hrsg.), Nietzsche und die jüdische Kultur, Wien 1998.440 Buber, Kampf um Israel, S. 426.441 Ebd., S. 423.
197
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
denn es folgt: JHWH der Gott selber und er allein ist es, derüber euch walten soll.442
Am Beispiel Gideons konstruiert Buber innerhalb der
eigentlichen biblischen Geschichte eine ihrerseits absolut
ursprüngliche Urschicht der Theopolitik, die noch vor der
Entstehung des israelitischen Königtums liegt. Ob Konstrukt
oder historische Rekonstruktion,443 es ist die Epoche der
absoluten Einheit des theologisch-politischen Auftrags, der
sich allein aus dem Charisma, der göttlichen Charis, der Gabe,
begreift und aus diesem keinen andauernden, geschweige denn
erblichen Besitzanspruch ableitet. Diese reine Theokratie ist
unmittelbares Königtum Gottes, dessen Sinn eben darin besteht,
daß kein Mensch über den anderen Menschen herrschen soll, d. h.
positiv: daß jeder Mensch ohne Aufsicht eines anderen seine
individuelle Freiheit im Rahmen der Gemeinschaft entfalten
kann. „Es gibt“, schreibt Buber, „im vorköniglichen Israel kein
An-sich der Herrschaft, denn es gibt keine politische Sphäre
außer der theopolitischen“444.
Bildet nun diese Urzeit für Buber keine unhistorische
Idealkonstruktion, sondern das Stadium eines „geschichtlich
lokalisierbaren Willens“, so ergibt sich aus der Ablehnung der
Krone schon im Ansatz eine innere dialektischen Spannung, das
heißt die mögliche Dissoziation des Politischen vom
Theologischen, deren Echo Buber am Beispiel der beiden im
Richterbuch erkennbaren Reduktionstendenzen nachzuweisen sucht:442 Buber, Königtum Gottes, S. 3.443 Vgl. Karl-Johan Illman, „Buber and the Bible“, in: Mendes-Flohr, Martin Buber, S. 99: „We may conclude that the basis of Buber's theopolitical principle is very weak indeed. It could not carry the burden of his hypothetical assumptions about an early primitive monotheism that demanded direct theocracy […] Far more than the dialogical principle, the theopolitical principle stands and falls with its historical accuracy.“ 444 Buber, Königtum Gottes, S. 140.
198
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
die eine, auf Gideons Linie, antimonarchistisch, die andere
monarchistisch. Diese monarchistische Tendenz nun tritt gegen
die reine Theokratie mit dem Argument an, daß „das, was sie für
Theokratie ausgebe, doch nur Anarchie sei“445. Sehr anschaulich
wird diese monarchistische Gegentendenz zu Gideon in der
kleinen biblischen Erzählung von dem Mann Micha, der ein
eigenes Gotteshaus sich einrichtet, um dort seinen Heimgötzen
zu installieren und anzubeten. Der biblische Text erläutert den
Vorfall so: „Zu dieser Zeit war kein König in Israel und jeder
tat, was ihm recht dünkte.“ (Richter 17,6) Die Theokratie wird
also als chaotische Anarchie denunzierbar, in der der Mensch
seiner gefährlichen, bösen Natur freien Lauf lassen kann. Die
theopolitische Freiheit soll als sündige Freiheit zum Götzen
entlarvt werden. Damit steht bereits die Urphase des Königtums
Gottes in der Gefahr, zur Grundlage einer zentralistischen
Verfassung zu werden, die aus dieser als sündig verstandenen
Freiheit des Menschen die Notwendigkeit einer irdischen Macht
und Autorität ableitet.
Buber rechnet der Antimonarchie mit dem Charisma
Ursprünglichkeit, Unmittelbarkeit, Mündlichkeit, der
monarchischen Tendenz die geordnete Verfassung, Mittelbarkeit
und Schriftlichkeit zu. Dies wären also die Indizien für eine
präsentische Metaphysik.446 Wie auch immer man Bubers 445 Ebd.446 Seit Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a. M. 1976, und ders., Grammatologie, Frankfurt a. M. 1983 setzt sich jeder Diskurs der dekonstruktiven Kritik als „präsentisch“ aus. Derridas Essay über Levinas, „Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken Emanuel Levinas“, in: Die Schriftund die Differenz ist in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung, weil er zu zeigen versucht, daß die Kritik der Gewalt im Sinne Levinas der Gewalt nicht entkommen kann. Die Diskussion zwischen Marion und Derrida über die Möglichkeit der Gabe ist dabei nicht weniger von Bedeutung, insofern sie unmittelbare Konsequenzen für Bubers Theorie der Charis hat. Vgl. Robyn Horner, Rethinking God as Gift. Marion, Derrida and the Limits of Phenomenology, Fordham
199
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Charakterisierung der beiden Tendenzen im einzelnen beurteilen
will, so geht es in der mit Gideon sich meldenden Dialektik im
Grunde immer nur um eine Frage: wem das Prädikat König zustehen
soll. In dem Augenblick, wo der von Gott berufene, in Israel
für sein Volk handelnde Richter über seinen Auftrag hinaus die
eigene Position zu konsolidieren und zu institutionalisieren
sucht, beginnt sich die ursprüngliche Gesellschaft, die Buber
als eine „vollkommene Gemeinschaft aus Freiwilligkeit“447
bezeichnet, in eine durch Gesetz und Verfassung geregelte
Ordnung zu verwandeln. Damit ist für Buber schon der Anfang des
Unrechts gesetzt, insofern die Verfassung notwendig auf die
Mitglieder der Gemeinschaft beschränkt ist und es mit der
Ausgrenzung des anderen der Macht bedarf, die das Gesetz
durchsetzt. Diese Konsolidierung birgt in sich damit auch schon
die Gefahr, dem theologischen Auftrag innerhalb dieser Ordnung
eine spezifische Rolle, einen Ort, Tempel und Kult zuzuweisen,
so daß „das Königtum Gottes“ immer mehr nur noch der
Legitimation des sich etablierenden irdischen Königtums dient.
Indem sie den Auftrag verrät, verwandelt sich die Theopolitik
in politische Theologie.
2001. Der Dekonstruktivist wird eine jede Lehre der unmittelbaren, reinen und ethischen Beziehung zum Absoluten ablehnen müssen, während von einem theologisch-dialogischen Standpunkt aus immerhin das Gegenargument ernstzunehmen ist, daß die negative Theologie immer schon die Alternative von positiver und negativer Aussage, von Präsenz und Absenz, in der hymnischen Anrede durchbricht und erst in eine tatsächlich ethische Beziehung transformiert. Von daher erscheint Rose, „Reply from the Single One“, S. 162 im Geiste Derridas gegen Buber zu argumentieren: „The Single One, forced into this holy immediacy, is left to the mercy of his inner terror and of outer violence.“ Aber in Marions Sinne einer „Phänomenologie der Gabe“ ließe sich auch für Buber ein anderes phänomenologisches Profil konstruieren, das die Gabe als den Akt jenseits aller Metaphysik der Präsenz legitimieren könnte. Vgl. v.a. Jean Luc Marion, „In the Name. How to Avoid Speaking of ‚Negative Theologie‘“, in: John Caputo/Michael J. Scanlon, God, the Gift, and Postmodernism, Bloomington 1999, S. 20–42. 447 Buber, Königtum Gottes, S. ?.
200
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Aber diese von Buber gesetzte fundamentale Alternative
zwischen Gottes und des Menschen Königtum ist im Prinzip schon
Ausdruck einer in der Idee der Theopolitik angelegten
Problematik, die den Verdacht einer einfachen präsentischen
Metaphysik einigermaßen entschärft. Gott steht hier für die
absolute Forderung nach Gerechtigkeit. Das heißt immer, daß
jede mögliche Verwirklichung dieser Gerechtigkeit dem absoluten
Anspruch nicht genügen kann und erweitert werden muß. Gott ist
die permanente Differenz zwischen An- und Abwesenheit, von
Absolutem und Realem, so wie der Mensch selbst zum Doppelwesen
wird, das in der jeweiligen Situation verantwortungsvoll
handeln und zugleich das eigene endliche Handeln in Frage
stellen muß. Noch bevor es eine theopolitische Dissoziation
gibt, steht jeder einzelne, insofern er in diesen Dialog
eintritt, in einer Doppelrolle: vor der Aufgabe und der
Unmöglichkeit zugleich, Ordnung zu schaffen.
Buber erklärt das, was man versuchsweise die „theopolitische
Differenz“ nennen kann, anhand des soziologischen Begriffs des
Charismas448, den er im Zusammenhang mit dem theologischen
Begriff der Selbstoffenbarung Gottes als EHJE ASCHER EHJE (Ich
werde sein, der ich sein werde) erläutert.
Das Charisma hängt hier an der Charis und an nichts anderem;es gibt hier kein ruhendes Charisma, nur ein schwebendes,keinen Geistesbesitz, nur ein Geistern, ein Kommen und Gehender Ruach [des Geistes]; keine Machtsicherheit, nur die
448 Vgl. Max Weber, „Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft“, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Johannes Winckelmann Tübingen 1973. Buber füllt die rein formal – soziologische Dimension des Charisma mit der Theologie der Charis, die heute in der neuen theologisch orientierten Phänomenologie Marions systematisch gedacht wird. Marion, The Idol and Distance. Bubers Verdienst besteht in der Verbindung von Theologie undSoziologie, in dem Versuch, die Theologie der Charis sozial – politisch relevant zu machen.
201
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Ströme seiner Vollmacht, die sich schenkt und entzieht. DasCharisma hängt hier an der Charis eines Gottes, der jenesEHJE ASCHER EHJE dem Mose offenbart.449
Damit steht die Charis, wie Buber erklärt, „über allem Gesetz“,
aber nicht im Sinne von Webers reiner Irrationalität oder Carl
Schmitts Nichts der souveränen Entscheidung, sondern im Sinne
einer begrifflich und gesetzlich nicht definierbaren absoluten
Forderung nach Gerechtigkeit. Die Charis über dem Gesetz ist
sozusagen das reine Gesetz vor allem Gesetz, der reine Ruf nach
Verantwortung.
In diesem Sinn deutet Buber die Antwort Gottes auf die Frage
des Moses, wer er denn eigentlich sei, das EHJE ASCHER EHJE,
zuerst als Konjugation der ersten Person dessen, was im Namen
Gottes JHWH in der dritten Person ausgesagt sei. Das HAWA,
HAJA, das in der philosophischen Tradition als „Sein“ übersetzt
wird und zu der Auffassung Gottes als des Wesens, der Einheit
und der Identität hindrängt – Hegels Metaphysik des Geistes ist
die Vollendung dieses Seins- und Identitätsdenkens –, bedeutet
eigentlich vielmehr ein „Geschehen und Ereignis“ Gottes, das
völlig unverfügbar allgegenwärtig sei, das zugleich aber nur im
Zusammenhang mit dem vorher fallenden Gotteswort EHIE IMCHA
(Ich bin bei dir), also der Selbsthingabe Gottes in der Charis
zu verstehen ist.450
Die ursprüngliche Theopolitik gerät dann in ihre eigentliche
radikale Krise mit der an den Propheten gestellten erneuten
Forderung des Volkes, er möge „nun einen König über sie
einsetzen“, einen König, „wie ihn alle Völker haben“ (1. Samuel
8). Diese Forderung führt zu der Einrichtung der Monarchie in
449 Ebd., S. 146. 450 Buber, Königtum Gottes, S. 84.
202
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Israel und damit zu der komplexen Dialektik von König und
Prophet, von Macht und Gerechtigkeitsforderung, die nunmehr die
israelitische Geschichte bestimmen wird. Jetzt verteilen sich
die beiden Aspekte des göttlichen Auftrags, der Verwirklichung
und der Infragestellung, auf zwei verschiedene politische
Instanzen. Den Akt der Usurpation des Königstitels durch den
Menschen nennt Buber „theopolitische Reduktion“. Im Ansatz
zeigt sie sich schon in der Übertragung der Führung von Moses
auf Josua, dann bei Abimelech, dem ersten jüdischen König, und
in voller Ausprägung schließlich bei König Salomon.451
V Die theopolitische Stunde
Buber hat in der Auseinandersetzung mit Carl Schmitt dessen
Redewendung von „den Höhepunkten der konkreten Politik“
übernommen, um die theopolitische Intervention gegen Schmitts
Begriff des Politischen abzuheben. In dem auf der Flucht aus
Deutschland verfaßten Buch Der Glaube der Propheten definiert Buber
einen solchen Höhepunkt konkreter Politik als theopolitische
Stunde. Es geht hier um Jesajas Auftreten gegen den König Ahas.
An diesem Beispiel konkreter Theopolitik läßt sich dieser
Begriff spezifisch als ein messianisches Handeln ausweisen.
Ich übergehe die faszinierenden Ausführungen zum Kontext der
Berufung Jesajas im Todesjahr des Königs Usija, dem König des
Südreiches Judäa, im Jahre 736 v. Chr. und komme sofort zur
historisch-politischen Situation zur Zeit von König Ahas, der
von 736 bis 725 v. Chr. regiert. Das Nordreich – Israel – hat
451 Buber, Der Glaube der Propheten, S. 114.203
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
sich mit Syrien zu einem Angriff auf das Südreich Judäa
verbündet. König Ahas von Judäa will nun mit Assyrien eine
Koalition herstellen, um sich gegen den bevorstehenden Angriff
des nördlichen Feindes zu schützen. „Angesichts der wachsenden
Gefahr (2 Könige 16,3) führt er (Jesaja 3,27) seinen Sohn
durchs Feuer, worunter entweder das wirkliche Opfer des
Erstgeborenen oder dessen Ersatz durch eine Symbolhandlung […]
verstanden werden kann.“452 Dieses kultische Opfer ist schon
ganz Zeichen für seinen politischen Machtanspruch.
JHWH nun sendet Jesaja zu Ahas, und zwar mit dessen Sohn, dem
der Prophet den eigentümlichen Namen „Schaar Jaschuv“ gegeben
hat, was so viel wie „Rest kehrt um“ bedeutet. „An der Hand des
Vaters stellt der Knabe leibhaft den göttlichen Protest gegen
das Erstgeborenenopfer und zugleich die göttliche Mahnung dar:
jetzt beginnt es sich zu entscheiden, wer dem Rest angehört,
der zu mir umkehrt und den ich bewahre.“453 Mit dem Rest ist
hier jene Gefolgschaft der Getreuen Gottes gemeint, die auch in
Krisenzeiten nicht vom Königtum Gottes abfallen. Naturgemäß
handelt es sich bei diesen Getreuen um eine Minderheit, eben
einen Rest.
Was aber soll Ahas tun? Nichts anderes als „den Bündnisplan
aufgeben“. Mit dieser Sendung beginnt Jesajas Kampf gegen die
Bündnispolitik – erst die mit Assyrien (gegen das Nordreich)
und später die mit Ägypten (gegen die mittlerweile gefährlich
gewordenen Assyrer). Die Bündnispolitik ist in den Augen JHWHs
und seines Sprechers nichts anderes als eine gezielte Abkehr
von ihm. So haarsträubend die Idee zunächst erscheinen muß, im
Falle eines militärischen Angriffs sich nicht durch eine 452 Ebd., S. 172.453 Ebd., S. 171 f.
204
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Koalition abzusichern, so besitzt die von Jesaja propagierte
Theopolitik immerhin den real-politischen Aspekt, daß Judäa in
dem Versuch, sich in das Spiel der Großmächte einzumischen,
sicher seine politische Unabhängigkeit einbüßen muß. Jesajas
Politik aber versteht sich freilich, wie Buber meint, als „eine
Politik besonderer Art“454.
Es geht ihr nicht um eine alternative, aus dem Geist des
Friedens geschaffene Bündnispolitik, sondern um ein noch
Grundlegenderes: „In Umkehr und Ruhe werdet ihr befreit werden,
in Stille und Gelassenheit wird eure Macht sein.“ (30,15) Wenn
Buber nun kommentiert, daß „seit Samuels Zeit […] immer wieder
der ungetreue Statthalter Gottes und der unbeauftragte Anwalt
der Gottesherrschaft einander gegenübergestanden“ hätten, es
aber hier ganz unmittelbar um das Eigentliche: „um das Reich“455
gehe, dann kennzeichnet er diese Auseinandersetzung als ein
absolutes „Entweder-oder“ der Entscheidung – als die
theopolitische Stunde, in der die Gelassenheit gegen ein
überstürztes politisches Handeln sich erst auf die wahre
theopolitische Aufgabe besinnt.456
König Ahas nun geht auf Jesajas Rede mit dem Einwurf nicht
ein, denn er „wolle JHWH nicht versuchen“. Das heißt, wie Buber
454 Ebd.455 Ebd., S. 173 f.456 Martin Bubers Denken des theopolitischen Ereignisses im Akt der Gelassenheit erinnert in jeder Hinsicht an Martin Heideggers Lehre vom Ereignis, das sich in der Gelassenheit als Akt des Nichtwollens einstellen kann, vgl. Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie. Vom Ereignis, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 65, Frankfurt a. M. 1989; ders., Gelassenheit, Pfullingen 1959. Die Analogie ist beeindruckend, die Differenz liegt hier freilich im Problembereich der Onto-theologie. Heidegger denkt das Ereignis für die Physis jenseits der Metaphysik, während Buber dieses als Ereignis Gottes denkt, das freilich auch die Bedingungen des metaphysischen Substanzdenkenshinter sich gelassen zu haben scheint, ohne daß Buber tatsächlich die denkerische Arbeit geleistet hätte, derer es hier bedarf.
205
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
meint: „Er will der Religion ihr Recht geben, von dem Bezirk
der Politik, dem der realen Entscheidungen, hat sie sich
fernzuhalten.“457 Diese Weigerung führt zu der berühmten
Prophezeiung von der bevorstehenden Geburt eines Kindes – dem
Gegenkönig Immanuel (8,3). Diese Geburt ist zunächst Ausdruck
des Scheiterns von Jesajas Auftrag und bildet somit gleichsam
das Fleisch gewordene Eschaton.
1) Die Ankündigung von dem „Kind, das uns geboren ist“ und „die
Herrschaft auf seiner Schulter trägt“, ist also für Buber
zuallererst kein Hinweis auf einen geistlichen Gegenkönig wie
im Christentum, sondern auf ein messianisches Königtum als
„wirkliches, politisches, nur eben theopolitisches“ und ein
„mit politischer Macht zur politischen Verwirklichung des
Gottes Willens für Volk und Völker ausgerüstetes Königtum“458.
2) Als so begriffene messianisch-politische Figur ist der
Immanuel, deutsch: „Gott mit uns“, das sich realisierende
Versprechen des JHWH, der sich selbst als EHJE ASCHER EHJE (Ich
werde sein, der ich sein werde) im Sinne des EHJE IMCHA (Ich
werde bei/mit dir sein) offenbart hat. Als solcher ist der
Immanuel also Fürst des Friedens, der von der Urgemeinde des
Rests aus die Politik der Gelassenheit beginnen wird.
3) Es ist entscheidend, dass Immanuel Funktion des verfehlten
königlichen Auftrags und so aus der Spannung von Auftrag und
Infragestellung, also aus der theopolitischen Differenz
„geboren“ ist. Insofern ist er eschatologisch, aber dies in
einem unmittelbaren existentiell-politischen Sinn. Trotz der
utopischen Bildsubstanz, die sich um die Friedensvision
angesammelt hat, liegt das Spezifische der messianischen 457 Buber, Der Glaube der Propheten, S. 178.458 Ebd.
206
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Hoffnung darin, daß sie „die ewig wechselnde Mitte der
erfahrenen Stunde und ihrer Möglichkeit“ benennt.459
4) Daraus folgt, daß es, wie Buber sagt, „den Messias“ als
besondere Kategorie überhaupt nicht gibt: „der Erwartete […]
ist der Gesalbte, der seinen Auftrag erfüllt. Mehr ist nicht
Not.“460
5) Das Warten, auf das Jesaja Ahas zu verpflichten versucht,
ist als Erwartung nicht auf einen einstigen Zeitpunkt
gerichtet, sondern auf die in diesem Augenblick bereits
anwesende Möglichkeit, die – unter der Routine einer auf die
Macht ausgerichteten Politik – als das Unerhörte, Gefährliche
und Böse denunziert wird.
6) Der Immanuel als der Messias – als ein „in der Zeit
charismatisch Waltender“ – muß also aus der historischen
Situation „geboren“ werden.
Bubers Theopolitik, konzipiert aus den biblischen Ursprüngen
der Weltgeschichte, erfüllt sich messianisch, und das heißt,
sie erfüllt sich potentiell in dem Augenblick, in dem der
einzelne in jeder Gegenwart die Möglichkeit zur Herstellung des
Gottesreiches ergreift. Dieser einzelne kann jeder Mensch sein,
dieser Kairos kann schon mit jedem Augenblick begonnen haben.
459 Ebd., S. 180.460 Ebd.
207
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
VerwechslungenAbwege und Abgründe einer jüdischen politischen Theologie
jenseits von Orthodoxie und Liberalismus
I Einleitung
Die Krise des modernen Judentums – so lautet der Befund des
jüdischen Theologen und Religionsphilosophen Hans-Joachim
Schoeps – ist Funktion einer fundamentalen Verwechslung,
nämlich zwischen der jüdischen Religionsverfassung – der
Halacha – und der modernen Ethik der Autonomie.461 Da Schoeps
diese Verwechslung von theonomer Halacha und autonomer Ethik im
Sinne einer umfassenden Kritik an der jüdischen Moderne auf die
politische Revolution zurückführt, die durch die „declaration
des droits des hommes“ in Bewegung gekommen ist, handelt es
sich bei dieser Krise um eine Verwechslung politisch-
theologischer Natur.462
461 Vgl. Hans-Joachim Schoeps, Jüdischer Glaube in dieser Zeit. Prolegomena zur Grundlegung einer systematischen Theologie des Judentums, Berlin 1932. Es geht in meinem Essay vor allem um die politisch-theologische Problematik dieser kritischen Jahre, und ganz und gar nicht um ein Urteil über Schoeps’ umfangreiches und bedeutungsvolles Werk, das das Judenchristentum und besonders die Theologie des Paulus eingehend erforscht hat. Vgl. ders., Urgemeinde, Judenchristentum, Gnosis, Tübingen 1956; ders., Theologie und Geschichte des Judenchristentums, Tübingen 1949; ders., Paulus – Die Theologie des Apostels im Lichte der jüdischen Religionsgeschichte, Tübingen 1959. Diese kleine Untersuchung gehört in eine Reihe von Texten, in denen ich jüdische Reaktionen auf das politisch-theologische Problem vor und während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft zu analysieren versuche. (Vgl. Anm. 2) Der absolute Ausnahmefall, den Schoeps mit seiner „Wende“ zum Faschismus repräsentiert, begründet das Interesse dieser Untersuchung. 462 Den Begriff der politischen Theologie übernimmt Schoeps, ohne dies eigens zu vermerken, offenbar von Carl Schmitt, Politische Theologie. Dabei ist diese oft unausdrückliche Präsenz der Thesen von Schmitts politischer Theologie bis hinein zu Überlegungen zur jüdischen Theologie in keiner Weise überraschend. Jenseits von Walter Benjamins berühmtem dreifachen
197
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Diese vortreffliche Verwechslung aber bestimmt den ganzenbisherigen Verlauf der neuzeitlichen jüdischenReligionsgeschichte und ist um ein leichtes aus demSchrifttum des 19. Jahrhunderts [...] zu verifizieren. Dienähere Erläuterung der hier bestehenden Zusammenhänge, die inden Fragenkreis der „politischen Theologie“ hineingehören,würde auf alle die Probleme führen, deren grundsätzlicheLösung für die Zukunft des Judentums Entscheidungscharakterhaben.“463
Das Gesetz Gottes wird zum Gesetz der Selbstbestimmung, das
sich der Mensch in der Polis selbst gibt. Wenn es sich also um
eine Verwechslung, d.h. um eine nicht legitime Gleichsetzung,
handeln soll, so bedarf es einer Dissoziation dieser beiden
vermeintlich identischen Verfassungen und der diese
Verfassungen tragenden metaphysischen Entitäten von Gott und
Mensch. „Gott ist Gott, und Mensch ist Mensch“464, resümiert
Schoeps den ersten Sinn dessen, was er in Anlehung an die
dialektische Theologie des Protestantismus als „Besinnung“
vollziehen will.
Nun meint Schoeps aber, daß eine Rückkehr zur orthodoxen
Verfassung des Judentums unter den Bedingungen dieser
Zitat der politischen Theologie im Trauerspielbuch (in: Gesammelte Schriften, Bd. II.1, S. 412 f.) bestimmt die politisch-theologische Problematik v. a.:Hans Kelsen, „Gott und Staat“, in: Logos – Zeitschrift für Philosophie der Kultur, XI, 1923, S. 261–284, Breuer, Programm oder Testamen, Ignaz Maybaum, „Der Jude unddie Politik der Zeit“ (Jüdische Rundschau vom 4. VIII. 1931), ders., „Theologie und Politik“ (Der Morgen, VII, 1932). Martin Bubers Begriff der Theopolitik, der in seiner Untersuchung Königtum Gottes, Berlin 1932, eine zentrale Rolle übernimmt, entstammt, folgt man Bubers Die Frage an den Einzelnen,tatsächlich aus einer kritischen Auseinandersetzung mit Carl Schmitt und dem ihm politisch folgenden Friedrich Gogarten. Ich habe in meinem Buch Der Häretische Imperativ zu zeigen versucht, wie selbst die Wiederentdeckung der Kabbala durch Gershom Scholem sich als Reflex auf die politisch-theologische Problematik im Deutschland der zwanziger und dreißiger Jahre auffassen läßt. Vgl. auch meinen Essay, „Wa Taschlech Emet Arza – Und er warf die Wahrheit zu Boden. (Daniel 8:12) – Apokalypse, politische Theologie und Historiographie der Kultur in Elias Bickermanns Der Gott der Makkabäer, Berlin 1937“, in: Brokoff/Jacob, Apokalypse und Erinnerung. 463 Schoeps, Jüdischer Glaube, S. 4.464 Ebd.
198
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
existenziell-theologischen Notlage genauso unmöglich sei wie
die vorbehaltlose Liberalisierung der Theologie. Es gelte,
genauso „dem liberalen Irrwahn entgegenzutreten“, wie man die
„Ungeschichtlichkeit des orthodoxen Anspruchs“ abwehren müsse,
die glaubt, im „Versenken in die Streitigkeiten der
halachischen Gesetzeskommentierung“ könnte der „konkreten
Notlage der allgemeinen Glaubenslosigkeit“465 begegnet werden.
Die Trennung der inkommensurablen Verfassungen – der
religiösen und der politischen Verfassung – zielt auf ein
„prinzipielles Jenseits von Orthodoxie und Liberalismus“,
dessen existenziell-theologisches Fundament Schoeps vor allem
in den „Prolegomena zur Grundlegung einer systematischen
Theologie des Judentums“ von 1932 darlegt, dessen praktisch-
politische Implikationen er dann 1934 im Rahmen des populären
Pamphlets „Wir deutschen Juden“ formuliert,466 das sich an die
deutschen Juden als politische Öffentlichkeit wendet. Hier wird
das existenziell-theologische Jenseits wieder politisch
diesseitig, d.h. es kommt zuletzt, gegen die explizite
Intention, zu einer neuen Verwechslung zwischen Theologie und
Politik, diesmal zwischen der Theologie der Offenbarung und dem
Führerstaat. Dabei gilt es allerdings noch einmal entschieden
zu differenzieren zwischen der Rolle der Politik im deutschen
465 Ebd.466 Hans-Joachim Schoeps, Wir deutschen Juden, Berlin 1934. Diesen Text veröffentlicht Schoeps zugleich mit seiner Fortführung der in Jüdischer Glaube in dieser Zeit formulierten Prolegomena in Berlin. Im Vorwort meint Schoeps immerhin, seine Leser vor einer nur politischen Lesung dieses Textes warnenzu müssen: „Ich darf betonen, daß dieses Werk im Unterschied zu einem Teil meiner Arbeiten streng wissenschaftlich orientiert ist und mithin den Aspruch erhebt, entsprechend beurteilt zu werden. Demzufolge möchte ich auch an meine jüdischen Kritiker die leider nötig gewordene Mahnung zu intellektueller Redlichkeit richten, nicht die eigenen Haßgefühle sachlich zu drapieren, sondern lieber zu schweigen, als unangemessen zu urteilen.“ (S. ?)
199
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
und im genuin jüdischen Kontext, die Schoeps in der Tat nach
1933 in einer schizophrenen Form noch einmal zusammenzudenken
versucht.
Ziel der folgenden Untersuchung ist es, Schoeps’ Theologie
als esoterisch-exoterische Doppelstrategie darzustellen, d.h.
als Versuch, die esoterische Erkenntnis von der Krise der
modernen jüdischen Theologie in eine öffentlich-praktische
Strategie zu übersetzen. Erst über diese Übersetzung des
theologischen Textes in die populär-politische Sphäre können
die genannte schizophrene Form seiner deutsch-jüdischen
politischen Theologie, aber auch der fundamentale performative
Widerspruch von Schoeps Theologie, die eigene
politisch/theologische Verwechslung also, ganz offenbar werden.
II Grundriß einer neuen jüdischen Theologie
Das Programm der Disjunktion von jüdischem Religionsgesetz und
bürgerlichem Liberalismus enthält implizit und notwendig das
Programm einer Emanzipation von dem Modell der protestantischen
Theologie des 19. Jahrhunderts mit ihrer Fusion von Theologie
und Ethik bzw. Protestantismus und Kultur. Diese Loslösung aber
von dem protestantischen Modell will Schoeps nun gerade in
Anlehung an die neue protestantische Theologie, also der
dialektischen Theologie Karl Barths467 vollziehen. Die in dieser467 Vor allem Karl Barth, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, München 1924, spielt eine zentrale Rolle in der von Schoeps intendierten Neubegründung jüdischer Theologie jenseits des Liberalismus. Aber die Aufkündigung einer jeden Symbiose zwischen Glauben und (liberaler) Kultur gehört natürlich schon zum Pathos von Karl Barth, Der Römerbrief, München 1923. Solche Sätze wie: „Keine Vermählung und Verschmelzung zwischen Gott und Mensch findet hier statt. Kein Aufschwung des Menschen ins Göttliche und keine Ergießung
200
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
neuen Theologie vollzogene Disjunktion von Theologie und
liberaler Kultur, von Glauben und bürgerlichem Gesetz wird
damit nicht nur zum Modell für eine innerjüdische Disjunktion
von Religionsgesetz und Staatsgesetz, sondern zugleich für eine
neue Bestimmung des Verhältnisses von Judentum und Christentum.
Zunächst also stellt Schoeps das beiden Theologien gemeinsame
Interesse in den Vordergrund: „Die Synagoge hat, genauso wie
die Kirche, den Auftrag, in ihrer Predigt an die Welt zur
Geltung zu bringen, daß Gott der Herr ist, und daß die Welt,
die sich seinem Herrschaftsanspruch entzieht, dem Gericht
verfällt.“ 468 Schoeps bezieht sich in dieser Forderung nach
einer Emanzipation Gottes vom autonomen Herrschaftsanspruch des
Menschen vor allem auf Karl Barth, und das heißt hier auch auf
die Einsicht Barths, daß das Wort des souveränen Gottes nur in
der stets unzulänglichen menschlichen Sprache sich darstellen
läßt. „Keine Theologie wird jemals etwas anderes als
menschliche Besinnung [...] auf das Wort Gottes und
menschliches Sprechen über es sein, nie und nimmer aber das
Wort Gottes selber, das sich keinem Menschen [...] zur
Verfügung stellt.“469
Eben diese hermeneutische Voraussetzung der dialektischen
Theologie ermöglicht zugleich einen neuen Zugang zum Text des
Alten Testaments, der in der protestantischen Wissenschaft vom
Gottes ins menschliche Wesen.“ (S. 6) So heißt es bei Barth auch einmal: „Wir VERWECHSELN die Zeit mit der Ewigkeit.“ (S. 20) oder an anderer Stelle: „Jene VERTAUSCHUNG rächt sich, sie wird ihre eigene Strafe.“ (S. 26) Die Liste ließe sich unendlich fortsetzen. Im Unterschied jedoch zu Schoeps zielt Karl Barths radikale Kulturkritik aber nicht auf eine Abkehr von der modernen Idee politischer und sozialer Emanzipation und Freiheit, sondern trennt diese Idee nur von jeder messianisch inspirierten Theopolitik.468 Schoeps, Jüdischer Glaube, S. 3.469 Ebd., S. 5.
201
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Alten Testament im 19. Jahrhundert nur unter dem Aspekt des
christologischen Hinweises und dann im Zuge der Säkularisation
der theologischen Wissenschaft als ein Objekt philologischer,
historischer und soziologischer Analyse gelesen werden konnte,
und von hier aus ermöglicht sie den Ansatz zu der geforderten
Abgrenzung zwischen Judentum und Christentum. Mit anderen
Worten: Der von der dialektischen Theologie gesetzte
hermeneutische Zugang, der auch das wissenschaftliche Denken
unter den Primat des „existenziell – revolutionären Glaubens“
stellen soll, ermöglicht erst ein rechtes Verständnis dessen,
was das Wort Gottes im Alten Testament bedeutet. Dieses
alttestamentliche Wort aber ist das verkündete Gesetz.
Auch hier noch verständigt sich Schoeps mit einer Einsicht
der dialektischen Theologie470, nämlich der, daß „auch der
oberflächliche Beobachter nicht umhin kann, die Rolle des
göttlichen Gesetzes als ein spezifisches zu bewerten“, und daß
das „rechte Verständnis des alttestamentlichen Heilsgesetzes
[...] durch die fatale Identifikation des alttestamentlichen
mit dem Vernunftgesetz verdunkelt worden ist“ 471. Statt daß
also der Theologe mithilfe seiner philologisch-
wissenschaftlichen Methodik souverän über das Objekt des Textes
verfügt, soll – das ist der hermeneutische Sinn der Insistenz
auf dem unendlichen qualitativen Unterschied zwischen Gott und
Mensch – das Wort des souveränen Gottes über den Menschen
verfügen, und das heißt für den jüdischen Kontext, daß das
göttliche Gesetz über den Menschen und nicht der Mensch über
den Inhalt des göttlichen Gesetzes verfügen soll.
470 Vgl. Emil Brunner, „Die Bedeutung des Alten Testaments für unseren Glauben“, in: Zwischen den Zeiten 1, 1930.471 Schoeps, Jüdischer Glaube, S. 23.
202
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Schoeps’ Rekapitulation der Geschichte der Wissenschaft vom
Alten Testament von Lorenz Bauer über Gustav Friedrich Oehlers
„Prolegomena zur Theologie des alten Testaments“472 bis zu Max
Webers „Religionssoziologie“473 dokumentiert nicht nur den
christlichen Primat dieser Wissenschaft, sondern vor allem
ihren Zerfallsprozeß, in dem „zuletzt alles geschichtlich und
wissenschaftlich begriffen“ wurde, aber ohne „einen lebendigen
Gott“. Auch wenn die dialektische Theologie diesen
Zerfallsprozeß dann radikal überwinde, indem sie, wie bei
Walther Eichrodt, wieder davon ausgehe, daß „es des Glaubens
bedürfe, der als das Erkenntnisorgan für die pneumatische Welt
wirklich die Welt der Bibel aufschließen könne“474, so gelte in
letzter Instanz, daß ein Christ eben nicht zugeben könne, „daß
das alte Testament für sich ausreichende Offenbarung und
alleiniger Glaubensgegenstand sein und das Gesetz auch ohne
Christus Heilscharakter“475 haben könne. So liefert also die
dialektische Theologie die Bedingungen für eine Umkehr
theologischen Denkens, die auch für die jüdische Theologie
maßgebend werden muß, aber es bedarf doch eines letzten
radikalen Rückzugs in die eigentliche jüdische Tradition, „denn
bis auf den heutigen Tag hängt die Decke Mosis über dem
Verständnis des Alten Testaments (2. Kor. 3,14)“476. Genau hier
also scheint sozusagen der Ansatzpunkt bezeichnet zu sein, wo
der jüdische Theologe sich vom Paradigma der protestantischen
Theologie unbedingt zu trennen hat: in der Forderung nach einem
472 Gustav Friedrich Oehler, Prologomena zur Theologie des alten Testaments, Stuttgart,1845.473 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen 1920.474 Schoeps, Jüdischer Glaube, S. 20.475 Ebd., S. 24.476 Ebd.
203
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
adäquaten theologischen Verständnis des Heilscharakters des
Gesetzes (nach dessen fataler Verwechslung mit dem Gesetz der
praktischen Vernunft der Autonomie bzw. den Menschenrechten).
Aber genau hier nun, wo der Ansatzpunkt für eine „autonome“
Konzeption des Judentums gegeben wäre, zeigt sich auch, daß es
Schoeps gar nicht primär um das Gesetz, sondern wie den
dialektischen Theologen doch um den Glauben geht. Wenn die
„Ungeschichtlichkeit des orthodoxen Anspruchs“, durch ein
„ernsthaftes Versenken in die Streitigkeiten der halachischen
Gesetzeskommentierung“ zurück zu den Wurzeln des Judentums zu
gelangen, „unserer konkreten Notlage der allgemeinen
Glaubenslosigkeit“ tatsächlich nicht gerecht werden könne477, so
gelte es „vor der Übernahme des Gesetzes erst einmal die
Daseinshaltung zu übernehmen, auf die hin das Gesetz gegeben
ist und in der es im Heilssinne überhaupt erst wirksam wird“478.
Es gehe „um das GESETZ VOR DEN GESETZEN, das deswegen niemals
als Verpflichtung kodifiziert [...] zu werden brauchte, weil es
selbstverständlich war als die unausdrückliche Voraussetzung
gesetzlichen Lebens: die Jirat Adonai, die Gottesfurcht.“479
Mit der dialektischen Theologie will Schoeps Gottes Wort aus
der Verfügungsgewalt des autonomen Subjekts befreien, so daß
das Wort Gottes über das Subjekt verfügt, aber damit Gottes
Wort im jüdischen Sinn als Gesetz über das Subjekt verfügen
kann, muß das Subjekt überhaupt fähig sein, an Gott zu glauben.
Der Glaube als Bedingung der Möglichkeit des Gesetzesgehorsams
ist so das Gesetz vor dem Gesetz, das in der Moderne
verlorengegangen ist.
477 Ebd., S. 4.478 Ebd., S. 44.479 Ebd.
204
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Die Halacha ist nicht mit dem Gesetz der Autonomie zu
verwechseln. Dies war der erste Akt dessen, was Schoeps
„Besinnung“ nennt und auf eine radikale Disjunktion beider
Verfassungen abzielt. Die Halacha kann aber nicht so
praktiziert werden, wie es die Orthodoxie verlangt, nämlich als
schlechthin und selbstverständlich zu befolgendes Gesetz. Es
bedarf einer Instanz, die vor der Gesetzesannahme an den
Gesetzgeber überhaupt glaubt. Damit wäre der zweite Aspekt der
Besinnung bezeichnet, die Schoeps in Bewegung bringen will. Es
geht ihm damit in seiner Auseinandersetzung mit der jüdischen
Theologie seit Mendelssohn zuletzt also um eine Restitution des
Glaubens, mittels der Rehabilitation des von dieser Theologie
verworfenen Dogmas. Wenn also Mendelssohn mit seiner Frage, „ob
denn das Judentum überhaupt spezifische Glaubenswahrheiten –
etwa im Sinne der christlichen Dogmen – als seine
Existenzbedingung erkenne“480, eben das Dogma radikal in Frage
stellt und das Judentum als Paradigma einer Vernunftreligion
allein aus dem Gesetz konstruiert, so sucht Schoeps das Dogma
als die Wahrheit des Glaubens zu erneuern, um von ihm aus das
Gesetz neu zu begründen.
Es ist mithin Mendelssohns Reduktion des Judentums auf die
natürliche Religion bzw.die Religion der Vernunft, die für
Schoeps immer schon die beiden, die ganze jüdische Moderne
bestimmenden gefährlichen Konsequenzen enthält: 1) die
Gleichsetzung von Gott und Gesetz und 2) die Möglichkeit einer
über die Einsicht in den vernünftigen Charakter des Gesetzes
vollziehbaren Gleichsetzung von göttlichem und menschlichem
Gesetz.
480 Ebd., S. 33.205
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Die politisch-theologische Verwechslung wäre also in letzter
Instanz durch die Gleichsetzung von Gott und Gesetz bedingt, so
daß hier Schoeps’ Verdacht gegen einen einfachen Rückgang auf
das Gesetz seine letzte Begründung aus der Problematik der
Vernunftreligion erhält. Es bedarf zunächst und vor allem der
Instanz des Gesetzgebers jenseits des Gesetzes, die durch keine
Vernunft mehr zu begründen ist, sondern nur durch die im
Glauben enthüllte Wahrheit des Dogmas.
Nicht nur findet Schoeps bekanntlich in dem jüdischen
Theologen Salomon Ludwig Steinheim den idealen Verbündeten bei
dieser intendierten Rückkehr zu Glauben, Offenbarung und Dogma,
sondern Steinheims Diagnose zur Geschichte der jüdischen
Theologie nach Mendelssohn entspricht Schoeps’ eigener Analyse
der Folgen der primären Gleichsetzung von Gott und Gesetz: „Wer
den Gott aus dieser Gesetzgebung verbannt hat, hätte nichts
eiligeres und besseres zu tun als das autoritätslose Gesetz ihm
noch nachzusenden: das ist Konsequenz.“481 Offenbarung erst
ermöglicht die Konstitution des Gesetzgebers des Gesetzes und
damit die Autorität vor jeder Vernunft.
Die große objektive Bedeutung, die seinem [Steinheims]Vorgehen zukommt, ist diese, daß er schlechthin als einzigerim modernen Judentum versucht hat, konsequent von dersupranaturalen Offenbarung aus zu denken und diese als dasausschließliche Lehrthema der jüdischen Theologie von allerspekulativen, rationalistischen und idealistischenPhilosophie zu distanzieren.482
Mit Steinheims Theologie der Offenbarung versucht Schoeps also
die Rückversicherung des Glaubens im dogmatischen Fundament zu
begründen.
481 Ebd., S. 38.482 Ebd., S. 45.
206
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Wenn Schoeps also, wie die dialektische Theologie des
Protestantismus, zuletzt doch wieder den Glauben ins Zentrum
seiner Theologie rückt und ihn unter dem Zeichen der Krise
sogar noch vor und über das Gesetz stellt, so erhebt sich
allerdings die Frage, wie denn dieser Glaube bzw. die
Entscheidung für den Glauben zustande kommen soll – befindet
sich doch das moderne Subjekt gerade in einer radikalen Notlage
der Glaubenslosigkeit. Ja, es ist eben diese Glaubenslosigkeit,
die den Schritt zurück in den orthodoxen Gesetzesgehorsam
verhindert.
Mit dem Glauben ist zunächst nur der gleichsam post-moderne
Ort der Neubegründung der jüdischen Theologie als ein
„Jenseits“ von Orthodoxie und Liberalismus bezeichnet. Darüber
hinaus muß dann der Glaube als Haltung, die Notlage und Krise
des Judentums überwinden soll, Glaube des einzelnen Menschen
sein. Der Glaube ist – auch hier bewegt sich Schoeps ganz in
der Sprache der dialektischen Theologie – eine existenzielle
Entscheidung. Aber diese existenzielle Situation, aus der die
Entscheidung gewonnen werden soll, ist eben durch den „Verlust
der Möglichkeit eines theonomen Daseinsverständnisses“
überhaupt gekennzeichnet, so daß „das dem Heilsgesetz
entfremdete, von Surrogatbeziehungen durchwirkte Leben immer
drohender in den Abgrund der Sinnlosigkeit zu stürzen Gefahr
läuft“483. Symptomatisch für diesen „Verlust eines theonomen
Daseinsverständnisses überhaupt“ sei nun Martin Heideggers
Fundamentalontologie des Daeins als die „unser Zeitalter
repräsentierende Daseinsverfassung des Unglaubens“484.
483 Ebd., S. 84.484 Ebd., S. 87.
207
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Wenn Schoeps die existentialontologische Rhetorik hier
einsetzt, so zum einen, um den positiven Horizont zu
skizzieren, von dem aus „unter den existenziellen Möglichkeiten
des Gegenwartsmenschen diejenige Möglichkeit, sein In-der-Welt-
sein zu begreifen“ erkennbar wird, die einen „Bezug auf das
Daseinsverständnis des alttestamentlichen Menschen hat“ 485, zum
anderen, um den von Heidegger selbst entworfenen Seinshorizont
des Daseins als „Inbegriff der Vergeltung“ , d.h. als
Strafgericht Gottes in den Blick zu bekommen. Der eigentliche
Sinn der theologischen Besinnung liegt in dem Verstehen des
Sinns vom Sein des Daseins als Gottesverlassenheit und
Gottesgericht über das Dasein,
das in eigener Mächtigkeit sich aus sich selber verstehenwill und daher auf seine Ungesichertheit stößt, die Angst desIn-der-Welt-seins erfährt, [...] die Leiden in quälenderSinnlosigkeit über sein Dasein kommen sieht, weil es sienicht als Schickung des in Gerechtigkeit strafenden Gottesverstehen kann.486
Soll die mögliche Umkehr des glaubenslosen zum glaubenden
Dasein durch die Einsicht in den kausalmoralischen Zusammenhang
vom Sein des Daseins und vom Gottesgericht möglich werden, so
steht dieses glaubenslose Dasein allerdings auch schon selbst
in der Sphäre „jenseits von Orthodoxie und Liberalismus“.
Seinsmächtigkeit und Entschlossenheit, die ontologische
Möglichkeit, vor der Bedrohung durch den Tod und das Nichts zu
bestehen, sind bei Heidegger bekanntlich Ausdruck einer
radikalen Freiheit, in der sich das Dasein wohl selbst
bestimmt, aber sich potentiell eben über die Allgemeinheit, das
485 Ebd., S. 4.486 Ebd., S. 79.
208
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
berühmte „Man“, auch schon erhebt.487 Das Dasein, auf sich
selbst zurückgeworfen, wird so zu einer Art Freiheit vor der
Freiheit; es ist, indem es ihm um sein „jemeiniges Dasein“
geht, nämlich offenbar frei, sich dem die Gemeinde
verpflichtenden Gesetz der Autonomie zu unterwerfen oder nicht.
So enthält die ontologische Daseinsbestimmung immerhin schon
die Möglichkeit der Überwindung der liberal-autonomen
Verfassung der politischen Gemeinde, allerdings noch nicht die
gesuchte Neubegründung der theologischen Gemeinde. Diese soll
erst durch die Besinnung auf das im Seinsverständnis verborgene
Gottesgericht möglich werden. Schoeps Rekurs auf Heideggers
Existentialontologie verbirgt aber so zuletzt mehr, als daß sie
das Problem des Glaubens zu erhellen vermag. So scheint die
Entscheidung des Glaubens bzw. die Entscheidung für den Glauben
in letzter Instanz eine absolute Seinsmächtigkeit des Daseins
vorauszusetzen, die vor und gleichsam über jeder göttlichen
Gesetzlichkeit steht. Sie bezeichnet eine Art Super-Autonomie
und Souveränität, die allerdings im Akt der Entscheidung gerade
zurückgenommen werden soll.
Zugleich bleibt mit dem theologischen Problem des Glaubens
die eigentlich politisch-theologische Problematik ohne weitere
Klärung. Zwar hat Schoeps betont, daß die für die jüdische
Moderne typische Verwechslung von theologischem und politischem
487 Solche Sätze wie der folgende aus Martin Heidegger, Sein und Zeit,Tübingen 1984, S. 306 sind sozusagen notorisch bekannt: „Entschlossen übernimmt das Dasein eigentlich in seiner Existenz, daß es der nichtige Grund seiner Nichtigkeit ist. Den Tod begriffen wir existential als die charakterisierteMöglichkeit der Unmöglichkeit der Existenz [...].“ Über den politischen Sinn dieser Entschlossenheit ist von Christian von Krockow, Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger, Stuttgart 1958 bis zu Victor Farias, Heidegger und der Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1989 und Richard Wolin, The Heidegger Controversy, New York 1991, das Nötige gesagt worden.
209
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Gesetz in den Fragenkreis der politischen Theologie
hineingehöre und so auf die Probleme führe, deren
grundsätzliche Lösung für die Zukunft des Judentums
„Entscheidungscharakter“488 habe , aber der theologische Traktat
gelangt über eine Kritik an der modernen politischen Theologie
des Judentums nicht eigentlich hinaus, auch wenn er das
„Jenseits von Orthodoxie und Liberalismus“ existentiell durch
den Glauben zu skizzieren unternimmt. Die politische Dimension
läßt sich zunächst nur durch die existentiell-analytische
Spekulation über das Glaubensproblem hindurch erahnen, nämlich
als Funktion jener ontologischen Souveränität, die in eigener
Seinsmächtigkeit Gesetz und Verfassung der Polis zu
suspendieren wagt. Den eigentlich politischen Sinn dieser neuen
jüdischen Theologie wird Schoeps in dem populären Pamphlet „Wir
deutschen Juden“ von 1934 erläutern.
III Schoeps’ „Begriff des Politischen“
Auch das Pamphlet „Wir deutschen Juden“, das Schoeps 1934 in
Berlin veröffentlicht, deutet die Krisensituation des modernen
Judentums als Folge der tragischen Verwechslung von Halacha und
liberalem Gesetz, die sich in der programmatischen Erklärung
der französischen Nationalversammlung „La declaration des
droits des hommes et la recomplicement de la loi mosaique“
ausspricht. Durch die nationalsozialistische Machtergreifung
ist aber nun gleichsam der faktisch-politische Nachweis für die
theologische Krisenbehauptung erfolgt. „Erst heute zeigt es
488 Schoeps, Jüdischer Glaube, S. 4.210
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
sich, mit wirklich zweifelsfreier Deutlichkeit, daß die
Emanzipationsära noch nicht die messianische Zeit gewesen ist,
daß die Menschenrechte von 1789 und das Sinai-Ereignis zu
Unrecht in Eins gesetzt worden sind.“ 489 Der Text von 1934
wiederholt im Wesentlichen die Thesen der theologischen
Prolegomena, nur konkretisiert er jetzt deren politischen Sinn,
in dem Bewußtsein, daß die „Fehlentwicklung eines langen
Zeitraums so rasch nicht korrigiert wird, eines Zeitraums, in
dem wir religiös an den Abgrund gekommen und demzufolge auch
politisch in die Katastrophe getrieben sind“490 .
Schoeps spricht vom „Ausgangspunkt“, auf den die jüdische
Geschichte nunmehr zurückgeworfen sei, oder von dem
„Trümmerhaufen“, vor dem das deutsche Judentum heute stehe.
Wenn es nun auch hier das theologische Gesetz vom liberalen
Gesetz zu trennen gilt, so bedeutet das zunächst, daß das
Judentum sich auf seinen wahren theologischen Ursprung zu
besinnen und somit von seiner Identifikation mit jeder
liberalen Politik Abstand zu nehmen habe. Diese Abstandnahme
von der liberalen Politik eröffnet allerdings die Perspektive
auf das, was immer schon – vor dem Zeitalter der Verwechslung –
als Wesen jüdischer Politik gegolten hat, oder wie Schoeps
jetzt auch im Sinne des Jargons der neuen Machthaber
feststellt, jenseits der „Gleichschaltung von Halacha und
Liberalismus“491 Für die Epoche nach der Tempelzerstörung durch
die Römer – ihr entspricht der aktuelle historische Augenblick
einer metaphorischen „Tempelzerstörung“ der liberalen Theologie
– gilt, daß „der König dieses Volkes durch ein sichtbares
489 Ebd., S. 23.490 Ebd., S. 26.491 Ebd., S. 22.
211
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Zeichen der Geschichte gesprochen hat und daß somit das von ihm
für sein Volk in Stellvertretung befristet zugelassene
Menschenkönigtum Davids bis auf weiteres suspendiert worden
ist“492.493
Die Dissoziation zwischen Religions- und Staatsgesetz
geschieht damit im Sinne einer fundamental antisouveränen
Haltung des jüdischen Religionsgesetzes gegenüber der Idee
eines jüdischen Staates bzw. einer jüdischen souveränen Politik
überhaupt. An die Stelle der politischen Verfassung tritt die
Religionsverfassung, die Halacha, die die Suspension der
jüdischen Machtpolitik bezeichnet.
Die Halacha ist die Suspension jüdischer Machtpolitik im
Namen von Orthodoxie und Orthopraxie des Gesetzes, das nur Gott
als König anerkennt. Damit besteht immer schon eine
fundamentale Differenz zwischen dem innerjüdischen „Begriff des
Politischen“ und dessen Begriff im nichtjüdischen Kontext.
Das Zeugnis der Geschichte lehrt, daß ein Volk nur Volk wirddurch seinen König, und solange Volk bleibt, als königlicheGewalt vorhanden ist, welcher Satz auch für republikanischeGeschichtszeiten Geltung hat, in denen die potestas regis nureine andere Wirkgestalt annimmt. Erlischt die königlicheGewalt eines Volkes, so gerät es in Knechtschaft, geht esseines Bodens und seiner Lebenskraft verlustig, hört es aufVolk zu sein.494
Tritt also im Judentum an die Stelle der königlichen die
göttliche Souveränität und die göttliche Verfassung, so ist 492 Ebd., S. 16493 Diesen Zusammenhang hat zuletzt Yerushalmi, Diener von Königen und nicht von Dienern, S. 19 etwa, wieder klar herausgestellt: „Aus dem frühen dritten Jahrhundert kennen wir das berühmte Dictum des babylonischen Gelehrten Mar Samuel – Dina de Malchuta Dina, das Staatsgesetz ist Gesetz – will sagen, daß das jüdische Gesetz die Autorität der Gesetzgebung des Staates für alleseine Einwohner verbindlich anerkannte.“ Hierzu v.a. auch Glatzer, Geschichte der talmudischen Zeit. 494 Schoeps, Wir deutschen Juden, S. 16.
212
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
damit nicht nur die wie auch immer leidensvolle Existenz des
jüdischen Volkes gewährleistet, sondern diese besondere
metapolitische Existenz wird möglich nur dadurch, daß die
jüdische Religionsgemeinde unter der realen Herrschaft eines
nichtjüdischen Souveräns sich stellt, der die spezifische
Religionsverfassung der Juden anerkennen soll. Schoeps beruft
sich auf eine talmudische Aussage, die diesen Zusammenhang für
die Zeit nach der Tempelzerstörung prägnant auf den Begriff
bringt. Nach Rabbi Jose ben Rabbi Chanina (Ketubot IIIa) sollen
folgende von Gott auferlegten Eidesschwüre eingehalten werden:
daß die Israeliten nie die Wiederherstellung ihres Staates aus
eigener Macht versuchen sollen, daß sie nie dem Staat, in dem
sie leben, untreu werden, daß die Staaten – so beschwor der
Ewige die Weltvölker – diese nicht unmäßig drücken sollen. 495
Das bedeutet also, daß die Juden dem nichtjüdischen Staat
Gehorsam zu leisten haben, solange freilich dieser ihnen nicht
das Recht der Religionsausübung verwehrt. Nun aber wird mit der
nationalsozialistischen Machtergreifung nicht nur die liberale
Verfassungsordnung, die Schoeps für die politisch-theologische
Krise des Judentums verantwortlich macht, suspendiert, sondern
dieser neue antiliberale Staat suspendiert damit auch die
politisch-rechtliche Gleichberechtigung der Juden, die nunmehr
als eben die Repräsentanten des Liberalismus den
nationalsozialistischen Begriff vom politischen Feind
bestimmen. „Am 31. Januar 1850 wurde in dem Erlaß der
preußischen Verfassungsurkunde die volle Gleichberechtigung der
preußischen Juden ausgesprochen, am Tage der
Nichtariergesetzgebung, dem 7. April 1933 ist sie zu Ende
495 Ebd., S. 17.213
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
gegangen.“496 Nun wäre angesichts dieser Situation, die Schoeps
als Katastrophe kennzeichnet, zu erwarten gewesen, daß er die
eigene antiliberale Haltung kritisch überdenkt und die
Möglichkeiten von Auswanderung, Exil und zionistischer
Alternative erwägt. Stattdessen geht er zunächst zu einer
Legitimation der nationalsozialistischen Revolution über, die
den theologischen Antliliberalismus auf der politischen Ebene
praktiziert. „Im Zeitalter des liberalen Bürgertums sind alle
urtümlichen Bindungen und Arteigenheiten [...] mißachtet,
aufgelockert und an den Rand der Auflösung gebracht worden,
zugunsten eines farblosen und abstrakten Menschheitsideals.“497
Da diese Destruktion nicht durch den Nationalsozialismus,
sondern eben durch die modernen Mächte von „Internationalismus
und Pazifismus, Sozialismus und Liberalismus“ bewirkt worden
sei, „mußte die nationalsozialistische Revolution passieren,
weil sie in der Substanz bereits passiert war. Passiert als
Liquidationsprozeß, der alle Mächte, Kräfte und Schichten, die
diesem Ausbruch entgegenstanden und ihn noch hätten hemmen
können, bereits verzehrt hatte.“498 Nicht nur verirrt sich
Schoeps’ Diskurs in die Abwege der nationalsozialistischen
Rhetorik, sondern was als Katastrophe zunächst beschrieben
wird, entspricht einer historischen Notwendigkeit, die dann
umgehend noch einen explizit positiven Sinn erhält. Die
nationalsozialistische Revolution entspricht nämlich „einer
ursprünglichen deutschen Möglichkeit“ 499, ja Schoeps ist sogar
willens, die rassische Ideologie prinzipiell zu legitimieren.
496 Ebd., S. 23.497 Ebd., S. 24.498 Ebd., S. 33.499 Ebd., S. 34.
214
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
„Um der Wahrung des Volkskörpers willen mußte daher das
biologische Thema angeschlagen“ 500 werden.
Mit anderen Worten, derselbe Schoeps, der als Jude aus
traditionell-theologischen Gründen eine Haltung metapolitischer
Abstinenz im Namen des halachischen Gesetzes fordert,
legitimiert als Deutscher tatsächlich den Führerstaat, der die
liberale Verfassung nicht nur der politischen Öffentlichkeit
suspendiert, sondern die Juden aus dieser Öffentlichkeit schon
ausgrenzt! Er treibt also die Beziehung zwischen jüdischer
Theologie und deutscher Politik bis zu ihrer äußersten
Antithetik und Widersprüchlichkeit, ja Schizophrenie. Nicht nur
kollidiert die jüdische Metalogik, die das Königtum Gottes
vertritt, und als solches das Königtum des Menschen radikal in
Frage stellt, auf der grundsätzlichen Ebene mit dem neuen
politischen Regime, auch die traditionell legitime Möglichkeit,
daß das Gotteskönigtum der jüdischen Gemeinde unter einem
nichtjüdischen Souverän gegründet werden muß, ist durch die
nationalsozialistische Judenpolitik praktisch ausgeschlossen.
Schoeps verlangt trotz alledem hier noch „Besinnung“, er
verlangt, „durch alles Leid und Ressentiment hindurchzustoßen,
um eine positive Stellung zu finden, zum Deutschland, wie es
heute ist“501.
Diese Besinnung verwirft nun in einem ersten Akt virtuoser
Verwechslung ihrerseits den jüdischen Staat aus denselben
Gründen, aus denen er den Führerstaat begrüßt.
Gegen die Anerkenntnis der objektiven Werte und die Geltungder geschichtlichen Objekte richtet sich seit NietzschesAppell zum Sturmlauf gegen einen abstrakt und damit
500 Ebd.501 Ebd., S. 33.
215
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
unwirklich gewordenen „Geist“ der moderne Vitalaufstand fürBlut und Seele, der heute an den verschiedensten Stellen,aber aus demselben Impuls ausbricht, so daß tatsächlich derNationalsozialist Ludwig Klages und der Zionist Joachim Prinzaus demselben Lebensgefühl heraus existieren undargumentieren.502
Aber eben deshalb ist die zionistische Option für Schoeps noch
weniger diskutabel, weil sie nur eine Verlängerung der
liberalen politischen Theologie auf der nationaljüdischen Ebene
und als solche wieder eine Verwechslung von Politik und
Theologie bezeichne. „Weil der politische Zionismus Israel als
Volk zum Wettbewerb mit anderen Völkern ertüchtigen und damit
die Judenfrage zur Lösung bringen will, die nach dem Zeugnis
der Geschichte und dem Wissen der Jahrhunderte nur durch die
Erlösung metapolitisch zu beendigen ist“503, erkennt Schoeps im
Zionismus den neben der liberalen Theologie radikalsten Versuch
eines „Frontalangriff(s) auf die jüdische Substanz“504.
Schoeps beharrt also lieber auf seiner Position der
politisch-theologischen Schizophrenie, die einerseits den
Führerstaat politisch legitimiert, andererseits aber – für den
Juden – einen metapolitischen Standpunkt vertritt, der
allerdings im Ernstfall auf das Martyrium hinauslaufen muß. In
der Tat scheint Schoeps aus der Situation, die er selbst als
„verlorenen Posten“ beschreibt, die Möglichkeit des Martyriums
ableiten zu wollen. „Es könnte ja sein, daß der deutsche Jude
dieser Zeit in die echte Hiobs-Nachfolge gezwungen wird, daß
ihm durch das Schicksal tragische Größe zugeworfen wurde, daß
an seiner Gestalt einer verflachenden Welt die Möglichkeit
502 Ebd., S. 37.503 Ebd., S. 20.504 Ebd., S. 13.
216
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
menschlicher Tiefe aufbrechen soll.“505 Der antiliberalen
Politik als „ureigenster“ deutscher Möglichkeit – hier gerät
Schoeps wieder auf das rhetorische Gleis der existentiellen
Ontologie Heideggers – entspricht auf der Ebene der
antiliberalen Theologie die ureigenste jüdische
Daseinsmöglichkeit des Martyriums, dem Schoeps auch noch in
dieser Situation eine missionarische Dimension zusprechen
möchte: „Haben wir nicht immer so etwas wie einen jüdischen
Missionsberuf empfunden, daß das Leidensmartyrium für die
Wahrheit unsere größte Möglichkeit ist, daß wir hier als Juden
am echtesten sind.“506
Schoeps vollzieht hier einen ähnlichen Gedankengang, wie auf
der existentiell theologischen Ebene, in der die
Gottverlassenheit des jemeinigen Daseins als Strafgericht
erkennbar werden soll. Jetzt – aus der Perspektive der
nationalsozialistischen Machtergreifung – wird die Politik im
Ganzen zum Strafgericht über die jüdisch-liberale politische
Theologie. Dieses Strafgericht nun muß vom Standpunkt der
theologischen Besinnung aus zur Einsicht in die politische
Schuld führen. „Aber die tragischen Verwechslungen, die sich
dann ereigneten, sind voll und ganz verständlich, aber ganz und
gar unentschuldbar, gemessen an dem, was der Herr der Juden als
Gesetz, als Gut und Böse, als Schuld und Sühne aufgestellt
hat.“507 Die politisch-theologische Schuld muß im Sinne der
prophetischen Ethik, Schoeps zitiert aus Jeremias’ Klageliedern
3,39 ff., zunächst anerkannt und dann gesühnt werden. „Was
murren denn die Leute über das Leben. Wir, wir haben gesündigt
505 Ebd., S. 10.506 Ebd., S. 10.507 Ebd., S. 23.
217
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
und sind ungehorsam gewesen; darum hast Du uns billig nicht
verschont. Lasset uns suchen und erforschen unsere Sünde.“508
Mit anderen Worten: Schoeps ist jetzt bereit, den frontalen
Angriff auf das Judentum, in dem die Juden als „Träger eines
zersetzenden Geistes“ und „Zerstörer der deutschen
Volkssubstanz“ etc. von den Nationalsozialisten denunziert
werden, als Anlaß für eine letzte „Besinnung“ über eine
vermeintliche jüdische Schuld zu verstehen. Es gilt jetzt in
der Tat „an dem Unrecht des Antisemitismus ein Verschulden der
Juden“ zu erkennen. „Wenn das Jahr 1933 über die deutschen
Juden ein schweres Schicksal verhängt hat, so heißt jüdisch
reagieren nach der Schuld fragen, die wir bewußt oder unbewußt
auf uns geladen haben.“509
Konkret besteht diese „Schuld“ in eben der politisch-
theologischen Verwechslung zwischen Religionsgesetz und Gesetz
der politischen Selbstbestimmung, in der Tatsache also, daß die
Juden als Avantgarde von Liberalismus und Emanzipation ihre
eigene theologische Identität aufgegeben haben. Der
Nationalsozialismus wird hier als „Strafgericht“ eingesetzt,
d.h. als ein von Gott eingesetztes Instrument gegen die Sünde
seines Volkes, weil der „Liberalismus“ eine „religiöse Schuld“
bezeichnen soll, so wie die biblische Prophetik jede politische
Bedrängung des jüdischen Volkes als Gottes Strafe für den
Abfall vom Gesetz begreift. Aber nur weil Schoeps also im
Grunde an der politisch-theologischen Verwechslung festhält,
und also seiner eigenen theologischen Einsicht untreu wird, daß
es zwischen beiden zu trennen gilt, kann der
Nationalsozialismus noch zum theologischen Gericht werden.508 Ebd.509 Ebd., S. 28.
218
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Die eigentliche Pointe nun dieser Theorie besteht natürlich
für Schoeps darin, daß die liberalen „Werke der Zerstörung, für
die die Gesamtheit heute die Strafe trifft, [...] gar nicht
Folgen des Judentums, sondern Folgen der Loslösung vom Judentum
sind“510. Im Klartext: Den antiliberalen jüdischen Theologen
trifft zuletzt nicht nur gar keine Schuld, sondern hier
offenbart sich der verborgene Sinn der dialektischen Theologie
von Hans Joachim Schoeps. Es geht ihm gar nicht wirklich um die
Dissoziation von Politik und Theologie, sondern nur um die
Dissoziation von liberaler Politik und liberaler Theologie. Das
eigentliche Ziel ist eine alternative – faschistische – Fusion
von Politik und Theologie. Es sei das Gebot der Stunde, „sich
von jüdischen Linksrevolutionären und zionistischen also doch
wohl nach eigenem Zeugnis nicht deutschgesinnten
Ministerialräten zu distanzieren“511. Wenn die
Nationalsozialisten „Eisner, Toller und Tucholsky“ als
Repräsentanten ihres jüdischen Feindbildes dämonisieren, dann
meint Schoeps hierzu nur achselzuckend: „Wer Fehler macht, muß
büßen, wer Schuld begeht, muß sühnen.“512
Die Besinnung muß die nationalsozialistische Machtergreifung
als ein politisch-theologisches Strafgericht verstehen lernen,
d.h. als ein „gerechtes“ Gericht über den jüdischen
Liberalismus, den es jetzt endgültig zu überwinden gelte, damit
der antiliberale „Rest“ Israels nicht nur das neue Regime
überlebt, sondern einen eigenen faschistischen „Vortrupp“
formt, der sich in dieses Regime eingliedert. „So wie Deutsche
sich durch Biologie abgrenzen, so müssen Juden innerlich den
510 Ebd., S. 28.511 Ebd., S. 32.512 Ebd.
219
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Liberalismus überwinden und die jüdische Wurzel unserer
Existenz, die verschüttet wurde, freilegen [...]513“ So nur
könne die Hoffnung auf eine Neueingliederung der Juden „als
stolze und artbewußte Juden“ in das Reich, das Schoeps mit
Moeller van den Brucks „Drittem Reich“ nunmehr doch noch als
„unser deutsches Geheimnis“ beschwören möchte:
Wehe dem Volk, das kein Geheimnis ist. Ein Tag, ein Jahr, einKriegsende, ein Friedenssschluß kann es auslöschen, als seies nie gewesen. Unser deutsches Geheimnis ist, daß wir einaltes Volk sind, beladen mit einer grauen und steinernenGeschichte, unter deren Wechselfällen jede andere Nationlängst verblaßt und verwittert wäre.514
Zwischen der geforderten Dissoziation von liberaler Politik und
liberaler Theologie einerseits und der erhofften Konjunktion
von antiliberaler Politik und antiliberaler Theologie liegt die
Zeit der tragischen Bewährung, die Zwischenzeit, für die
Schoeps hofft, daß das Judentum sich in ihr erhalten wird,
„wenn es sich bei aller Willigkeit und Bereitschaft für
Deutschland als Judentum erhält“515. „Die Hoffnung ist, daß
unsere Menschen an ihrem Teil das Judentum so repräsentieren,
daß das durch Affekte des Abscheus und des Hasses so sehr
entstellte und verzerrte Bild des deutschen Judentums einstmals
neue Farbe und neuen Glanz erhält.“516 Der Augenblick der Genese
des jüdischen, vom nationalsozialistischen Deutschland
anerkannten Faschismus bezeichnet für Schoeps den „Augenblick
einer neuen Emanzipation“517 – also die Emanzipation von der
Emanzipation des 18. Jahrhunderts, der Tradition Mendelssohns.
513 Ebd., S. ?514 Ebd., S. 41.515 Ebd., S. 43.516 Ebd., S. 48–49.517 Ebd., S. 43.
220
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Erst aus der Perspektive der exoterischen Schrift zur
politischen Situation der Juden in Deuschland läßt sich also
zeigen, welchen politischen Sinn die Adoption der dialektischen
Theologie durch die esoterische jüdische Theologie für das
Judentum haben soll. Dabei aber zeigte sich nicht nur der
fundamental schizophrene Charakter der politischen Theologie
von Hans-Jaochim Schoeps, sondern viel wesentlicher: daß er das
eigene Programm gar nicht zu Ende denkt, sondern eben genau den
Fehler der Verwechslung begeht, den er der Theologie des 19.
Jahrunderts vorwirft. Die Konjunktion von Halacha und
Menschenrechten wird nämlich nur durch die faschistische
Konjunktion von göttlicher und politischer Souveränität
ersetzt. Der Rekurs vom Gesetz auf den Gesetzgeber, mit dem
Schoeps die Tradition von Mendelssohn bis Lazarus destruieren
will, soll über den Glauben eine andere politische Form von
Gemeinschaft unter dem Führer herstellen.
Nicht nur widerlegt Schoeps sich selbst, wenn er die
dialektische Theologie in seinem Pamphlet „Wir deutschen Juden“
zu einer neuen politisch-theologischen Verwechslung einsetzt,
sondern er gibt über rhetorische Hinweise zu verstehen, an
welchem protestantischen Modell der politisch-theologischen
Verwechslung er sich hier tatsächlich orientiert. Sätze wie
„Der Mensch aber, der nicht mehr Gott hörig war, konnte auch
auf seinen Nächsten nicht mehr hören.“518 oder: „.[...] daß in
dieser Welt Dämonien toben und Zerstörungskräfte am Werk sind,
die nur gebändigt werden, wenn es gelingt, die Ordnungen der
Schöpfung und des Anfangs auch durch das Chaos
durchzutragen.“519 bzw.: „Der Jude, der nicht er selbst sein 518 Ebd., S. 24.519 Ebd., S. 31.
221
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
will“,520 lassen den dialektischen Theologen Friedrich Gogarten
sehr deutlich als Vorbild erkennen. In dessen Politischer Ethik von
1932 wird eben die liberale Konjunktion von Theologie und
Politik destruiert, um mit Carl Schmitts politischer Theologie
die Fusion von Theologie und autoritärem Staat auf der
Grundlage der dialektischen Theologie zu begründen, womit es
freilich schon bei Gogarten zu demselben performativen
Widerspruch kommt, den Schoeps dann noch einmal für den
jüdischen Kontext nachvollzieht. Schoeps’ Idee des „deutschen
Juden“ muß dabei offenbar in Analogie zu dem protestantischen
Modell des „deutschen Christen“ gelesen werden, der – so wie
Gogarten nach 1933 – sich politisch-theologisch mit den neuen
Machthabern verständigt.521
Wird an Schoeps’ Versuch einer Neubegründung jüdischer
Theologie das Phänomen der absoluten Krise deutsch-jüdischer
Kultur in ihrer innersten Schizophrenie offenbar, so zeigt sich
an diesem Versuch, das absolut Inkommensurable noch einmal als
koinzident zu konstruieren, nicht nur das ganze Ausmaß der
520 Vgl. Gogarten, Politische Ethik, fast wörtlich finden sich die zitierten Sätze hier. So heißt es bei Gogarten etwa von dem Selbst, das Gott „hörig“ ist, in Kierkegaardscher Fasson: „Er muß der sein, der er selbst ist.“ (S. 8) Zu Chaos, Dämonie, Zerstörung etc. siehe folgendes Zitat: „Die Polis undder Staat ist diejenige Ordnung, mit der sich der Mensch zu sichern sucht, gegenüber dem Chaos und gegenüber den zerstörenden Gewalten, von denen seine Existenz in der Welt bedroht ist, und zwar gegen die Gewalten und dieZerstörung, die aus seinem eigenen Wesen entspringen.“ (S. 58) Zum notorischen Hörigsein bei Gogarten sei nur folgende Stelle zitiert (S. 70):„Indem mir Gott meine Existenz gibt, indem er mich ich selbst sein läßt, fordert er, daß ich meine Existenz in ihm, d.h. in meinem Hörigsein ihm gegenüber habe [...]“521 Friedrich Gogarten, Einheit von Evangelium und Volkstum?, Hamburg 1933 oder: ders., Gericht oder Skepsis – Eine Streitschrift gegen Karl Barth, Jena 1937, in der sich Gogarten politisch gegen Karl Barths radikale Kritik einer jeden Fusion derKirche mit dem nationalsozialistischen Staat verteidigt. Barth hatte schon in: Karl Barth, Theologische Existenz heute, München 1933, seine radikale Kritik an der nationalsozialistischen Politik und Ideologie klar und unmißverständlich zum Ausdruck gebracht.
222
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Katastrophe, sondern die Tragödie einer Identifikation mit dem
Aggressor, die eben diesen Aggressor nicht im Geringsten zu
beeindrucken vermochte.522 Schoeps blieb das Schicksal von
Verfolgung und Exil nicht erspart. Wie auch immer man seine
logisch-psychologische und moralische Fehlleistung beurteilen
mag, es ist dabei durchaus bezeichnend, daß ihm ausgerechnet im
Deutschland der zahllosen unbehelligten Opportunisten von
damals auch dies nicht erspart blieb, daß man ihm diese von
vornherein hoffnungslose Filiation mit dem Nationalsozialismus
ständig vorrechnete.
522 Vgl. etwa den Versuch von Schoeps, mit dem politisch-theologischen Antisemiten Hans Blüher, der in: ders., Die Erhebung Israels gegen die christlichen Güter, Hamburg 1931, und vorher schon in: ders., Secessio Judaica. Philosophische Grundlegung der historischen Situation des Judentums und der antisemitischen Bewegung, Berlin1922, seine Position unmißverständlich zum Ausdruck brachte, ein „Jüdisch-Christliches Gespräch“ zu initiieren, das in: ders., Streit um Israel. Ein jüdisch-christliches Gespräch, Hamburg 1933 veröffentlicht wurde. Auch die Apologetik Schoeps in: Bereit für Deutschland. Der Patriotismus deutscher Juden und der Nationalsozialismus, Berlin 1970, obzwar es ihr gelingt, ihm verwandte Positionen bei bedeutenden Rabbinern zu orten, bestätigt nur den Eindruck von dem zutiefst kompromittierenden und doch tragischen Irrtum. Auch wenn Leo Baeck 1933 meint, „ein Jude, der zum Bolschewismus übertritt, sei ein Abtrünniger. Die Erneuerung Deutschlands ist ein Ideal und eine Sehnsucht innerhalb der deutschen Juden“, so ist dieser Satz offenbar im Kontext einer vorsichtig abtastenden Rhetorik zu verstehen, nicht als substantiell ideologische Befürwortung des nationalsozialistischen Staates. Gerade da, wo Schoeps also eine so bedeutende Stimme wie die des Rabbiners Baeck für seine eigene Rechtfertigung in Anspruch nehmen zu können meint, erweist sich diese Vereinnahmung als fatale Verwechslung von Rhetorik und Ideologie.
223
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Zeit und SpielGeistergespräch zwischen Walter Benjamin und Carl Schmitt
über Ästhetik und Politik
I Zur Situierung des Gespräches zwischen Benjamin und Schmitt
Ein Gespenst geht um in den Texten Carl Schmitts. Es ist das
Gespenst des Juden, der immer wieder als ein unheimlicher Gast
und Geist die Faktur ihrer Rhetorik bestimmt und ihnen das
anzüglich/anrüchige Flair der Apokalypse verleiht. Fast immer
anwesend, tritt dieser jüdische Geist nur selten in seine volle
Erscheinung. Wie der Geist von Hamlets Vater ist er eine
dramatis persona, über deren ontologischen Status man kaum eine
Aussage zu machen wagt. Realität, Erscheinung oder Erfindung
der Psyche? Ein Wahnbild? In eben dem Traktat Carl Schmitts
über die Tragödie des Hamlet – Hamlet oder Hekuba523 – Der Einbruch der
Zeit ins Spiel (1956) – geht es nicht nur zentral um den Status von
Geistern, sondern hinter der Kulisse des Textes spricht hier
ein jüdischer Geist zum Autoren Schmitt: Es ist die Stimme des
1940 von den Nationalsozialisten in den Tod getriebenen Walter
Benjamin, auf die Schmitt hier reagiert. Schon in der
Einleitung erwähnt er Benjamins Buch über das barocke
523 Carl Schmitt, Hamlet oder Hekuba – Der Einbruch der Zeit ins Spiel, Stuttgart 1985 (1956). So weit ich sehen kann, spielt dieser Text in der Schmitt-Rezeptionkaum eine Rolle. Es handelt sich bei diesem Text ähnlich wie bei Carl Schmitt, Politische Theologie II, die mit 40-jähriger Verspätung auf Erik Petersons, Monotheismus als politisches Problem. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Theologie im Imperium Romanum, Leipzig 1935 reagiert, um eine ebenso verspätete Abrechnung mit einer für Schmitt zentralen kritischen Position. Aber auch in der Benjamin-Rezeption spielt dieser Text kaum eine Rolle.
214
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Trauerspiel524 und gibt am Ende durch einen Exkurs über dieses
Buch zu erkennen, daß es ihn beschäftigt hat.
Rekapitulieren wir kurz die Stationen des Gespräches, das
Schmitt hier 1956 mit dem Geist des toten Benjamin aufnimmt.
Walter Benjamin hatte in seinem Buch die Idee des Trauerspiels
aus dem souveränen Königtum abgeleitet, wobei er bekanntlich
Carl Schmitts Definition der Souveränität in dessen Buch
Politische Theologie von 1922 zugrundegelegt hat. „Souverän ist, wer
über den Ausnahmezustand entscheidet“ – heißt es bei Carl
Schmitt, und Walter Benjamin paraphrasiert: „Wenn der moderne
Souveränitätsbegriff auf eine höchste, fürstliche
Exekutivgewalt hinausläuft, entwickelt der barocke sich aus
einer Diskussion des Ausnahmezustands und macht zur wichtigsten
Funktion des Fürsten, den auszuschließen.“525 Während Schmitt in
Politische Theologie eine Instanz der souveränen Entscheidung zu
etablieren sucht, mit der die parlamentarische Diskussion, das
unendliche Gespräch und das ästhetische Spiel sich immer neu
eröffnender und entziehender Sinnschichten – als Grundlage für
das unendliche Gespräch – zu Ende kommen sollen, ist es nun
gerade die Pointe bei Walter Benjamin, daß der souveräne Fürst
im Trauerspiel eben seine dezisionistische Vollmacht gar nicht
524 Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt a. M. 1982 (1928). Die Literatur zu Benjamins Trauerspielbuch ist längst ins Unermeßliche gestiegen. Vgl. Bettine Menke: Sprachfiguren: Namen, Allegorie, Bild nach Walter Benjamin, München 1991; Stéphane Mosès, Der Engel der Geschichte. Franz Rosenzweig, Walter Benjamin, Gershom Scholem, Frankfurt a.M. 1994, vor allem das Kapitel über das „ästhetische Modell“ S. 112–133; Max Pensky, Melancholy Dialectics. Walter Benjamin and the Play of Modernity, Arnherst 1993; Beatrice Hanssen: „Portrait of Melancholy (Benjamin, Warburg, Panofsky)“, in: Gerhard Richter(Hrsg.): Benjamin’s Ghosts. Interventions in Contemporary Literary and Cultural Theory, Stanford 2002, S. 169–188. Rainer Nägele: „Body Politics: Benjamin’s dialectical materialism between Brecht and the Frankfurt School“, in: DavidS. Ferris (Ed.) The Cambridge Companion to Walter Benjamin, Cambridge 2004.525 Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 47.
215
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
auszunutzen versteht – kurz: daß er sich im entscheidenden
Augenblick gar nicht entscheiden kann.
Die Antithese zwischen Herrschermacht und Herrschervermögenhat für das Trauerspiel zu einem eigenen [...] Zug geführt,dessen Beleuchtung sich einzig auf dem Grunde der Lehre vonder Souveränität abhebt. Der Fürst, bei dem die Entscheidungüber den Ausnahmenzustand ruht, erweist in der erstbestenSituation, daß ein Entschluß ihm fast unmöglich ist.526
Illustriert Benjamin diesen Umschlag von Entscheidungsmacht in
Entscheidungsunfähigkeit am Paradefall Hamlet, so muß Schmitt,
der „seine“ politische Theologie527 nach dem Krieg gerne gegen
ihre verschiedenen Kritiker und Gegner verteidigt, die
politisch-theologische Situation erklären, die Hamlets Dezision
verhindert. Mit anderen Worten: Geht es Schmitt in seiner
politischen Theologie um die Emanzipation der Politik vom
ästhetischen Spiel bzw. von einem ästhetisch fundierten Denken,
das die unendlich vielen Sinnschichten einer Sache auszuloten
sucht, um sich absolut zu vergewissern, und so einer jeden
Entscheidung notwendig aus dem Wege geht, so zeigt Benjamin,
daß die erwünschte Entscheidung sich nur von neuem in ein Spiel
– nämlich das Trauerspiel der Macht – verstrickt, ohne eine
wesentliche Veränderung der Verhältnisse herbeiführen zu
können.
526 Ebd. S. 53.527 Schmitt, Politische Theologie II, verteidigt sich gegen Peterson, Monotheismus als politisches Problem, und im Nachwort auch gegen Hans Blumenbergs Legitimität der Neuzeit. Hier spricht Schmitt in der Tat von „seiner“ politischen Theologie.
216
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Bezeichnet das Spiel bei Kant und Schiller528 die Möglichkeit
eines gewaltlosen Handelns, in dem anarchische Naturmacht und
gesetzliche Freiheit harmonisch zusammenstimmen sollen, so
verwirft Schmitt die Möglichkeit einer harmonischen Synthese,
wie sie durch Kants Ästhetik vorausgesehen ist, und setzt mit
Hobbes gegen die Anarchie des Naturzustands die diktatorische
Entscheidung des Souveräns, der die Machtverhältnisse klar
definiert. Benjamins Adoption des Souveränitätsbegriffs zeigt
dabei weit über das unmittelbare Interesse an der barocken
Dramaturgie hinaus, daß der Herrscher eben der anarchischen
Naturmacht bzw. dem kreatürlichen Naturzustand verfallen muß,
dem er durch seine Herrschaft ein Ende zu setzen hoffte. Auch
die souveräne Macht ist noch Naturmacht. So verwandelt sich die
Politik wieder in ein Spiel: nämlich das Trauerspiel, das das
528 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, § 9, S. 90: „Die Erkenntniskräfte, die durch diese (schöne) Vorstellung ins Spiel gesetzt werden, sind dabei in einem freien Spiele, weil kein bestimmter Begriff sie auf eine besondereErkenntnisregel einschränkt.“ Kant geht es bekanntlich um den Nachweis der zugemuteten Allgemeinheit des ästhetischen Urteils, die er aus dem Spiel zwischen Verstand und Einbildungskraft ableitet. „Dieser Zustand eines freien Spiels des Erkenntnisvermögens bei einer Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben wird, muß sich allgemein mitteilen lassen: weil Erkenntnis als Bestimmung des Objekts [...] die einzige Vorstellungsart ist, die für jedermann gilt.“ Diese Allgemeinheit liegt aber schon in der ersten Bestimmung des ästhetischen Urteils, der Interesselosigkeit, die immerhin eine Loslösung von dem subjektiven Interesse und damit von der Macht der Natur voraussetzt. Vgl. Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, v.a. der berühmte 15. Brief, S. 478 ff. Vgl.: Andrew Benjamin, „The Absolute as Translatability. Working through Walter Benjamin on Language“, in: Beatrice Hanssen/Andrew Benjamin (Hrsg.), Walter Benjamin and Romanticism, New York 2002, betont den Zusammenhang von Sprache und ästhetischer Idee bei Kant, um den Effekt der semantischen Unbestimmtheit zu bestimmen, der noch für Benjamins Auffassung der Trauer und Melancholie zentral wird. „It is possible to refer to Kant’s conception of the aesthetic idea or even his formulation, also in the Critique of Judgement, of the indeterminate concept, to see howit is possible to retain a productive sense of universality without holdingto a determinate, thus causal relation between universal and particular.“ (S. 111)
217
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
barocke Theater der kreatürlichen Vergeblichkeit und
Vergänglichkeit so wunderbar allegorisiert hat.
Schmitts Essay über Hamlet ist ein Versuch, dieser
Herausforderung entgegenzutreten. Die Deutung übernimmt dabei
eine Doppelfunktion, wobei die eine intendiert und die andere
versteckt ist. Sie soll 1) die Theorie der Souveränität vor Re-
ästhetisierung und Rückfall ins Spiel retten und 2) noch einmal
den Feind beschwören, um eine Politik in Bewegung zu bringen.
Bedarf es nämlich bei Schmitt des ultimativen Feindes, der die
souveräne Politik in Frage stellt, damit souveräne Politik
wirklich sei, so muß der tote jüdische Feind als Inbegriff
dieser Infragestellung zum Leben erweckt werden, damit das
Spiel noch einmal beendet werden kann. Nichts entspricht der
apokalyptischen Intertextualität der Texte Schmitts also mehr
als die Beschwörung von Geistern. Daß der lebendige Feind zum
dämonischen Geist entstellt und vernichtet werden muß, bedeutet
auch, daß der getötete Feind wieder zum Leben erweckt werden
muß, um die politische Situation erneut zu inszenieren. Wenn
also der Feind zugleich getötet und zum Leben erweckt werden
muß, so enthüllt Benjamin vielleicht die zutiefst allegorische
Wahrheit von Schmitts politischer Theologie: daß sie – wie ihr
Autor – gar keine Entscheidung fällen kann, die nicht
widerrufen werden müßte.
Die folgenden Überlegungen zum Geistergespräch zwischen
Benjamin und Schmitt erhalten ihren aktuellen Bezug aus dem
Versuch der „alternden Postmoderne“, ihr in der Metapher vom
Spiel ästhetisch fundiertes Denken529 durch solche Kategorien
529 Vgl. etwa Jacques Derrida, „Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen“, in: ders., Die Schrift und die Differenz,S. 422 ff.; Michael Foucault, Der Gebrauch der Lüste (Sexualität und Wahrheit
218
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
wie Zeit, Verantwortung und Entscheidung, wenn nicht durch eine
Theologie530 zu überwinden. Hier liegt vielleicht die
Herausforderung des Untertitels von Schmitts Traktat Hamlet oder
Hekuba, der die Tendenzwende auf den Begriff bringt: als
Ereignis des erneuten „Einbruchs der Zeit ins Spiel“.
II Trauerspiel oder Tragödie
Wenn es Walter Benjamin zunächst um die Rettung des barocken
Trauerspiels, seiner allegorischen Sprache und Ästhetik der
Trauer geht, so bedarf es nicht nur einer Emanzipation des
ästhetischen Kategorienapparates vom klassi(zisti)schen Code:
Symbol, Harmonie, Schönheit etc., sondern einer Historisierung
des ästhetischen Kategoriensystems im allgemeinen und
spezifisch der Kategorie der Tragödie. Die Tragödie
historisieren heißt für Benjamin dabei vor allem: sie für die
Geschichte zu öffnen. Im Unterschied nämlich zur antiken II), Frankfurt a. M. 1989, S. 9–20; Jean François Lyotard/Jean-Loup Thebaud, Just Gaming, Minneapolis 1985. Die Frage, inwieweit Benjamin selbst eine Praxis der Dekonstruktion betreibe und vorwegnehme, ist vor allem am Beispiel seines Textes „Zur Kritik der Gewalt“ diskutiert worden. Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der mystische Grund der Autorität, Frankfurt a. M. 1991, lieferte den Anstoß zu einer umfangreichen Diskussion, die in Anselm Haverkamp (Hrsg.): Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida, Benjamin, Frankfurt a. M. 1994, zusammengestellt ist. In seinem Aufsatz in diesem Sammelband scheint Rudolphe Gasche, „Über Kritik, Hyperkritik und Dekonstruktion.“ S. 214, dasWesentliche gesagt zu haben: „Von Dekonstruktion muß die Kritik der Gewalt somit gründlich unterschieden werden. Als Kritik beruht letztere auf der Sicherheit und der Zuversicht, der Drohung der Kontamination standhalten zukönnen.“ 530 Um nur einige Titel zu nennen, vgl. Emmanuel Lévinas, Wenn Gott ins Denken einfällt, Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, Freiburg/München 1985; Jacques Derrida, Politiques de l‘amitié, Paris 1994; ders., Points: Interviews 1974–1994, Stanford 1995; ders., The Gift of Death, Chicago 1995; Marion, God without Being; ders., Reduction and Givenness; ders., The Idol and Distance. Vgl. aber auch: Jegstrup, The New Kierkegaard, wo das Verhältnis von Dekonstruktion und ästhetischer Ironie vor allem thematisiert wird.
219
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Tragödie, die sich aus der vorgeschichtlichen Zeit in Mythos
und Sage herschreibt, liegt die Historizität des Trauerspiels
eben darin, daß die Geschichte in ihr zum Thema wird. Benjamin
bedient sich der Unterscheidung zwischen antiker und moderner
Tragödie aus Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung und, um die
spezifische Modernität des Trauerspiels herauszustellen, der
Definition der Souveränität bei Schmitt, die in diesem
Zusammenhang zum Insignum der Geschichte wird. „Der Souverän
als erster Exponent der Geschichte ist nahe daran, für ihre
Verkörperung zu gelten [...]. Der Souverän repräsentiert die
Geschichte. Er hält das historische Geschehen in der Hand wie
ein Szepter.“531 Wird aber die moderne Tragödie qua Trauerspiel
durch die Geschichte des Souveräns repräsentiert, so liegt
dessen Tragik gerade in der Entschlußunfähigkeit. Auf diese
Weise verbinden sich in der Figur für Benjamin das Moment der
Tyrannei – Herrschaft und Diktatur – und auf der anderen Seite
das Moment des Märtyrertums: Weil der Souverän sich nicht
entscheiden kann, bleibt ihm nur übrig, den eigenen Fall
stoisch zu ertragen. Diese Stellung zwischen herrschaftlicher
Initiative und dem eigenen Leiden an der Herrschaft erweist den
Souverän für Benjamin potentiell sogar als Typus des Heiligen,
in dem Rosenzweig seinerseits schon das Spezifikum der modernen
(gegenüber der antiken) Tragödie erkennen wollte: „Das
Trauerspiel ist als Form der Heiligentragödie durch das
Märtyrerdrama beglaubigt.“532
Worin liegt nun die spezifische Tragik des Souveräns, wie
wird dessen eigentliches Märtyrertum näher bestimmt? Wie kommt
es zu dem unbegreiflichen Umschlag von Entscheidungsmacht in 531 Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 45.532 Ebd., S. 94.
220
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Entschlußunfähigkeit? Selbst wenn der Souverän sich entscheide,
so meint Benjamin, müsse er zunächst die „jähe Willkür eines
jederzeit umschlagenden Affektensturms“533 beherrschen können,
der ständig auszubrechen droht. Mit anderen Worten: die
Herrschaft über die Untertanen, die der Anarchie des
Naturzustandes bzw. dem Bürgerkrieg ein Ende setzen soll, setzt
immer schon eine Herrschaft über die eigene Natur, also
Selbstbeherrschung, voraus. Extrem formuliert setzt der Begriff
des Souveräns vor dem Vermögen, den politischen Ausnahmezustand
zu beschließen, das Vermögen voraus, diesen über die eigene
„innere“ Natur zu verhängen. Die politische Ordnung, die sich
immerhin konsolidieren mag, steht damit allerdings ständig in
der Gefahr, durch den inneren Naturzustand des Königs gefährdet
zu werden. Aufruhr, Stasis, droht dem König zunächst und vor
allem von ihm selbst. Benjamins Theorie des barocken
Trauerspiels der Geschichte gründet damit, das wird bei
Benjamin vorausgesetzt, in einer Theorie kreatürlicher Natur,
die unter dem universalen Prinzip der Herrschaft steht und so
ständig Leiden produziert.
Die Ebene des Schöpfungsstandes, der Boden, auf dem dasTrauerspiel sich abrollt, bestimmt ganz unverkennbar auch denSouverän. So hoch er über Untertan und Staat thront, seinRang ist […] in der Schöpfungswelt beschlossen. Er ist derHerr der Kreaturen, aber er bleibt Kreatur.534
Es ist die Kreatürlichkeit als Prinzip der Herrschaft und des
anarchischen bellum onmium contra omnes, aus der die Einsetzung
des souveränen Herrschers hervorgeht, der seinerseits aber
immer schon derselben Naturgesetzlichkeit unterliegt. Die
Geschichte als geschaffene Natur ist so die ewige und trostlose533 Ebd., S. 53.534 Ebd., S. 66.
221
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Wiederkehr von Aufstieg und Fall, Herrschaft und Leiden, die
ewige Wiederkehr des gleichen Machtspiels, von dem der Souverän
glauben mochte, daß er es beherrscht, während er ihm schon
unterliegt. Der souveräne Spieler muß sich damit potentiell
immer wieder als ohnmächtige Funktion des naturhaften
Kräftespiels der Geschichte erkennen. Das ist das Trauerspiel.
Der Stand des kreatürlichen Menschen [ist] selber der Grunddes Untergangs. Diesen typischen Untergang, der soverschieden von dem außerordentlichen des tragischen Heldenist, haben die Dichter im Auge gehabt, wenn sie [...] einWerk als Trauerspiel bezeichnet haben.535
Der souveräne Herrscher, mit dem Schmitt dem entscheidungslosen
ästhetischen Spiel in Kunst, Staat und Politik ein Ende zu
setzen hofft, tritt bei Benjamin in seiner vollen Ohnmacht auf.
Er, dessen Macht sich aus dem kreatürlichen Naturzustand
ableitet, vermag angesichts der Einsicht in die trostlose
Verflochtenheit von Natur und Macht selbst nicht mehr zu
handeln. Der Umschlag vom souveränen Subjekt in die ohnmächtige
Kreatur verwandelt den einstigen Tyrann in einen Melancholiker
und zuletzt Märtyrer. „Der Fürst ist das Paradigma des
Melancholikers, nichts lehrt so drastisch die Gebrochenheit der
Kreatur, als daß selbst er ihr unterworfen ist.“536 Hier erst
bewährt sich offenbar der Bezug zu Franz Rosenzweigs Theorie
der Tragödie in ihrer ganzen Bedeutung: Die spezifische
Modernität der Tragödie hatte der jüdische Theologe in der
Krise des absoluten Bewußtseins, also im absoluten Idealismus
erkannt, der bei Fichte und Hegel ein souveränes Subjekt setzt,
das meint, dadurch Herr über die Natur werden zu können, daß es
sie erzeugt.535 Ebd., S. 70.536 Ebd., S. 103.
222
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Und so treibt die neuere Tragödie nach einem Ziel, das derantiken ganz fremd ist, nach der Tragödie des absolutenMenschen in seinem Verhältnis zum absoluten Gegenstand. [...]Das kaum gewußte Ziel ist dies: an die Stelle derunübersetzbaren Vielheit der Charaktere den einen absolutenCharakter zu setzen, einen modernen Helden, der ebenso eineiner und immergleicher ist wie der antike. DieserKonvergenzpunkt [...] dieser absolute Mensch ist kein andererals der Heilige.537
Bei Rosenzweig und Benjamin muß das souveräne Subjekt der
eigenen Natürlichkeit genau dann erliegen, wenn es vermeint,
über diese Natur tatsächlich vollkommen Herr geworden zu sein.
Die Natur als „Wille zur Macht“ erweist also gerade da sich als
ungebrochene Urmacht, wo sie das Denken bzw. das Handeln
angeblich schon überwunden hat.
Verwandelt sich die naturhafte Geschichte in einem „Vorgang
unaufhaltsamen Verfalls“, so wird das entschlossene Subjekt der
Herrschaft zum melancholischen Grübler, für den sich das Sein
nunmehr in seiner Allegorizität offenbart. Wenn die
Natur(geschichte) nämlich eine Szene des Verfalls ist, d.h. der
Umkehrung aller Intentionen auf Glück und Erfüllung, dann muss
alles in der Natur seine Bedeutung verlieren.
„Jede Person, jedwedes Ding, jedes Verhältnis, kann einbeliebiges bedeuten. Diese Möglichkeit spricht der profanenWelt ein vernichtendes, doch gerechtes Urteil: sie wirdgekennzeichnet als eine Welt, in der es aufs Detail nichtankommt.“538
Das Alles oder Nichts der souveränen Entscheidung verwandelt
sich für den Melancholiker, der dieser naturhaften Logik des
Verfalls inne wird, in die Gleichgültigkeit gegenüber „Allem“,
das sich tatsächlich als „Nichts“ erweist. Erweitert sich die
537 Ebd., S. 268 f.538 Ebd., S. 152.
223
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Melancholie vom Schmerz über den eigenen Machtverlust zur
Trauer über die Kreatürlichkeit und ihren Verfallscharakter, so
liegt der letzte Grund für die melancholische Gleichgültigkeit
und Interesselosigkeit in der Temporalität allen physischen
Seins. Ein jedes Sein enthält in sich schon die Nichtigkeit,
die sich durch den Eingriff der Zeit enthüllen wird. Versehrt
die Zeit im allegorischen Bewußtsein die Physis, so
transformiert sie damit immer schon das in Begriff und
Intention beherrschte Sein in einen trostlosen Abgrund. „Saturn
macht apathisch, unentschlossen, langsam. An der Trägkeit des
Herzens geht der Tyrann zugrunde.“539 Nur ein wahrhafter und
absoluter Ausnahmezustand vermag den verheerenden „Einbruch der
Zeit“ in das Trauerspiel der physischen Geschichte aufzuhalten.
Gerade diesen aber kann der Souverän als Kreatur nicht
herstellen. Als Kreatur ist er der Zeit unterworfen, die ihn
gestern zum Herrscher über das Sein erhob und ihn heute in den
Abgrund der Machtlosigkeit stürzt.
Die Kronosvorstellung ist nicht nur dualistisch in bezug aufsein eigenes, gleichsam persönliches Schicksal, so daß manden Kronos geradezu als einen Gott der Extreme bezeichnenkonnte. Auf der einen Seite ist er der Herrscher des goldenenZeitalters [...], auf der anderen Seite ist er der traurige,entthronte und geschändete Gott.540
539 Ebd., S. 135. Menke, Sprachfiguren, S. 169 weist zurecht auf Theodor W. Adornos frühen Aufsatz „Idee der Naturgeschichte“ hin, der den Zusammenhangvon Geschichte und Natur so auffaßt, daß „Geschichte, wo sie am geschichtlichsten ist, als Zeichen für Natur“ erscheine. Pensky, Melancholy Dialectics. S. 79: „[…] melancholy indicisiveness is taken as a cipher for the absence of a truly moral state of character, and this in turn can be expressed as a sort of spiritual and physical paralysis.“ Pensky hat vor allem auf den Zusammenhang von Benjamins Theorie der Melancholie und Kierkegaard hingewiesen (vgl. S.140–148). Hanssen stellt in „Portrait of Melancholy“, S. 178–181, die Melancholie als Temperamentslehre und moderne Stimmung dar. 540 Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 129 f.
224
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Gerade aber in diesem Umschlag, der allegorischen Metamorphose
des Kronos, der Temporalität der Herrschaft zeichnet sich für
Benjamin der absolute und theologische Horizont des
Trauerspiels ab: In der Transformation des Souveräns zur
Kreatur, im Verfall der quasi-göttlichen Macht in die Ohnmacht
des Sünders, in der Verwandlung des Seins in Nichts also zeigt
sich negativ die Macht, die das Nichts ursprünglich in Sein
verwandelt – die Macht Gottes als creatio ex nihilo.
Denn gerade in Visionen des Vernichtungsrausches, in welchenalles Irdische zum Trümmerfeld zusammenstürzt, enthüllt sichweniger das Ideal der allegorischen Versenkung denn ihreGrenze. Die trostlose Verworrenheit der Schädelstätte, wiesie als Schema allegorischer Figuren aus tausend Kupfern undBeschreibungen der Zeit herauszulesen ist, ist nicht alleindas Sinnbild von der Öde aller Menschenexistenz.Vergänglichkeit ist in ihr nicht sowohl bedeutet, allegorischdargestellt, denn, selbst bedeutend, dargeboten alsAllegorie. Als die Allegorie der Auferstehung [...] Denn auchdiese Zeit der Hölle wird im Raum säkularisiert und jeneWelt, die sich dem tiefen Geist des Satan preisgab undverriet, ist Gottes. In Gottes Welt erwacht derAllegoriker.541
Hamlet ist der eigentliche Repräsentant und die wahrhafte
Metonymie für diese allegorische Selbstverwandlung des
souveränen Subjekts, das das Sein von Geschichte und Natur
nunmehr als „Schädelstätte“ – also im Lichte der ihnen
verfallenden Herrschaft erblickt. Hamlet wird zum Paradigma des
unentschlossenen Souveräns und der Melancholie, die Benjamin
zuletzt mit der lutheranischen Theologie in Verbindung bringt.
Schon bei Luther selbst, dessen letzte zwei Lebensjahrzehntevon steigender Seelenbeladenheit erfüllt sind, meldet sichein Rückschlag auf den Sturm gegen das Werk. Ihn freilichtrug noch der Glaube darüber hin, aber der verhinderte nicht,
541 Ebd., S. 207 f.225
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
daß das Leben schal ward. „Was ist der Mensch. Wenn seinerZeit Gewinn, sein höchstes Gut / Nur Schlaf und Essen ist?Ein Vieh, nichts weiter. / Gewiß, der uns mit solcherDenkkraft schuf, voraus zu schauen und rückwärts, gab unsnicht, / Die Fähigkeit und göttliche Vernunft / Umungebraucht in uns zu schimmeln“ – dies Hamlets Wort istwittenbergische Philosophie und ist Aufruhr dagegen.542
Eben diesem Hamlet entzieht die Zeit den Sinn des souverän
beherrschten Seins,543 um doch am Horizont ihres Endes eine
Ahnung vom wirklichen Heil und dem wirklichen Souverän
aufscheinen zu lassen.
Einmal zumindest ist dem Zeitalter gelungen, die menschlicheGestalt zu beschwören, die dem Zwiespalt neuantikerBeleuchtung entsprach, in welchem das Barock denMelancholiker gesehen hat. Aber nicht Deutschland hat dasvermocht. Es ist der Hamlet. Das Geheimnis seiner Person istbeschlossen im spielerischen eben dadurch aber gemessenenDurchgang durch alle Stationen dieses intentionalen Raums,wie das Geheimnis beschlossen ist in einem Geschehen, dasdiesem seinem Blick ganz homogen ist. Hamlet allein ist fürdas Trauerspiel Zuschauer von Gottes Gnaden, aber nicht wassie ihm spielen, sondern einzig und allein sein eigenesSchicksal kann ihm genügen. Sein Leben, als vorbildlichseiner Trauer dargeliehener Gegenstand, weist vor demErlöschen auf die christliche Vorsehung, in deren Schoß seinetraurigen Bilder sich in seliges Dasein verkehren.544
Carl Schmitts Hamlet oder Hekuba nimmt die Provokation Benjamins
auf, obzwar mit bedeutender Verspätung. Er muß sie aufnehmen,
542 Ebd., S. 119.543 Ein interessanter Hinweis findet sich bei Hanssen, „Portrait of Melancholy“, S. 179, wo von der Melancholie als einer „Stimmung“ die Rede ist, die allerdings, trotz des Hinweises auf Martin Heideggers Sein und Zeit ananderer Stelle, nicht auf Heidegger bezogen wird. Doch eben der Zusammenhang von Sein und Zeit, wie er sich zumal in dem Existential der „Befindlichkeit“ offenbart, scheint mir vielversprechend zu sein. Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1984, § 29, S. 134 ff.: „Die existenziale Konstitution des Da. Das Dasein als Befindlichkeit“. Marion, God without Being, versucht in diesem Sinne eine Überwindung des Seinsdenkens mithilfe der Stimmungen von Langeweile und Melancholie. 544 Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 136 f.
226
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
weil sie ähnlich wie der Angriff Erik Petersons von 1935545, die
Theologie der Souveränität im Kern getroffen zu haben scheint.
Carl Schmitts Strategie läuft dabei zunächst darauf hinaus, die
Forderung Benjamins ernst zu nehmen und den tragischen Fall
Hamlet vor dem historischen Hintergrund zu begreifen. Hatte
Benjamin zwar die Geschichte zum Kennzeichen der modernen
Tragödie, also des Trauerspiels erhoben, so deutete er die
Geschichte zuletzt unhistorisch-metaphysisch als kreatürliche
Zeitlichkeit. Schmitt geht hingegen auf die realen historischen
Begleitumstände ein, aus denen Hamlets Drama sich erschließen
lassen soll. Damit enttheologisiert er Benjamins
Geschichtsbegriff, und das heißt zunächst, daß er die
Geschichte als Wirklichkeit jener Religionskriege nachweist, in
denen die Geschichte sich von der Vorherrschaft der Theologie
gerade zu emanzipieren versucht. Schmitt schreibt zu Benjamins
Buch:
Die Hauptstelle über Hamlet findet sich am Schluß desAbschnitts „Trauerspiel und Tragödie“. Auch diese Stellenimmt auf den Schluß des Hamlet [...] Bezug. Walter Benjaminglaubt in ihr etwas im besonderen Sinne Christliches zuerkennen, weil Hamlet kurz vor dem Tode von der christlichenVorsehung spricht, in deren Schoß seine traurigen Bilder sichin seliges Dasein verkehren.546
Die Metaphysik von der allegorischen Geschichte will Schmitt
hier zunächst durch die realpolitische Situation ersetzen.
Shakespeares Drama ist nicht christlich. Es ist aber auchnicht auf dem Wege zu dem souveränen Staat des europäischenKontinents, der religiös und konfessionell neutral seinmußte, weil er aus der Überwindung des konfessionellenBürgerkriegs hervorgegangen war.547
545 Vgl. Anm. 1.546 Schmitt, Hamlet oder Hekuba, S. 63.547 Ebd., S. 63 f.
227
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Die Rettung der Souveränität vor dem Angriff Benjamins läuft
für Schmitt darauf hinaus, Shakespeares Werk im Ganzen in die
historische Epoche der religiösen Bürgerkriege zu stellen, in
der der Begriff der souveränen Staatlichkeit nicht entwickelt
war, da er sich erst als Konsequenz aus diesen Religionskriegen
ergeben hat.548 Hamlets Unentschlossenheit wird nicht mehr aus
einem Kontrast zur Souveränität, sondern aus der spezifisch
historischen Situation der Religionskriege in England
transparent. Schmitt leitet damit aus dieser historischen
Situation die für seine Begriffe auffallende Unspezifität des
Christlichen des Dramas her, d.h. die Unmöglichkeit, Hamlet aus
dem protestantischen oder katholischen Kontext her zu
begreifen. Mit anderen Worten: Daß Hamlet sich nicht
entscheiden kann, hat für Schmitt nichts mit dem
Souveränitätsbegriff zu tun – dieser ist, wie gesagt, erst
Resultat der Religionskriege – sondern mit der spezifischen
Stellung Shakespeares/Hamlets zwischen dem katholischen und dem
protestantischen Lager im englischen Bürgerkrieg. Damit aber
möchte er zugleich den Nachweis erbringen, daß das ästhetische
Spiel das Paradigma der allegorischen Unentschlossenheit der
Säkularisation darstellt, die sich in Hamlets
Unentschlossenheit zwischen Protestantismus und Katholizismus
gleichsam zum ersten Mal „dramatisch“ meldet und dokumentiert.
Shakespeares Drama fällt in das erste Stadium der englischenRevolution, wenn man diese – wie es möglich und sinnvoll ist– mit der Vernichtung der Armada 1588 beginnen und mit derVertreibung der Stuarts 1688 enden läßt. In diesen hundertJahren entwickelte sich auf dem europäischen Kontinent aus
548 Vgl. Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum; ders., Theorie des Partisanen: Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 1995 (1963).
228
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
der Neutralisierung des konfessionellen Bürgerkriegs eineneue politische Ordnung, der souveräne Staat, ein imperiumrationes wie Hobbes ihn nennt [...] Der hundert Jahre langeBürgerkrieg zwischen Katholiken und Protestanten konnte durcheine Entthronung der Theologen überwunden werden.549
In zwei Schritten rekonstruiert Schmitt die historische Szene
des Trauerspiels, um Hamlets Unentschlossenheit aus dem
Religionskrieg abzuleiten:
1) aus dem sogenannten „Tabu der Mutter“ und
2) der „Figur des Rächers“.
1) Gegenüber den mythischen Vorbildern, in denen „der Sohn
[...] entweder den Mörder (des Vaters) und also die eigene
Mutter tötet (Orest) oder sich mit der Mutter verbündet, um mit
ihr gemeinsam den Mörder des Vaters zu töten“550 bleibe die
Rolle der Mutter im Hamlet in ein eigentümliches Tabu gehüllt,
das durch die Mahnung des Geistes des ermordeten Vaters an
Hamlet gesteigert wird: „Dein Gemüt ersinne nichts gegen Deine
Mutter.“ Mit einigem Stolz verkündet Schmitt, er könne „dieses
ganz konkrete Tabu“ nennen. Es betrifft die Königin Maria
Stuart von Schottland. „Ihr Gatte, Henry Lord Darnley, der
Vater Jakobs, wurde im Februar 1566 auf eine scheußliche Weise
von dem Grafen Bothwell ermordet. Im Mai desselben Jahres 1566
heiratete Maria Stuart eben diesen Grafen Bothwell, den Mörder
ihres Gatten.“551 Schmitt macht hier Ernst mit dem von Benjamin
suggerierten Einbruch der Geschichte in die Tragödie und deutet
von hier aus nun Hamlets Unentschlossenheit,wie fragwürdig auch
immer der Versuch erscheinen muß, die ästhetische durch eine
historische Wirklichkeit zu erklären
549 Schmitt, Hamlet oder Hekuba, S. 64 f.550 Ebd., S. 14.551 Ebd., S. 18 f.
229
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Maria versicherte ihre volle Schuldlosigkeit und ihreFreunde, insbesondere die Katholiken, glaubten ihr das. IhreFeinde, vor allem das protestantische Schottland und England,waren überzeugt, daß Maria sogar die eigentliche Anstifterindes Mordes war.552
Von hier aus nun zieht Schmitt seine Schlüsse für die Situation
des Hamlet. In den Jahren seiner Abfassung (1600–1603) habe
nämlich die Frage nach der Thronfolge Elisabeths I.
offengestanden.
Shakespeare gehörte mit seiner Truppe zur Klientel des GrafenSouthhampton und Essex. Diese Gruppe setzte auf Jakob, denSohn der Maria Stuart, als den kommenden Thronfolger [...]Mit Rücksicht auf Jakob [...], den erwarteten Thronfolger,war es unmöglich, eine Schuld der Mutter an der Ermordung desVaters zu unterstellen [...]. Mit Rücksicht auf dasprotestantische Publikum war es unmöglich, dieSchuldlosigkeit der Mutter zu unterstellen.553
Am Tabu der Mutter erkennt Schmitt mithin den Einbruch „einer
furchtbaren geschichtlichen Wirklichkeit“ in das Bühnenspiel,
durch die „die Handlung des Dramas [...] unklar und gehemmt
wurde.“554
2) Von dieser politischen Realität der Religionsspaltung aus
verfolgt Schmitt das Phänomen, das er ganz wie Benjamin als
„die Abbiegung der Figur des Rächers zu einem durch Reflexionen
gehemmten Melancholiker“555 bezeichnet. Es ist die Figur jenes
Jakobs, des Sohnes der Maria Stuart, in dem Schmitt das Vorbild
für den unschlüssigen Hamlet rekonstruiert. „In dem
philosophierenden und theologisierenden König Jakob verkörpert
sich nämlich der ganze Zwiespalt seines Zeitalters, das ein
Jahrhundert der Glaubensspaltung und des konfessionellen
552 Ebd., S. 19.553 Ebd., S. 20 f.554 Ebd., S. 21.555 Ebd.
230
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Bürgerkrieges war.“556 Hamlet ist unspezifisch christlich – das
heißt jetzt vor allem: er ist typisch für eine Biographie der
Glaubensspaltung557:
Die eigentliche Hamletisierung des Rächers findet erst hierihre adäquate Erklärung. Hier tritt der Zusammenhang vonzeitgeschichtlicher Gegenwart und Tragödie zu Tage. Dasunglückliche Geschlecht der Stuarts, dem Jakob entstammte,war tiefer als andere in das Schicksal der europäischenGlaubensspaltung verstrickt. Jakobs Vater wurde ermordet,seine Mutter heiratete den Mörder; die Mutter ihrerseitswurde hingerichtet; der Sohn Jakobs, Karl I. starb ebenfallsauf dem Schaffott; der Enkel wurde des Thrones entsetzt undstarb im Exil. Zwei Stuarts also starben auf dem Schaffott;nur acht von siebzehn Herrschern des Namens Stuart erreichtendas 50. Lebensjahr. Jakob ist einer von diesen und einer derwenigen Stuarts, die im Besitz der Krone eines natürlichenTodes gestorben sind. Aber sein Leben war trotzdem zerrissenund gefährdet genug. Als Kind von anderthalb Jahren wurde erzum König gekrönt. Alle Parteien suchten sich seiner Personzu bemächtigen. Er wurde geraubt, entführt, verhaftet,gefangengesetzt und mit dem Tode bedroht. Oft hatte er alsKnabe und Jüngling Nächte hindurch in Kleidern gewacht, umsofort fliehen zu können. Er war katholisch getauft, wurdeaber der Mutter weggenommen und von den Feinden seiner Mutterprotestantisch erzogen. Seine Mutter, Maria Stuart, ist alsBekennerin ihres römisch-katholischen Glaubens gestorben. DerSohn mußte, um den Thron von Schottland nicht zu verlieren,mit den Protestanten sich verbinden. Er mußte sich mit derTodfeindin seiner Mutter, der Königin Elisabeth gut stellen,um den Thron von England zu gewinnen. So war er buchstäblichvom Mutterleibe an in die Spaltung seines Zeitaltershineingeworfen.558
Mit anderen Worten: Die Unentschlossenheit des Hamlet ist
nunmehr Funktion des Religionsschismas im England des 17.
Jahrhunderts und nicht eines metaphysisch begründeten
Unvermögens, das an die Idee der Souveränität gebunden ist. Der
556 Ebd., S. 28.557 Ebd., S. 29.558 Ebd.
231
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
allegorische Zustand, in dem Benjamin das Sein von Natur und
Geschichte bzw. Geschichte qua Natur enthüllt, wird von Schmitt
durch die Analyse der politisch/theologischen Krise konkret
historisiert, mit deren Aufhebung im modernen Staat der Begriff
der Souveränität erst entsteht, den Benjamin allerdings, im
Sinne seiner Kritik, für seine Metaphysik schon voraussetzt.
Hamlet gehört in die Zwischenzeit, in der die Religion
gespalten, und der Staat sich noch nicht unabhängig von deren
Ansprüchen gemacht hat. Die Unentschlossenheit des Hamlet
erschließt sich für Schmitt aus der historischen Situation, die
die für ein ästhetisches Verstehen typische Unentschlossenheit
im Grunde schon vorwegnimmt. Der Einbruch der Zeit ins Spiel
selbst kann nur in Anspielungen und Tabuisierungen zur Sprache
kommen, weil hier eine reale und keine mythische fürstliche
Genalogie die dramatisch-politische Situation bestimmt. Hier
liegt für Schmitt, der Benjamins Forderung nach Historisierung
gleichsam wörtlich nimmt, um sie gegen sich selbst zu wenden,
gerade die verdrängte mythische Dimension von Hamlets Tragödie.
„Mythisch“ meint hier jetzt die verborgene politische Dimension
des Dramas. Damit aber ist Hamlet für Schmitt eben nicht mehr
nur „Spiel“. „Die Tragik hört auf, wo das Spiel beginnt, auch
wenn dieses Spiel ein Spiel zum Weinen ist, ein trauriges Spiel
für traurige Zuschauer und ein tiefergreifendes Trauerspiel.“559
Schmitts Reduktion des Trauerspiels auf die historische
Situation zielt zuletzt auf eine Kritik der Ästhetik vom
autonomen Spiel als einem Werk der geschichtslosen
Subjektivität des genialen Dichters, wie ihn der deutsche Sturm
559 Ebd., S. 42.232
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
und Drang vor allem im Anschluß an Shakespeare560 konzipiert und
wie er dann modifiziert in Kants Kritik der Urteilskraft561 als
unbewußter Ursprung des nach eigenen Gesetzen funktionierenden
Spiels auftritt. Die vermeintliche Freiheit des Genies
Shakespeare gegenüber der literarischen Quelle sei „nur die
Kehrseite einer um so festeren Bindung an sein konkret
vorhandenes Londoner Auditorium und dessen Wissen um
gegenwärtig gegebene Möglichkeiten“562. Mit anderen Worten: Die
Metapher vom ästhetischen Spiel als unendlich sich entfaltender
und entgleitender Sinn von Kunst, der als niemals eindeutiger
stets zu neuen Diskussionen Anlaß gibt, diese Metapher vom
Spiel bezeichnet für Schmitt das Ende von Ernst, Entscheidung,
von Politik. Die Unentschlossenheit Hamlets ist damit also auch
Symbol für eine moderne Politik, die sich in der
parlamentarischen Diskussion erschöpft, ohne – im Sinne des
Absolutisten Schmitts – eine Entscheidung herbeiführen zu
wollen. Sie ist Symbol für die säkulare Politik der
Entpolitisierung. Eine „richtige“ Lesart der Tragödie erlaube
es jedoch, den Ursprung der Moderne als Politik der
Säkularisation, Neutralisierung, Ästhetisierung und des Spiels
in der tragischen Situation des Religionskrieges zu erkennen.
Damit fungiert die Auseinandersetzung über Hamlet zunächst
als historische Einschätzung des Verhältnisses vom Trauerspiel
560 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Zum Shakespeare-Tag, in: ders., Werke XII,Hamburger Ausgabe.561 Kant, Kritik der Urteilskraft, § S. 46–50. Zum Problem des Genies vgl.: Edgar Zilsel, Die Entstehung des Geniegedankens, Ein Beitrag zur Ideengeschichte der Antike und des Frühkapitalismus, Tübingen 1926; Jochen Schmidt, Die Geschichte des Geniegedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik, 1750–1945, Darmstadt 1988. Auch meinen Aufsatz „Die Endzeit des Genies – Zur Problematik des ästhetischen Subjektsin der Postmoderne“. Ebenso zur heutigen Situation vgl. Donald Kuspit, The Cult of the Avantgarde Artist, New York/Cambridge 1993.562 Schmitt, Hamlet oder Hekuba, S. 38.
233
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
der Unentschlossenheit zur Souveränitätsidee, aber dann auch
als impliziter Versuch, das aktuelle „Trauerspiel“ der
parlamentarischen Diskussion durch eine souveräne Entscheidung
zu beenden – wie Schmitt dies in der politischen Theologie
gefordert hatte, auf die Benjamin mit einer historischen
Analyse Hamlets reagiert hat. Die historische Krise (von
Bürgerkrieg und Unentschlossenheit) kommt für Schmitt in der
Konzeption des modernen Souveränitätsgedankens bei Hobbes zu
ihrem Ende. Hier ist der Souverän der Fürst, der mit seiner
Entscheidungsgewalt den Ausnahmezustand des religiösen
Bürgerkriegs als eines aktualisierten Naturzustandes gleichsam
beendet.
Für die Situation der Moderne konstruiert Schmitt einen
Prozeß der Umkehr, in dem die souveräne Macht der Ausnahme
zusehends durch die politische Regel der Vernunft und Autonomie
ersetzt wird, die keine Ausnahme, kein Ausnahmerecht und damit
keine souveräne Entscheidung mehr ermöglicht. Die Idee eines
autonomen ästhetischen Spiels bezeichnet für Schmitt den
Höhepunkt einer Selbstverirrung des modernen Subjekts, das sich
vom Ernstfall der Entscheidung immer mehr auf die Diskussion
eines im ästhetischen Spiel sich potenzierenden Sinns verlegt.
Die politische Theologie von 1922 war der Versuch, das, was
Schmitt am modernen Parlamentarismus als ästhetisches Spiel nur
ansieht, zu beenden.563 Der Essay über Hamlet ist damit nicht
nur eine Korrektur der historischen Verhältnisse und als eine
Rettung der aktuellen Politik der Souveränität zu verstehen,
sondern zuletzt als Versuch, den ästhetischen Bereich wieder
zurück in die politische Sphäre zu verlegen, von der er sich
563 Schmitt, Politische Theologie, S. 59.234
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
angeblich emanzipiert hat. Es geht Schmitt um eine Kunst, die
in die aktuelle politische Situation eingebunden ist, und damit
um die Rücknahme ihrer Autonomie. Im Gegensatz zu Goethe und
Schiller habe Shakespeare „seine Stücke nicht für die Nachwelt,
sondern für ein sehr konkret vorhandenes Publikum“ geschrieben:
„Er verfaßte sie im Hinblick auf sehr konkrete Adressaten.“564
„Ein Verfasser von Theaterstücken […] steht nämlich mit diesem
Publikum nicht nur in psychologischer und soziologischer
Wechselbeziehung, sondern in einer gemeinsamen
Öffentlichkeit.“565 Eben diese Rückbindung des ästhetischen
Spiels in die politische Realität und Öffentlichkeit soll
bewirken, daß „die Bühnenfigur des Hamlet zu einem echten
Mythos“566 werden kann. So handelt es sich beim Hamlet – hier
spricht Schmitt vollends diametral gegen Benjamin – um eine
Tragödie und nicht um ein Trauerspiel, eben weil die
geschichtliche Realität bei Shakespeare zum Mythos sich
konzentrieren konnte.
Bekanntlich hat der europäische Geist sich seit derRenaissance entmythisiert und entmythologisiert. Trotzdem hatdie europäische Dichtung drei große symbolhafte Figurengeschaffen: Don Quixote, Hamlet und Faust. Von ihnen istjedenfalls einer, Hamlet, bereits zum Mythos geworden. Alledrei sind merkwürdigerweise Bücherleser und insofernIntellektuelle, wenn man so sagen will. Alle drei sind vomGeist aus der Bahn geworfen. Achten wir nun einmal auf ihrenUrsprung und ihre Herkunft: Don Quixote ist Spanier undkatholisch. Faust ist Deutscher und Protestant. Hamlet stehtzwischen beiden mitten in der Spaltung, die das SchicksalEuropas bestimmt hat. […] Dadurch eröffnet sich ein Horizont,in dem es sinnvoll erscheint, an eine Quelle tiefster Tragikzu erinnern, an die geschichtliche Wirklichkeit der Maria
564 Schmitt, Hamlet oder Hekuba, S. 36.565 Ebd., S. 37.566 Ebd., S. 46.
235
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Stuart und ihres Sohnes Jakob. Maria Stuart ist uns immernoch etwas anderes und mehr als Hekuba. Auch das Schicksalder Atriden steht uns nicht so nahe wie das der unglücklichenStuarts. Dieses Königsgeschlecht ist von dem Schicksal dereuropäischen Glaubensspaltung zerschmettert worden. In seinerGeschichte ist der Keim des tragischen Hamlet-Mythoserwachsen.567
Es ist hier freilich nicht der Ort, die Frage zu erörtern, ob
nicht diese vermeintlich mythische Macht des Namens Stuart, der
im Hamlet ja gar nicht vorkommt, viel mehr der von Schmitt
verachteten Ästhetik Friedrich Schillers zuzuordnen ist.
III Intertextuelles Nachspiel
„Die unumgängliche Wirklichkeit ist der stumme Felsen, an dem
das Spiel sich bricht und die Brandung der echten Tragik
aufschäumt.“568 Was immer man von Schmitts historischer
Reduktion halten mag, es gelingt ihm immerhin zunächst, die
Provokation Benjamins abzuwehren. Darüber hinaus zielt seine
Antwort auf eine überraschende Rekonstruktion der für die
autonome Ästhetik so zentralen Metapher vom (Trauer)spiel der
Entscheidungslosigkeit aus der theologischen Krise des 17.
Jahrhunderts und damit auf eine Kritik, die das Ästhetische
auch hier als Ausdruck politischer Konflikte auszuweisen sucht.
Angesichts einer Postmoderne, die Sein, Wahrheit und Sprache
zunächst als Spiel begriff, in dem das Subjekt sich verliert,
und heute versucht, das Spiel durch den Ernstfall der Praxis
und Politik (wenn nicht gar in einem theologisch fundierten
Denken, von dessen politischer Dimension wir freilich noch 567 Ebd., S. 54 f.568 Ebd., S. 47.
236
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
keinen Begriff haben) zu überwinden, ist Schmitts
Rekonstruktion, trotz ihrer eigenen Tendenz, erstaunlich
aktuell und „postmodern“.
Hinter der mit dieser späten Wende des postmodernen Denkens
korrespondierenden Intention Schmitts verbirgt sich nicht nur
die textuelle Wirklichkeit von Benjamins Buch, sondern auch
eine komplexe politische Situation, die Schmitt hier nur
andeutet, die aber – wie ich meine – den letzten und
eigentlichen Tiefensinn dieses eigentümlichen Geistergesprächs
erhellt, in dem die politische Theologie naturgemäß das letzte
Wort und damit zugleich ihre tatsächliche mythische, um nicht
zu sagen dämonische Dimension erhalten soll. Es ist die
„unumstößliche Wirklichkeit“, die Schmitt mit dem „Begriff des
Politischen“ benennt, der sich im Begriff der Souveränität,
bzw. der souveränen Entscheidung erfüllt. Die Notwendigkeit
einer souveränen Entscheidung ergibt sich ja für Schmitt immer
nur im „Augenblick der Gefahr“ äußerer oder innerer Bedrohung
durch einen Feind. Von daher definiert Schmitt Politik als das
Vermögen, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden.569
Hamlet erscheint aus dieser Perspektive als die mythische
Figur des unentschlossenen Prinzen, der den Feind vielleicht
noch erkennen will, aber nicht wirklich gegen ihn vorzugehen
vermag. Hamlet als Mythos eines protoästhetischen Bewußtseins
und des Spiels ohne substantielle Handlung ist damit für
Schmitt schon der Mythos von der Krise von Politik. „Gemessen
an dem zivilisatorischen Fortschritt, den das allerdings erst
im 18. Jahrhundert realisierte Ideal der kontinentalen
Staatlichkeit bedeutet, erscheint das England Shakespeares noch
569 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 7.237
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
als barbarisch, d.h. hier vorstaatlich.“570 „Barbarisch“
bezeichnet hier bei Schmitt v.a. den „polemischen [...] Sinn
eines Gegensatzes gegen das Wort ‚politisch’“571. Wenn Benjamin
Hamlets Trauerspiel einmal „elementarisch“ nennt, so übersetzt
Schmitt dies mit dem Begriff „barbarisch“, greift diese
Bestimmung also auf und deutet sie als Gegenbegriff zum
Politischen. Mit der mythischen Kodifizierung des Hamlet als
Mythos der Krise des Politischen kennzeichnet Schmitt immer
auch zugleich den Gegenmythos: Das Politische, in dem die
Entscheidungslosigkeit – hier bedingt durch die
Glaubensspaltung – zu Ende kommt.
Schmitt erwähnt hier den höchst konkreten Gegenmythos nur am
Rande, nämlich Thomas Hobbes’ Leviathan. Die politische
Entscheidung verhält sich zum ästhetischen Spiel, wie der
Mythos vom Leviathan zum Mythos vom Hamlet. Im Kommentar zu
Hobbes’ Leviathan (1938) beschreibt Schmitt die Geburtsstunde
des Politischen nach der Glaubensspaltung folgendermaßen:
Ausgangspunkt der Staatskonstruktion des Hobbes ist die Angstdes Naturzustandes, Ziel und Endpunkt die Sicherheit deszivilen, staatlichen Zustandes. [...] Der Schrecken desNaturzustandes treibt die angsterfüllten Individuen zusammen,ihre Angst steigert sich aufs äußerste, ein Lichtfunke derratio blitzt auf und plötzlich steht vor uns der neueGott.“572
Der neue, allerdings durchaus sterbliche Gott Leviathan setzt
den Souverän als Schöpfer eines irdischen Friedens ein, seine
Aufgabe ist es, „Ruhe, Sicherheit und Ordnung zu schaffen“573,
d.h. den Schrecken des Naturzustandes bzw. den religiösen
570 Schmitt, Hamlet oder Hekuba, S. 67.571 Ebd. S. 65.572 Schmitt, Der Leviathan, S. 47 f.573 Ebd., S. 65.
238
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Bürgerkrieg zu beenden. Diese neue politische Ordnung wird
bekanntlich dadurch aufrechterhalten, daß sie den Glauben bzw.
das religiöse Gewissen, das einst seine blutigen politischen
Opfer gefordert hat, nunmehr in die Privatsphäre, den Innenraum
des Staates, abdrängt und damit nun den Bürger in zwei Hälften
spaltet, den inneren und den äußeren Menschen. An die Stelle
der Glaubensspaltung tritt also eine neue politisch bedingte
Spaltung zwischen innen und außen.
Für Schmitt bezeichnet der Innenraum der Privatsphäre aber
auch schon einen neuen Todeskeim für die Politik, der den
„mächtigen Leviathan von innen her zerstören und den
sterblichen Gott zur Strecke“574 bringen wird. Schmitts
Rekonstruktion entfaltet hier bekanntlich eine Logik der
Verschwörung und Zerstörung, die von diesem Innenraum ausgeht
und diesen gleichsam nach außen stülpt.
Schon wenige Jahre nach dem Erscheinen des Leviathan fiel derBlick des ersten liberalen Juden auf die kaum sichtbareBruchstelle. Er erkannte in ihr sofort die großeEinbruchstelle des modernen Liberalismus, von der aus dasganze, von Hobbes aufgestellte Verhältnis von äußerlich undinnerlich, öffentlich und privat in sein Gegenteil verkehrtwerden konnte.575
Von der Konstruktion des Mythos vom Leviathan, des Staates und
der Politik geht Schmitt dazu über, dessen Zerstörung durch die
„von außen“ eindringenden Juden nachzuzeichnen. Die „kleine
umschaltende Gedankenwendung aus der jüdischen Existenz
heraus“576 führt in dieser dämonologischen Rekonstruktion
Schmitts zu der Aufklärung, die den souveränen Fürsten zu
stürzen sucht.574 Ebd., S. 86.575 Ebd.576 Ebd., S. 88 f.
239
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Die staatliche Entwicklung des 18. Jahrhunderts vollendeteden Gedanken der fürstlichen Souveränität […] Das geht abernur in der Weise vor sich, daß die absolute staatliche Macht,die souverän repräsentative Person, die den ständischen undden kirchlichen Gegner besiegt hat, zwar den augenfälligenSchauplatz des öffentlichen Geschehens und den Vordergrundder politisch-geschichtlichen Bühne beherrscht, daßgleichzeitig aber unsichtbare Unterscheidungen von Außen undInnen, Öffentlich und Privat nach allen Richtungen hin zueiner immer schärferen Trennung und Antithese weitergetriebenwerden […] Im 18. Jahrhundert ist es Moses Mendelssohn, derin seiner Schrift „Jerusalem, oder über religiöse Macht undJudentum“ (1783) die Trennung von Innerlich und Äußerlich,Sittlichkeit und Recht, innerer Gesinnung und äußerer Haltungzielsicher geltend macht und vom Staat Gewissensfreiheitverlangt.577
Staat, Souveränität und Politik werden in Schmitts bösartiger
Darstellung Opfer einer Verschwörung aus dem Innenraum des
Staates, nämlich der sittlichen Vernunft, wie sie in Wolffs,
Mendelssohns und Kants Philosophie konzipiert wird, und die
eine für alle Bürger gleichermaßen und ausnahmslos geltende
Ethik anstelle der Politik der Ausnahme zu setzen bestrebt ist.
Vom Standpunkt der reinen Sittlichkeit ist der Staat in der Tat
eine nur noch äußere Macht und deswegen prinzipiell, wenn die
Sittlichkeit sich ganz durchgesetzt hat, überflüssig. Im
Innenraum des Staates wird also für Schmitt ein antipolitischer
Mythos mobilisiert, der im Leviathan nur noch ein bösartiges
Ungeheuer erblickt. „Die jüdischen Deutungen des Leviathan und
der Behemoth sind wesentlich anderer Art.“578 Schmitt vollendet
seine Dämonologie der unsichtbaren antipolitischen Kräfte,
indem er kabbalistische Mythen zitiert, die sich auf den
messianischen Frieden beziehen und also das Ende aller Gewalt
und Herrschaft vorsehen.577 Ebd., S. 92.578 Ebd., S. 16.
240
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Es ist zwar im Allgemeinen bekannt, daß beide Tiere zuSymbolen der den Juden feindlichen heidnischen Weltmächtegeworden sind und auf das babylonische, das assyrische, dasägyptische und andere heidnische Reiche bezogen werdenkönnen.579
Wenn der Leviathan für Hobbes und Schmitt den souveränen Staat
und also eine entschlossene Politik symbolisiert, so bezeichnet
er für „die Kabbalisten“ den den Juden feindlichen Machtstaat
bzw. die Weltbühne der einander bekämpfenden Machtstaaten.
Nach solchen jüdisch-kabbalistischen Deutungen stellt derLeviathan „das Vieh auf den tausend Bergen“580, nämlich dieheidnischen Völker dar. Die Weltgeschichte erscheint als einKampf der heidnischen Völker untereinander [...] Die Judenaber stehen daneben und sehen zu, wie die Völker der Erdesich gegenseitig töten, für sie ist dieses gegenseitigeSchächten und Schlachten gesetzmäßig und „koscher“. Daheressen sie das Fleisch der getöteten Völker und leben davon.581
Schmitt zitiert hier eine kabbalistische Aggada, die in die
Liturgie als Schlußgebet des Laubhüttenfestes eingegangen ist,
derzufolge die Juden in den Zeiten des Messias das Fleisch des
Leviathan verzehren. Die jüdische Mythologie, die auf die
messianische Neutralisierung des Machtstaates und des mit dem
Naturzustand gegebenen Herrschaftsprinzips setzt, bezeichnet
also in Schmitts Dämonologie das Gegenprinzip zu aller Macht
und damit zum Mythos des Politischen. Der Mythos vom
messianischen Mahl ist damit das eigentliche Feindprinzip aller
Politik, gegen das sich der mythische Inhaber der souveränen
Gewalt zurüstet. Der Leviathan der Juden gegen den Leviathan
von Hobbes. Wenn die Politik eben die Sphäre der Unterscheidung
zwischen Freund und Feind ist, dann ist der gefährlichste Feind
immer derjenige, der die Unterscheidung selbst und damit den 579 Ebd. 580 Ps. 50,10581 Schmitt, Der Leviathan, S. 17 f.
241
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Begriff des Feindes und der Politik aufheben will. Dieser Feind
aller Feindschaft und damit der Feind aller Feinde ist in
Schmitts apokalyptischer Logik „der Jude“ mit seiner
Messianologie von der befreiten Menschheit.
Es ist eben diese Konzeption des Politischen und der
Souveränität bei Schmitt, die zur Zerstörung der Weimarer
Verfassung und zuletzt zum Massenmord an dem jüdischen „Feind“
wesentlich beigetragen hat, zumal hier an die Stelle des von
den Juden ermordeten Messias/Christus nunmehr der Mythos von
der Zerstörung des „mortall God“, des sterblichen Gottes
Leviathan durch dessen jüdische Subversion tritt. Mit dieser
subkutanen Essentialisierung des Feindes als jüdischer Feind
verliert der Begriff des Politischen zuletzt jeden
realpolitischen Sinn: ohne Feind keine Politik, ohne Politik
keine Entscheidung. Wird der Jude zum Feind schlechthin, so muß
er nämlich zum dämonischen Geist entstellt werden, der hinter
den Kulissen der Politik seine Verschwörungen schmiedet. Alle
Politik gilt eigentlich nur diesem Feind der Feindschaft, der
nur durch einen Vernichtungszug aus dem Felde geräumt werden
kann. Doch die Vernichtung des jüdischen Feindes muß, um des
Politischen willen, permanent vollzogen werden. Es bedarf also
einer Wiederbelebung des Toten, um den Kampf erneut gegen ihn
aufzunehmen. Das Politische enthüllt sich als Ritual einer
Geisterbeschwörung, in dem der Geist des ermordeten Juden, nach
dessen Tode noch als Feind auftreten, gegen den ein letzter
Kampf gekämpft werden muß. Benjamins Geist hatte die
Wirklichkeit und Effektivität des politischen Machtprinzips der
Aufklärung als Fortsetzung des Naturzustandes begriffen und
damit die Geschichte als einen ewigen mythischen Weltkrieg der
242
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Mächte gekennzeichnet, an dem sowohl die Untertanen wie der
Souverän selbst leiden und zugrundegehen müssen. Walter
Benjamin erzeugt so einen Antimythos des Politischen und der
Herrschaft, den er im Hamlet zur Allegorie der totalen Krise
von (Macht)politik überhaupt – ihrer totalen Sinnlosigkeit und
Überflüssigkeit erhebt. Die Entmythologisierung des
Trauerspiels dient bei Benjamin eben jenem Kampf gegen den
Mythos von Leviathan und seiner souveränen Macht, womit
Benjamin als Feind der Feindschaft sich zu erkennen gibt, gegen
den sich – laut Schmitt – die Politik richten muß. Der Geist
Benjamins, der hier dem politischen Theologen Schmitt posthum
erscheint, wird zu Schmitts mythologischem Zuschauer, der
daneben steht und zuschaut, „wie die Völker sich gegenseitig
töten, [...] um das Fleisch der getöteten Völker zu essen und
davon zu leben“582
Hier, d.h. in der Beschwörung des vermeintlichen Feindes als
Geist perpetuiert sich eben das Politische, das mit der Setzung
des Feindes immer schon zu Ende kommen muß und nie zu Ende
kommen darf. Der Feind wird hier zur Allegorie des Politischen
bzw. der politischen Theologie in ihrer essentialisierten Form:
Lebendig muß er getötet werden, tot muß er wieder auferstehen.
Es ist dieser allegorische Charakter der Feindschaft, der
zuletzt die politische Theologie so dämonisch beherrscht, daß
er sie tatsächlich zerstört: Steht und fällt Politik und
politische Theologie auf ihrer mythologischen Ebene mit dem
Feind aller Feindschaft, dann kann die von ihr gesuchte
souveräne Entscheidung tatsächlich nie zustande kommen. Der
Souverän der politischen Begrifflichkeit, Schmitt, ist zuletzt
582 Siehe Anm. 63.243
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
selber der Held der Unentschlossenheit schlechthin: Er ist der
Hamlet, der das Leben des Feindes nicht wirklich nehmen und den
toten Feind nie wirklich zum Leben erwecken kann. Doch dieser
Hamlet muß keinen Mörder ausfindig machen. Der, dem hier der
ermordete Geist seines Opfers erscheint, ist selber der Mörder,
der, damit er noch einmal und immer wieder zum Mörder werden
kann, den Geist beschwört. Das ist Schmitts dämonischer Mythos
des Politischen hinter den Kulissen seines Begriffs des
Politischen. Dessen zyklische Zeit muß immer wieder ins Spiel
einbrechen.
244
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Es gibt Vernichtung.Anmerkungen zu Jakob Taubes Die politische Theologie des Paulus
I Vorwort
„Es gibt Vernichtung“583, faßt Taubes das traumatische Apriori
seiner Exegese zusammen, um von ihm aus eine Art
hermeneutischen Schock zu inszenieren: Die Theologie des
Paulus werde nämlich – wie schon bei dem Begründer der
israelitischen Verfassung, Moses selbst – von nichts anderem
als der Schreckensvision einer möglichen Vernichtung des
jüdischen Volkes beherrscht, vollzogen allerdings durch Gott
selbst. Dieser würde sein Volk für die Gottesleugnung zu
bestrafen suchen, wobei Paulus wie sein Modell Moses eben
583 Taubes, Die politische Theologie des Paulus, S. 47: „Der ganze Text macht nur Sinn vor der Erfahrung, daß es Vernichtung gibt. Und Paulus spricht ja von nichts anderem, wenn man es einmal zusammenfaßt, als von Versöhnung.“Das Buch nimmt offenbar Tendenzen auf, die zunächst von Erik Peterson ausgehen, der seit seiner Vorlesung über den Römerbrief in den zwanziger Jahren Paulus als Theopolitiker gegen die politische Theologie Schmitts ausspielt,vgl. Erik Peterson, Paulus – Der Brief an die Römer. Auch Petersons Auslegung von Römer 9–11, ders., Die Kirche aus Juden und Heiden, Salzburg 1933,bzw. seine Exegese zum Philipperbrief (Apostel und Zeuge Christi, Auslegung des Philipperbriefes, Freiburg 1940) haben sicher auf Taubes’ Interpretation von Paulus Einfluß gehabt. Da Taubes von den jüdischen Versuchen, Paulus aus dem Judentum zu interpretieren, eigentlich alle verwirft, also Leo Baeck,„Paulus, die Pharisäer und das Neue Testament“, in: Karl Heinrich Rengstorf, Das Paulusbild in der neueren deutschen Forschung, Darmstadt 1969, JosephKlausner, Von Jesus zu Paulus, Königsstein 1980, Martin Buber, Zwei Glaubensweisen, Zürich 1950, Schoeps, Paulus, außer Gershom Scholems sabbatianischem Ansatz, vgl. ders., Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt a.M. 1980, S. 315–355, und ders., Sabbatai Zwi. scheint Petersons Paulus, der das theopolitische Moment mit dem genuin jüdischen zusammendenkt, tatsächlich das Modell für Taubes gewesen zu sein. Paulus als politischer Theologe ist dabei mittlerweile zum Thema sowohl der Theologen als auch der politischen Theologen geworden. Vgl. Richard A. Horsley, Paul and the Roman Imperial Order, Harrisburg 2004, oder Agamben, Le Temps qui Reste.
233
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
seine Aufgabe in der Abwendung dieser Vernichtungsandrohung,
d.h. in der Versöhnung sieht.
Die folgenden Überlegungen stellen den Versuch dar, die zum
Teil nur kryptischen Ausführungen von Taubes aus dieser
offenbar zentralen Schockperspektive in ihrem systematischen
Zusammenhang zu rekonstruieren. Vom grellen Licht des
historisch-traumatischen Aprioris von der Judenvernichtung
angestrahlt, erhalten die zum Teil nur skizzenhaft
hingeworfenen Ideen allerdings eine überraschende Kohärenz.
1) Zunächst soll der Zusammenhang zwischen dem
traumatischen Apriori und der Exegese zur biblischen
Vernichtungsproblematik bei Moses und Paulus am Beispiel des
von Taubes hier zur Hilfe gezogenen Traktats Brachot aus dem
babylonischen Talmud erörtert werden. 2) Dann soll am
Beispiel der philologischen Erläuterung von Röm. 11,28 der
Gesamtrahmen der politisch-theologischen Diskussion vis à vis
Carl Schmitts Philologie von Math. 5,44 (Bergpredigt) erläutert
werden; in beiden Philologien geht es jeweils um die für den
„Begriff des Politischen“ zentrale Lehre vom Feind. 3) In
einem dritten Schritt soll der Zusammenhang von Theologie und
Politik am Beispiel der paulinischen Polemik gegen die
römische Reichstheologie rekonstruiert werden, 4) um im
letzten Teil die für Taubes’ gesamte Exegese zentrale Frage
nach dem Verhältnis von Gnosis und Moderne herauszustellen.
Wenn die Moderne wegen der Judenvernichtung, deren
ideologische Ursprünge im Rückfall in gnostische Denkmuster
zu suchen seien, prinzipiell immer schon in Frage gestellt
ist, dann läßt sich das politisch-theologische Interesse, das
Taubes über die Paulus-Exegese verfolgt, in kritischer
234
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Anlehnung an Hans Blumenbergs584 These von der Moderne als der
zweiten – gelungenen – Überwindung der Gnosis durch
Selbstbehauptung formulieren. Taubes geht es wie Blumenberg
zunächst um die Überwindung von Gnosis, anders als Blumenberg
jedoch erkennt er ein Fortbestehen gnostischer Denkbestände
und Ideologien in der Moderne, deren stärkstes Indiz die
Judenvernichtung ist. Wenn Taubes andernorts auch auf eine
positive Bedeutung der gnostischen Konstruktion des Heils
verweist, rückt in den Überlegungen über Paulus vor allem die
destruktive, antisemitische Dimension der Gnosis in den
Mittelpunkt. Der Wille, Vernichtung abzuwenden wird so
identisch mit dem Willen, die Gnosis endgültig zu überwinden.
Damit erkennt Taubes in der Moderne in der Tat ein
„unvollendetes Projekt“, das durch die Exegese des Paulus an
ihre Ursprünge erinnert werden soll, um einen weiteren,
letzten (?) Versuch zur Überwindung der Gnosis, allerdings
aus dem Geiste der paulinischen Politik der Liebe – und gegen
alle Formen der Selbstbehauptung – zu versuchen.585
II Vernichtung abwenden – Paulus und der Monotheismus als
politisches Problem
584 Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, reagiert bekanntlich auf Voegelin, The New Science of Politics,. In Taubes, Gnosis und Politik, geht es vor allem auch um die Debatte um Blumenberg und Voegelin, aber nicht minder um deren politisch-theologisches Umfeld.585 Hier spielt Taubes’ Buch eine wichtige Rolle für die kritische Kontinuität der politischen Theologie, wie sie dann von Agamben vor allemin: Le Temps qui reste. wieder aktuell wird, der allerdings auch kritische Denkansätze der französischen Philosophie weiterdenkt, v.a. Badiou, St. Paul.
235
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
„Es gibt Vernichtung“586, so beschreibt Taubes lapidar das
traumatische Apriori seiner Exegese des Römerbriefes. Von der
Erfahrung des Traumas der Judenvernichtung aus, das
zwangsläufig ein jedes Nachdenken über Moderne und Aufklärung
beherrscht, inszeniert Taubes einen schockhaften
Szenenwechsel, in die seiner Meinung nach zentrale
Problematik der paulinischen Theologie, die allerdings das
Denken von Moderne und Aufklärung wesentlich mitbestimmt hat.
Paulus sei wie sein Vorbild Moses von dem Willen umgetrieben,
das göttliche Gericht und also die Vernichtung als Strafe für
die Sünde des Volkes abzuwenden. Indem das Trauma in die
Geschichte des Geistes zurückprojiziert wird, stellt sie die
schockierende Assoziation mit der gerade auch noch für Paulus
entscheidenden biblischen Urszene her, in der Moses nach der
Szene mit dem goldenen Kalb Gott von seinem Willen
abzubringen versucht, sein Volk für diesen Akt der
Gottesleugnung zu vernichten. Hier die Textstelle aus Exodus
32,–11:
Der Herr sprach zu Moses: Geh,steig hinab; dein Volk, das du ausÄgyptenland geführt hast, hat schändlichgehandelt.
Sie sind schnell von dem Wege gewichen,den ich ihnen geboten habe. Sie haben sich ein gegossenes Kalb gemachtund haben`s angebetet und ihm geopfertund gesagt: Das ist dein Gott, Israel, derdich aus Ägyptenland geführt hat.
Und der Herr sprach zu Mose: Ichsehe, daß es ein halsstarriges Volk ist.und nun laß mich, daß mein Zorn über
586 Taubes, Die politische Theologie des Paulus, S. 47.236
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
sie entbrenne und sie vertilge: dafür willich dich zum großen Volk machen.
Moses aber flehte vor dem Herrn, sei-nem Gott, und sprach: Ach Herr, warumwill dein Zorn entbrennen über dein Volk,das du mit großer Kraft und starker Handaus Ägyptenland geführt hast?
Bei dieser Assoziation von nationalsozialistischer und
biblischer Vernichtung geht es zunächst gerade nicht um einen
– ohnehin wahnsinnigen – Vergleich, sondern um die Frage nach
dem Wesen von politischer Theologie. Diese steht – nach der
Judenvernichtung – vor einer so einfachen, wie erschreckenden
Alternative: will sie das „nihilistische“ Wesen der
Geschichte fortsetzen, das in der mythischen Zyklizität von
Herrschaft und Unterdrückung bzw. Vernichtung des Feindes
sich wiederholt und das in der Judenvernichtung ihren bislang
grauenvollsten Ausdruck erhalten hat, oder wird sie unter dem
Eindruck der Katastrophe versuchen, nach Möglichkeiten des
Denkens und Handelns zu suchen, die den Kreislauf von
Herrschaft/Vernichtung zu durchbrechen vermögen. Die
Ausgangsposition trifft aus der Perspektive dieser
Alternative mitten ins Herz der politisch-theologischen
Grundfrage des Paulus, der wie sein Vorbild, nach der zweiten
Gottesleugnung, nämlich der Leugnung des Messias, jetzt
nichts anderes will, als ebenso die Androhung Gottes, sein
Volk zu vernichten, abzuwenden. Taubes will nicht nur zeigen,
wie Paulus aus dieser Situation die Konsequenz ableitet, die
das Judentum hin zu den Nichtjuden öffnet – also das
Christentum erst begründet, sondern er rekonstruiert mit
Paulus diese Öffnung als einen Akt, mit dem sich die Juden
der göttlichen Gnade entziehen, um die Völker für die 237
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
göttliche Gnade und Liebe zu befreien – also als einen Akt
der ultimativen (Selbst)Hingabe und Versöhnung.
Unausgesprochen enthält die schockierende Rückprojektion
eine bohrende Frage: Wie konnte es kommen, daß eben die
Theologie, deren Sinn in einer solchen Öffnung der Liebe für
alle liegt, zum Fundament eines Denkens wurde, das Politik
ultimativ als Vernichtungszug gegen den Feind denkt und
diesen Feind potentiell immer schon im Juden erkennt. Die
Analogie, die die Assoziation stiftet, verkehrt sich in den
absoluten Gegensatz, dessen Genese eben die Problematik
blitzhaft erhellt, die Taubes an der Säkularisation
wahrnimmt, d.h. die Transformation der traditionell
theologischen Begrifflichkeit in die politische
Handlungssphäre. Ohne daß Taubes dies alles hier in
irgendeiner Weise systematisch argumentativ ausführen würde,
so leiten seine kryptisch-aphoristischen Überlegungen doch
folgerichtig zu einer philologischen Lesung von Röm. 11,28, an
der sich diese Fragen – wie konzentriert gebündelt – in eben
der Frage nach dem Umgang mit dem (zu liebenden oder zu
vernichtenden) Feind erörtern lassen.
1) Zunächst also beruht die Paulus-Exegese auf dem von Taubes
zentral behaupteten Selbstvergleich des Paulus mit Moses:
„Meine These ist, daß sich Paulus als Überbieter des Moses
versteht.“587
2) Diese Voraussetzung aber wird durch die messianische
Situation, in der Paulus sich dem eigenen Selbstverständnis
zufolge befindet, wesentlich modifiziert, insofern eben die
587 Ebd., S. 57238
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Rettung des jüdischen Volkes vor der Vernichtung durch Gott
eine gegenläufige Strategie begründet.
Ad 1) Taubes erkennt in der Szene mit dem goldenen Kalb,
genauer in der Fürbitte des Moses bei Gott, doch von seiner
Straf- und Vernichtungsabsicht abzusehen, die Urszene, von
der her das Programm des Paulus sich erst in seiner ganzen
existentiell-jüdischen Dimension wie in seiner politischen
Tragweite erhellt. Zur Erläuterung dieser These greift Taubes
auf die Explikation dieser Szene im babylonischen Talmud
Brachot 32 a/b zurück. Hier wird detailliert ausgeführt, wie
Moses versucht, Gott von dem Schwur abzubringen, Israel für
die Sünde mit dem goldenen Kalb zu vernichten.
Der Midrasch zu Moses’ Versuch, Gott umzustimmen, beginnt
mit der Deutung zu Gottes Befehl an Moses: „Geh, steig hinab“
und entfaltet das Geschehen zwischen Gott und Moses, dadurch
daß die einzelnen Bestandteile des biblischen Textes
auseinander gelegt und, wie so oft im Kommentar, in einer
komplexen dialogischen Situation dramatisiert werden.
Zunächst reagiert Moses auf Gottes Androhung, das Volk zu
vernichten „Laß ab von mir, damit ich sie vertilge.“ (5. Moses
9,14) Er beginnt zu beten und zu flehen, bis Gott seine
Forderung wiederholt, Moses solle von ihm ablassen (2. Moses
32,10), wobei jetzt das Angebot hinzugefügt wird, daß Gott
Moses zum Stammvater eines eigenen Volkes erheben will (was
schon in der vorigen Textstelle von 5. Moses 9,14 angeboten
wird): „Und nun laß mich, daß mein Zorn über sie entbrenne
und sie vertilge; dafür will ich dich zum großen Volk
machen.“ Moses lehnt dieses Angebot mit ausdrücklichem
239
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Hinweis auf seine Loyalität zu seinem Volk und den drei
Patriarchen des Volkes ab:
Folgendes sprach Mosche vor dem Heiligen, gebenedeit seier: Herr der Welt, wenn ein Stuhl mit drei Füßen in derStunde deines Zorns vor dir nicht bestehen kann, d.h. die sichberufen können auf die Väter, Abraham, Isaak und Jakob, um wievielweniger ein Stuhl mit einem Fuß! Was Du aus mir machen möchtest.Und nicht nur das, ich müßte mich ja vor meinen Väternschämen, sie würden sagen: Sehet den Verwalter, den er übersie gesetzt hat, er sucht Größe für sich, nicht aber suchteer Erbarmen für sie.588
Moses, der an anderer Stelle von sich aussagt, er habe das
Volk geboren, würde das Volk, also seine Erzeugung, auf
keinen Fall im Stich lassen. Gottes Zorn über die Abkehr des
Volkes, dessen verheerende Konsequenzen Moses hier noch
einmal abwenden kann, wird zum Grundmodell einer Logik von
Fluch und Segen, die Moses bekanntlich in seinem
Abschiedslied kodifiziert:
Sie haben mich gereizt durch einen nicht-Gott, durch ihre Abgötterei habensie mich erzürnt. Ich aber will sie wiederreizen durch ein Nicht-Volk, durch eingottloses Volk will ich sie erzürnen. (5. Moses 32,21)
Wenn Israel sich von Gott abwendet, d.h. ihm seine Liebe
entzieht und sich einem anderen Gott und Götzen zuwendet,
wird der eifersüchtige Gott ein anderes Objekt für seine
Liebe erwählen: Ein Volk, das bisher im Sinne der exklusiven
Liebesbeziehung zwischen Gott und Israel nicht in Frage
gekommen ist, das also ein Nicht-Volk darstellt. Mit der
Metaphorik von Liebe – Untreue – Eifersucht wird die
Strafandrohung für den Bundesbruch nicht nur abgemildert,
sondern eben die Option festgehalten, die Moses für sich 588 Ebd., S. 44.
240
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
freilich aus Loyalitätsgründen ablehnt: nämlich den Bund
Gottes auf ein anderes Volk zu übertragen.
Taubes deutet nun den für das Judentum absolut häretisch-
revolutionären Schritt über das Judentum hinaus zu den
Heiden, aus dieser genuin jüdischen Logik heraus, als
Versuch, den Zorn Gottes abzuwenden und Israel vor dem Zorn
Gottes zu retten. Das bedeutet aber, sagt Taubes, daß Paulus
die Öffnung zu den Nichtjuden nicht nur mit großem Schmerz
und tiefer Trauer vollstreckt, sondern im Grunde immer auch
aus einer genuinen Besorgnis um das eigene Volk. Damit aber
sei die Illoyalität prinzipiell als Akt einer ultimativen
Loyalität zu verstehen.
Ad 2) Zum Verständnis dieser dialektischen Figur, in der die
Illoyalität sich als Forderung wahrer Loyalität darstellt,
beruft sich Taubes auf die von Gerschom Scholem
herausgearbeitete Logik der sabbatianischen Messianologie,
die in ihrer Grundstruktur der des Paulus entspreche.589 Die
Pointe dieser jüdischen Strategie liegt darin, daß die unter
den veränderten messianischen Bedingungen erzwungene
Illoyalität sich gerade unter diesen Bedingungen auch als die
wahre Loyalität erweisen wird, so nämlich, daß die Öffnung
hin zu den Heiden als der wahre Liebesdienst am eigenen Volk
evident wird. Sabbatai Zwis Übertritt zum Islam wird zum Akt
der von den eigenen Glaubensbrüdern natürlich verkannten
Leidensmission, mit der die Funken aus den Schalen des Bösen
befreit und die kosmische Erlösung für alle Menschen, also
auch die Juden, in die Wege geleitet wird. Paulus’ Hinwendung
589 Ebd., S. 18 ff.241
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
zu den Nichtjuden erscheint aus dieser Perspektive als eine
messianisch bedingte Leidensmission, die von seinem Volk
gerade verkannt, dessen Rettung zum Ziel hat.
Das ist für ihn [Paulus] ungeheuer notwendig, denn er willja mit den Mitteln der heiligen Schrift beweisen, daß jetztder Augenblick gekommen ist der Eröffnung zu den Heiden.Der Juden zu den Heiden, des heiligen Gottesvolkes. Unddieses heilige Gottesvolk wird transfiguriert, das heißt,daß das alte in eine Verundeutlichung gerät. Das hätteMoses nicht getan, und das weiß der Paulus ganz genau, daßer eine Aufgabe übernimmt, die erstmalig und einmalig ist.Ich lese das nicht rhetorisch, was Paulus hier sagt, amAnfang von [Röm.] 9, daß er mit großer Traurigkeit undSchmerz beladen ist, und weil er alles verabschiedet: dieSohnschaft, der Bund, die Väter, der Gottesdienst, dieVerheißungen, der Messias – es gibt ja nichts, was nichtauf diesem Volk ruht.590
Taubes rekonstruiert diesen durch die neue Lage entstandenen
messianischen Umweg am Leitfaden der prophetischen Zitate,
mit denen Paulus die neue, durch das Ereignis von Kreuzigung
und Auferstehung für Israel entstandene Notlage erläutert.591
Von Hoseas Weiterführung des mosaischen Eifersuchtsspruches –
„Ich werde mein Nicht-Volk mein Volk nennen und die
Nichtgeliebte die Geliebte“ (Hos. 2,25) – bis zu Jesajas
Feststellung
590 Ebd. S. 58 f.591 Interessant wäre der Vergleich von Taubes’ Ausführungen mit Peterson,Paulus – Der Brief an die Römer, S. 269–330. Dieser enthält nicht nur den Text,der zur Grundlage von Petersons Essay Die Kirche aus Juden und Heiden wurde undin Erik Peterson, Theologische Traktate, München 1951 wiederveröffentlichtwurde. Hier erläutert Peterson das Verhältnis Juden/Heiden in einerWeise, die eine ganze Reihe von Aussagen Taubes’ zu bestimmen scheinen.Peterson entfaltet den Römerbrief als Ganzes im Sinne einer gegen dasRömische Reich gerichteten Theopolitik und nimmt damit wesentliche Thesenvon Taubes vorweg. Eines der missing links zwischen Peterson und Taubesdürfte der in Taubes, Der Fürst dieser Welt, (wieder-)veröffentlichte EssayErik Petersons, „Kaiser Augustus im Urteil des antiken Christentums. EinBeitrag zur politischen Theologie“ (S. 174 ff.), sein.
242
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Ich ließ mich finden von denen, die mich nicht suchten,offenbaren denen, die nicht nach mir fragten. Zu Israelaber sagte er: den ganzen Tag breite ich meine Hände ausnach deinem Volk, das ungehorsam ist und im Widerspruchlebt (Jes. 65,1/2)
– konstruiere Paulus den für die Juden eschatologischen
Notfall einer Erweiterung der Offenbarung, um diesen
eschatologischen Notfall, d.h. die „Verstockung“ der Juden
als ein Ereignis zu deuten, das aus der Perspektive der
Vorsehung notwendigen Charakter besitzt und also die
endgültige Rettung und Erlösung der Juden herbeiführen wird.
Und das ist das Mysterium (11,25): Eine Teilverhärtung istüber Israel gekommen, bis daß die Vollzahl der Heideneingegangen ist, und so wird das – und nun kommt derentscheidende Begriff – pas israel, das ganze Israel,gerettet werden, wie es heißt bei den Propheten: Kommenwird aus Zion der Retter und wird den Frevel von Jakobabwenden. Und dies ist mein Testament für sie, wenn ichihre Sünden von ihnen fortnehme. So endet übrigens jedejüdische Predigt bei den Frommen.592
Das Christusereignis ist aus dieser Sicht das Ereignis der
notwendigen Eröffnung der Offenbarung für die Heiden, und als
solches das Ereignis der Begründung der universalen Gemeinde
und „Kosmopolis“, die auf der Grundlage des neuen
eschatologischen Liebesverständnisses, das alle Gebote und
Gesetze transzendiert, erst dann vollendet werden kann, wenn
„alle“, Heiden und Juden in dieser Kosmospolis auf der
Grundlage der neuen eschatologischen Verfassung der Agape
integriert werden können. Dies sei der Sinn der griechischen
Partikel „pas“ = alle, die den paulinischen Begriff der
Erlösung zentral beherrsche, daß sie wirklich „alle“ Menschen
mit einbeziehe. Eben dadurch, daß die Offenbarungsgeschichte
592 Taubes, Die politische Theologie des Paulus, S. 72.243
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
zunächst immer eine Trennung erzeugt, zwischen denen, die sie
annehmen und denen, die sie verweigern, denkt Paulus im Sinne
einer universalen Gerechtigkeit eine spiegelbildliche Umkehr
dieser Trennung: An die Stelle der einst gehorsamen Juden
treten jetzt die gehorsamen Heiden, an die Stelle der
ungehorsamen Heiden von einst treten jetzt die ungehorsamen
Juden, allerdings nur, um die Offenbarung zu einem Ereignis
ohne Trennung – also in letzter Instanz für „alle“ – zu
erheben.
Denn wie ihr zuvor Gott ungehorsamgewesen seid, nun aber Barmherzigkeiterlangt habt wegen ihres Ungehorsams, so sind auch jene jetzt ungehorsamgeworden wegen der Barmherzigkeit, dieeuch widerfahren ist, damit auch sie jetztBarmherzigkeit erlangen.Denn Gott hat alle eingeschlossen inden Ungehorsam, damit er sich allererbarme. (Röm. 11, 30–32)
Die Überlegungen zu den jüdischen Voraussetzungen der
paulinischen Theologie zeigen nicht nur die für den
hermeneutischen Horizont so zentrale Ausgangsposition, die
Taubes als einzigen Versuch beschreibt, „Vernichtung
abzuwenden“, und das heisst konkret: Versöhnung zu stiften:
„Der ganze Text macht nur Sinn vor der Erfahrung, daß es
Vernichtung gibt. Und Paulus spricht ja von nichts anderem
als von Versöhung.“593 Diese Exegese, gestiftet durch das
traumatische Apriori der realen Judenvernichtung, stellt
darüber hinaus gerade den Kontrast zwischen beiden Szenen –
der realen Judenvernichtung und der von Gott angedrohten und
von Paulus abgewendeten – in ein überscharfes Licht. Paulus,
593 Ebd., S. 47.244
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
der Gründungsvater des christlich geprägten politisch-
theologischen Denkens, wendet aus der jüdischen
Erfahrungsperspektive heraus die Androhung der Vernichtung
dadurch ab, daß er die Völker der Welt ungeachtet ihrer
nationalen, religiösen, sozialen und politischen Stellung als
Adressaten der Offenbarung von Liebe und Versöhnung
umschließen will. Dies tut er, indem er auf eine Politik der
Liebe zielt, die den Zirkel von Herrschaft, Feindschaft und
Vernichtung durchbrechen soll. Paulus‘ Politik der Liebe wird
innerhalb der eigentlich christlichen Tradition oft zu der
ideologischen Grundlage eines Antijudaismus, der dann in den
modernen Theorien politischer Theologie sich gerade unter den
Bedingungen der Säkularisation zu einer reinen Theorie des
Politischen verschärfen wird. Deren Quintessenz liegt in der
im Ausnahmezustand zu vollstreckenden Vernichtung des
Feindes, zumal des jüdischen Feindes. Carl Schmitts
politische Theologie594 steht in diesem Kontext nicht nur für
die antijudaistische Tradition eines christlich geprägten
politischen Denkens, sondern vor allem für diese
säkularistische Konsequenz.
Wenn die Exegese zum jüdischen Paulus in der Philologie von
Röm. 11,28 gipfelt – „Im Blick auf das Evangelium sind sie
[die Juden] zwar Feinde um euretwillen, aber im Blick auf die
Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen“ – und diese 594 Schmitt, Politische Theologie, ders., Der Begriff des Politischen. Der virulente Antijudaismus schlägt dann vor allem mit ders. Staat, Bewegung, Volk nach außen. In Schmitts Der Leviathan wird die jüdische Symbolik vom Leviathan, dessen Fleisch in den messianischen Zeiten verspeist wird, zum Ausdruck eben des Fehlschlags des Symbols. Taubes, Der Fürst dieser Welt, bezeichnet schon den Höhepunkt von Taubes’ Auseinandersetzung mit Schmitt, die er inDie politische Theologie des Paulus, Kap. 2: „Die Zeloten des Absoluten und der Entscheidung: Carl Schmitt und Karl Barth“, S. 86–97 dann noch einmal resümiert.
245
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
in einer mit Carl Schmitt geführten Auseinandersetzung
analysiert, dann wird, wie immer kryptisch, aber wie ich
meine: folgerichtig, der Bogen vom traumatischen Apriori zu
Paulus zurückgeschlagen, nämlich zu der Frage nach der
Grundlage der politischen Theologie nach der Vernichtung.
III Philologie und Dekonstruktion des Feindbegriffs
Der Hinweis auf Röm. 11,28 zielt im Sinne von Taubes’
Argumentation auf den hier verwendeten Feindbegriff, der, da
hier vom Feind des Evangeliums die Rede ist, als öffentlicher
Feind zu verstehen ist. Dieser philologische Hinweis erhält
seine polemische Sprengkraft natürlich vor allem durch den
Kontext der politischen Theologie von Carl Schmitt, in den
Taubes diesen Hinweis gestellt wissen will. Taubes Philologie
von Röm. 11,28 reagiert also auf Carl Schmitts philologischen
Hinweis auf Math. 5,44 in Der Begriff des Politischen, in dem er die
christliche Feindesliebe aufgrund des dort verwendeten
Begriffs „inimicus“, der sich nur auf den privaten Feind
beziehe, auf die private Feindesliebe einschränkt. Für die
öffentlich-politische Sphäre, in der man im Lateinischen den
Begriff des „hostis“ verwende, könne der Begriff nicht
gelten.595 Beide Philologien stehen hier, weit über eine 595 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 29. Derrida, Politik der Freundschaft, S. 158–230 enthält sicher eine der schärfsten Analysen von Schmitts Begriff des Politischen, aber, indem er die Freund-Feind Dichothomie dekonstruiert, endet er mit dem erstaunlichen Ergebnis, daß der Feind Schmitts am Ende „der Bruder“ ist. Derrida läßt sich sogar noch auf Schmitts Ex Captivitate Salus ein, das in der amerikanischen Kriegsgefangenschaft verfaßt worden ist, um dieses virtuose Stück Dekonstruktion zu bestätigen. (Vgl. S. 224 ff) Auf jeden Fall bedarf es nach der Dekonstruktion offenbar keiner Theopolitik der Agape mehr.
246
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Definition des Feindbegriffs hinaus, für zwei einander
antithetisch gegenüberstehende politische Theologien.
Wenn Schmitt die Feindesliebe aus dem öffentlich-
politischen Bereich ausschließt, geht es ihm um nichts
weniger als die Konsolidierung seines Begriffs des
Politischen, der bekanntlich auf dem Unterscheidungsvermögen
von Freund und Feind gründet:
Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sichdie politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen,ist die Unterscheidung von Freund und Feind [...] Derpolitische Feind braucht nicht moralisch böse, er brauchtnicht ästhetisch hässlich zu sein, er muss nicht alswirtschaftlicher Konkurrent auftreten, und es kannvielleicht sogar vorteilhaft scheinen, mit ihm Geschäfte zumachen. Er ist eben der andere, der Fremde, und das genügtzu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensiven Sinneexistenziell etwas anderes und Fremdes ist, so daß imextremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind.596
Der Feindbegriff, den Schmitt hier seiner Definition des
Politischen zugrundelegt, entspricht also dem lateinischen
„hostis“ (gegenüber dem privaten Feind: „inimicus“). Insofern
der Feind die politisch-rechtliche Ordnung des Staates zu
zerstören sucht, bedarf es einer souveränen Einsicht, die
diese Absicht klar erkennt und daraus die Entscheidung zu den
Ausnahmeregelungen ableitet, die die Abwehr, Bekämpfung und
Vernichtung dieses Feindes ermöglichen. Mit anderen Worten,
Schmitts Feindbegriff, – über den Freund hat er bekanntlich
nichts zu sagen – begründet korrelativ den Begriff der
Souveränität, der mit der Entscheidung darüber, wer der Feind
ist, die entsprechenden Maßnahmen zu dessen Bekämpfung
einleiten soll.
596 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 26 f.247
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Es handelt sich immerhin um ein eigentümliches
Korrelationsverhältnis, insofern Subjekt und Objekt der
Korrelation sich hier einander nur konstituieren, um sich zu
destruieren, einen Tatbestand, der für die Souveränität den
eigentümlich aporetischen Effekt hat, daß sie, um zu
bestehen, eben des Feindes bedarf, den sie doch vernichten
soll.
Hier sind nun zwei Momente zu beachten:
1) Wenn Schmitts Begriff der Politik aus der
Ausnahmesituation sich herschreibt, die sich der Feindschaft
„verdankt“, gegen die souverän entschieden wird, und diese
Entscheidung im Ernstfall die Bekämpfung bzw. die Vernichtung
des Feindes vorsieht, dann hat der Hinweis auf den privaten
Status der Feindesliebe den Sinn, diese Politik der
Ausnahmeregelungen eben ausnahmslos gelten zu lassen.
Gegenüber dem Feind gibt es nur die eine Haltung des Krieges,
in dem der Souverän von den „Angehörigen des eigenen Volkes
Todesbereitschaft und Tötungsbereitschaft [...] verlangen“597
darf. Der Feind wird bekämpft bzw. getötet, d.h. das
„Politische“ läßt vorübergehende Taktiken gegenüber dem Feind
zu, aber das Wesen des Politischen erfüllt sich in der
Erkenntnis und Bekämpfung des Feindes:
Feind ist also nicht der Konkurrent oder der Gegner imallgemeinen. Feind ist auch nicht der private Gegner, denman unter Antipathiegefühlen haßt. Feind ist nur einewenigstens eventuell, d.h. der realen Möglichkeit nachkämpfende Gesamtheit von Menschen, die einer ebensolchenGesamtheit gegenübersteht. Feind ist nur der öffentlicheFeind.598
597 Ebd., S. 48.598 Ebd., S. 29.
248
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Gegenüber diesem Feind gibt es nur ein Verhalten: Konflikt,
Kampf, Überwindung, Tötung. Schmitts Philologie zur
christlichen Feindesliebe stellt klar, daß dieses
Feindverhalten, das jede politische Ausnahme begründet,
selbst keine Ausnahme zuläßt, etwa ein durch die Feindesliebe
motiviertes Martyrium. Für Schmitt gilt die Ausnahme nur in
dieser Dimension des kämpferischen Konfliktes. Wenn
überhaupt, so denkt Schmitt die Ausnahme innerhalb dieser
agonistischen Dimension weiter, so etwa in seinem Buch Theorie
des Partisanen599, in der er den Kriegszustand als geregelten
Ausnahmefall noch einmal durch den ungeregelten Kampf des
Partisanen überboten sieht.
2) Mit dem Hinweis auf den privaten Charakter der
Feindesliebe signalisiert Carl Schmitt die eigentliche
Tendenz seiner politisch-theologischen Strategie einer
Emanzipation des Politischen von allen theologischen
Hindernissen, d.h. es geht ihm gegenüber einer Moderne, die
„das Politische“ – man denke etwa an Lessing, Hegel und Ernst
Bloch – als Realisierungsraum des Gottesreiches in der
Geschichte begreift, um eine radikale Trennung beider Sphären
im Sinne einer Emanzipation des Politischen von allen
theologisch motivierten Utopien. Gegenüber der Synonymität
und Identität des Politischen und Theologischen, von
Gottesreich und Staat im Diskurs der emanzipatorischen
Moderne, zielt Schmitts politisch-theologischer Diskurs
599 Im Vorwort wiederholt Schmitt, daß die „vorliegende Abhandlung [...] eine wenn auch nur skizzenhafte, selbständige Arbeit [ist], deren Thema unvermeidlich in das Problem der Unterscheidung von Freund und Feind einmündet.“
249
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
gerade auf Analogie und Differenz dieser beiden Sphären.
Diese Tendenz zu einer Emanzipation des Politischen von allen
theologischen Residuen zeigt sich an der Entwicklung, die
sein Denken zwischen der eigentlichen politischen Theologie
von 1922 und Der Begriff des Politischen von 1927 bestimmt. Wenn
Schmitt in der Politischen Theologie den politischen
Ausnahmezustand aus dem theologischen Begriff des
Offenbarungswunders entwickelt, mit und in dem Gott den
regelmäßigen Ablauf des Naturgeschehens kraft seiner
Schöpfermacht jederzeit aufhebt, so bedarf der analoge
politische Fall einer Aufhebung der politischen Verfassung
durch den Souverän in Der Begriff des Politischen keiner
theologischen Analogie mehr, vielmehr geht es nunmehr um
einen „reinen Begriff des Politischen“, für den gilt, daß die
theologische Unterstuetzung [...] die politischen Begriffe[eher] verwirrt, weil sie die Unterscheidung gewöhnlich insMoraltheologische verschiebt oder wenigstens damit vermengtund dann meistens ein normativistischer Fiktionalismus odergar ein pädagogisch-praktischer Optimismus die Erkenntnisexistenzieller Gegensätzlichkeiten trübt.600
Wenn die Kirche selbst dieser Konstruktion zufolge
„politisch“ handelt, dann muß sie ihre politischen
Entscheidungen aus derselben Unterscheidung von Freund und
Feind ableiten. Damit aber erübrigt sich für Schmitt jede
theologische Legitimation des Politischen. Die Einsicht in
die richtige Anthropologie soll ausreichen, um über die Lehre
von dem von Natur aus bösen Menschen den Begriff des Feindes
zu etablieren.
Im Sinne der von Taubes eingesetzten hermeneutischen
Strategie des Schocks, der den politischen Begriff des (zu 600 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 64.
250
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
vernichtenden) Feindes auf die theologische Tradition
zurückprojiziert, erhellt Schmitts „Tendenz“, ohne daß Taubes
dies im einzelnen ausführt, den polemischen Sinn dieser
Projektion. Schmitts Tendenz der Enttheologisierung der
politischen Begriffe zeigt, daß der „reine Begriff“ des
Politischen, der Souveränität und Ausnahmezustand
konstituieren soll, an die Stelle der analogen Gottheit den
Feindesbegriff setzt. Dieser erfüllt – innerweltlich – die
Bedingungen des Begriffs des Politischen, nämlich die
begriffliche Konstruktion des Ausnahmezustands und seiner
souveränen Beendigung. Der Feind erscheint so als der
Begriff, von dem aus die Trennung des Politischen vom
Theologischen, also die Säkularisation eines im Gegenzug zur
theologisch utopisierten Begrifflichkeit der
emanzipatorischen Moderne formulierten Begriffs des
Politischen, möglich wird. Beide Momente, die Ersetzung
Gottes durch den Begriff des Feindes als ausreichende
Bedingung der Möglichkeit des Politischen, wie die Definition
des Politischen als eine ausnahmslose Ausnahme entsprechen
und ergänzen einander und definieren die neuen, säkularen
Bedingungen von dem, was sich in der Politik – laut Schmitt –
tatsächlich abspielen soll, wenn man sich nicht von den
liberalen Theorien über eine reine Gesetzesverfassung des
Staates „jenseits der Souveränität“ über diesen wahren
politischen Tatbestand hinwegtäuschen lassen will.
Taubes’ Philologie von Röm. 11,28 ist, ohne dies auch nur
über den Ansatz hinaus auszuführen, gegen Schmitts Philologie
der Feindesliebe und deren gesamte politisch-theologische
Tendenz gerichtet. Dabei geht es Taubes offenbar um eine
251
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
dialektische Kritik. Diese sieht einerseits Schmitts Begriff
des Politischen als einen den realen Verhältnissen
angemessenen Begriff an, ja die Definition des Politischen
als der Ausnahmesituation – ähnlich wie Walter Benjamin601 –
als die politische Regel anerkennt, die gegen die
Unterdrückten immer wieder eingesetzt wird. Andererseits aber
soll eben dieser reelle Begriff des Politischen, wofür
Benjamin auch hier Modell steht, im Rekurs auf die politische
Theologie des Paulus radikal, also eschatologisch,
dekonstruiert werden. Es geht Taubes um eine „Umkehrung aller
Werte“ dieses Begriffs des Politischen, die anstelle von
Macht und Souveränität eine Politik der Liebe setzt und die,
wie eben die paulinische Umkehrung aller imperialen Werte des
römischen Reiches zeigt, den Cäsar entthront und an seine
Stelle den Christus auf den Thron setzt.602 Wenn also Taubes 601 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften I.2, S. 697: „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustandes vor Augen stehen, und dadurch wird unsere Position im Kampf gegen den Faschismus sich verbessern.“602 Dieses Programm dürfte wohl exemplarisch von Peterson, Paulus – Der Brief an die Römer, ausgeführt worden sein. Vgl. S. 14: „Wenn wirklich Christus den Thron bestiegen hat und ein neuer Äon begonnen hat, dann fordert das auch eine öffentliche Ankündigung, und der durch den diese öffentliche Ankündigung zu erfolgen hat, das ist nun der Apostel. Er hat als Herold nicht den Glauben einer obskuren Sekte zu verkündigen, sondern er hat denHeiden zu sagen, daß Jupiter nicht mehr im Himmel thront, er hat den Juden zu sagen, daß Christus neben Jahwe auf dem Thron sitzt und mit ihm zusammen regiert [...].“ In Taubes Der Fürst dieser Welt. ließ er immerhin Petersons Text Kaiser Augustus im Urteil des antiken Christentums als Dossier abdrucken, in dem diese Zusammenhänge in der Tat schon deutlich werden. Zur Beziehung Walter Benjamin und Erik Peterson vgl. Kurt Anglet, Messianität und Geschichte. Walter Benjamins Konstruktion der historischen Dialektik und deren Aufhebung ins Eschatologische durch Erik Peterson, Berlin 1995. Obwohl Anglet viele Texte Petersons noch nicht kennen konnte, da sie zum großen Teil erst nach 1995 veröffentlicht wurden, hat er den Sinn dieses Vergleiches im Sinne der programmatischen Überschrift entschieden. Da, wo Benjamin letzten Endes im Nihilismus endet, setzt Peterson das Martyrium als eindeutige theopolitische Antwort.
252
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
die Themen seiner Exegese in Röm. 11,28 gleichsam wie in einer
Fuge engführt, dann geht es ihm in dieser Passage nicht
zufällig um die implizite Definition des Feindes, von der her
sich der systematische Sinn eines jeden Begriffs des
Politischen erweist.
„Secundum evangelium quidem inimici propter vos; secundum
electionem autem carissimi propter patres“ heißt es in der
lateinischen Übersetzung des Römerbriefes. Wie schon
ausgeführt, verwendet der Römerbrief eben den Begriff
„inimicus“, den Schmitt als privaten Feind übersetzt und von
dem Begriff „hostis“ als dem öffentlichen Feind
unterscheidet. Nur muß unter den im Text angegebenen
Bedingungen der Begriff „inimicus“ allerdings als
öffentlicher Feind aufgefasst werden.
Und nun kam dieser gewaltige Satz, über den ich mich mitCarl Schmitt auseinandergesetzt habe [...] Feinde Gottes!Feinde ist kein Privatbegriff. Feind ist hostis, nichtinimicus, das ist nicht mein Feind. Wenn es heißt: Liebeteure Feinde – ja vielleicht, da bin ich mir nicht sicher,was das in der Bergpredigt heißt.603
Mit anderen Worten: worüber Taubes hier gleichsam laut
nachdenkt, ist nicht nur der Zusammenhang der beiden
Abschnitte des Verses, also von Feindschaft und Liebe
gegenüber den Juden, sondern er erwägt die Möglichkeit, ob
hier eine der Bergpredigt analoge Anleitung zur Feindesliebe
vorliegt. Damit wäre aber dann die Bergpredigt, von der aus
Schmitt den privaten Charakter der Feindesliebe behauptet, um
so eindeutiger als Gebot öffentlicher Feindesliebe zu lesen.
Damit hat Taubes sozusagen den philologischen Hebel
angesetzt, mit dem das Begriffssystem Schmitts in seinen 603 Taubes, Die politische Theologie des Paulus, S. 72.
253
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Grundlagen erschüttert werden kann, denn wenn die
Feindesliebe es mit dem öffentlichen Feind zu tun hat, so
erhält sie eine politisch-theologische Bedeutung, die zu
einer erneuten Reflexion über den Ausnahmecharakter des
Politischen zwingt. Die Feindesliebe ist nichts weniger als
die Ausnahme, die die Ausnahme des Politischen (im Sinne
Schmitts) transzendiert. Sie steht damit für die Ausnahme der
Ausnahme. Sie wird zu der politischen Verhaltung, mit der die
Regel der Geschichte, der permanente Ausnahmezustand, den die
Macht gegen die Ohnmächtigen verhängt, also jene ewige
Wiederkehr der gleichen Herrschaft und Unterdrückung,
durchbrochen wird.
Taubes setzt mit Paulus der realen Geschichte von
Herrschaft, Feindschaft und Vernichtung die schon im Jetzt
wirksame Gegengeschichte der Befreiung in der Liebe entgegen.
Nicht nur wird so eine in der Geschichte des Willens zur
Macht gegenläufige Politik der Liebe konzipiert, die die
Umkehrung aller Werte eben der Geschichte des Willens zur
Macht bezeichnet. Im Rekurs auf die paulinische Theologie
wird Schmitts Genealogie von Gott zum Feind radikal
dekonstruiert, d.h., sie wird auf ihren textuellen Grund
zurückgeführt. Gott ist bei Schmitt die Schöpfermacht, die
das Modell politischer, d.h. dezisionistischer und
suspensorischer Macht darstellt, während der zum Feind wird,
der innerweltlich dieser Modellfunktion genügt. Die
Quintessenz der Lösung besteht darin, daß Gottes Macht die
andere Macht des Erbarmens und der Liebe ist, die selbst noch
eine verdiente Schuld (Gottesleugnung) begnadigen kann. Seine
Macht besteht gerade darin, eben das eigene Gericht und
254
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Urteil über die Welt aufheben zu können. Theologisch ist die
Geschichte der Abfolge der Weltreiche nichts anderes als
Gottes Gericht über die Welt. Der Gott, der Modell für die
politische Theologie des Paulus steht, ist nicht nur der
reine Wille vor dem Logos, sondern ein Wille, der gegen die
eigene Vernunft und Gesetzmäßigkeit, eben diese
Gesetzmäßigkeit aufheben kann, um das Gericht über die Welt
zu revidieren. Die Logik des Ausnahmezustands, zu Ende
gedacht, enthüllt also eben nicht den Gott der nackten und
physischen Herrschaft und des permanenten Gerichts, sondern
den Gott, der Gericht und Macht, Weltvernunft und Weltgeist,
widerrufen und zunichte machen kann.
Indem Taubes mit Paulus von der Klärung des Feindbegriffs
aus zu einer Klärung des metaphysischen Begriffs bzw. des
obersten Prinzips politischer Theologie gelangt, zeigt sich
die fundamentale Differenz zwischen beiden Typen des
politischen Denkens. Wohl enthält das Prinzip von Macht und
Herrschaft die Möglichkeit von Suspension, nämlich der
jeweils schwächeren Ordnung durch die stärkere, aber das
Prinzip selbst als Absolutes unterliegt keiner Suspension,
sondern wiederholt sich in der Abfolge der Katastrophen der
Weltgeschichte ausnahmslos und bestätigt damit gerade seine
Ohnmacht. Das Absolute tatsächlich als Macht denken, heißt
aber im Grunde immer schon, daß es die eigene Macht, d.h.
sich selbst noch aufheben kann. Die Konsequenz der am
Beispiel von Moses und Paulus gewonnenen theologischen
Überlegungen ist, daß die Idee der Ausnahme sich dem Akt der
Aufhebung von Macht, der Widerrufung der eigenen Macht im Akt
der Gnade und Liebe verdankt. Wenn in der von Taubes
255
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
angeführten Diskussion zwischen Moses und Gott im Talmud, dem
Traktat Brachot, Moses Gott um Vergebung für das Vergehen des
Volkes bittet, dann geht es – Taubes entfaltet gerade diesen
Punkt – zentral um eben die Frage, wie nun Gott den eigenen
Schwur und Machtspruch (das Volk zu vernichten) aufheben
könne. Der Jom Kippur sei, so Taubes, eigentlich nichts
anderes als eine Liturgie, die diesen Bruch Gottes mit seinem
eigenen Schwur, um der Abwendung von Vernichtung willen,
großartig inszeniere. Taubes deutet das „Kol Nidrei“ in eben
diesem Kontext als Aufhebung des Vernichtungsschwurs Gottes:
Alle Gelöbnisse, Verzichtungen, Schwüre, Bannformeln oderVersagungen, Büßungen oder als solche geltende Ausdrücke,durch die wir uns etwas geloben, bekräftigen, unsverpflichten oder uns versagen, von diesem bis zum nächstenzum Guten und eingehenden Versöhnungstage, – die Sfardensagen hier: vom letzten bis zu diesem, – bereuen wirhierdurch, daß sie alle aufgelöst, erlassen und vergebenseien, null und nichtig, ohne Geltung und Bestand. UnsereGelöbnisse sind keine Gelöbnisse, unsere Versagungen sindkeine Versagungen, und unsere Schwüre sind keine Schwüre.Man kann die Aufregung nicht verstehen, aller jüdischenGemeinden von überall an diesem Gebet, das gar kein Gebetist. [...] aber was folgt jetzt? Wiederum nicht Gebet,sondern Formeln, und zwar aus der zweiten Stelle, dieVernichtungsdrohung aus dem Buch Numeri, aus dem Buche "Inder Wüste" (BaMidbar). Sie erinnern sich, da gibt es dreiSätze: „Schlagen will ich dieses Volk mit der Pest, ichwill es enterben, dich aber mache ich zu einem großenStamm, größer und mächtiger als es.“ In der Liturgie heißtes weiter: „Verziehen sei der ganzen Gemeinde der KinderIsrael und dem Fremdlinge, der weilt in ihrer Mitte, dennes ist dem ganzen Volke nur aus Versehen begegnet.“604
Die Christologie des Paulus ist aus dieser Perspektive eine
messianische Verdichtung dieser Zusammenhänge und zielt auf
nichts anderes als die radikale Abwendung des Gerichts – der 604 Ebd., S. 49 f.
256
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Vernichtung. Daß Christus am Kreuz stirbt, bzw. unter und an
dem Gesetz stirbt, ist die paulinische Formel für die
göttliche Möglichkeit, in der Liebe den Kreislauf des
Gerichts, den Kreislauf irdischer Gewalt, die schon alle
Insignien eines göttlichen Gerichts trägt, zu durchbrechen.
Im neuen Geist der Liebe soll der Gott dieser Welt, der
Weltgeist, überwunden werden. Das Pneuma dieser Umkehrung und
Überwindung, schreibt Taubes, sei „eine Kraft, die ein Volk
verwandelt und die den Text verwandelt“605, nämlich als die
Kraft, die das Verständnis von Gott, Selbst und Welt
transfiguriert und – von Gott aus – umkehrt.
Nicht zufällig gerät Taubes bei seinen assoziativen
Erläuterungen zu diesem Verwandlungsprozess von einer an der
Welt orientierten Vernunft zu einer Vernunft der Umkehrung
aller Werte dieser Weltvernunft in Überlegungen über Hegels
Begriff des Weltgeistes:
Aber Weltgeist gibt es [bei Hegel] als einen polemischenBegriff gegen Paulus. Denn Paulus unterscheidet imKorintherbrief im zweiten Kapitel die pneuma tou kosmon, dasPneuma dieser Welt, oder dieses Äons als negativen Begriffvom pneuma tou theon, Gottes Geist.606
Der kryptische Hinweis auf die Philologie des Geistes bei
Paulus und Hegel zeigt nicht nur, daß Hegel den Weltgeist
gerade als Gegenbegriff zu dem paulinischen Begriff des
Pneuma verstanden hat, nämlich als Geist, der sich unter den
Bedingungen des realen Staates verwirklichen soll, sondern
der Hinweis zielt auf den wahrhaft revolutionären Kern der
Politik der Liebe, insofern sich deren Geist weder durch eine
reelle politische Macht noch eine philosophische Vernunft 605 Ebd., S. 64.606 Ebd., S. 61 f.
257
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
usurpieren läßt, die sich selbst im Staat zu realisieren
meint. Das Pneuma aber bleibt der Welt nicht einfach
transzendent, denn damit würde die paulinische Theologie die
traditionelle Abstinenz von Macht und Politik im Sinne ihrer
Legitimation reproduzieren. Es wird vielmehr in dieser Welt
und in dieser Geschichte als die Liebe wirksam, die, da sie
den politischen Feind noch in sich einbezieht, sich
potentiell, d.h. in dem von der Politik vorgesehenen
Ausnahmezustand, als Martyrium realisiert, als Tod für den
anderen. Die Liebe, die im Jetzt des Weltlaufs schon dessen
Logik aufbrechen soll, wird eben deswegen die theologische
Tugend schlechthin, weil sie das Ende der politischen,
ökonomischen und sozialen Souveränität des Ichs betreibe.
Der Witz ist bei Paulus, daß ich auch in der Perfektionkein ich bin, sondern wir ein wir sind. Das heißt, dieBedürftigkeit ist in der Perfektion selber. So wie es imzweiten Korintherbrief heißt, deine Kraft vollendet sich indeiner Schwäche.607
Die politische Theologie der Souveränität gründet
metaphysisch in dem höchsten Prinzip der Macht, und muß so
Politik als Dramaturgie der Macht verstehen, die sich je von
neuem gegen eine andere Macht (des Feindes) selbst behauptet.
Dementsprechend kann der Mensch nur als Souverän gedacht
werden, der sich – gemäß der Logik von Herr und Knecht –
stets gegen den anderen nur behaupten kann, den er beherrscht
und dessen Gehorsam er erzwingt, bis der andere, in einem
Augenblick der Schwäche, das Spiel der Macht umkehrt, indem
er es doch nur wiederholt. Gegenüber dieser Welt der sich
reproduzierenden Souveränität entwirft Taubes mit Paulus eine
607 Ebd., S. 78.258
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
politische Theologie, die von der theologischen Möglichkeit
der Widerrufung des göttlichen Gerichts eine Politik der
Versöhnung denkt, in der der Mensch nicht als Souverän,
sondern als Glied eines politischen Körpers existiert, der
nach dem Vorbild des Leibes in Christo funktionieren soll.
Ein Leib in Christo, denn alle Glieder sind gleich, auchwenn sie verschiedene Funktionen haben. Und dann schilderter die Lebensformen der christlichen Gemeinde in dieserAgape, das Leben der Christen aus dem Pneuma und in derAgape untereinander. Soziologisch heißt das: eine neue ArtVerbindung, eine neue Intimität wird geschaffen.608
Für die eigentümliche messianische Umkehrung der Werte der
politischen Weltvernunft, die Taubes hier ständig mit
Andeutungen aus der metaphysischen und metaphysikkritischen
Geschichte der Philosophie – also vor allem mit Hegel und
Nietzsche – untermauert, gilt also zentral, daß in ihr das
„Politische“ und das „Theologische“, sich wie bei Schmitt
voneinander trennen. Die Geschichte ist nicht mehr die Bühne
der Realisierung des Gottesreiches, nur wird diese Trennung
nicht im Sinne einer Neutralisierung des Theologischen
zugunsten eines „reinen Begriffs“ des Politischen
konstruiert, sondern im Gegenteil: Es geht um die
Neukonzeption des Theologischen als polemische Kraft
gegenüber den politischen Machtverhältnissen. Das heißt aber,
daß Taubes wie Schmitt im Prinzip eine Dissoziation der
Zeiten voraussetzen, die die politische Theologie der Moderne
von Lessing über Hegel bis Ernst Bloch als eine Zeit und
Teleologie gedacht haben, in der sich das Gottesreich
innerweltlich aktualisieren würde. Wenn Kirche und Staat sich
nicht mehr als Institutionen konstruieren lassen, die am Ende608 Ebd., S. 73.
259
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
der vom Subjekt aktiv gestalteten Geschichte in einer
Institution konvergieren, dann repräsentieren diese beiden
Institutionen von nun an zumindest potentiell zwei
miteinander streitende Zeiten, die reale Geschichte der
ewigen Wiederkehr des gleichen Machtspiels und die
messianische Zeitdimension, die in der Liebe diese Wiederkehr
durchbricht. Mit anderen Worten: Nicht ein einmaliges
Ereignis der Erlösung am Ende der Zeiten kennzeichnet das
eigentümliche Wesen der paulinischen Theologie in ihrem
Verhältnis zu Welt und Weltgeist, sondern die Idee der
Umkehrung aller Werte hier und jetzt setzt ein spezifisches
In- und Gegeneinander der Zeitdimensionen, nämlich mit der
Konstruktion des Leibs Christi unter den Bedingungen dieser
Welt. Für diese eigentümliche messianische Umkehrung der
Werte der politischen Weltvernunft im Jetzt steht die
paulinische Formel des „Als ob nicht“ aus 1. Kor. 7,29 ff.609,
die Taubes als Erläuterung zu Röm. 13 ff. heranzieht, um die
spezifisch polemische Haltung des Paulus gegenüber dem Staat
aufzuzeigen, die weder die existierenden Herrschaftsformen
legitimiert, noch sie durch eine gewaltsame Revolution
stürzt, um damit die Geschichte der Gewalt zu perpetuieren.
Paulus setze, indem er den Satz von Röm. 13,1 über den von
Gott geforderten Gehorsam gegenüber der Obrigkeit durch seine
Theologie der Liebe eingerahmt habe, im Grunde immer schon
das Ende des Römischen Reiches voraus.
609 „Das sage ich aber, liebe Brüder: Die Zeit ist kurz. Fortan sollen auch die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine; und die weinen, als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen, als behielten sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als gebrauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht.“
260
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Der Tag ist nahe, darum lasset uns ablegen die Werke derFinsternis und anlegen die Waffen des Lichts, laßt unsehrenhaft leben wie am Tag ohne maßloses Essen und Trinken,– ich bin ja sehr für diese konkreten Worte, in denen ersagt, was er meint – Unzucht, Ausschweifung, ohne Streit, –daß diese Agapen, diese Mahle nicht ausarten [...] – legtein neues Gewandt den Herrn Jesus Christus an und sorgtnicht für euren Leib, daß die Begierden erwachen. – Ichlese das, und jetzt sprechen wir von 13:11 ff, so wie dasfolgende im 1. Korintherbrief, ich meine, die nihilistischeStelle des hos mä zu haben, als ob man nicht hat. – DieZeit ist kurz, – so beginnt der Text – Damit fortan auchdie, welche Frauen haben, so seien, als hätten sie keine[...] und die Weinenden, als weinten sie nicht, und dieFröhlichen, als freuten sie sich nicht, und die Kaufenden,als behielten sie es nicht, und die die Dinge der Weltbenützen, als nützten sie nicht aus. Denn die Gestalt, diemorphä, dieser Welt, tou kosmou, vergeht. Ich will aber,daß ihr ohne Sorge seid. –Das heißt: unter diesem Zeitdruck, wenn morgen das ganzePalaver, der ganze Schwindel vorbei ist – da lohnt sichdoch keine Revolution! Vollkommen richtig, würd ich auchraten. Der staatlichen Gewalt Gehorsam erweisen, Steuernzahlen, nichts Böses tun, nicht in Konflikt geraten.610
Damit aber stehe die politische Theologie unter einem
apokalyptischen Vorzeichen, dessen Spezificum für das Jetzt
schon ein In- und Gegeneinander der Zeiten voraussetzt, in
dem sich die neue Weltordnung vorbereitet. Leben unter den
messianischen Bedingungen bedeutet, daß alles so bleibt, wie
es ist, aber doch schon ganz anders erfahren wird: Erst aus
der Perspektive einer anderen Verfassung von Natur erscheint
nun die Geschichte als Szene einer ewigen Wiederkehr, in der,
was gestern Gesetz der Macht war, heute durch das Gesetz
einer anderen Macht ersetzt wird, die also in solcher
Wiederkehr des Gleichen das Verschwinden der „Gestalt dieser
Welt“ jedes Mal von Neuem dokumentiert. Die hermeneutische 610 Taubes, Die politische Theologie des Paulus, S. 75.
261
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Figur des „Als ob nicht“ enthält so die Formel für ein
solches Bewußtsein von der imminenten Umkehr der
Seinsordnung, für die messianische Möglichkeit einer
endgültigen Umkehr aller Werte.611
Die kritische politische Theologie, die Taubes hier gegen
Carl Schmitt formuliert und für die er sich explizit auf Karl
Barth und Walter Benjamin, implizit sicher auch auf Erik
Peterson bezieht, besitzt also einen fundamental
apokalyptischen Charakter. Sie deutet die Realgeschichte der
Politik – aus der Perspektive von Schmitt – als zirkelhafte
Sukzession der souveränen Weltreiche, die, wie in der Daniel-
Apokalypse, am Ende der Geschichte durch das Königtum Gottes
aufgehoben wird. Sie verschärft jedoch diese apokalyptische
Perspektive durch die spezifische Konstruktion der
Gleichzeitigkeit der gegeneinander verlaufenden
Zeitdimensionen des Politischen und des Messianischen, wie
sie in der spezifischen Lebensform der von der Liebe
bestimmten Haltung des „Als ob nicht“ zum Ausdruck kommt. Es
setzt einen neuen Anfang im realen Verlauf der Geschichte, in
dem diese aber schon als aufgehobene, etwa in der synagogalen
oder kirchlichen Gemeinde praktiziert wird.
Jeder Augenblick der realen Geschichte, die der Logik der
Macht unterworfen ist, kann zum Augenblick des Ereignisses
werden, in dem sich die Theokratie, von den schon im Geiste
der Agape existierenden Gemeinden ausgehend, konstituiert.
611 Vgl. Marion, God without Being, Kapitel 4, 4. Abschnitt: „As if“, S. 126–132, in dem Marion eine solche Umkehrung der Werte aus phänomenologischerPerspektive durchführt, d.h. vom Sein zur Liebe, von der Ontologie zur „Erotologie“. Den politischen Kontext dieser Stelle interpretiert Agamben, Le Temps qui Reste. S. 43 ff., im Sinne eines Ineinanders der Zeiten bzw. des Einbruchs der messianischen in die reale Zeit.
262
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
IV Feindschaft, Judentum und Gesetz
Die Philologie zu Röm. 11,28 enthält allerdings noch ein
weiteres, implizites Argument, das den Feindbegriff in seiner
spezifischen Relevanz für die Judenvernichtung betrifft.
Nicht zufällig wird also die Politik dem Feind gegenüber – in
dem Gespräch zwischen Taubes und Carl Schmitt – am Beispiel
der Juden diskutiert, spielt doch das Judentum die
spezifische Rolle des negativen Gegenprinzips bzw. des
Feindprinzips zumindest in den späteren Formationen von
Schmitts politisch-theologischem Diskurs.612 Taubes weist mit
seinem Zitat aus Röm. 11,28 nicht nur auf die spezifische
Problematik von Schmitts politisch-theologischem Denken,
sondern auf ein Problem europäischer Politik im Ganzen hin,
die er über die philologische Engführung hier nicht nur
benennt, sondern die den Schlüssel zu der Erweiterung der
paulinischen Gesetzeskritik enthält.
Zunächst also tritt für Taubes in Schmitts Begrifflichkeit,
zuerst verborgen, dann aber immer offener, ein Phänomen
hervor, das real- und geistesgeschichlich auch immer schon
die europäische Politik mitgeprägt hat. Dies zeigt sich, ohne
daß Taubes hier im einzelnen die Zusammenhänge erläutern
612 Vgl. Schmitt, Staat, Bewegung, Volk; und vor allem Schmitt, Der Leviathan S. 17 f. entwirft den kabbalistisch-mythischen Hintergrund eines politisch-theologisch motivierten Antijudaismus. Vgl. hierzu meinen Aufsatz „Der häretische Imperativ. Gerschom Scholems Kabbala als politische Theologie“, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 50, Heft 1 (1998), S. 61–83. Ebenso Raphael Gross, „Carl Schmitts Nomos und die Juden“, in: Merkur, Heft 5 (Mai 1993), S. 410 ff.
263
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
würde, an der spezifischen Ambivalenz, die dem Begriff
„Feind“ bei Schmitt weit über die Differenz zwischen privatem
und öffentlichem Feind anhaftet.
1) Der Begriff benennt eben den faktischen öffentlichen
Feind, der aus eigenen Machtinteressen heraus einen
souveränen Staat von innen oder von außen angreift, und so
die Herstellung des Ausnahmezustands provoziert, der der
Bekämpfung des Feindes dienen soll. Dieser Feind stellt aber
mit seiner Feindschaft nicht die Spielregeln des Politischen
an sich, wie es Schmitt definiert, in Frage. Vielmehr
bestätigt er diese Spielregeln mit seinem eigenen souveränen
Verhalten.
2) Gegenüber diesem „ontischen“ Feind läßt sich bei Schmitt
ein Typ von Feind unterscheiden, der das Prinzip des
Politischen qua Souveränität als solches in Frage stellt.
Dieser Feind tritt zunächst als der juristische Theoretiker
des allgemeinen und ausnahmslos geltenden Verfassungsgesetzes
in Schmitts Diskurs in Erscheinung und repräsentiert die
aufklärerische Auffassung von der universalen
Vernunftgesetzlichkeit aller Ordnung. Dieser Feind ist immer
schon der „ontologische“ Feind, weil er das Prinzip der
Souveränität im ganzen im Sinne seiner Idee des reinen
Gesetzesstaates verabschieden will. Der Prototyp für diesen
Verfassungsrechtler ist bei Schmitt bekanntlich Hans
Kelsen613, bei dem die biographische Tatsache seines
Judentums, eine zunehmend nicht minder prototypische
Bedeutung im politisch-theologischen Begriffssystem Schmitts
613 Vgl. Schmitt, Politische Theologie, S. 29: „Kelsen löst das Problem des Souveränitätsbegriffs dadurch, daß er es negiert. Der Schluß seiner Deduktionen ist ‚Der Souveränitätsbegriff muß radikal verdrängt werden.’“
264
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
erhält. Die Idee eines ausnahmslos geltenden Gesetzes führt
Schmitt in letzter Instanz auf die jüdische Gesetzestheologie
zurück, gegenüber der er seine Lehre von der Ausnahme vom
Gesetz statuiert, die er offenbar implizit aus der
paulinisch-christlichen Lehre vom Ende des Gesetzes ableitet.
Die neokantianische Auffassung von der reinen
Gesetzesverfassung des Staates, die keiner souveränen Instanz
mehr bedarf, dokumentiert für Schmitt eine Krisensituation,
in der sich die Liquidation des Politischen und damit das
Ende aller politischen Kultur abzeichnet, weswegen er in ihr
nicht mehr nur die Gefahr einer ontisch-faktischen
Feindschaft, sondern eben einer fundamental ontologischen
Verschärfung der Feindschaft zu erkennen scheint. Es geht um
die Konfrontation zwischen dem „ontologischen“ Souverän und
dem „ontologischen“ Feind, es geht um einen Endkampf zwischen
zwei Rechtskulturen, die gerade, weil Schmitt sie auch noch
in ihrer säkularistischen Form mit verborgenen theologischen
Sinngehalten auflädt, die Züge eines apokalyptischen
Entscheidungskampfes zwischen Judentum und Christentum
annehmen. Insofern der aufklärerische, ausnahmslos geltende
Typ der Vernunft bei Schmitt einer säkularistischen Form des
Judentums entspricht, für die vielleicht Hermann Cohens
Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums 614 Modell gestanden
haben mag, avanciert das Judentum im Ganzen auch und gerade
unter den Bedingungen der Säkularisation zum ontologischen
Feind par excellence.
614 Cohen gibt schon durch die Überschrift die Tendenz zu erkennen. Es geht um eine von Kants Religionsphilosophie inspirierte Theologie des jüdischen Gesetzes.
265
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Wenn Taubes diese Zusammenhänge in seiner Philologie
voraussetzt, so ist also gerade Schmitt gegenüber der Hinweis
auf Röm. 11,28 nicht nur Indiz für die Relevanz der
Feindesliebe für den politisch öffentlichen Bereich, sondern
ebenso für Schmitts versteckt/offene Identifikation des
Feindes mit dem Juden, der als ontologischer Feind Schmitts
souveränes Begriffssytem bedroht und der deswegen vernichtet
werden muß. Taubes geht es in seiner Philologie vornehmlich
um die Enthüllung dieser Dimension von Schmitts Theorie des
Feindes. Aber gerade an dieser Enthüllung will Taubes
durchaus nicht nur den Privatfall Schmitt aufklären, sondern
es geht ihm offenbar um die Darstellung und Korrektur einer
bestimmten politisch-theologischen Denkform, die noch hinter
den säkularistischen Kulissen von Schmitts politischer
Theologie wirksam ist und die er im Begriff der Gnosis in
ihrer latent/virulenten Wirkungsweise zu charakterisieren
sucht. Aber noch bevor diese Zusammenhänge im einzelnen
auszuführen sind, gilt es, die Pointe von Taubes’ Exegese des
Paulus hier zu verstehen.
Nicht nur werde dessen Theologie zu einer Legitimation
bestehender Herrschaftsverhältnisse mißbraucht, wie dies
traditionell mit der Berufung auf Röm. 13,1 geschieht,615
sondern, indem die Gesetzeskritik des Paulus ganz auf das
jüdische Gesetz hin – also rein theologisch – interpretiert
wird, entspricht der souveränen Obrigkeit im Ernstfall der
jüdische Feind, auf den die unzufriedenen und rebellierenden
Massen des Volkes sozusagen verwiesen werden, um ihre
revolutionären Energien abzuführen. Mit anderen Worten: 615 Stellvertretend für die Tendenz sei hier Gogarten, Politische Ethik, erwähnt.
266
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Schmitts verborgen wirksame Korrelation von Souveränität und
Antisemitismus enthüllt offenbar ein Strukturmerkmal
europäischer Politik, die sich auf eine traditionelle,
angeblich a-politische Paulusdeutung stützt. Diese
traditionelle, vermeintlich a-politische Deutung erweist sich
aus der Perspektive der bei Schmitt wirksamen Korrelation von
Souveränität und Feind gerade als hochpolitisch. Nicht nur
stützt sie die real fungierende souveräne Obrigkeit und
überläßt nur dieser das Recht, das Gesetz zu suspendieren,
sondern sie erlaubt zugleich die traditionell theologische
Reduktion der paulinischen Gesetzeskritik auf das jüdische
Gesetz. Damit aber entfesselt sie all diejenigen
Manipulationen, die eine Gesetzeskritik, die sich auf die
politische Macht konzentriert, antisemitisch abführen. Die
Einsicht in die jüdischen Ursprünge des Paulus führt so bei
Taubes nicht nur zu einer Revision der Kritik am jüdischen
Gesetz, sondern radikalisiert diese Gesetzeskritik gerade
über das „Jüdische“ hinaus als Kritik an jedem Gesetz, zumal
dem Gesetz des römischen Weltreiches, um eben dieses
mythisch-mythologische Komplott zwischen Macht und jüdischem
Feind, zwischen Souveränität und Antisemitismus zu
durchbrechen.
Aus diesem Grund setzen Taubes’ Überlegungen zu Paulus
nicht mit Paulus’ Stellung zum jüdischen Gesetz ein, sondern
mit seiner Selbstidentifikation mit Moses, von der her das
Problem der Volksgründung – zumal unter messianischen
Bedingungen – primär als ein genuin jüdisches Projekt
verhandelt werden muß. Damit aber wird die gewöhnlich an
erster Stelle verhandelte Kritik an der jüdischen Halacha zu
267
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
einem sekundären Faktor, der nach der Rekonstruktion der
spezifisch jüdischen Ursprünge jetzt aus der Perspektive der
messianischen Erweiterung des Volksbegriffs und einem
geläuterten Verständnis der Beziehungen zwischen Nichtjuden
und Juden neu beleuchtet werden kann.
Die Gesetzeskritik, wie sie Paulus gerade im Römerbrief zum
Ausdruck bringt, könne, so Taubes’ exegetische Voraussetzung,
nicht von dem eminent politischen Kontext, der in der
Hauptstadt des Römischen Reiches situierten Gemeinde der
nichtjüdischen Christen getrennt werden. Jede Aussage, die
Problematik des Gesetzes betreffend, trifft nicht nur für den
spezifisch theologisch-jüdischen Aspekt, sondern gerade auch
für die Politik und die politische Theologie des Imperiums
zu, insofern die römische Gesetzesidee immer auch etwas mit
der spezifisch römischen Auffassung vom Göttlichen zu tun
hat. „Nicht der Nomos, sondern der ans Kreuz geschlagene
Nomos ist der Imperator“616 – so faßt Taubes die Quintessenz
der paulinischen Gesetzeskritik zunächst zusammen. Der Satz
kennzeichnet nicht nur die metaphysisch-theologische Krise
des Gesetzes, das als Gebot und Verbot Insignum für den
Sündenstand und die Todesverfallenheit kreatürlicher Existenz
ist und das durch die neue messianische Situation in der
eschatologischen Tugend der Liebe aufgehoben ist, sondern er
erhellt nicht minder den besonderen politischen Sinn eines
Endes gerade der durch den Caesar verkörperten Herrschaft des
Gesetzes. Das politische Gesetz ist prinzipiell jedenfalls
nicht minder Ausdruck der Todesverfallenheit des Menschen.
616 Taubes, Die politischen Theologie des Paulus, S. 38.268
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Doch tritt im Kontext des römischen Weltreiches natürlich
ein Moment hinzu, das die Gesetzeskritik wieder in ein ganz
theologisches, nämlich jüdisch-theologisches Licht stellt,
insofern nämlich der Kaiser nicht nur das Gesetz durch seine
Souveränität und Macht verbürgt und verkörpert, sondern
dieser Caesar als Gott verehrt wird. Gerade diese politisch-
theologische Identifikation des Gesetzes mit dem Caesar, und
des Caesars mit dem Gott, fordere die paulinische Idolkritik
heraus, die mit dem Götzen eben dessen Verfassung und Gesetz
zertrümmert. Die Rhetorik des Paulus zeichnet in Christus den
messianischen Gegenkönig, der diesen Kaiser- und Nomoskult
und mit ihm das Wertesystem nicht nur des römischen
Weltreiches, sondern eben einer jeden Machtpolitik umstürzt.
Das Kreuz steht für die Umkehrung aller politischen Werte
durch das agapeische Pneuma, in dem sich die Gemeinde der
Christen schon im Jetzt zusammenfindet.
Als Sohn Davids ist Jesus designiert zur Herrschaft; dasist eine naturale Qualität. Sohn Gottes ist jedoch keinenaturale, sondern eine zugesprochene Qualität, wie es imPsalm 2, dem Königspsalm heißt: „Du bist mein Sohn, dichhabe ich heute gezeugt.“ Das ist ein Akt derInthronisation. Also handelt es sich um eine bewußteBetonung derjenigen Attribute, die imperatorisch, diekaiserlich sind. Sie werden betont gegenüber der Gemeindein Rom, wo der Imperator selbst präsent, und wo das Zentrumdes Caesarkultes, der Caesarenreligion ist.617
Mit anderen Worten: der Sinn der Christologie von Tod,
Auferstehung und Thronbesteigung erhält seinen sehr konkreten
politisch-theologischen Sinn in dieser Situation, in der
Paulus sich mit den politischen Verhältnissen des Weltreiches
auseinandersetzt. Bedenkt man nun noch, daß die Caesaren mit
617 Ebd., S. 24.269
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
ihrem Tod eine Himmelsreise antreten, um als unsterbliche
Götter fortzuleben, so besitzt noch die Himmelfahrt Christi
eine sehr klare polemische Adresse:
Die Daten des [Römer]briefes, also 57/58, kann man solesen, daß dies nach dem Tode des Claudius geschriebenwurde, am Anfang der neronischen Zeit. Wir wissen: Claudiusist ermordet worden [...] und der Senat hat eineconsecratio durchgeführt. Das heißt: Sein Tod wurde alseine Himmelsreise gedeutet.618
Die theologische Kritik am Gesetz kann, zumal unter den
monotheistischen Voraussetzungen und den neuen messianischen
Bedingungen, nicht von ihrer politischen Kritik getrennt
werden. Diese politische Bedeutung – das ergab sich schon aus
der Kritik an Carl Schmitt – dient keineswegs der
Stabilisierung der bestehenden Machtverhältnisse, sondern
indiziert deren Umsturz. Einmal nämlich tritt an die Stelle
des Caesaren der im Himmel thronende Christus, dann tritt an
die Stelle des durch den Caesaren mit dem Nomos regierten
Volkes der von der Agape bewegte Leib Christi, wobei dieses
Bild sich auch noch polemisch zur römischen Vorstellungswelt
verhält.
Ein organologisches Bild spielt ja auch im römischen Denkeneine Rolle [...] Aber dort ist immer der Kopf, während hiervon einem Leib die Rede ist. Ein Leib in Christo, denn alleGlieder sind gleich, auch wenn sie verschiedene Funktionenhaben. Und dann schildert er [=Paulus] die Lebensformen derchristlichen Gemeinde in dieser Agape, das Leben derChristen aus dem neuen Pneuma und in der Agapeuntereinander.619
So will denn Taubes eben diese Ausführungen zur Agape als
Konterfuge zu dem Satz 13:1 lesen, der von den
618 Ebd., S. 27.619 Ebd., S. 73.
270
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Gemeindemitgliedern den Gehorsam gegenüber der von Gott
eingesetzten Obrigkeit fordert. „Denn Römer 13 – ich schließe
mich hier Karl Barth an – beginnt bereits mit dem Ende von
12, mit dem Satz: ‚Laß dich nicht vom Bösen besiegen, sondern
besiege das Böse durch das Gute.‘“ 620 Diese
Kontextualisierung von Röm. 13 durch das Ende von 12, aber
auch den weiteren Verlauf von Kapitel 13 selbst soll nicht
nur an die eben der Machtpolitik radikal entgegengesetzte
Politik der Liebe erinnern, sondern offenbar diese
alternative Politik als die wahre Politik gegenüber der
Politik des Bösen kennzeichnen. Die Kontextualisierung
indiziert, trotz der unter den gegebenen politischen
Bedingungen immerhin wahrscheinlichen Verschlüsselung, gerade
das Gegenteil zu der traditionell behaupteten „Legitimität“
von Herrschaft. Wenn aber die Theologie des Paulus von der
Deutung zu emanzipieren ist, die sie von allem Politischen
fernhalten will und zuletzt, protestantisch, als Lehre vom
individuell-privaten Glauben auffaßt, der sich erst recht aus
den real-politischen Verhältnissen herauszuhalten hat, erst
dann kann nicht nur der politische Sinn von Christi
Thronbesteigung wieder als Akt hervortreten, mit dem das Ende
der Herrscher dieser Welt sich ankündigt, sondern erst dann
wird es möglich, das traditionelle Bündnis von Souveränität
und Antisemitismus tatsächlich zu durchbrechen.
Taubes’ gesamte Exegese wird, so meine These, von diesem
Interesse geleitet, nämlich den jüdischen und den politischen
Paulus so zusammenzudenken, daß – gerade aus der Perspektive
der Judenvernichtung – ein Prozeß des Umdenkens möglich wird,
620 Ebd.271
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
in dem diese traditionelle Form von Politik so dekonstruiert
wird, daß die Kritik an Herrschaft eben nicht mehr in ein
Pogrom gegen die Juden transformiert werden kann.621 Es gilt
in letzter Instanz, die Einheit von Gericht und Gnade, von
Zorn und Liebe in Gott zu konstruieren, die es ermöglicht,
den ganzen Paulus zu verstehen, den Paulus, der in dieser
Einheit die Utopie einer Gemeinschaft von Juden und
Nichtjuden aus der Perspektive einer gelungenen Emanzipation
und Befreiung im Geist der Agape entwirft. Sehr konkret geht
es in diesem zunächst sehr abstrakt anmutenden Anliegen
darum, die Einheit von Gericht und Gnade zu konstruieren, um
eine polemische Front gegen die gnostische Theologie, die
eben das Auseinanderbrechen dieser Einheit betrieben hat, und
die in ihrer neo-gnostischen Form bei Adolph von Harnack622 621 Auch wenn Taubes eben die Formel von der Umkehr der Werte von und mit Nietzsche auf Paulus zurückprojiziert, so entgeht ihm doch die eigentlichPointe, war es doch Nietzsche, der im Antichrist Paulus 1) als den politischen Denker schlechthin und 2) als den jüdischen Theologen par excellence gedeutet hat, allerdings aus der Perspektive einer radikal negativen Wertung. Vgl. etwa § 58: „Das, was aere perennius dastand, das imperium Romanum, die großartigste Organisations-Form unter schwierigen Bedingungen, die bisher erreicht worden ist, im Vergleich zu der alles Vorher, alles Nachher Stückwerk, Stümperei, Dilettantismus ist, jene heiligen Anarchisten haben sich eine ‚Frömmigkeit‘ daraus gemacht, ‚die Welt‘, d.h. das imperium Romanum zu zerstören.“ Und im selben Paragraphen: „Paulus, der Fleisch-, der Genie-Gewordene Tschandala-Haß gegen Rom, gegen die Welt, der Jude, der ewige Jude par excellence ... Was er erriet, das war, wie man mit Hilfe der kleinen sektirerischen Christen-Bewegung abseits des Judentums einen ‚Weltbrand‘ entzünden könne, wie man mit dem Symbol ‚Gott am Kreuze‘ alles Unten-Liegende, alles Heimlich-Aufrührerische, die ganze Erbschaft anarchistischer Umtrieb im Reich zu einer ungeheuren Macht aufsummieren könne. ‚Das Heil kommt von den Juden.‘“ Beide Momente zusammen, umgekehrt, sind die politische Theologie des Paulus. 622 von Harnack, Marcion. In Taubes Die politische Theologie des Paulus behandelt erdie Neugnosis im Rahmen des Kapitels „Fremdlinge in dieser Welt. Marcion und die Folgen“ (S. 77–86). In seinem kleinen Aufsatz „Einleitung. Das stählerne Gehäuse und der Exodus daraus oder ein Streit um Marcion, einstund heute“, in: ders. Gnosis und Politik, spielen zwei weitere Namen eine wichtige Rolle, nämlich Buber und vor allem Ernst Bloch mit dessen Geist der Utopie von 1923 mit ihrer positiven Wertung der marcionitischen
272
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
die protestantische Theologie der 1920er und 1930er Jahre
wesentlich mitbestimmt hat. Da, wo die Einheit von Gericht
und Gnade auseinanderbricht, so argumentiert Taubes (auch
hier implizit), da ereignet sich nicht nur eine metaphysische
Scheidung vom Gott der Schöpfung und Gott der Erlösung, vom
bösen jüdischen Gott und guten Gott der christlichen Liebe,
sondern da sind die politisch theologischen Weichen für die
physische Liquidation des Judentums gestellt.
V Gnosis und Moderne
Oder: das unvollendete Projekt der modernen Überwindung der
Gnosis
Taubes’ Philologie von Röm. 11,28 trifft Schmitts politische
Theologie im Kern, wenn man diese mit der Philologie Schmitts
von Math. 5,44 vergleicht. Wenn Schmitt behauptet, die
Feindesliebe gelte nur für den privaten Fall, den inimicus, um
damit den Begriff der Politik ganz aus der Bekämpfung und
potentiellen Vernichtung des Feindes abzuleiten, so erinnert
Taubes an den einen Fall, in dem der Feind der Feindesliebe
tatsächlich als öffentlicher Feind gedacht werden muss.
Dieser öffentliche Feind, bedenkt man nun die Rolle von
Gesetz und Judentum in Schmitts politischer Theologie, ist
nicht zufällig „der Jude“. Ob Taubes’ spekulativer Rückschluß
von Röm. 11-28 auf Math. 5,:44 die Feindesliebe der Bergpredigt
Weltfremdheit.273
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
tatsächlich schlüssig ist, spielt dabei im Prinzip keine
Rolle. In jedem Fall erkennt Taubes an Schmitts Reduktion vom
Feind auf den Juden eine zweifache Verkennung, nämlich die
der politischen Rolle der Feindesliebe und die der Rolle, die
der Jude als Feind auch noch in der säkularisisierten Form
seines Begriffs von Politik übernimmt. Dabei ist diese
Verkennung nicht nur der spezifische Fall Schmitts, sondern
wie Taubes feststellt:
Und das habe ich Schmitt vorgehalten, dass er dieseDialektik nicht sieht, die den Paulus bewegt und die diechristliche Kirche nach 70 vergessen hat, daß er nichteinen Text, sondern eine Tradition übernahm, nämlich dieVolkstradition des kirchlichen Antisemitismus.623
Die Tradition, die Taubes hier anspricht, ist in der Tat die
Kirche in ihrer real existierenden Form als Volkskirche, und
zwar zunächst die katholische Kirche, die sich der Abwehr der
Gnosis verdankt, also jener radikal antijudaistischen Form
christlicher Theologie, die das Alte Testament als Dokument
einer dämonischen Schöpfungstheologie verworfen hat. Aber
Taubes meint, eben in der offiziellen Tradition der Kirche
selbst, zumal in der späteren protestantischen Kirche, die
Spuren dieser radikalen antijudaistischen Theologie bis hin
in die Niederungen des Antisemitismus der Volkskirche nicht
nur wahrnehmen zu können, sondern von diesen Spuren aus
verfolgt er den Antisemitismus zurück zu dem Urtext, der der
Tradition des Antisemitismus – eben über den Filter
fehlgeleiteter Traditionen – zum Modell stand: Paulus. Die
gnostische Interpretation, indem sie sich auf Paulus bezieht
und aus dessen Theologie ihren spezifisch antijudaistischen
623 Taubes, Die politische Theologie des Paulus, S. 72.274
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Dualismus ableitet, weist in ihrer radikalen Hermeneutik auf
eine Wunde im Text selbst, die es in ihrer ganzen Tiefe erst
zu begreifen gilt, soll die Kirche, aber auch jedes
politisch-theologische Verständnis von Paulus sich von dieser
Tradition des Antisemitismus befreien können.624 Wenn nämlich
die Tradition (also die Kirche) den Kanon von Altem und Neuem
Testament erst im Gegenzug zu der Gnosis Marcions vollzieht,
der in radikaler Konsequenz seiner Paulus-Interpretation nur
das Neue Testament gelten läßt (d.h. genauer: Lukas
Evangelium und Paulusbriefe), so muß in dem Augenblick einer
theologisch-kirchlichen Krise, in der gewöhnlich eine
Besinnung auf die theologischen Grundlagen in Paulus sich
ereignet, sowohl der Kanon der Kirche, also jene Einheit und
„concordia“ von „vetus testamentum et novum testamentum“, als
auch das Verhältnis zwischen Juden und Christen in eine Krise
geraten. In der Tat lassen sich die drei großen historischen
Augenblicke einer Rückkehr der paulinischen Theologie – bei
Augustinus, Luther und Karl Barth – als Augenblicke der Krise
lesen, in denen die der paulinischen Theologie
eingeschriebene Spannung von Gericht und Gnade sozusagen vor
ihrer dichothomisch-gnostischen Auffassung bewahrt werden
mußte.
Markion versteht sich ja auch als Schüler des Paulus, undzwar als der richtige Presbyteros, sagt er von sich selber,und alles andere sind Fehler. Und was ist denn der pointvon Markion? Daß der Vater Jesu Christi nicht identisch seikann mit dem creator coeli et terrae. Das Alte Testamentist vollkommen in Ordnung, nämlich literal, er beginnt mit
624 Vgl. Harnack, Marcion, Kapitel IV: „Der Kritiker und Restaurator. Die Bibel Marcions“, zeichnet die Abhängigkeit Marcions von Paulus nach, d.h.hier zeigt Harnack, wie sehr Marcion sich als authentischer Interpret vonPaulus begriff.
275
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
der Schöpfung dieser Welt durch den creator – sieh mal an,was für eine miserable creation das ist, wo so viele Mückenda sind (ich zitiere Markion). Aber der Vater Jesu Christiist mit dem überhaupt nicht identisch, sondern er ist derfremde Gott, deus aliens, der andere Gott. [...] Und datrifft er etwas in Paulus! Denken Sie nur an die ungeheureAngst des Paulus, von der Liebe Gottes abgeschnitten zuwerden. Wer schneidet hier ab? Dieser Schöpfer Gott mußdoch dämonische Zuege haben.: Er ist mächtig, also jetztpaulinisch-markionitisch gesehen, aber mit dem, was mitErlösung zu tun hat, hat er nichts im Sinn. Die Erlösungkommt von dem Vater Jesu Christi, das ist der Gott, derunbekannt ist, der jenseits der Aeonen ist, ein wirklichtranszendenter Gott.625
Indem also Marcion an der Spannung zwischen Gericht und
Gnade, Macht und Erlösung, die den paulinischen Begriff
Gottes bestimmt, einen unüberwindlichen Abgrund wahrnimmt,
trennt er beide Aspekte Gottes und substantialisiert sie in
zwei Gottheiten, einem Gott der Welt und dem wahren
Erlösergott, womit allerdings gerade die wie auch immer
problematische „concordia“ nicht nur von Altem und Neuem
Testament aufgekündigt wird. Taubes bezieht sich in diesem
Kontext auf Adolph von Harnack, um nicht nur die spezifische
Fragilität der kirchlichen Tradition als Symptom einer
solchen Auseinandersetzung mit Paulus überhaupt, sondern an
Harnack eben das Scheitern dieser Auseinandersetzung zu
dokumentieren, da wo die Kirche vor dem gnostischen Anspruch
auf interpretatorische Souveränität über den paulinischen
Text die Waffen streckt. Taubes zitiert die berühmte These
von Harnacks Buch über Marcion:
Die These, die im folgenden begründet werden soll, lautet:das Alte Testament im zweiten Jahrhundert zu verwerfen, warein Fehler, den die große Kirche mit Recht abgelehnt hat.
625 Ebd., S. 79.276
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Es im 16. Jahrhundert beizubehalten, war ein Schicksal, demsich die Reformation nicht zu entziehen vermochte. Es aberseit dem 19. Jahrhundert als kanonische Urkunde imProtestantismus noch zu konservieren, ist die Folge einerreligiösen und kirchlichen Lähmung.626
Die großen historischen Zäsuren – Augustinus, Luther und der
Protestantismus des 19. Jahrhunderts – sind nach Harnacks
Verständnis in ihrer Orientierung historisch-theologisch
jeweils so verschieden, daß sich am Ende dieser Geschichte
die Möglichkeit abzeichnet, die gnostische Theologie von
Marcion als authentische Option der protestantischen
Theologie zu realisieren. Wie auch immer im einzelnen diese
Historiographie bei Harnack zu begründen ist, sie
demonstriert für Taubes die Aktualität der gnostischen
Exegese der paulinischen Theologie. Vor allem durch die in
den Nachwehen des Ersten Weltkrieges einsetzende Paulus-
Rezeption in der protestantischen „dialektischen Theologie“,
von Karl Barth bis Friedrich Gogarten, sollte die gnostische
Option allerdings noch einmal zu einer massiven Gefahr
werden, gerade weil die „Synthese des Kulturprotestantismus,
an dem die deutschen Juden genauso beteiligt waren,
zusammenbrach.“627
Mit anderen Worten: nicht nur will Taubes – mit Hilfe
Harnacks – eine genuin paulinische Tradition konstruieren,
die von den Anfängen bei Paulus selbst, über Augustinus und
Luther bis zu den zwanziger Jahren sich erstreckt, sondern
diese Tradition als Auseinandersetzung mit der gnostischen
Deutungsgefahr verstehen, die von dieser Tradition ausgehend,
diese zuinnerst gefährdet und zuletzt so schwächt, daß die
626 Ebd. zitiert nach Taubes, Die politische Theologie des Paulus, S. 84.627 Ebd. S. 86.
277
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Gnosis am Ende praktisch die theologische Szene zu
beherrschen beginnt. Eben diese spezifisch moderne
Anfälligkeit für die Gnosis ist erklärungsbedürftig, und man
kann hier nur – was Taubes Argumentation angeht –
Spekulationen über die mögliche Rolle der Säkularisation des
Gottesreiches qua immanente Kultur – anstellen.628 Auf jeden
Fall deutet Taubes den gnostischen Fall als eine zugleich
naheliegende, wie unzulässige hermeneutische Fehlleistung,
die allerdings das „Geheimnis der Sache“ der
nationalsozialistischen Machtergreifung und Judenpolitik
zumindest teilweise zu enthüllen imstande ist.
628 Unter den zahlreichen Feststellungen Taubes zum Thema Gnosis befindet sich die Erkenntnis eines Zusammenhangs zwischen historischem und innerlichem Messianismus, die auf das ganze Problem Judentum, Christentumnoch einmal ein ganz anderes Licht wirft. In Jakob Taubes: „Der Messianismus und sein Preis“, in: Assmann, Vom Kult zur Kultur, hat Taubes zunächst gegen Gershom Scholem: „Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum“, argumentiert, daß die von ihm behauptete Dichothomie zwischen einer jüdischen Form äußerer Erlösung und einer christlichen inneren Erlösung nicht aufrechtzuerhalten sei: „Wie anders läßt sich Erlösung definieren, nachdem der Messias die äußere Welt eben nicht erlöst hat, als durch eine Verlagerung in die Innerlichkeit?“ (S. 44) Damit aber ergibt sich auch ein neuer Zusammenhang zwischen der Idee innerer Erlösung und der Gnosis, die die Spannung zwischen innen und außen noch einmal verschärft. Vgl hierzu den exzellenten Essay von ThomasMacho, „Zur Frage nach dem Preis des Messianismus. Der Intellektuelle Bruch zwischen Gerschon Scholem und Jacob Taubes als Erinnerung ungelöster Probleme des Messianismus“, in: Mosès/Weigel, Gerschom Scholem: Literatur und Rhetorik, formuliert in diesem Sinne ein gewichtiges Problem (S. 140): „Paulus, ja sogar Marcion (den Taubes gelegentlich zum jüdisch-antijüdischen Intellektuellen ernannte) müssen als Gestalten einer offenen Frage des Judentums wahrgenommen werden.“ Aus dieser Perspektive ergibt sich eine Art Morphologie des Messianismus von seiner historischenzu seiner verinnerlichten und schließlich gnostischen Form, die als messianische Verzweiflung sozusagen den Rahmen des Messianismus sprengen muß. Die Schlußfolgerung Machos, entweder führe die messianische Logik also zu einer paulinischen Aufhebung des Messianismus oder zu einer wiederholten Verwerfung des Messias als des falschen Messias, bezeichnet tatsächlich die (traumatische) Wunde der Dissoziation von Judentum und Christentum, das, was Macho das unlösbare Problem nennt. In jedem Fall sprengt es offenbar das System der Unterscheidungen, auf die Scholem seine Theorie des Messianismus errichtet.
278
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Aus dieser Perspektive gesehen, liefert Taubes mit seinen
Überlegungen einen wichtigen Beitrag zu der These Hans
Blumenbergs,629 die Moderne sei gegenüber dem ersten
christlich-antiken Versuch die zweite gelungene Überwindung
der Gnosis, die durch das Prinzip der Selbstbehauptung
möglich geworden sei. Für Taubes muß diese These, aus der
Perspektive der gnostischen Ursprünge der Judenvernichtung,
offenbar einer radikalen Revision unterworfen werden. Das
heißt: Taubes geht es wie Blumenberg um dieselbe Sache – die
Überwindung der Gnosis, wobei aber gerade die
Selbstbehauptung – angesichts ihrer brutalen Radikalisierung
in der nationalsozialistischen Politik – eher als Grund für
das Scheitern dieser Überwindung erscheinen muß. Taubes’
Therapie geht daher von dem totalen Scheitern der Moderne
aus, um von hier aus einen neuen Deutungsansatz vorzustellen,
der radikal, von der Wurzel her, die Theologie des Paulus aus
ihrer jüdischen und politisch-theologischen Urintention zu
begreifen versucht.
Blumenbergs Versuch zur Rettung der Moderne vor den
Theoretikern der Säkularisation, die diese als eine Kategorie
des Unrechts einsetzen, stützt sich dabei im Wesentlichen auf
zwei Theoreme, das Verhältnis von Gnosis und Moderne
betreffend. Erik Voegelin630 beschreibt die Moderne im Ganzen
als eine spezifische Form von politischer Theologie, die sich
auf die joachitische Gnosis vom dritten Reich stützt, d.h.
als eine politische Theologie, die das Absolute im Rahmen
einer innerweltlichen Politik durch dafür vorgesehene
629 Blumenberg, Die Legitimation der Neuzeit, vgl. Anm 2. Hierzu Taubes, Gnosis und Politik.630 Voegelin, The New Science of Politics.
279
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
eingeweihte Revolutionäre – die modernen Gnostiker –
verwirklichen soll. Gegen dieses Theorem will Blumenberg
bekanntlich die Gegenthese vertreten, die Moderne sei
wesenhaft gerade die Überwindung, nämlich die zweite
gelungene Überwindung der Gnosis. In seiner Darstellung des
ersten Versuchs stützt sich Blumenberg auf Harnacks Befund
von der Überwindung der marcionitischen Gnosis durch den
Gegenkanon der katholischen Kirche und die Ausarbeitung des
Dogmas durch Augustinus. Blumenberg konstatiert, daß der
Versuch allerdings praktisch gescheitert sei, weil der
Dualismus der Gottheiten zwar verschwunden, dafür aber in der
durch die Lehre von der Erbsünde bedingten Trennung von
Erwählten und Verworfenen wiedergekehrt sei. Wie Blumenberg
also nimmt auch Taubes einen für die Geschichte wesentlichen
Konflikt zwischen Gnosis und Kultur an, der sozusagen hinter
den Kulissen noch das Schicksal der Moderne bestimmt. Doch
scheint Taubes mit dem Hinweis auf Harnacks Historiographie
des Marcionismus zu behaupten, daß in der Tat das Ziel die
Überwindung der Gnosis sei, daß diese aber, das zeige gerade
Harnacks eigene Hinwendung zur Gnosis, eben längst nicht als
gelungene beschrieben werden könne. Die Moderne müsse
vielmehr gerade den Sieg der Gnosis verzeichnen, der sich in
der nationalsozialistischen (Juden)politik unwiderruflich
dokumentiert.
Wenn aus den kryptischen Andeutungen von Taubes überhaupt
eine systematische Argumentation rekonstruierbar sein soll,
dann stünde Taubes dem Theorem von Voegelin näher, demzufolge
nämlich die Moderne mit ihrer spezifischen politischen
Theologie der joachitischen Drei-Reiche-Lehre gnostisch
280
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
geprägt und insofern immer schon von der Möglichkeit eines
radikalen Antijudaismus mitbestimmt ist. Nur wird man
schwerlich annehmen dürfen, daß Taubes die mit dieser
gnostischen Imprägnation gesetzte Kontinuität von Lessing bis
Hitler bei Voegelin hätte gelten lassen können,631 wie denn
auch Taubes weniger an eine augustinische Rekonstruktion der
politisch-theologischen Verhältnisse appelliert hätte,
sondern an eine radikale Revision der paulinischen Ursprünge
einer machtkritischen politischen Theologie. Zudem wird man
einwenden müssen, daß die Gnosis des Marcion eine andere
Gnosis darstellt als die, die Voegelin an der Genese der
modernen politischen Theologie wahrnimmt. Das Unternehmen
einer systematischen Rekonstruktion der Überlegungen von
Taubes muß also fragwürdig bleiben und somit auch die
genauere Verortung seiner Ideen zu seiner antignostischen
politischen Theologie.632
631 Vgl. Taubes, „Das stählerne Gehäuse“, S. 10: „Der Generalangriff Eric Voegelins auf die Legitimität der Neuzeit war zu grioßflächig angelegt, seine Gnosis-Formel zu allgemein gehalten, als daß sie greifen konnte“ Taubes schließt daraus u.a., daß eben deswegen die „Thesen Blumenbergs“ im allgemeinen überzeugt haben. Zugleich aber stellt Taubes die Frage, „ob das gnostische Rezidiv seit den zwanziger Jahren unseres Jahrhundertsnicht ein Ende jener Jahrhunderte überspannenden Sinnstruktur, genannt ‚Neuzeit‘ anzeigt, so daß der Topos ‚Ende der Neuzeit‘ […] nicht doch einSymptom für eine Krise im Selbstverständnis der Gegenwart seit dem Ende des 1.Weltkriegs darstellt.“ Damit deutet Taubes die Möglichkeit an, daß die von Blumenberg konstruierte Neuzeit als überwundene Gnosis mit dem ersten Weltkrieg zu Ende gekommen ist! 632 Eine besonders gewichtige Einschätzung zum marcionitischen Problem findet sich bei Rémi Brague, Eccentric Culture. A Theory of Western Civilization, South Bend, Indiana 2002, die unmittelbar auf die Konstellation von Blumenberg – Voegelin – Taubes reagiert. In dem Kapitel „Marcionism and Modernity“ stellt Brague die Frage: „Are we witnessing a return of Gnosticism, and in particular of Marcionism?“, wobei Brague mit Marcion die Infragestellung eben der für Europa fundamentalen Struktur der Romanitas erkennt, also jenes nicht essentiellen Bezugs zu anderer Kultur (v. a. jüdisch und griechisch), die ihren ultimativen Ausdruck im römischen Katholizismus findet
281
Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde
Auf jeden Fall scheint klar zu sein, daß für Taubes von
einer zweiten gelungenen Überwindung der Gnosis durch die
Selbstbehauptung der Moderne keine Rede sein kann, daß die
Gnosis als der Fundus einer bis in die kirchliche Volkskirche
fortwirkenden Gefahr längst nicht überwunden ist, sondern
eben gerade unter den Bedingungen von Säkularisation, siehe
das Beispiel Carl Schmitt, ganz neue Dimensionen annehmen
kann. Aus der Perspektive eben des Scheiterns ihrer
Überwindung bahnt sich Taubes den geistesgeschichtlichen Weg
durch die Trümmer der Geschichte hindurch, zurück zu dem in
seinen Augen tatsächlich relevanten Urtext der Moderne, zu
Paulus, um an ihm immerhin die Gegenstrategie
herauszustellen, die jede Politik der Selbstbehauptung und
Macht, aber auch jede antijudaistische Gnosis radikal in
Frage stellen soll: nämlich die politische Theologie der
Agape und der Liebe derjenigen Schwäche, die, indem sie von
allen Formen der Selbstbehauptung und sich selbst
behauptender Politik emanzipiert werden muß, eben für die
immer noch ausstehende wahre „Umkehrung aller Werte“ steht.
282