Die Theopolitische Stunde - 12 Perspektiven auf das eschatologische Problem der Moderne

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Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde Christoph Schmidt Die theopolitische Stunde Zwölf Ansichten des politisch-theologischen Problems in der Spätmoderne 1

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Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Christoph Schmidt

Die theopolitische Stunde

Zwölf Ansichten des politisch-theologischen Problems in der

Spätmoderne

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Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Inhaltsverzeichnis

1 Vor dem Gesetz. Statt eines Vorworts:

Die Parabel Kafkas als politisch-theologische Aggada 4

2 Individuum und Gesetz. Georg Simmels Essay über Rembrandt

im Lichte seiner ästhetischen, ethischen und religiösen

Metaphysik des Lebens 18

3 Eine politisch-theologische Archäologie der modernen

Subjektivität?

Anmerkungen zu Ernst Cassirers „Phänomenologie des

philosophischen Geistes“ 32

4 Ironie und Kenosis. Von Kierkegaards zu Schmitts Kritik der

romantischen Ironie 62

5 Deus Sive Natura. Fritz I. Baers Abhandlung über die Galut

(1936)

als politisch-theologischer Traktat aus dem Geiste der

Apokalypse 81

6 Apokalyptischer Strukturwandel der Öffentlichkeit. Von der

politischen Theologie

zur Theopolitik: Anmerkungen zu Erik Petersons Buch von den Engeln –

Stellung und Bedeutung der heiligen Engel im Kultus von 1935 97

7 Nach dem Gesetz. Das politische Unbehagen an der Kultur:

Leo Strauss liest Carl Schmitt 123

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8 „Sein eigenes Gesetz sein ...“ Politisch-theologische

Voraussetzungen und Konsequenzen der Theorie der Kabbala der

symbolischen Formen bei Gerschom Scholem 142

9 Die theopolitische Stunde. Martin Bubers Begriff der

Theopolitik, seine prophetischen Ursprünge, seine Aktualität

und Bedeutung für die Definition zionistischer Politik 176

10 Verwechslungen. Abwege und Abgründe einer jüdischen

politischen Theologie jenseits von Orthodoxie und Liberalismus

197

11 Zeit und Spiel. Geistergespräch zwischen Walter Benjamin und

Carl Schmitt über Ästhetik und Politik 213

12 „Es gibt Vernichtung“. Jakob Taubes Die politische Theologie des

Paulus 233

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Vor dem GesetzI Statt eines Vorworts: Die Parabel Kafkas als politisch-

theologische Aggada

Die Parabel. Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesemTürhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt indas Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt denEintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragtdann, ob er also später werde eintreten dürfen. „Es istmöglich“, sagt der Türhüter, „jetzt aber nicht“. Da das Torzum Gesetz offensteht wie immer und der Türhüter beiseitetritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zusehn. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: „Wenn esdich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verboteshineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nurder unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter,einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des drittenkann nicht einmal ich mehr ertragen.“ Solche Schwierigkeitenhat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll dochjedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetztden Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seinegroße Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tatarischenBart, entschließt er sich, doch lieber zu warten, bis er dieErlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einenSchemel und läßt ihn seitwärts von der Tür sichniedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre: Er macht vieleVersuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Türhüterdurch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöremit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielemanderen, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie großeHerren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder,daß er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich fürseine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, undsei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Diesernimmt zwar alles an, aber sagt dabei: „Ich nehme er nur an,damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.“ Während dervielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fastununterbrochen. Er vergißt die anderen Türhüter und dieserscheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in dasGesetz. Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den erstenJahren rücksichtslos und laut, später, als er alt wird,brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch, und, da er

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in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe inseinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihmzu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließlich wird seinAugenlicht schwach, und er weiß nicht, ob es um ihn dunklerwird, oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennter jetzt im Dunkeln einen Glanz, der unverlöschlich aus derTüre des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vorseinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen derganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüternoch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinenerstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhütermuß sich tief zu ihm hinunterneigen, denn derGrößenunterschied hat sich sehr zuungunsten des Mannesverändert. „Was willst du denn jetzt noch wissen?“ fragt derTürhüter, „du bist unersättlich.“ „Alle streben doch nach demGesetz“, sagt der Mann, „wieso kommt es, daß in den vielenJahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat?“ Der Türhütererkennt, daß der Mann schon an seinem Ende ist, und, um seinvergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: „Hierkonnte sonst niemand Einlaß erhalten, denn dieser Eingang warnur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“1

Vielleicht kann man den Mann vom Lande und den Türhüter als die

auf das Minimale und Karikaturhafte zusammengekürzte

Personifikationen zweier Auffassungen von Gesetz und so von

zwei Formen politischer Theologie (vgl. unten II.) lesen, die

sich als Antwort auf die sogenannte Krise und Tragödie der

Kultur um 1910, also auf die Konfrontation des Individuums mit

dem Gesetz, interpretieren lassen.2 Der Mann vom Lande ist 1 Franz Kafka, Vor dem Gesetz, in: ders., Erzählungen, hrsg. von Max Brod,Frankfurt 1986 (1935).2 Vgl. Wilhelm Windelband, „Geschichte und Naturwissenschaft“ in: ders., Präludien. Aufsätze und Reden zur Einleitung in die Philosophie, Tübingen 1996, (1884); Heinrich Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Freiburg 1899; Max Weber, „Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ (1904), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. vonJohannes Winckelmann, Tübingen 1973, S. 146–214; Georg Simmel, „Der Begriffund die Tragödie der Kultur“ (1911), in: ders., Philosophische Kultur, Potsdam 1919; ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1983 (1908); Hermann Cohen, Der Begriff der Religion im System der Philosophie, Gießen 1915, S. 53; ders., Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Leipzig 1919;

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jemand, der Zugang und möglicherweise Schutz beim Gesetz sucht.

Er wird ihm von dem Türhüter verwehrt, einer Macht, die darüber

entscheidet, wer Einlaß ins Gesetz erhält und wer nicht. Die

Metapher vom Gesetzeshüter wird hier durch eine einfache

Entmetaphorisierung auf das Gesetz so zurückprojiziert, daß das

Gesetz, wenn es denn gehütet wird, eine Tür besitzen muß. Die

Entmetaphorisierung erzeugt damit nicht nur die neue Metapher

vom Eintritt in das Gesetz, sie verräumlicht das Gesetz und

markiert dadurch sein Problem: Als konkrete Institution und

Setzung besitzt es immer schon einen bestimmten Raum der

Gültigkeit und Anwendung, mit dem Grenzen gesetzt sind. So

entstehen Regelungen und Verordnungen, die den Wirkungsraum des

Gesetzes strukturieren und organisieren. Der Mann vom Lande

steht außerhalb des Gesetzes, aber er hat eine andere

Vorstellung von ihm, eine Vorstellung, die das Gesetz vor jeder

Verräumlichung und Ermächtigung als allgemein und überall

gültiges Gesetz deutet. Sein Argument, daß „das Gesetz doch für

jeden und immer“ zugänglich sein sollte, ist nicht nur Ausdruck

eines echten, wie traumhaft dahingesprochenen Erstaunens,

sondern es enthält, zu Ende gedacht, die Aufhebung des

spezifischen Raumes des Gesetzes, das der Türhüter behütet und

repräsentiert.

Der Text Kafkas entfaltet damit die Spannung, die im Begriff

des Gesetzes als Setzung angelegt ist. Es ist die Spannung

zwischen der metaphorischen und der »natürlichen“ Bedeutung des

Ernst Cassirer, Die Philosophie der symbolischen Formen, Vorwort zu Band I, Berlin, 1923; Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: Sigmund Freud – Studienausgabe, Bd. 9., Frankfurt a. M. 1982. Vgl. auch Ralph M. Leck, Georg Simmel and Avant-Garde Sociology: The Birth of Modernity 1880–1920, New York 2000. Hierzu auch mein Buch Der häretische Imperativ: Zur theologischen Dialektik der Kulturwissenschaften in Deutschland, Tübingen 2000.

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Wortes „Gesetz“, aus der sich die narrative Logik des Textes

entfaltet. Die Grauzone zwischen beiden sprachlichen Ebenen

bildet gleichsam die Vorlage für die Landschaft, auf der der

Leser den beiden Repäsentanten und Metonymien des Gesetzes, dem

Mann vom Lande und dem Türhüter, begegnet. Die Aufgabe des

Türhüters besteht grundsätzlich darin, bestimmte Menschen zu

bestimmten Zeiten nicht in das Gesetz eintreten zu lassen. Er

steht für die Macht, die das Gesetz setzt und durchsetzt. Die

Vorstellung des Mannes vom Lande, das Gesetz müsse „doch jedem

und immer zugänglich sein“, erinnert nicht nur an die

Formulierung des kategorischen Imperativs, sondern sie steht

für eine Auffassung des Gesetzes, die zwar hinter sich keine

Macht hat, aber doch immerhin den Anspruch stellt, Zugang zum

Gesetz zu bekommen, und zwar zu jedem Gesetzestor. Vernunft

versus Macht – Der Mann vom Lande verbirgt sich aber auch damit

selbst schon die Intention, den Hüter des Gesetzes zu

entlassen, der doch unter der Voraussetzung eines für alle und

immer zugänglichen Gesetzes in der Tat überflüssig wird. Wenn

der Mann vom Lande „den unglücklichen Zufall“ verflucht, der

ihn vor das Gesetzestor verschlagen hat, so legt er sich nur

eine Art „Metaphysik des Absurden“ zu, die ihm das eigentlich

aggressive Ansinnen, den Türhüter zu beseitigen, verdeckt. Der

Türhüter erkennt, wie es seinem Machtinstinkt entspricht, in

dem Mann vom Lande nicht nur einen Bittsteller, Flüchtling oder

Eindringling, sondern eben den Feind aller Machtordnung, die

das Gesetz „verräumlicht“. Der Mann vom Lande versteckt also

vor sich selbst, was der Türhüter ahnt: daß der Mann vom Lande

der Feind aller Türhüter ist. Damit aber liegt in diesem

Landmann ein Fall des Gesetzes vor, der seine Hüterschaft erst

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in vollem und wesentlichem Maße legitimiert. Wen sollte er denn

abweisen, wenn nicht diesen Universalisten, der eben die

Begrenzung und Verräumlichung des Gesetzes gleichsam schon

durch seine Existenz als ein von außen Kommender, als Nomade,

Paria oder Flüchtling in Frage stellt? Umgekehrt muß, wer von

der Universalität des Gesetzes überzeugt ist, irgendwann

notwendig mit den politisch bedingten Verräumlichungen,

Totalitäten und Ordnungen in Konflikt geraten – mag er sich

selbst auch diesen Konflikt und damit seine eigene Agression

verdecken.

Im Verhältnis zur Macht, die über sich eine immer noch

größere Macht weiß, ist der Mann vom Lande freilich ohnmächtig.

Er lebt im Aufschub, der in dem „es ist möglich – jetzt aber

nicht“ so einfach auf den poetischen Begriff gebracht wird.

Gegenüber der Räumlichkeit der Macht repräsentiert er die

Temporalität des Aufschubs und der Hoffnung,3 gegenüber der

gleichsam ewig-jungen Macht vertritt er die Schwäche, die in

der Hoffnung sich verzehrt und schließlich altert. So alt und

schwach er immerhin geworden sein mag, er bleibt doch der Feind

des Türhüters. Damit ereignet sich eine merkwürdige Umkehrung

der Verhältnisse: Die zeitlich und räumlich begrenzte

Machtordnung scheint ewig zu sein, das immer und überall

geltende Gesetz wird in der Figur des Sterbenden zum Symbol.

Beide Figuren, der nun selbst gleichsam immer größer werdende

Türhüter und die durch das Altern gedrungene und gebückte Figur3 Vgl. Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1. Teil, § 12, in: Kants Werke Bd. 6, Berlin 1968, S. 261. Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Romanum, Berlin 1974 (1950), das auf eine Ableitung des Gesetzes aus dem Raum, der Ordnung aus der Ortung, hinausläuft. Ganz anders Paul Tillich, „Der Widerstreit von Zeit und Raum“, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, Berlin, 1963, S. 142 ff., der den Raum mit der mythischen und die Zeit mit der prophetischen Religion identifiziert.

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des Landmannes, sind zuletzt Korrelate, die in ihrer

Feindschaft intim aufeinander bezogen und angewiesen sind.

Davon erhält die letzte Aussage, das Tor sei nur für den Mann

vom Lande bestimmt, ihren ganzen Sinn: Tor und Torhüter sind

nur dazu da, eben diesen Mann abzuweisen, der sie in Frage

stellt. Der Türhüter kann den Zutritt im Grunde nur dem

Ideologen des überzeitlichen und überräumlichen Gesetzes

verwehren, während der Mann vom Lande, nur wenn er ganz naiv

ist, sich über die Tatsache des Tores verwundern kann. Aber er

wird weder zum Freiheitskämpfer, noch zum Märtyrer. Seine

offensichtliche Schwäche und Ohnmacht dokumentieren sich in

seinem Entschluß, „doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis

zum Eintritt bekommt“. Was sich dann in der Wartezeit ereignet,

ist gleichsam die Hoffnung der idealistischen Kultur, daß ihre

Vorstellung vom ewigen Frieden der Kultur sich in der

unendlichen Projektion der historischen Zeit verwirklichen

möge. Das was sich hier vorfindet, sind, wenn nicht

bürokratische Banalitäten, sadistische Spiele.

Wie in der zeitgenössischen Literatur der jüdischen

Kulturwissenschaft, die die Galut (= Exil) als einen langen

Prozeß des Verfalls beschreibt, in dem das Judentum seine

vitale Kraft verliert,4 ist der alternde Mann vom Lande ein

Symbol für die scheinbar vergebliche Hoffnung jener Kultur der

4 Vgl. Jakob Klatzkin, Schkiat HaChajim, Berlin 1925. Theodor Lessing, Der Jüdische Selbsthaß, Berlin 1930 oder etwa Fritz Izchak Baer, Galut, Berlin 1936.Gershom Scholem, „Wissenschaft vom Judentum einst und jetzt“, in: Judaica II, Frankfurt a. M. 1977, zitiert S. 153 den berühmten und seitdem so oft angeführten Spruch von Moritz Steinschneider: „Wir haben nur noch die Aufgabe, den Überresten des Judentums ein ehrenvolles Begräbnis zu bereiten.“ Zur Geschichte des deutschen Judentums in der Moderne seien hierv.a. Jakob Katz, Emancipation and Assimilation. Studies in Modern Jewish History, Farnborough 1972 und: Paul Mendes-Flohr, Divided Passions. Jewish Intellectuals and theExperience of Modernity, Detroit 1991, erwähnt.

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Aufklärung geworden. Nicht nur wird es, auch wenn er es

vergißt, immer noch höhere Machtinstanzen geben, die sich ihm

entgegenstellen, sondern diese Macht gipfelt potenziell in

einer absoluten Souveränität, einer Art bildloser Präsenz, die

selbst die, die Macht innehaben, nicht mehr ertragen können.

Ist das Gesetz, das er meinte, wesenhaft Überschreitung der

Grenzen, so multipliziert sich die Macht in immer mächtigeren

Instanzen, die umgekehrt proportional zu seiner Ohnmacht sich

zu steigern scheinen. „Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom

Lande nicht erwartet!“ Damit wird der Mann vom Lande nicht nur

zur Inkarnation eben der Krise der modernen Kultur überhaupt,

sondern zu einer eigentümlichen Personifikation jenes durch die

Galut geschwächten „Rests“ Israels,5 der trotz der

offensichtlichen Logik der Geschichte, an der Idee des Gesetzes

festhält und an ihr zugrunde gehen wird. Der Türhüter ist und

bleibt die Erscheinung der Macht, die die Türe der Legalität,6

durch die er selbst offenbar noch eingetreten ist, nunmehr

hinter sich schließen kann, um den Mann vom Lande, der sogar zu

schwach ist, gegen die verschlossene Tür mit den Stiefeln zu

treten, vollends „hors la loi“ zu stellen.

Zuletzt sieht der Mann vom Lande ein Licht, das aus dem

Innersten des Gesetzes bricht. Kafka verwendet hier den

5 Vgl. hierzu Cohen, Religion der Vernunft.6 Vgl. Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, Berlin 1993 (1932), S. 31: „So kann die Mehrheit prinzipiell auf legale Weise die Türe der Legalität, durch die sie eingetreten ist, hinter sich schließen, und den parteipolitischen Gegner, der dann vielleicht mit den Stiefeln gegen die verschlossene Türe tritt, als einen gemeinen Verbrecher behandeln.“ Zu Schmitt vgl. Jürgen Habermas, „Die Schrecken der Autonomie. Carl Schmitt auf englisch“, in: ders., Eine Art Schadensabwicklung, Frankfurt a. M. 1987, S. 101–114; John P. McCormick, Carl Schmitt’s Critique of Liberalism. Against Politics as Technology, Cambridge 1997; Gopal Balakrishnan, The Enemy. An Intellectual portrait of Carl Schmitt, London/New York 2000. Wolfgang Bialas/Manfred Gangl (Hrsg.), Intellektuelle im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2000.

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überstrapazierten Topos vom blinden Sehenden. Der Türhüter kann

das Licht nicht sehen, da er ihm den Rücken zuwendet. Es

symbolisiert möglicherweise die theologische Perspektive, den

metaphysischen Tiefengrund beider typologischer Figuren. Gottes

absolute Gerechtigkeit und Gottes absolute Macht ermöglichen in

einer coincidentia oppositorum in letzter Instanz diese

Konfrontation. Durch die absolute Trennung kommt es zum

potentiell tödlichen Konflikt zwischen den beiden

Repräsentanten. Der Hüter vertritt das reine Prädikat der

Macht, die reine Exekutivgewalt, die, wenn sie isoliert wird,

sich zum Terror steigert. Der Mann vom Lande steht für die

reine und wehrlose Gerechtigkeit, die mit ihren hilflosen

Appellen nur immer wieder zugrunde gehen kann. Täter und Opfer,

Herr und Knecht der Geschichte begegnen sich hier an der

Schwelle zum Gesetz, ohne das eigentlich tragische und blutige

Drama auszutragen. So stehen aber beide, Hüter und Mann vom

Lande, immer auch noch „vor dem Gesetz“, der Hüter, weil er es

hütet, der Mann vom Lande, weil er in die Situation geraten

mußte, daß er sich von einer bestehenden politischen

Institution abgewiesen findet. „Vor dem Gesetz“: das heißt aber

auch, daß das Gesetz in solcher Trennung von Macht und Gesetz

eigentlich selbst – unter den räumlich/zeitlichen Bedingungen

der Schöpfung – immer jenseitig und transzendent bleiben muß.

Die Schöpfung bezeichnet den Bruch der Einheit beider Momente,

der sich in der Sprache als Spannung zwischen metaphorischer

und „natürlicher“ Bedeutung darstellt und den Kafka zum

Ausgangspunkt der narrativen Logik der Parabel erhebt. Die

Einheit des Gesetzes ist immer schon zerbrochen, wobei die

Bedeutungen zugleich immer schon aufeinander verweisen, wie

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sie denn auch den historischen Antagonismus stiften. In diesem

Sinne zitiert Jaques Derrida in „Gesetzeskraft – Der mytische

Grund der Autorität“ den Satz von Pascal: „eine ohnmächtig

kraftlose Gerechtigkeit (Rechtsprechung) kann nicht zur

Rechtsprechung dienen. Kraft (Gewalt) ohne Gerechtigkeit ist

tyrannisch“ – um übrigens für beide, Gerechtigkeit und Macht,

einen gemeinsamen mystischen Grund anzunehmen.7

II

Läßt sich also die Parabel Kafkas als eine archetypische

Kodifizierung der zu Beginn des 20. Jahrhunderts ständig

variierenden Problematik des Individuums vor dem Gesetz lesen,

so enthält sie in metonymischer Form nicht nur die

Repräsentation zweier Auffassungen vom Gesetz, sondern auch

zweier Grundformen von politischer Theologie. Der Mann vom

Lande steht für eine politische Theologie, die seit der

Aufklärung, seit Lessing und Kant8 etwa, mithilfe des aus der

7 Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der Mystische Grund der Autorität, Frankfurt a. M. 1991. Vgl. auch Jacques Derridas Essay über Kafkas Parabel, Prejugés. Vor dem Gesetz, Wien 1999. Zu einer ausführlichen Diskussion der Parabel vgl.: Hartmut Binder, Vor dem Gesetz. Einführung in Kafkas Welt, Stuttgart/Weimar 1993, dazu auch meinen Aufsatz „Vor dem Gesetz. Zur Dialektik von jüdischer Moderne und politischer Theologie“, in: Ashraf Noor (Hrsg.) Erfahrung und Zäsur. Denkfiguren der deutsch-jüdischen Moderne, Freiburg 1999.8 Gotthold Ephraim Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke, Bd. 8, München 1979, Paragraphen 87 ff., Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: Kants Werke, Bd. 6, Berlin, 1968; Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Leipzig 1958. Zu dieser Tradition der politischen Theologie vgl. Karl Löwith, Weltgeschichte undHeilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart/Berlin 1979; Jakob Taubes, Abendländische Eschatologie, Bern 1947; ErikVoegelin, The New Science of Politics, Chicago 1952; Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a, M. 1996, Jürgen Moltmann, Gott im Projekt der modernen Welt.Beiträge zur öffentlichen Relevanz der Theologie, Gütersloh 1997.

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Vernunft abgeleiteten ausnahmslos geltenden Gesetzes sich von

jeder (göttlichen und menschlichen) Autorität zu emanzipieren

sucht und eben damit „hier auf Erden schon das Himmelreich

errichten“ will (Heinrich Heine). Die Befreiung von Autorität

und Herrschaft entspricht der politischen Realisierung der

Idee, die theologisch mit dem Gottesreich gedacht wird. Stützt

dieser Typ politischer Theologie sich auf die Idee göttlicher

Gerechtigkeit und fordert so eine Umsetzung der Gerechtigkeit

und Nächstenliebe für die ideale menschliche Gesellschaft, so

steht der Türhüter für eine Auffassung vom Gesetz, die, indem

sie sich auf die Idee göttlicher Macht stützt, stets Macht

schon voraussetzt, die das Gesetz erst ein- und durchsetzt.

Entspricht Typ I rein schematisch der politischen Aufklärung,

die das nunmehr innergeschichtliche Königtum Gottes auf die

durch den Menschen im Sinne der Nächstenliebe qua Selbstliebe

angeeignete Gottesliebe gründet, so entspricht Typ II der

politischen Gegenaufklärung,9 die die Gottesliebe nur noch auf

die Selbstliebe als Selbstbehauptung hin „säkularisiert“. Indem

9 Carl Schmitt, Die Diktatur – von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, Berlin 1994 (1921); Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel von der Lehre der Souveränität, Berlin 1996 (1922); Carl Schmitt Der Begriff des Politischen, Berlin 1996 (1932). Vgl. auch Friedrich Gogarten, Politische Ethik, Versuch einer Grundlegung, Jena 1932.Erik Peterson, Monotheismus als politisches Problem. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Theologie im Imperium Romanum, Leipzig 1935, versteht sich zwar als eine Abrechnung mit Carl Schmitts politischer Theologie und ist auch so von Schmitt begriffen worden (Carl Schmitt, Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie, Berlin 1996 (1979)), aber Peterson ist in diesen Jahren einer Auffassung des Politischen verpflichtet, die mit Pius IX den liberalen Staat als häretischen Staat definiert. Vgl. Erik Peterson,Politik und Theologie – Der liberale Nationalstaat des 19. Jahrhunderts und die Theologie, in ders.: Ausgewählte Schriften Bd. 4, hrsg. von Barbara Nichtweiß, Würzburg 2004. Auch Leo Strauss, Philosophie und Gesetz, Beiträge zum Verständnis Maimunis und seiner Vorläufer, Berlin 1935; ders., The Political Philosophy of Hobbes. Its Bliss and its Genesis, Oxford 1959 (der Text wurde aber schon 1936 auf deutsch fertiggestellt) istdamals ebenfalls keineswegs ein Anhänger des Liberalismus gewesen. Voegelin, The New Science of Politics.

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diese beiden Formen politischer Theologie in der Moderne in

ihrer Antithetik einander gegenübertreten, symbolisieren sie

das, was seit dem Anfang des 20. Jahrhundert spätestens immer

wieder als Krise der Säkularisation beschrieben wird.

Aus der Perspektive dieser ganz schematischen und sozusagen

idealtypischen Skizze der politisch-theologischen Polarität

lassen sich nun mindestens neun sekundäre Formen von

politischer Theologie unterscheiden, die sich zum Teil durchaus

überschneiden können. Die folgende Typologie ist durchaus

vorläufig, nimmt also keineswegs für sich in Anspruch, in

irgendeiner Weise vollständig zu sein.

1) Aus der Infragestellung der Allgemeinheit des Gesetzes durch

das „jemeinige“ individuelle Dasein wird gerade die

Notwendigkeit einer Erweiterung des Gesetzes abgeleitet, das

den Ansprüchen von Freiheit und Individualität weiter

entgegenkommen und in jedem Fall eine ausnahmslose Gültigkeit

des Gesetzes für alle durchsetzen soll. Eine solche

Universalität entspricht etwa der Idee einer idealen Lebensform

(Georg Simmel10) oder einer symboltheoretisch neu zu

begründenden Ethik der Kultur (Ernst Cassirer11).

10 Georg Simmel, Grundfragen der Soziologie, Berlin/Leipzig 1917. Ders., Lebensanschauung, Vier metaphysische Kapitel, München 1922 (1918). Ders., Philosophische Kultur, Leipzig 1919 (1911); ders., Der Krieg und die geistigen Entscheidungen, München 1917; Volkhard Krech, Georg Simmels Religionstheorie, Tübingen 1998; Leck, Georg Simmel and the Avant-Garde Sociology; Joachim Jacob, „Tragische Fülle. Kultur, Erinnerung und Apokalypse bei Georg Simmel“, in: Jürgen Brokoff/Joachim Jacob, Apokalypse und Erinnerung in der deutsch-jüdischen Kultur des frühen 20. Jahrhunderts, Göttingen 2002. 11 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Vorwort. Ders., Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932. Ders., Symbol, Myth and Culture, Essays and Lectures ofErnst Cassirer, 1935–1945, New Haven 1979. Vgl. Auch Heinz Pätzold, Ernst Cassirer. Von Marburg nach New York. Eine philosophische Biographie, Darmstadt 1995. Dorothea Frede/Reinold Schmücker (Hrsg.), Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie, Darmstadt 1997

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2) Aus der Perspektive einer „Dialektik der Aufklärung“ wird

davon ausgegangen, daß die Idee der Gleichheit vor dem Gesetz

durch die sozialen, ökonomischen und politischen

Machtverhältnisse stets in Gefahr ist, entstellt zu werden, so

daß es einer politischen, philosophischen oder „prophetischen"

Instanz der permanenten Kritik bedarf, die gegen die

ideologische Instrumentalisierung des Gesetzes dessen

Verwirklichung einfordert (Hermann Cohen12, Martin Buber13).

3) und 4) Mit der Forderung, die Verfassung der Kultur als

Kultur des Gesetzes im Ganzen zu suspendieren, weil sie den

Ansprüchen „jemeiniger“ Existenz nicht genügt, ergeben sich

zwei verwandte, aber doch diametral entgegengesetzte Formen von

politischer Theologie. Die eine Form wäre eine Art anarchischer

Vitalismus, der gegen die Kultur als rationale bzw.

Gesetzeskultur aufbegehrt und auf eine Befreiung des

dionysischen Lebens setzt, ohne daß der konkrete politische

Sinn dieser Befreiung damit schon in irgendeiner Form geklärt

wäre. Der Vitalismus kann dabei zur Grundlage eines

ästhetischen Utopismus und Anarchismus werden, wie etwa bei

Hugo Ball,14 aber ebenso in eine Theorie irrationaler

Souveränität umschlagen. Ludwig Klages15 und Jacob Klatzkin16

sind im Ansatz solche Repräsentanten eines anarchischen

12 Cohen, Der Begriff der Religion; Cohen, Religion der Vernunft.13 Martin Buber, Das Königtum Gottes, Berlin 1932/36; ders., Die Frage an den Einzelnen, Berlin 1936; ders., Der Glaube der Propheten, Heidelberg 1984 (1942); ders., Pfade in Utopia, (1950) Heidelberg 1985. Vgl. Paul Mendes-Flohr (Hrsg.),Martin Buber. A Contemporary Perspective, Jerusalem 2002. 14 ? Vgl. Hugo Ball, Der Künstler und die Zeitkrankheit. Ausgewählte Schriften, Frankfurt a. M. 1984. Siehe hierzu mein Buch Die Apokalypse des Subjekts. Ästhetische Subjektivität und politische Theologie bei Hugo Ball, Bielefeld 2003. 15 Ludwig Klages, Vom kosmogonischen Eros, Jena 1930; ders., Der Geist als Widersacher der Seele, Leipzig/München 1929–1932. 16 Jakob Klatzkin, Probleme des modernen Judentums, Berlin 1918; ders., Schkiat HaChajim.

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Vitalismus, der politisch mit einem irrationalen Faschismus im

Bunde steht.17 Carl Schmitts politische Theologie, die auf eine

diktatorische Selbstermächtigung des Souveräns setzt, die die

säkulare Kultur des Gesetzes suspendiert, versteht sich immer

schon als Vitalismus von rechts.

5) Im Gefolge dieser letzten beiden Formen von politischer

Theologie bildet sich eine weitere Form aus, die in den bisher

vorgestellten Formen die notwendige Konsequenz einer Moderne

erkennt, die „das Theologische“" für ihre anthropologisch-

politischen Interessen zu instrumentalisieren versucht, sei es

im Namen einer absoluten Gerechtigkeit oder im Namen einer

absoluten Souveränität, und damit sich potenziell immer schon

in ein System oder Antisystem der Gewalt verwandeln mußte.

Diese Form erkennt also in der Säkularisation des Gottesreiches

das Symptom einer radikalen Krise, die nur dadurch bewältigt

werden kann, daß beide Systeme und Sphären, die theologische

Idee und die politische Realität, voneinander getrennt werden.

Es geht hier also um eine Destruktion der klassischen Form von

moderner politischer Theologie, wie sie sich in der

Geschichtsutopie vom Dritten Reich ausgeprägt hat, deren Sinn

eben die Projektion der von der politischen Sphäre getrennten

theologischen Idee (repräsentiert durch die Kirche oder die

Synagoge) auf eine dritte gemeinsame Sphäre von Politischem und

Theologischem ist.18 Gegen die revolutionäre Drei-Reiche Lehre 17 Ernst Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis, Berlin 1922; ders., „Totale Mobilmachung“, in ders. Werke, Bd. V, 1960. Vgl. Karl Heinz Bohrer, Die Ästhetik des Schreckens, die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk, Wien 1983. 18 Vgl. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Taubes, Abendländische Eschatologie. Zur Kritik vor allem: Voegelin, The New Science of Politics. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in ders., Recht, Staat, Freiheit, Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1991. Zum Problem einer Redefinition des Verhältnisses von modernem pluralistischem Staat und katholischer Kirche, siehe ders., Staat, Gesellschaft,

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Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

mit ihrem besonderen revolutionärem Subjekt (Bürgertum,

Menschheit, Klasse, Nation, Rasse) und ihrer spezifischen

innergeschichtlichen Eschatologie wird hier eine Trennung im

Sinne etwa der augustinischen Zweiteilung der theologischen und

politischen Sphäre eingefordert.19 Obwohl aus ganz anderen

Traditionsbeständen begründet, findet im jüdischen Kontex, etwa

im „Stern der Erlösung“ von Franz Rosenzweig20, bei Isaak

Breuer21 oder in Hans Joachim Schoeps’ „Prolegomena zur

Grundlegung einer Theologie des Judentums“22, eine Trennung von

Staat und synagogaler Gemeinde statt, die durchaus der Idee

einer solchen Trennung von Kirche und Staat bei Karl Barth23,

Friedrich Gogarten24 oder Erik Peterson25 vergleichbar ist.

Innerhalb dieser modernitätskritischen Form von politischer

Theologie lassen sich nun mindestens drei Modifikationen

rekonstruieren.

Kirche, Freiburg 1982.19 Vgl. Heinrich Scholz, Glaube und Unglaube in der Weltgeschichte – Ein Kommentar zu Augustins De Civitate Dei, Leipzig 1911; Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation, Berlin 1929; Edgar Salin, Civitas Dei, Tübingen 1926; Hans Jonas, Augustin und das paulinische Freiheitsproblem. Ein philosophischer Beitrag zur Genesis der christlich-abendländischen Freiheitsidee, Göttingen 1930; Harald Fuchs, Augustin und der antike Freiheitsgedanke. Untersuchungen. zum 19. Buch des Civitas Dei, Berlin/Zürich 1965 (1926); Ernst-Wolfgang Boeckenfoerde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter, Tübingen 2002, S. 185–213.20 Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt a. M. 1921. StéphaneMosès, System und Offenbarung. Die Philosophie Franz Rosenzweigs, München 1985; Leora Batnitzky, Idolatry and Representation. The Philosophy of Franz Rosenzweig reconsidered, Princeton 2000.21 Isaak Breuer, Programm oder Testament. Vier jüdisch-politische Aufsätze, Frankfurt a. M. 1929. 22 ? Hans-Joachim Schoeps, Jüdischer Glaube in dieser Zeit. Prolegomena zu einer Grundlegungeiner systematischen Theologie des Judentums, Berlin 1932. 23 Karl Barth, Christengemeinde und Bürgergemeinde, Zürich 1946. 24 Gogarten, Politische Ethik. Versuch einer Grundlegung, Jena, 1932.25 Erik Peterson, Der Brief an die Römer, in: ders., Ausgewählte Schriften Bd. 6, hrsg. von Barbara Nichtweiß,Würzburg 1997, der diese Trennung allerdings immer schon als Folge einer apokalyptischen Spannung zwischen politischer Theologie und Theopolitik annimmt.

17

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

6) Zunächst läßt sich sowohl Carl Schmitts „Politische

Theologie“ so begreifen, daß es hier um eben die Trennung von

„Politischem“ und „Theologischem“ aus der Perspektive des

politischen Interesses geht, d.h. um die Emanzipation des

Politischen von allen theologischen Illusionen, die seit

Lessing den politisch-theologischen Diskurs vom dritten Reich

bestimmen.26

7) und 8): Aus theologischer Perspektive lassen sich dann zwei

prinzipielle Haltungen gegenüber der zu konstituierenden

separaten Sphäre des Politischen rekonstruieren. Entweder wird

die Aufgabe der separaten religiösen Sphäre darin gesehen, die

bestehenden politischen Verhältnisse zu stablisieren, im Sinne

etwa einer Sündenlehre, die geordnete Verhältnisse, Macht und

Obrigkeit notwendig machen soll (Friedrich Gogarten27), oder

aber die Aufgabe von Kirche und Synagoge soll gerade darin

bestehen, in das reale politische Geschehen verantwortlich zu

intervenieren, ohne daß damit die Politik in irgendeiner Weise

eschatologisch überlastet werden darf (Karl Barth28, Jeschajahu

Leibovitz29). Eine solche anti-eschatologische und insofern

tatsächlich „post-moderne“ kritische Form von Theopolitik setzt

Parousia und Präsenz von Erlösung notwendig jenseits aller

real-politischen Realität. Im christlichen Kontext beruft eine

26 Schmitt, Der Begriff des Politischen scheint nur die in der Politischen Theologieangelegte Konsequenz zu vollziehen, wenn die Souveränität „rein politisch“ aus der Korrelation mit dem Feind konstruiert wird. Jedenfalls zielt die berühmt-berüchtigte Bemerkung über den privaten Feind der christlichen Feindesliebe (S. 17) ja auf nichts anderes, als die Neutralisierung des Theologischen in der Politik.27 Gogarten, Politische Ethik. 28 Barth, Christengemeinde und Bürgergemeinde.29 Jesaia Leibovitz, Jahadut, Am Jehudi, Medinat Israel, Jerusalem 1976; ders., Emuna, Historia WeArachim, Jerusalem 1982. Zur politischen Rolle der Orthodoxie im jüdischen Staat vgl. Aviezer Ravitzky, Diverse Voices of the Jewish Religious Thought, Tel Aviv 1999, S. 159–257.

18

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

solche Theopolitik sich etwa auf die Figur des „Katechon“, der

laut 2. Thess.2, 2–8 gerade den Aufschub des Endes von

Geschichte symbolisieren soll.30 Im jüdischen Kontext wird

dabei die Idee der „Galut“ gegen alle (auch die zionistischen)

Versuche geltend gemacht, die Geschichte messianisch zu

„bedrängen“ (Breuer, Glatzer, Scholem31). Diese kritische

Theopolitik hält mit ihrer affirmativen Version an einem

„eschatologischen Vorbehalt“32 gegen die potenziell

eschatologische Moderne fest, läßt sich aber – anders als die

affirmative Version – eben nicht zu einer mehr oder weniger

bedingungslosen Affirmation des Staates bewegen. Andererseits

verfällt sie auch nicht einem generellen Verdikt gegen die

Moderne, wie etwa im Fall von Erik Voegelins Gnosisverdacht

gegen die Moderne als Ganzes.33 Grundsätzlich nimmt diese

30 Vgl. Carl Schmitt, Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung, Köln 1981; ders., Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Berlin 1950; sowie Richard Klein, Tertullian und das römische Reich, Heidelberg 1968. 31 Vgl. Breuer, Programm oder Testament. Vgl. David N. Myers, „Isaac Breuer andthe Jewish Path to Metageschichte“, in: ders., Resisting History. Historicism and its Discontents in German Jewish Thought, Princeton 2003, S. 130156. Nahum Norbert Glatzer, Geschichte der talmudischen Zeit, Berlin 1937. Um nur einige wenige Essayszu nennen, die dieses für Scholem an sich zentrale Thema behandeln: GershomScholem, On Jews and Judaism in Crisis, Selected Essays, New York 1976; ders., „Rede über Israel“, in: Judaica II, Frankfurt a. M. 1977. Zur Struktur des Politischen im Exil vgl. Yosef Hayim Yerushalmi, Diener von Königen und nicht Diener von Dienern. Einige Aspekte der politischen Geschichte der Juden, München 1995. Vgl. auch Leo Strauss, „Preface to Spinoza’s Critique of Religion“, in: ders., Jewish Philosophy and the Crisis of Modernity. Essays and Lectures in Modern Jewish Thought, hrsg. von Kenneth Hart Green, New York 1997, S. 143: „The establishment of the state of Israel is the most profound modification of the galut which has occurred, but it is not the end of galut: in the religious sense, and perhaps not only in the religious sense, the state of Israel is a part of the galut. Finite relative problems can be solved; infinite, absolute problems cannot be solved.“32 Vgl. Kurt Anglet, „Der eschatologische Vorbehalt. Eine Denkfigur bei Erik Peterson“, in: Barbara Nichtweiß (Hrsg.), Vom Ende der Zeit – Geschichtstheologie und Eschatologie bei Erik Peterson, Münster 2001. Dieser Begriff Petersons spielt bekanntlich eine besondere Rolle bei Johann Baptist Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft, Mainz 1984. 33 Voegelin, The New Science of Politics.

19

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

kritische Theopolitik die Moderne ernst und hält an deren

Utopie von Freiheit fest, die sie allerdings von ihrer

eschatologischen Hypothek im Sinne einer „Befreiung zur

Freiheit“34 entlasten möchte.

9) Aus der sogenannten post-säkularen Perspektive heute ergibt

sich eine von beiden, dem Politischen und dem Theologischen her

bedingte Neubestimmung beider Sphären im Sinne ihrer

Selbständigkeit einerseits und ihrer Angewiesenheit aufeinander

andererseits. In der Münchener Debatte zwischen Jürgen Habermas

und Kardinal Ratzinger35 definierte Habermas die post-säkulare

Situation der modernen pluralistischen Gesellschaft als

Notlage, die, zumal unter dem global-ökonomischen Druck, sich

daraus ergibt, daß diese Gesellschaft der pluralistischen

Freiheit das sie begründende Wertesystem nicht aus sich selbst

herstellen könne. Die für den Fortbestand von Gesellschaft

unbedingt notwendige Solidarität mache einen kritischen Dialog

mit der Kirche und deren Wahrheitsanspruch unabdingbar.

Umgekehrt forderte Kardinal Ratzinger eine Kritik all

derjenigen politischen und theologischen Absolutheitsansprüche

von Wahrheit, die eben die Grundlagen der freiheitlichen

Gesellschaftsordnung gefährden würden. Wo die säkulare

Gesellschaft also ihr Defizit an Wahrheit bekennt und auf die

Kirche als einem notwendigen „Wertelieferanten“ zurückgreifen

will, bekennt die Kirche ihre historische Verkennung der

Notwendigkeit von politischer Freiheit. Damit aber erweist sich

34 Metz, Glaube, S. 83. 35 Jürgen Habermas/Joseph Ratzinger, „Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates“, in: Zur Debatte. Katholische Akademie Bayern Nr 1, München 2004. Vgl. auch: Boeckenfoerde, Staat, Gesellschaft, Kirche und Walter Kasper, Wahrheit und Freiheit. Die Erklärung über die Religionsfreiheit des II. Vatikanischen Konzils, Heidelberg 1988.

20

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

die gegenseitige Angewiesenheit beider Sphären aufeinander, als

neue Form einer „Theologie des Politischen“ noch vor und

jenseits einer jeden Auseinandersetzung mit dem

fundamentalistischen Islam.

III

Die folgenden Texte reflektieren vor allem die politisch-

theologische Krise der Kulturidee und spezifisch der deutsch-

jüdischen Kultur in den Jahren zwischen 1910 und 1938. Sie

lassen sich im Sinne der entworfenen schematischen Typologie

als verschiedene Antworten auf das Problem der Individualität

vor und unter dem Gesetz einordnen. Ihnen eingeschrieben ist

die für die Kulturkrise symptomatische Erfahrung, daß die

Kulturidee als „Freiheit unter dem Gesetz“ mit eben der

fundamental gesetzes- und normtranszendierenden Individualität

in Konflikt geraten muß. Im jüdischen Kontext entspricht diese

Situation der Erfahrung, daß die Kulturidee zwar die

Emanzipation des Juden ermöglicht hat, freilich nur unter der

Bedingung einer Emanzipation von seinem Judentum. In den

meisten Fällen reagieren diese Entwürfe politisch-theologischen

Denkens schon auf die nationalsozialistische Machtergreifung,

den Augenblick absoluter Gefahr also, der zu einer

Reformulierung der politisch-theologischen Grundlagen der

Kultur zwingt. Für viele der hier behandelten Texte steht die

politische Theologie von Carl Schmitt als Zeichen für diese

politisch-apokalyptische Wende.

21

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

An den Beispielen Georg Simmels und Ernst Cassirers werden

zunächst Diskurse vorgestellt, in denen es um die Rettung der

Idee der Kultur auf ästhetischer oder symboltheoretischer

Grundlage geht, wobei in beiden auch schon genuin politisch-

theologische Horizonte erschlossen werden. Werden hier Ästhetik

und Symboltheorie noch zum Garant einer Kulturtheorie, so wird

am Beispiel von Carl Schmitts politisch-theologischer Kritik

des Ästhetischen auch der Widerspruch erkennbar, der sich

potentiell aus dem Versuch einer absoluten Negation des

Ästhetischen ergibt. Indem sich Schmitt an Kierkegaards Kritik

des modernen ästhetischen Bewußtseins orientiert, wird

transparent, wie sehr die Idee einer Souveränität über dem

Gesetz nicht nur eine andere Form von Säkularisation darstellt,

sondern an sich selbst den Fehler wiederholt, den Schmitt dem

Ästhetischen vorhält, daß es nämlich die Unterscheidung

zwischen Gott und Mensch nicht treffen könne.

Fritz Izhak Baers Untersuchung über die Galut von 1936 steht

für einen politisch-theologischen Diskurs des Zionismus, der im

Grunde die apokalyptische Figuration der jüdischen Geschichte

im Sinne einer souveränen nationalen Politik zu naturalisieren

versucht. Martin Bubers Begriff der Theopolitik von 1932/36 ist

sowohl als Kritik an Carl Schmitts politischer Theologie wie

auch als Ansatz zu einer utopisch-anarchischen Politik in

Palästina auf der Grundlage der alttestamentarischen Idee von

Theokratie konzipiert. Am Beispiel von Hans Joachim Schoeps'

Kritik der liberalen Theologie wird dann der Fall einer

jüdischen politischen Theologie vorgestellt, die an der neuen

politischen Situation im nationalsozialistischen Reich

sprichwörtlich zerbricht, weil sie die antiliberale Version des

22

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

neuen deutschen Staates bejaht, die ihrerseits zu einer

Besinnung der jüdischen Theologie auf ihre martyrologischen

Voraussetzungen führen soll. Leo Strauss versucht in den

dreißiger Jahren, das Gesetz als Grundlage des Politischen vor

dessen Begründung durch die Subjektivität auf die prämoderne

Form einer gesetzlichen Verbindlichkeit (Plato, Maimonides)

zurückzuführen. Damit will er die von Carl Schmitt und Thomas

Hobbes aus einsichtige katastrophale Zyklizität der modernen

Souveränität der Subjektivität überwinden. Gerschom Scholems

Theorie des kabbalistischen Symbols wird hier als Versuch

interpretiert, die messianische politische Theologie der

(jüdischen) Moderne in eine Ethik des Symbols zu

neutralisieren, um den zionistischen Staat auf der Grundlage

der Idee säkularer Kultur zu begründen. Bei dieser Grundlegung

spielen sowohl Georg Simmels Lebensphilosophie wie Ernst

Cassirers Philosophie der symbolischen Formen eine

entscheidende Rolle, insofern mit ihnen die dem politischen

Messianismus eigene Katastrophalität in ihrer ganzen Schärfe

und von dieser Einsicht aus die ästhetisch-symbolische

Dimension der jüdischen Theologie ethisch erfasst werden

können. Am Beispiel von Erik Petersons Idee einer an Paulus

anknüpfenden Idee von Theopolitik soll hier eine Form der

Kritik an der politischen Theologie Carl Schmitts vorgestellt

werden, die nicht nur den auch für andere Versionen

wesentlichen apokalyptischen Horizont zum Vergleich untersucht,

sondern vor allem den auch für manche jüdische Formen

politischer Theologie (Simmel, Scholem, Taubes) so gewichtigen

Einfluß der neuen paulinischen Theologie (Karl Barth, Friedrich

Gogarten) auf die Kritik der Moderne herausstellt. Was Peterson

23

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

für die Theopolitik des Paulus feststellt, wird dann in der

Untersuchung über Jakob Taubes und die politische Theologie des

Paulus noch einmal aus einer jüdischen Perspektive – nach der

Judenvernichtung – aufgenommen. Taubes’ kryptischer Text zu

Paulus’ politischer Theologie versteht sich nicht nur als

Versuch einer Kritik an Carl Schmitts politischer Theologie,

sondern versucht aus der Einsicht in die jüdischen

Voraussetzungen von Paulus, die Basis für eine wahrhaft

universale politische Theologie jenseits von Gnosis und

Antijudaismus zu skizzieren. Am Beispiel der Auseinandersetzung

um den politisch-theologischen Kontext der Tragödie Hamlets,

die Carl Schmitt 1954 gegen Walter Benjamins Kritik der

politischen Theologie im Trauerspielbuch aufnimmt, wird noch

einmal der ganze Problemkreis der politischen Theologie dieser

Epoche zwischen Gesetz und Souveränität, Judentum und

Christentum sowie zwischen Ästhetik und Theologie aktualisiert.

Allen Texten gemeinsam ist die Einsicht, daß das „Politische“

– wie auch immer es zum „Theologischen“ steht – über das Gesetz

hinausweist, sei es ästhetisch als Begriffslosigkeit,

naturrechtlich als ungeschriebenes Gesetz, sei es als reine

Macht oder als ultimative Forderung nach der Erfüllung des

Gesetzes in der Nächsten- und Feindesliebe. Die

Auseinandersetzung um diesen „Ort“ vor, nach, über dem Gesetz

oder jenseits des Gesetzes bestimmt die eigentliche Theologie

dieser politischen Theologien. Dieser Theologie entspricht, das

wird hier zuletzt am Rande langsam deutlich, die Auffassung vom

Eros, der als Macht oder Schwäche, als Selbstliebe oder

Nächstenliebe, als Selbst- oder Gottesliebe auch schon auf die

im Zuge der Säkularisation vollzogenen Reduktion der Liebe auf

24

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

eine nur noch ästhetische/physische/sinnliche/sexuelle

Selbstliebe36 reagiert und damit auch oft schon die

Dichtothomie von Eros und Agape potentiell in Frage stellt. Aus

der genuin aktuellen Perspektive der theologischen Kehre der

neuen Phänomenologie Jean Luc Marions37, aber auch der Ethik

William Desmonds38 und der Wiederentdeckung des Paulus für die

postmoderne politische Theologie bei Alain Badiou39 und Giorgio

Agamben40 beginnt sich jedenfalls ein Prozeß abzuzeichnen, in

dem die (politische) Philosophie die Grundlagen schafft, von

denen her dieser Horizont der politischen Theologie, ihr

„erotologischer“ Hintergrund zu entfalten wäre. Die

theologische Auseinandersetzung mit Politik, Macht und

Selbstbehauptung wird in diesem Sinne unter die von Buber und

Peterson geprägte Formel von der Theopolitik gestellt, deren

Stunde immer schon begonnen haben soll.

36 Feuerbach, Das Wesen des Christentums; Sigmund Freud, Totem und Tabu, Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, Frankfurt a. M., 1995.; ders., „Das Unbehagen in der Kultur“; Herbert Marcuse, Eros and Civilization. A Philosophical Inquiry into Freud, Boston 1955; Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a. M. 1977. 37 Jean-Luc Marion, God without Being, Chicago 1991; ders., Reduction and Givenness. Investigation of Husserl, Heidegger and Phenomenology, Evanston 1998; ders., The Idol and Distance – Five Studies, New York 2001. Vgl. auch Merold Westphal, Transcendence and Self-Transcendence. On God and the Soul, Bloomington 2004, der die theologische Wende der Phänomenologie von Sören Kierkegaards Werke der Liebe aus zu denken versucht. 38 William Desmond, Ethics and the Between, New York 2001. 39 Alain Badiou, St. Paul. La Fondation de l’universalisme, Paris 1997. 40 Giorgio Agamben, Le Temps qui reste – Un commentaire de l’épître aux Romains, Paris 2000.

25

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Individuum und Gesetz Georg Simmels Essay über Rembrandt im Lichte seiner ästhetischen, ethischen und religiösen Metaphysik des Lebens

I Vorüberlegung: Schein und Zeit

Ein Denken, das wie bei Georg Simmel das Phänomen der

Individualität aus dem Horizont der Zeit zu begreifen sucht41,

nähert sich notwendig der Kunst und Kunsttheorie an, die es

grundsätzlich mit der Repräsentation des Individuellen zu tun

hat. Erstaunlich ist dabei Georg Simmels Interesse an der

bildenden Kunst, deren formale Struktur immerhin die Zeit

gerade aufhebt. Wenn jedoch Bild und Porträt im Sinne Simmels

immer schon einen „gefrorenen Augenblick“ darstellen sollten,

so wird hier nicht nur die Problematik der Zeit in die

Raumkunst hineinprojiziert, sondern es wird ein historischer

Prozeß thematisiert, in dem die Zeit in das visuell fixierbare

Wesen des Schönen als Zeitlosigkeit einbricht. In diesem

Einbruch der Zeit in den Schein liegt dann aber für den

Lebensphilosophen Simmel das entscheidende Ereignis der Kunst

Rembrandts.42

41 Georg Simmel, Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, hrsg. v. Michael Landmann, Frankfurt a. M. 1968; ders., Das Individuum und die Freiheit. Essais, Berlin 1984; ders., Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, München 1922. Allgemein zu Georg Simmels Philosophie der Individualität vgl. Michael Schmid, „Georg Simmel. Die Dynamik des Lebens“, in: Josef Speck (Hrsg.), Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Neuzeit IV, Göttingen 1986; Harry Liebersohn: Fate and Utopia in German Sociology, Cambridge 1990; Michael Kaern (Hrsg.), Georg Simmel and Contemporary Sociology, Dordrecht/Boston 1990; Ute Lukhardt, „Aus dem Tempel der Sehnsucht.“ Georg Simmel und Georg Lukacs. Wege in und aus der Moderne, Butzbach-Griedel 1994; Volkhard Krech: Georg Simmels Religionstheorie, Tübingen 1998; Jacob, „Tragische Fülle“, in: Jürgen Brokoff/Joachim Jacob Brokoff/ Jacob, Apokalypse und Erinnerung, S. 75–98.42 Georg Simmel, Rembrandt. Ein kunstphilosophischer Versuch, Leipzig 1916. Es geht dabei um weit mehr als nur den Nachvollzug der für die Lebensphilosophie seit Henri Bergson (Zeit und Freiheit. Eine Abhandlung über die unmittelbaren Bewußtseinstatsachen, Jena 1911) charakteristischen Reduktion des Raumes auf die Zeit. Vgl. auch Henri Bergson, Einführung in die Metaphysik, Jena 1916.

18

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Es geht bei Simmels Denken aber auch um das ethische Problem

der Individualität, nämlich um die problematische Stellung des

Individuums zum Gesetz – und im weiteren Sinne: zu jeder

prästabilierten Definition eines allgemeingültigen Wesens oder

einer Idee des Menschen, in der die Individualität dann nur als

ein Exemplar dieses Wesens oder gar nur als ein zufälliges

Akzidenz erscheint. Somit besitzt die Orientierung an der

Porträtkunst noch einen weiteren spezifischen Sinn.43 Das

Porträt steht bei Simmel prinzipiell für die Repräsentation des

individuellen Menschen in seiner Einzigartigkeit und

Faktizität. Es stellt so gewissermaßen ein Bild vor dem Bild

dar, das wir uns mit Hilfe der Begriffe von ihm machen. Man

könnte vielleicht zugespitzt formulieren, daß Simmel eine Ethik

des Bildes entwirft, die auf paradoxe Weise das „Du sollst dir

kein Bildnis machen“ auf die Kunst zurückwendet. Mittels der

Projektion der Zeit ins Bild, soll damit die Statik des im Bild

suggerierten Wesens transzendiert werden.

Die Individualität, die gegen den Zwang des Gesetzes

aufbegehrt, wird dabei zum Modell für eine ästhetische

Konzeption des Individuellen, jenseits der ideellen und

idealisierenden Präformationen dieses Individuellen durch eine

zeitlose Idee oder ein zeitloses Gesetz der Schönheit, in deren

Auftrag das Individuum auf der Bildfläche auftritt. Von der

43 Vgl. die Überschrift des zweiten Kapitels im Rembrandt-Buch: „Die Individualisierung und das Allgemeine“. Hier heißt es (S. 83): „Rembrandt hat eben – mindestens dem Maße nach als erster – das Individuelle als künstlerisches Gebilde der Zufälligkeit enthoben, ihm das gegeben, was mit dem […] Ausdruck der Notwendigkeit und Allgemeinheit mag für theoretische Behauptungen gelten, er selbst hat sie schon in durchaus fragwürdiger Weisein das Ethische übertragen; denn der behaupteten allgemeinen Gültigkeit einer sittlich notwendigen Maxime überhaupt stehen doch wohl […] die sittlichen Handlungen gegenüber, die aus der prinzipiellen Einzigkeit des Individuums quellen.“

19

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Einsicht in die Bedeutung der Rembrandtschen Porträtserien von

demselben Menschen und von sich selbst, entwickelt Simmel eine

Theorie der Kunst, für die die Zeitlichkeit des schönen Scheins

sowohl im jeweils konkreten Werk wie auch für die Geschichte

der Schönheit selbst zum zentralen Problem wird. Wenn sich an

Rembrandts Kunst nämlich die Verzeitlichung des schönen Scheins

dokumentiert, dessen Wesen in dem für die Renaissance

maßgeblichen Platonismus als zeitlos aufgefaßt wird, so

bezeichnet diese kunstgeschichtliche Zäsur für Simmel, weit

über den ästhetischen Kontext hinaus, zuletzt den Umbruch von

einer Metaphysik des zeitlosen Wesens der Idee und Substanz, zu

einer Metaphysik des Lebens, deren Grammatik er in diesen

Jahren, also zwischen 1915 und 1918, auf den formalen Begriff

zu bringen versucht.

Indem seine Ästhetik von „Schein und Zeit“ auf eine solche

neue Metaphysik und Ethik des Individuellen zielt, sucht sie

implizit die Grundlagen für eine Überwindung der griechischen

Seins- und Substanz-Ontologie in einem jüdisch-christlichen

Denken, genauer: in der Christologie, die gegenüber jedem

idealen Wesen zunächst Zeitlichkeit, Leiden, Tod und

Transzendenz thematisiert.44 Es ist daher der Aspekt der

44 Simmel hat hier durchaus nicht nur das Schema der Hegelianischen Ästhetik, die auf die Epoche der griechischen Vollendung des Schönen in einem zeitlosen Wesen die moderne – christliche – Kunst mit ihrer Konzentration auf Zeitlichkeit, Leiden und Tod folgen läßt, auf den Fall Rembrandt übertragen. Simmels Text wäre so nur die Darstellung der ästhetischen Ontogenese Rembrandts im Sinne einer Rekapitulation der abendländischen Phylogenese der Kunst bei Hegel – womit freilich die Individualität Rembrandts nun ihrerseits auf ein Schema, ein Gesetz reduziert wäre. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, in ders., Werke, Bd. 13, Frankfurt a. M. 1986, S. 23 f.: „Nur ein gewisser Kreis und Stufe [!] der Wahrheit ist fähig, im Elemente des Kunstwerks dargestellt zu werden; es muß noch in ihrer eigenen Bestimmung liegen, zu dem Sinnlichen herauszugehen und in demselben, sich adäquat seinzu können, ein echter Inhalt für die Kunst zu sein, wie dies bei den

20

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

spezifischen Religiösität Rembrandts, seine „Frömmigkeit“, die,

laut Simmel, auch ohne Gott auskommen würde und die hier zum

säkularen Modell einer solchen christologischen Orientierung

avanciert, in der sich Ästhetik, Ethik und Religion

zusammenschließen.

Thesenhaft formuliert, möchte ich 1) Simmels Text über

Rembrandt zunächst im Rahmen einer impliziten Geschichte des

Schönen, einer „Scheinsgeschichte“ lesen, in der sich die

Platonische Idee verzeitlicht und individualisiert. Dann möchte

ich 2) diese Verzeitlichung des Schönen in ihrer ethischen

Bedeutung auf dem Hintergrund von Simmels Analyse der Rolle des

Religiösen bei Rembrandt herausarbeiten. Der eigentliche Sinn

dieser Überlegungen zielt 3) auf das Verständnis des

Zusammenhangs von Ästhetik und Theologie für die

Säkularisation. Dieser Zusammenhang wird am Beispiel der

Überlegungen Simmels in seiner Konvertibilität sichtbar: So wie

das Theologische jederzeit über das Problem der Individualität

ins Ästhetische, so kann das Ästhetische, zumal in seiner griechischen Göttern der Fall ist. Dagegen gibt es eine tiefere Fassung derWahrheit, in welcher sie nicht mehr dem Sinnlichen so verwandt und freundlich ist, um von diesem Material in angemessener Weise aufgenommen und ausgedrückt werden zu können. Von solcher Auffassung ist die christliche Idee der Wahrheit. Laut Siegfried Krakauer, „Georg Simmel“, in ders., Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt a. M. 1977 (1920), S. 214 sei Simmels Wesen „zweifellos ursprünglicher religiöser Instinkte und Bedürfnisse bar gewesen.“ Laut Hans Liebeschütz, Von Georg Simmel zu Franz Rosenzweig. Studien zum jüdischen Denken im deutschen Kulturbereich, Tübingen 1970, ist Simmel (in den Worten Rosenzweigs) die lebende Karikatur des deutschen assimilierten Juden. In der neueren Forschung rückt allerdings gerade Simmels Interesse an der christlichen Theologie als Grundlage einer postmodernen Theorie von Gesellschaft in den Mittelpunkt; Liebersohn, Fate and Utopia; Krech, Georg Simmels Religionstheorie. Einen guten Überblick liefert auch John McCole, „Georg Simmel and the Philosophy of Religion“, in: New German Critique, Nr. 95, Winter 2005, S. 18–35, mit einer sehr überzeugenden Rekonstruktion des Verhältnisses von Nietzsches Individualismus zu deren christlichen Grundlagen und der daraus folgenden möglichen Rückführung dieses Individualismus in eine neue Form von christlich fundierter Gesellschaft als eine Harmonie individualisierter Lebensformen.

21

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Krise, auf das Theologische zurückgeführt werden. Simmels

Denken ist hier geradezu auf diese für die Moderne im ganzen

typische Ambivalenz zwischen Ästhetischem und Theologischem

angelegt.

II Scheinsgeschichte

Die letzte und allgemeinste Intention des italienischenPortraits ist in der Wertmetaphysik des klassischenGriechentums eingeordnet: Sinn und Wert der Dinge liegen imSein, in ihrer festumschriebenen Wesenheit, wie ihr zeitloserBegriff sie ausdrückt.45

Diesem klassischen Begriff von Sein und Schönheit, deren

letzter Sinn in der Negation von Zeit oder in der

Repräsentation einer reinen, zeitüberhobenen Präsenz liegt,

sagt, laut Simmel, Rembrandts Kunst ab. Durch die spezifische

Form der bildenden Kunst muß allerdings auch er zunächst den

Menschen in die Unbeweglichkeit eines über die Lebensdynamik

hinausgestellten Jetzt bannen. Jedoch sei hier „die ganze

persönliche Entwicklungssphäre so in das Jetzt der Anschauung

versetzt, daß sie in einer eigentümlich intuitiven Weise, trotz

und mit ihrer (temporalen) Nacheinanderform, in diesem

unmittelbar gegeben und aus ihm ablesbar ist.“ 46 Der

Widerspruch zwischen der Form und dem in ihr Geformten,

zwischen der Struktur des Bildes und dem in ihm abgebildeten

Leben tritt für Simmel zunächst in dem eigentümlichen Phänomen

von „Wiederholung und Differenz“ bestimmter Porträts, also der

Titus- oder der Selbstporträts etwa, zutage, in denen die 45 Simmel, Rembrandt, S. 6.46 Ebd., S. 8.

22

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

ideale Form bzw. der Stil der typisierenden Repräsentation

durch die faktische Dynamik des Lebens und Alterns gesprengt

wird. Die diachrone Porträtserie, in der die Totalität des

Lebens sich in eine Galerie der zeitlichen Entwicklung und

Differenz auffächert, wird damit zum Indiz für die Existenz

einer spezifischen Intuition, mit der Rembrandt die

Lebensdynamik in ihrer Zeitlichkeit je schon immer in ein

einziges Bild übersetzen kann.

Es wiederholt sich damit [bei Rembrandt] das Grundgefühl, daßdas Leben sozusagen nicht in einem Gestaltungsmoment zuverfestigen ist; in der Reihe der Bilder einer Person […]legt sich auseinander, was das einzige Bild in der Form derIntensität zeigt.47

Damit wird für Simmel die für das schöne Wesen des Menschen

transparente, zeitlose Form der Klassik durch die reale

Offenheit und Zeitlichkeit des Daseins durchbrochen, die Logik

des Wesens durch die Intuition für die spezifische Temporalität

des Daseins ersetzt. Diese Intuition, die Simmel hier

ästhetisch voraussetzt, soll offenbar ein spezifisches

Zeiterleben charakterisieren, das nicht einfach Echo des

passierenden Jetzt, etwa im Sinne einer Verzeitlichung des

Bildes durch eine Veranschaulichung von physikalischen

Bewegungsabläufen, ist, sondern in jedem Augenblick

Vergangenheit und Zukunft durch Erinnerung und Voraussicht aus

dem konkreten Augenblick des Lebens überschaut.48 Dieses

spezifische Zeitbewußtsein als Intuition erschließt also im

Augenblick eine jeweils neue, spezifische Ganzheit des Lebens,

die der Künstler in der Lebenssituation des anderen bzw. seiner47 Ebd., S. 9.48 Vgl. McCole, „Georg Simmel“, S. 22 ff., wo der Zusammenhang von dem, was Simmel die „Persönlichkeit Gottes“, GSG 14, bezeichnet und der Identität vonSubjektivität herausgearbeitet wird.

23

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

selbst durch das Porträt zu erschließen sucht. In der Tat

bieten sich zur Klärung hier auch strukturelle Vergleiche mit

den Theorien Bergsons49, Husserls50 und Heideggers51 an; Simmel

beschreibt jedoch diese wie auch immer vage charakterisierte

Intuition in einem Kontext, der sie als Säkularisation der

göttlichen – verräumlichenden – Übersicht über das Ganze, bzw.

den Prozeß des Seins in eine ästhetische Vision auffaßt, in der

das Ganze jeweils aus der in sich begrenzten Lebenssituation

imaginiert wird. Simmel bezieht sich hier explizit auf Kants

Konstruktion der intellektuellen Anschauung52 des absoluten,

göttlichen Bewußtseins, die im ästhetischen Idealismus

Schellings53 zum besonderen Vermögen des ästhetischen Genies

wird und damit die ästhetische Anschauung tatsächlich noch

einmal in der Idee verabsolutiert. Simmel geht es gegenüber

dieser ästhetischen Verabsolutierung um eine Intuition der Zeit

unter den Bedingungen der Zeitlichkeit:

Die Art der Anschauung, die Kant hier voraussetzt, istfreilich eine überzeitliche und intellektuelle, aber sie übtihre einheitliche, alles mannigfaltig Ausgedehnte

49 Bergson, Zeit und Freiheit.50 Edmund Husserl, „Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins“, in ders., Gesammelte Werke X, hrsg. von Rudolf Boehm, Den Haag 1969.51 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1984.52 Kants erste Definition der intellektuellen Anschauung befindet sich in der Kritik der reinen Vernunft, Wiesbaden 1982, S. 117.53 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, „System des transzendentalenIdealismus“, in ders., Ausgewählte Schriften, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1985, S. 420: „Die Philosophie beruht also ebenso gut wie die Kunst auf dem produktiven Vermögen, und der Unterschied beider bloß auf der verschiedenenRichtung der produktiven Kraft. Denn anstatt daß die Produktion in der Kunst nach außen sich richtet, um das Unbewußte durch Produkte zu reflektieren, richtet sich die philosophische Produktion unmittelbar nach innen, um es in intellektueller Anschauung zu reflektieren. Der eigentlicheSinn, mit dem diese Art der Philosophie aufgefaßt werden muß, ist also der ästhetische, und eben darum die Philosophie der Kunst das wahre Organon derPhilosophie.“ Vgl. hierzu v.a. Manfred Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik, Frankfurt a. M. 1989.

24

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

überwindende Kraft an demselben Objekt wie die sinnlichkünstlerische Anschauung Rembrandts an dem zeitlichen, durcheine unendliche kontinuierliche Vielheit sich erstreckendenLeben.“54

Diese in der Augenblicklichkeit sich herstellende Ganzheit des

Lebens entfaltet sich in immer neuen Augenblicken als eine

andere Ganzheit, und eine solche perspektivische Pluralität

möglicher Ganzheiten ist die Antithese zu dem einen, idealen

Wesen des Individuellen in der klassischen Kunst, für die

dieses sich in der zeitlosen Form erfüllt. Zugleich

rechtfertigt die in der Intuition erzeugte Ganzheit des Lebens

im Augenblick dessen Verbildlichung, aber, insofern diese

Verbildlichung immer provisorischen Charakter besitzt, auch die

Modifikation solcher Bildlichkeit durch ein weiteres, wieder

provisorisches Bild vom Leben.

Diese jeweils neu sich darstellende Ganzheit als Antithese

zur Struktur der Vollkommenheit integriert nicht nur das

Zufällige, Akzidentelle und Häßliche, sondern sie führt zu

einer Kritik der stilistischen Mittel selbst, in denen das

Wesen des Schönen sich formal repräsentieren soll. Wirkt schon

„Rembrandts Vorliebe für zerlumpte Erscheinungen, für die

Proletarier, deren Kleider durch Zufälligkeiten ihres elenden

Loses in formal ganz sinnlose Fetzen zerfasert erscheinen“, wie

eine bewußt provokative „Opposition gegen das Formprinzip“55,

so muß seine Kunst, das Wesensgesetz der klassischen

Idealtypik, gerade auch durch die Absage an die „Normen der

linearen, koloristischen, räumlichen Deutlichkeit“56

54 Simmel, Rembrandt, S. 44 f.55 Ebd., S. 65.56 Ebd., S. 69.

25

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

durchbrechen, in der die ideelle Transformation des

Individuellen sich formal vollzieht.

Die Form dagegen, die das Rembrandtsche Portrait darbietet,erscheint nicht von dem Prinzip der Form selbst, nicht vonden ideellen Beziehungsnormen bestimmt, die die Teile desPhänomens sich untereinander begrenzen und balancierenlassen, sondern das von einem treibenden Leben, das jenerStil hinter dem Phänomen verschwinden läßt, ist hier in demAugenblick erlauscht, in dem es in seine Oberflächehineinwächst.57

Diese an Rembrandts Porträtkunst entwickelte Dialektik von

Wesen und Erscheinung, von Form und Leben, von Außen und Innen,

von Stilgesetz und singulärer Lebensdynamik thematisiert damit

für Simmel eine historische Zäsur in der Geschichte des schönen

Scheins, der im Bild Idee und Wesen bzw. Substanz des

Individuellen festhalten soll und damit das Individuum zum

Rollenträger und Schauspieler der Idee degradiert und

entstellt. Die Idee, in deren Auftrag das Subjekt hier sich

selbst vorstellt, entspricht also einer Maske, hinter der es in

seiner irreduziblen Einmaligkeit der Existenz verschwindet.58

Mit Rembrandt entwickelt Simmel also eine Kritik des

Platonischen Wesens und des aus diesem abgeleiteten Wesens der

Schönheit als Schein des absoluten Wesens. Es ist dabei die im

Bildrahmen gleichsam als Totalität des Wesens festgeformte und

festgelegte Individualität, die erst in dieser Festlegung als

57 Ebd., S. 70.58 Es ist hier nicht der Ort, diese Zusammenhänge von Idee und Rollenträger hinsichtlich ihrer soziologischen Implikationen zu entfalten, es ist jedochgerade diese Diskrepanz zwischen Individualität und ideeller Maske, von deraus Simmel schon 1908 eine Soziologie „ex negativo“ entwickelt, mit der er noch vor der eigentlichen Lebensphilosophie eine andere Strategie durch dieSoziologie konzipiert. Siehe Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1983 (1908). Zur Soziologie Simmels: Kaern,Georg Simmel. Volkhard Krech/Hartmann Tyrell, Religionssoziologie um 1900, Würzburg1995.

26

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

festgelegte erscheint.59 Erst die Totalität des Bildrahmens

selbst definiert das Individuelle als Individuelles und von da

aus die Grenze, gegen die das begrenzte Dasein dann rebelliert.

Mit anderen Worten, es wird erst durch die Allgemeinheit des

Rahmens zu einem Individuellen: „Aus Rembrandts Portraits

leuchtet uns vor allem das entgegen, was wir von einem Menschen

beim ersten Anblick als ganz Unaussprechbares wissen, als die

Einheit seiner Existenz.“60 An diesem Schnittpunkt von Wesen

und Existenz ereignet sich im Grunde der qualitative Sprung von

der Ästhetik in die Ethik, den Simmel immer schon implizit zu

behaupten scheint, ohne ihn tatsächlich auszuführen. Insofern

nämlich diese Einheit der Existenz eigentlich nicht im Bild

aufgehen kann, spricht das porträtierte Individuum immer schon

das Gebot aus: Du sollst dir kein Bildnis machen! Es ist diese

im Bild durch ein Wesen festgelegte Individualität, die

gleichsam mit ihrem stummen Blick den ethischen Anspruch auf

eine weitere Entfaltung ihrer Existenzmöglichkeiten in der Zeit

formuliert.61

Diese in solcher Einheit der zeitlichen Existenz sich

darstellende variable Ganzheit des Lebens qua Individualität

bzw. Intuition von Erinnerung und Voraussicht transzendiert

eben die Form und Idealtypik des zeitlosen Wesens vollends in

der für Rembrandt zentralen Thematik des Todes. Hier „scheint

mir“ – so Simmel – „das Moment des Todes, das in allem

59 Vgl. Erwin Panofsky, Idea. A Concept in Art History, New York 1968.60 Ebd., S. 85.61 In gewisser Weise also enthält Simmels ethisch ausgerichtete Ästhetik desBildes schon den Ansatz zu einer Phänomenologie des Gesichtes, wie sie sehrviel später bei Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg/München 1993, entwickelt wird. Freilich nur in Ansätzen,nicht im Sinne einer systematischen Begründung der Phänomenologie aus der Ethik.

27

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Lebendigen enthalten ist, in dem Bilde des Menschen, wie

Rembrandt es faßte, nachdrücklicher und herrschender fühlbar zu

sein, als irgendwo sonst in der Malerei.“62 Am Tod dramatisiert

sich nicht nur der Gegensatz zur klassischen Form der

Zeitlosigkeit, sondern der Tod erzeugt die spezifische Ganzheit

des Lebens als das nunmehr ihm eigene Formprinzip. Insofern

nämlich der Tod nicht ein unvermittelter Einbruch bzw. Abbruch

des Lebens ist, sondern vermöge seiner in Voraussicht und

Erinnerung jeweils von neuem erzeugten Übersicht über sich

selbst „dem Leben je schon einwohnt“63, bezeichnet er die

ultimative negative Möglichkeit des Seins des Daseins, von der

her es sich selbst immer schon formt. „Unser Leben wird zu dem,

als was wir es erkennen nur dadurch geformt, daß wir […] immer

schon solche sind, die sterben werden.“64 Mit anderen Worten:

Wenn Simmel die Kunst Rembrandts aus der Antinomie von Form und

Leben konstruiert, so bedeutet das zuletzt, daß die Form durch

das Leben eine neue Bedeutung erhält: nämlich in der Form des

Todes, der sowohl den zeitlichen Horizont des Scheins definiert

als auch die Krise dieses Scheins und damit die fundamentale

Weise des Seins von Leben erhellt. Indem Simmel die Grammatik

der temporalen Existenz Rembrandts entziffert, befreit er sie

also gleich von einer nur ästhetischen Deutung: Es ist die

ethische Insistenz auf der Unerschöpflichkeit des

Individuellen, die den Bildrahmen durch die Zeit sprengt. Die

Zeit erschließt ihrerseits den Horizont des Todes, der im

Grunde das Ästhetische als eine vom Leben ausgegrenzte

Seinssphäre vollends aufhebt.

62 Simmel, Rembrandt, S. 89 f.63 Ebd., S. 90.64 Ebd.

28

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Beide Bewegungen sind in der Kunst selbst verankert und

weisen doch immer über sie hinaus. Sie markieren das

Koordinatensystem von Simmels Metaphysik des Lebens. Leben ist

nicht die in sich ruhende Substanz – die res cogitans –, sondern

es sprengt dieses substantielle Sein, um sich in neuen Formen

und Substanzen zu aktualisieren, von denen keine das Leben

erschöpft, die jedoch alle auf die Form des Zeitlichen bezogen

sind. Leben ist die Selbstgestaltung als Substanz und deren

Negation. Dieser Akt, der für Rembrandt symptomatischen

Sprengung der in sich ruhenden Substanz, bereitet Simmels

Kategorisierung des Lebens als ein „Über-sich-hinaus-Greifen“

vor, die er dann zwei Jahre später als „Transzendenz“

definiert, also nicht als ein Hinübersteigen zu Gott, sondern

als ein Über-sich-selbst-Hinausgehen des Lebens zu sich selbst,

das hier seine Einzigartigkeit ganz in der temporalen Immanenz

des Weltlichen aktualisiert. Es ist keine Übertreibung, wenn

man in Simmels Arbeit über Rembrandt die ersten Ansätze zu

einer formalen Ontologie des Daseins aufspürt, die dann später

von ihm selbst in der Lebensanschauung weiterentwickelt, von

Martin Heidegger aufgegriffen und nicht mehr auf der Grundlage

einer vagen Intuition, sondern im Rahmen einer systematischen

Ausarbeitung über den Sinn von Sein expliziert wird.65

Jedenfalls formuliert Simmel diese Struktur der Transzendenz

1918 als „ein Hinaustreten des geistigen Lebens über sich

selbst“, es ist „Durchbruch und Jenseitigkeit nicht nur einer

einzelnen, sondern seiner Grenze überhaupt, ein Akt der

Selbsttranszendenz, der die immanente Grenze selbst erst

65 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 249, wo Heidegger sich ausdrücklich auf Simmels „Lebensanschauung“ bezieht.

29

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

setzt.“66 Diese Selbsttranszendenz ist auch hier zuletzt

begründet und begrenzt durch den Tod: „Und wenn der Tod dem

Leben von vornherein einwohnt, so ist auch dies ein

Hinaustreten des Lebens über sich selbst.“67

In diesem, an Rembrandt ausgearbeiteten, Lebensbegriff als

„Zeit und Transzendenz“ formuliert Simmel ansatzweise die

Grundlagen für eine Metaphysik des individuellen und

„jemeinigen“ Lebens, mit dem er zugleich die Ambivalenz

zwischen einem biologischen und einem metaphysischen

Lebensbegriff, zwischen Bergsons „Elan vital“ und Hegels

Begriff des absoluten Lebens68 zugunsten des metaphysischen

Begriffs aufhebt. Die für das Leben charakteristische

Transzendenz, die Dialektik von Leben und Form, die Struktur

des Lebens als Negativität – das alles bestätigt den Bezug zu

Hegels Metaphysik, indem es zugleich diese auf einen

existentialistischen Begriff zu bringen versucht. In der Tat

liest sich folgende Textstelle aus Simmels Metaphysik wie eine

Erläuterung Hegels zur Dialektik des Bewußtseins, die Hegel

einmal als ein Abschreiten der Galerie der verschiedenen

66 Simmel, Lebensanschauung, S. 6. Vgl. Deena und Michael Weinstein, „Simmel on Modern Life“, in Kaern, Georg Simmel, S. 353–354, wo diese Selbstüberschreitung des Lebens gar in Begriffen der Dekonstruktion beschrieben wird: „Modern culture culminates for Simmel in the jealous willof life to possess the forms that it creates. But in order to possess them it must continually destroy them. That is modern culture is the project of its own deconstruction.“ Damit scheint aber das systematische Anliegen von Simmels Metaphysik verfehlt zu sein.67 Simmel, Lebensanschauung, S. 21.68 Vgl. Georg Wilhem Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, in ders., Werke,Bd. 3, Frankfurt a. M. 1983, S. 46 (Vorrede): „Die Philosophie dagegen betrachtet nicht die unwesentliche Bestimmung, sondern sie, insofern sie wesentlich ist, nicht das Abstrakte oder Unwirkliche ist ihr Element und Inhalt, sondern das Wirkliche, sich selbst Setzende und in sich Lebende, das Dasein in seinem Begriffe. Es ist der Prozeß, der sich seine Momente erzeugt und durchläuft, und diese ganze Bewegung macht das Positive und seine Wahrheit aus. Diese schließt also ebenso das Negative in sich […]“

30

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Selbstporträts des Subjekts beschreibt69, in denen das Ich sich

allerdings zuletzt zu einem absoluten Bewußtsein erweitert.

Indem das Ich nicht nur sich selbst sich gegenüberstellt, alsdas Wissende zum Gegenstand seines eigenen Wissens macht […],sich beurteilt, sich achtet oder verachtet, und sich damitauch über sich stellt, überschreitet es dauernd sich selbst,weil sein Subjekt und Objekt hier identisch sind; es legtdiese Identität, da sie keine starr-substantialistische ist,in dem geistigen Lebensprozeß des Sich-selbst-Wissensauseinander.70

Während jedoch Hegel den Lebensprozeß in einem absoluten

Selbstbewußtsein sich vollenden läßt und damit die

Individualität doch wieder durch ein ihr vorgegebenes Wesen,

nämlich die in der Geschichte sich verwirklichende Idee

auflöst, bleibt das Leben, wie es Simmel an Rembrandts Galerie

der Selbstporträts begreift, an die Grenzen seiner Endlichkeit

verwiesen, deren Signum der Tod ist. Die diachrone

Pluriversalität der Formationen von Subjektivität, die Hegel in

einer Logik des zu sich selbst kommenden und sich vollendenden

Wissens festlegt, wird bei Simmel gerade durch die

Verendlichung des Lebens immer notwendig durch eine synchrone

Pluriversalität solcher Formationen gesprengt. Das Paradox

einer solchen Verendlichung der Hegelianischen Metaphysik

besteht also darin, daß sie gerade jetzt unendlich wird. Gerade

weil die organisierende Idee verzeitlicht wird, tritt das Leben

69 Ebd., S. 590: „[…] die Geschichte ist das wissende, sich vermittelnde Werden – der an die Zeit entäußerte Geist; aber diese Entäußerung ist ebenso die Entäußerung ihrer selbst, das Negative ist das Negative seiner selbst. Dies Werden stellt eine träge Bewegung und Aufeinanderfolge von Geistern dar, eine Galerie von Bildern, deren jedes, mit dem vollständigen Reichtum des Geistes ausgestattet, eben darum sich so träge bewegt, weil das Selbst diesen ganzen Reichtum seiner Substanz zu durchdringen und zu verdauen hat.“70 Simmel, Lebensanschauung, S. 14.

31

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

nunmehr in seiner unendlichen Fülle möglicher Lebensentwürfe

und Lebensmöglichkeiten auf.71

Der Tod bezeichnet faktisch die absolute Grenze des Lebens,

symbolisiert aber gerade dadurch einen neuen Horizont der

Freiheit zum eigenen Lebensentwurf und damit die Offenheit des

Lebens, seine Selbsttranszendenz. Die ideelle

Selbsttranszendenz, die in Hegels Phänomenologie des absoluten

Lebens die Galerie der Selbstporträts des Subjekts als eine

stufenweise fortschreitende Selbstbewußtwerdung auffaßt, in der

das individuelle zum absoluten Bewußtsein sich erweitert,

bleibt dem Künstler unbedingt versagt, der in der Reihe der

Selbstporträts die konkrete Gestalt des Lebens zu erhellen

vermag, aber nie als eine absolute – und das heißt zeitlose –

Selbstpräsenz.

Dieser ästhetisch-perspektivischen Erhellung des Lebens aus

der jeweils konkreten und intuitiven Situation heraus

entspricht bei Simmel das berühmte Rembrandtsche Licht, das

weder einen physikalischen noch einen transzendenten Ursprung

besitzt. „Erst bei Rembrandt ist das Licht nur in dem Bilde

selbst entsprungen, nur auf das malerisch Sichtbare bezogen,

ohne daß man durch dieses gleichsam hindurchsehend, einen

entsprechenden Vorgang in der realen Welt zu imaginieren

veranlassen würde.“72 Als das Licht des einmaligen Bildes

bezeichnet es die Weise, in der der Künstler das Sein des sich

ihm darstellenden Menschen erhellt und erschließt, die

71 Vgl. Krech/Tyrell, Religionssoziologie erkennt den Sinn wahren gesellschaftlichen Seins in der Versöhnung von Individuation und gesellschaftlicher Einheit. Ähnlich auch McCole, „Georg Simmel“, S. 18: dermit der säkularisierten Religion die „ultimate reconciliation of individuation and social unity“ gegeben sieht.72 Simmel, Rembrandt, S. 181.

32

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

„Lichtung“ gleichsam, in der der Blick des Malers sich durch

sein Gegenüber, wie das Gegenüber sich durch den Blick des

Malers erhellen läßt.

Während also Simmel auf der Individualität insistiert, ohne

sie in einer absoluten Struktur, Idee oder Präsenz des Subjekts

aufzuheben, sich also hier zu Hegel verhält wie Rembrandt zur

Platonischen Idee, so hält er ebenso an der spezifischen

Individualität des Schönen fest, die Hegel im ideellen Begriff

tatsächlich auflöst und auflösen muß. Wenn Hegel also die

Platonische Idee des Schönen historisiert, um sie im absoluten

Bewußtsein als Begriff zu retten, beschreibt Simmel die

Geschichte des Platonischen Schönen als die Geschichte von

dessen Überwindung in einer dem konkreten Leben zugewandten

Kunst. „Gewiß hat die Renaissance dem Platonismus, den sie

aufnahm, das Element der Individualität eingefügt“, schreibt

Simmel.

Wenn wir, für Plato, den einzelnen Menschen darum lieben,weil er uns an unsere präexistentielle Schauung der Idee derSchönheit erinnert, so ergreift das Motiv der vorirdischenExistenz und ihrer idealen Bedeutung nun das Individuum. […]Die Idee der allgemeinen Schönheit überhaupt ist durch dieIdee der Einzelpersönlichkeit ersetzt, es istindividualisierter Platonismus, der in der ein für allemaldargebotenen, sozusagen metaphysisch starren Form dieabschließende Wahrheit erblickt. Diese zeitlose Form, soleidenschaftlich ihre Einzigartigkeit in einem empirischrealen Bezirk betont werden mag, kann es prinzipiell garnicht ablehnen, sich mehrfach zu verwirklichen, mit anderendenselben Stil zu teilen, einen Typus zu bilden. Aber gegenjede soziologische Einzigartigkeit wie gegen die abstrakteAllgemeinheit ist die Rembrandtsche Individualitätgleichgültig, weil die Richtung, von der her sie dieErscheinung fasst, im Prinzip eine andere ist: nicht vonihrer Form, sondern von ihrem Leben her.73

73 Ebd., S. 114 f.33

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Diese Lebensperspektive der Kunst Rembrandts zeigt sich für

Simmel an dem spezifischen Blick der in den Porträts

repräsentierten Figuren. Im Unterschied zu dem Blick, der nur

zu dem Ding führt, das er gerade „ansieht und an dem er

sozusagen wieder abprallt, um wieder zu sich zurückzukehren“,

zeige sich „schon in dem Portrait des Geistlichen in der

Carstanjenschen Sammlung, beim Bruyningh, und den vielen

Titusbildern, und vor allem an den Selbstportraits“ ein Blick,

der „zwar jeweils einen Punkt“ zu fixieren scheint, der aber

zugleich etwas sehe, „was sich nicht fixieren läßt.“74 Diese

„lebendige Kraft des Blickes“75, der vielleicht eine

Veranschaulichung eben dieser über das Jetzt hinausblickenden

Intuition darstellt, erscheint so, „als ob [er] in der durch

das Objekt festgelegten Richtung nicht unterkäme, ja überhaupt

nicht in irgendeiner Richtung, sondern nur seine schlechthin

unräumliche, an kein bestimmtes Etwas anzuheftende Intensität

verkündete.“76 Diesem Blick, so spekuliert Simmel, ist das

Jenseits einer himmlischen Ordnung bzw. eines Platonischen

Ideenkosmos‘ verstellt. Es ist der Blick, der über sich selbst

und das Objekt hinwegschauen kann, aber zugleich in der

Immanenz verharrt. Er symbolisiert eine „immanente

Transzendenz“77, wie Simmel sich ausdrückt.

III Christologie ohne Gott

74 Ebd., S. 127.75 Ebd., S. 126.76 Ebd.77 Ebd., S. 127.

34

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Es ist nun diese immanente Transzendenz, von der her Simmel

offenbar die spezifische Religiosität von Rembrandts Kunst zu

beschreiben unternimmt. Es überrascht nicht, wenn er in seiner

grundsätzlichen Unterscheidung zwischen einer objektiven Form

der Religion als Kirche, Kult und Gesetz und einer Religion,

die als „inneres Leben des Subjekts“ auftritt, Rembrandts

Religiosität im Sinne der letzteren als eine in der

Innerlichkeit verankerte „Frömmigkeit“ definiert.

All seine religiösen Bilder, Radierungen, Zeichnungen habennur ein einziges Thema: den religiösen Menschen. DieGegenstände des Glaubens macht er nicht sichtbar, und wo erJesus darstellt, hat er nie den Charakter der transzendentenRealität, sondern empirisch menschlicher, den liebenden undden lehrenden, den in Gethsemane verzweifelnden und denleidenden.78

Leben und Tod werden in Simmels Deutung der Kunst Rembrandts

zum Paradigma eben der neuen Metaphysik des Lebens bzw. der

Temporalität des Individuums, in der mit der zeitlosen

Idealität der Renaissance auch die transzendente Idealität der

göttlichen Welt vollends überwunden wird. Es handelt sich also

um eine Christologie, die, vollkommen verinnerlicht, nicht aus

einer transzendenten Ordnung sich legitimiert, sondern ganz aus

der ethischen Praxis des Alltags. So sehr ist die Christologie

hier für Simmel Modell der zeitlichen Existenz geworden, daß

sie nicht nur jede abstrakte Religion, zumal die Religion des

Gesetzes, aufhebt, sondern auch in der Praxis des Alltags auch

weitergelebt werden würde, wenn – wie Simmel betont – „kein

Gott existierte oder geglaubt würde“79. Damit steht die an

78 Ebd., S. 144. Vgl. Georg Simmel, Religion, in: GSG 10, Georg Simmel, Die Persönlickeit Gottes, in: GSG 14, Georg Simmel, Zur Soziologie der Religion, in: GSG 5. Liebersohn, Fate and Utopia; Krech, Georg Simmels Religionstheorie. 79 Simmel, Religion, S. 163.

35

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Rembrandt entfaltete Christologie nicht nur für eine zuletzt

ethisch begründete Lebenspraxis des Individuums, sondern für

eine Kultur an der Schwelle zur vollendeten Säkularisation, die

– und das ist hier das wahre Paradox – nichts anderes ist, als

eine vollkommen verinnerlichte Religionskultur. Gilt nun diese

Form eines restlos verinnerlichten Christentums, wie es Simmel

an Rembrandt erkennt, prinzipiell als die Stufe der Erlösung

selbst, so besteht das nächste Paradox in der Diskrepanz

zwischen dieser ganz im Geiste lebenden und handelnden Gemeinde

der Christen und der unerlösten Welt. Leiden, Schmerz, Armut

und Tod sind nach wie vor das Signum des Lebens. Sie gehören

zum Alltag und zur Lebenswelt all dieser individuellen

Gestalten, die Rembrandt festhält.

Es scheint, als ersetze Simmel also in letzter Instanz die

Platonische Idee des Menschen durch die christologische Form

des Menschen, die gleichsam die ethische Personifizierung der

Lebensform als Tod für den anderen darstellt, um diese Idee des

christlichen Lebens aus der Perspektive des Rembrandtschen

Individualismus nun ihrerseits noch einmal zu kritisieren.

Christus ist hier ganz Mensch geworden, und als solcher stellt

er das individualisierte Formgesetz der Temporalität des

Individuums dar. Der ganz humanisierte Christus steht für das

Leiden des Individuums und seine Lebenstragik, aber vor allem

für das Mitleiden, die Empathie und die Liebe, in der das Leben

über die Selbsttranszendenz hinaus auch immer das eigene Ich

zum anderen hin überschreitet, diesen also nicht nur in seinem

Für-sich-Sein anerkennt, sondern ihm solidarisch beisteht.

Dieser andere – Rembrandt hat ihn in der Gestalt des Bettlers,

Proletariers, Juden und Schwarzen gemalt – lebt als

36

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

individuierte Gestalt das eigene Schicksal in einer Welt ohne

Erlösung, aber in einer Welt der christlichen Gemeinschaft, die

Simmel am Modell der Rembrandtschen Kunst rekonstruiert.

An die Stelle der Lehre vom säkularisierten Gottmenschen bei

Hegel, der für die immer wieder in Tod und Auferstehung sich

wiederholende absolute Bewußtwerdung steht, tritt somit in

Simmels Rembrandt der ganz menschliche Christus, dem das

Absolute verschlossen ist, der aber gerade deswegen nicht nur

in der „jemeinigen“ Individualität verharrt, sondern offen für

die Individualität des anderen wird. Simmel hat also auch hier

das Schema der Hegelianischen Konstruktion existentiell

radikalisiert. Da, wo Hegel in seiner Ästhetik auf die Epoche

der griechischen Vollendung des Schönen in einem zeitlosen

Wesen die moderne christliche Kunst mit ihrer Konzentration auf

Zeitlichkeit, Leiden und Tod folgen läßt, um die Kunst zuletzt

in ihrem absoluten Begriff aufzuheben und damit tatsächlich zu

verabschieden, da geht es Simmel um eine Hegel vergleichbare

Konkretion philosophischen Denkens am ästhetischen Modell, für

die die Christologie eine zentrale Rolle spielt. Doch – und das

ist das Entscheidende – deren ethisches Apriori, die

Individualität, verbietet jede Totalisierung und Subsumtion

unter den Begriff. Die in der Einmaligkeit des Porträts sich

offenbarende Einzigartigkeit und „Unendlichkeit“ des

Individuellen widersteht der „Totalität“ von Hegels

Seinsbegriff genau da, wo deren modellhafte Transformation in

die Subjektivität im absoluten Begriff zu Ende kommen soll.

Damit bezeichnet der individualisierte Christus gleichsam auch

schon die Erlösung von der absoluten Metaphysik Hegels, die

Christus zum Symbol des vollendeten Subjekts und der

37

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

triumphierenden Menschheit erhebt. Simmel entläßt den Christus

wieder in die Welt des Leidens, in die unerlöste Welt, weist

aber zugleich, am Beispiel Rembrandts, auf die Richtung, von

der her, wenn überhaupt, das Licht der Erlösung kommen kann:

aus der Einsicht in den Sinn der Selbsttranszendenz als

Transzendenz zum anderen hin.

IV Zum Schluß: Paulus als Paradigma

Simmels ästhetische Überlegung zu der temporalen Individualität

der Rembrandtschen Menschen kulminiert in dem Bild von Christi

Auferstehung:

Es gibt ein Bild von Rembrandt, in dem dies alles zu einempositiven Ausdruck gelangt: der Auferstehung in München. ImVordergrunde taumeln die Kriegsknechte von der gehobenenGrabplatte herunter: das ganze sinnlose, teils gewalttätige,teils lächerliche Chaos des Irdischen: Darüber der Engel: ineiner Flut unirdischen Glanzes, als hätte es die Tür desHimmels hinter sich aufgelassen, aus der ihm Gloriennachstürzen: Und nun ganz in der Ecke, fast nur schattenhaft,wie aus der Ferne, hebt sich der Kopf Jesu mit schwererkennbarem Ausdruck: und auf einmal wissen wir: hier ist dieSeele, vor deren blassem, leidendem, noch von der Todesstarrehalb gelähmtem Leben jene Erde und jener Himmel verbleichenund nichtig werden.80

Wenn Simmel in dieser Christusdarstellung Rembrandts gleichsam

den bildhaften Ausdruck von dessen ästhetischer Ethik des

Individuellen erkennt, so scheint doch im Sinne Simmels selber

ein ganz anderes Bild als Repräsentant für diese Ästhetik sehr

viel schlüssiger zu sein. Wenn nämlich Simmels Denken an

Rembrandt die Metaphysik von Leben und Form bzw. Individuum und

80 Simmel, Rembrandt, S. 168.38

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Gesetz rekonstruiert, die er als eine notwendige dialektische

Spannung auffaßt, so erscheint Rembrandts Kunst allerdings ganz

im Lichte dieser Spannung auf religiöser Ebene. Hier gerade

betont Simmel die Rolle des Gesetzes für eine nur äußerliche

Form der Religion gegenüber einer innerlichen, in der das

Gesetz im Geist überwunden bzw. vollkommen verinnerlicht ist.

Ohne es zu merken, beschwört Simmel in seiner ethisch-

ästhetischen Reflexion über den Status des Gesetzes, in seiner

Geschichte der Idee des Schönen eben die geschichtliche

Auseinandersetzung, in der nunmehr die Geschichte der Religion

eine entscheidende Zäsur erlitt, nämlich in der

Auseinandersetzung des Pharisäers Saulus mit dem halachischen

Gesetz des Judentums, die zu dessen christlicher Berufung und

damit zur Entstehung des Christentums führt. Es ist die aus

jüdischer Sicht häretische Kritik am Gesetz durch Paulus, in

der die für Simmel zentrale Problematik des Gesetzes zum ersten

Mal mit all ihren existentiellen Implikationen thematisch wird.

Das Ich begehrt hier im Namen seiner Sehnsucht nach Erlösung

durch die Liebe gegen das Diktat des Gesetzes auf und

konstruiert eine ideale Gemeinschaft derer im apostolischen

Geiste – in einer vorläufig durchaus noch unerlösten Welt. Es

dürfte mehr als nur ein Übersehen sein, wenn Simmel, der

immerhin einer jüdischen Familie entstammt und selbst schon als

Christ geboren wurde, eben das Porträt Rembrandts nicht

wahrnimmt, in dem der alternde Künstler sich selbst als Paulus

darstellt. In dieser rätselhaften Selbstdarstellung wird

offenbar die Problematik des Individuums gegenüber dem Gesetz,

die laut Simmel die ästhetische, ethische und theologische

Dimension der Rembrandtschen Kunst im Ganzen bestimmt, in ihrer

39

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

überindividuellen Form durch den Künstler selbst

personifiziert.81 Er tritt scheinbar hinter dieser Maske als

Individuum wieder zurück, wie er auch mit ihr erst als der

erscheint, als den er sich vermutlich tatsächlich sehen wollte.

81 Das Thema „Paulus und die Moderne“ ist, so weit ich sehe, noch nicht umfassend thematisiert worden. Es wird durch Texte wie Karl Barth, Der Römerbrief, München 1923, Martin Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens (zuerst 1920/21) Gesamtausgabe, Bd. 60: Vorlesungen 1919–1944, hrsg. von Frankfurt a. M. 1995, Erik Peterson, Paulus – Der Brief an die Römer (1924–1948),in: ders., Ausgewählte Schriften, Bd. 6, hrsg. von Barbara Nichtweiß, Würzburg 1997, Friedrich Gogarten, Politische Ethik, Versuch einer Grundlegung, Jena 1932, aber auch etwa bei Gershom Scholem, „Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien im Judentum“, in: ders., Über einige Grundbegiffe des Judentums, Frankfurt a. M. 1970 außerordentlich akut. Jakob Taubes, Die politische Theologie des Paulus, München 1995, greift die politische Brisanz von Paulus für die Moderne auf, die auch bei Alain Badiou, St. Paul, Paris 1997 und Giorgio Agamben, Le Temps Qui Reste, immer mehr zum Insignum wahrer Modernewird.

40

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Eine politisch-theologische Archäologie der modernen

Subjektivität?Anmerkungen zu Cassirers „Phänomenologie des philosophischen

Geistes“

I Vorüberlegung

Für Hegel ist der Staat nicht nur der Repräsentant, sonderngeradezu die Inkarnation des Weltgeistes. Während Augustinusdie civitas terrena als Verzerrung und Entstellung dercivitas divina betrachtet hatte, sah Hegel in dieser civitasterrena „die göttliche Idee, wie sie auf Erden existiert“.82

Cassirer sieht in Hegels Apotheose der Subjektivität im Staat

die erste metaphysische Grundstruktur des politischen Mythos,

der zur Zerstörung der modernen Kultur im

nationalsozialistischen Reich führte. In Ludwig Klages’

vitalistischer Metaphysik des Lebens83, die Kultur und

Rationalität einer unmittelbaren Intuition des absoluten Lebens

opfern will, erkennt er, zumindest implizit, die zweite

mythologische Voraussetzung für den totalitären Staat. Beide

Apotheosen der Subjektivität bilden die Grundlage für die

eigentliche politische Theologie des Faschismus.

Diese Verabsolutierungen der Subjektivität – einmal als Geist

und einmal als Leben – bilden eine epochale Antithetik, die

Cassirer als komplementäre Formen desselben Grundproblems der

Subjektivität interpretiert, nämlich als Hypostasierung eines

82 Ernst Cassirer, Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens, Frankfurt a. M. 1985 (1945), S. 342 f.83 Ludwig Klages, Vom Kosmogonischen Eros, Jena 1930; ders., Der Geist als Widersacher der Seele.

32

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

der notwendig aufeinander bezogenen Momente von Leben und Form,

die an der Subjektivität hervortreten und zu einer Liquidierung

von individueller Subjektivität führen muß.

Von hierher läßt sich verstehen, warum Cassirer das Problem

der Subjektivität im Sinne ihrer epochalen Konstellation und

Krise auf dem Hintergrund der Lebensphilosophie neu begründen

will, und zwar im Ausgang von Georg Simmels späterer Metaphysik

des Lebens, in der Leben und Form im Sinne einer unendlichen

Dialektik der „immanenten Transzendenz“ und des „wissenden

Nichtwissens“ vermittelt werden sollen.84

Das Telos der Gefahr ihrer Aufhebung am Ende der Moderne

zwingt allerdings auch zu einer Rekonstruktion der Genese der

individuellen Subjektivität in ihrem Ursprung im

Spätmittelalter. Es geht Cassirer nicht nur um eine

systematische Begründung der Subjektivität, sondern zugleich um

ihre historische Genealogie oder Archäologie, von der her die

beiden Hypostasierungen vermieden werden sollen. Nicht zufällig

setzt damit Cassirers eigene „Phänomenologie des

philosophischen Geistes“85 bei der Auseinandersetzung der spät-

mittelalterlichen Philosophie mit eben dem Problem der

Christologie an. Am Beispiel dieser Adoption durch Nikolaus

84 Ernst Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen. Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. 1, hrsg. v. John Michael Krois, Hamburg 1995, S. 9 ff. Cassirer bezieht sich hier vor allem auf Simmel, Lebensanschauung. 85 Ernst Cassirer, Philosophie der Aufklärung, S. VII. Im Vorwort erklärt Cassirerdas eigene historische Verfahren seiner Rekonstruktion der Geschichte des Subjekts: „Ich habe in früheren Schriften, insbesondere in meiner Schrift ‚Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance‘ und in der Schrift über ‚Die Platonische Renaissance in England‘ andere Phasen dieser großen Gesamtbewegung [der Entwicklung der Subjektivität] darzustellen und in ihrer Gesamtbewegung zu würdigen versucht […]. Eine solche Betrachtungsweise will in der Entwicklung der philosophischen Doktrinen undSysteme zugleich eine ‚Phänomenologie des philosophischen Geistes‘ zu gebensuchen.“

33

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Cusanus86 entwirft Cassirer einen Begriff von Subjektivität,

der ihre spätmoderne Situation bei Georg Simmel mit ihrer

prämodernen Genese als „immanente Transzendenz“, „wissendes

Nichtwissen“ und „perspektivischen Bezug“ (zur absoluten

coincidentia oppositorum) vermitteln kann. Damit aber erweist sich

Cusanus’ an der Christologie orientierte Philosophie nicht nur

als das Modell für Cassirers Archäologie und Metaphysik des

Subjekts, sondern sein Denken soll offenbar einen alternativen

Säkularisationsprozeß der Christologie einleiten, der als eine

einzige Gegenstrategie zur politischen Theologie zu verstehen

ist, wie sie sich aus Metaphysik (Hegel) und Mythologie

(Klages, Spengler) entwickelt hat. Die offene Christologie des

Subjekts, die das Absolute mit dem Realen „nur“ im unendlichen

geschichtlichen Prozeß vermitteln kann, wird in Hinsicht auf

die mögliche Identifizierung des konkreten Realen mit dem

Absoluten, mithin gegen die Idee einer vollen Inkarnation des

Subjekts in Sein, Geschichte oder Staat, entworfen.

Am Beispiel der in Individuum und Kosmos skizzierten Genealogie

des Subjekts87 gehen folgende Überlegungen also von der These

aus, daß Cassirer der durch die Mythologie des Lebens gegebenen

Möglichkeit einer Liquidierung des Subjekts durch die

Rekonstruktion der theologischen Genese dieses Subjekts

zuvorzukommen sucht, indem er zeigt, wie dieses selbst schon

vor die Möglichkeit eines Verschwindens gestellt ist. Gegen die

Suspension von jeder substantiell individuellen Subjektivität

im Averroismus des Mittelalters behaupten nämlich Thomas von

Aquin und Nikolaus Cusanus die Rettung dieser Substantialität

86 Ernst Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Darmstadt 1994 (1924), S. 7–77.87 Ebd.

34

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

im Namen der Christologie. Mit anderen Worten: Der eigentlichen

Genese des Subjekts geht bei Cassirer gleichsam schon immer

dessen Tod voraus. Mit Nikolaus Cusanus, so kann man also

sagen, beruft sich Cassirer auf die christologische Dimension

dieser „posttraumatischen“ Auferstehung des Subjekts, um

Subjektivtität „therapeutisch“ gleichsam aus ihrer modernen

Krise für eben die Moderne zu retten.

Nach dem Untergang der Kultur 1933 scheint Cassirer

allerdings, wie auch immer ansatzweise, einen Perspektivwechsel

ins Auge zu fassen, indem er nunmehr offenbar die Krise der

Kultur nicht mehr aus der Perspektive der säkularisierten

Christologie, sondern als ein weiteres Kapitel in der genuin

jüdischen Weltgeschichte deutet. In dieser Geschichte hat das

Judentum, angesichts der totalen Katastrophe, seine Mission

einer ethisch fundierten Kritik der politischen Mythologie (und

Idolatrie der Macht) bewahren können.88 Am Horizont zeichnet

sich damit für Cassirer eine Adoption der politisch-

theologischen Grundposition von Hermann Cohen ab, wie dieser

sie in Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums formuliert hat:

Das ethische Subjekt der Kultur erweist sich in seiner letzten,

absoluten Krise, in seiner auf den Ursprung bezogenen

Zukünftigkeit, als prophetisch-messianisches Subjekt.89

88 Vgl. Ernst Cassirer, „Judaism and the Modern Political Myths“ (1944), in:ders., Symbol, Myth and Culture, S. 233–241.89 Prinzipiell begleitet Hermann Cohens Denken zumindest Cassirers Verständnis der jüdischen Kulturwissenschaften, wie es sich etwa an seiner Rede über „Die Idee der Religion bei Lessing und Mendelsohn“ zeigt, die Cassirer in der Festgabe zum zehnjährigen Bestehen der Akademie für die Wissenschaft des Judentums, 1914–1924, Berlin 1924 veröffentlicht, wo Cassirer auf die enge Beziehung zwischen Hermann Cohen und Lessing hinweist: „Es bedarf nach den vorangehenden Betrachtungen keines Hinweises darauf, wie nahe verwandt diese Synthese, dieser Gedanke der Vernunftreligion als Zukunftsprinzip demGeiste ist, in dem Lessings ‚Erziehung des Menschengeschlechts‘ verfaßt ist“, S. 41. Vgl. auch Heinz Paetzold, Ernst Cassirer. Von Marburg nach New York. Eine

35

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

II Der Ursprung der Subjektivität aus der Christologie (Thomas

und Petrarca)

„Der christliche Glaube zum mindesten kann von dem Prinzip des

Subjektivismus, von dem Prinzip der Selbständigkeit der

Einzelseele nicht lassen, ohne damit seinen eigenen religiösen

Grundvoraussetzungen untreu zu werden.“90 So formuliert Cassirer

die Grundvoraussetzung der mittelalterlichen aristotelischen

Philosophie, die sich in Italien mit ihrer dominanten

Interpretation durch Averroes auseinandersetzen muß, insofern

als dieser die Existenz der individuellen Einzelseele leugne.

In Cassirers Historiographie des Subjekts vertritt Thomas von

Aquin gegenüber der radikalen averroistischen Lehre vom

göttlichen Intellekt das Recht der substantiellen Existenz der

Einzelseele.

Thomas von Aquinas hat ihrer [der averroistischen Lehre]Widerlegung eine eigene Schrift „De unitate intellectuscontra Averroistas“ gewidmet. Der Grundgedanke dieser Schriftbesteht darin, daß die Averroistische These das Phänomen desDenkens, das sie zu erklären vorgibt, in Wahrheit wiedervernichtet. Was der Intellekt an sich […] ist, diese Frageläßt sich nicht stellen, ohne daß wir die Funktion desDenkens ausüben. Diese Funktion selbst aber kennen wir

philosophische Biographie, Darmstadt 1995, hier vor allem das Kapitel „Aspekte von Cassirers Auseinandersetzung mit dem ‚Jüdischen‘“ mit der Rekonstruktion von Cassirers Reaktion auf Bruno Bauchs Angriff auf seinen Lehrer Hermann Cohen, in dem er gegen Bauchs Strategie der Abgrenzung eine „kosmopolitische Lesart der deutschen Kultur“ vorschlägt. Im ganzen wird man Paetzolds Feststellung, „daß der Cassirer der Weimarer Republik trotz des latenten und später offenen Antisemitismus keine explizite Hinwendung zu den Quellen des Judentums vollzieht“, nur zustimmen können.90 Vgl. Cassirer, Individuum und Kosmos, S. 134.

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Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

empirisch nicht anders als in individueller Form, in derBeziehung auf ein denkendes Selbst.91

Während bei Averroes „das wahrhafte Subjekt des Denkens nicht

das Individuum, nicht das Selbst […], sondern […] ein allen

Denkenden gemeinsames unpersönliches substantielles Sein“ ist,

„dessen Verbindung mit dem einzelnen Ich eine äußere und

zufällige“92 bleibt, fordere die christliche Selbstgewißheit,

daß die beiden Glieder des religiösen Grundverhältnisses, daß

Gott und Ich in ihrer Selbständigkeit erhalten bleiben.

Verfolgt man nun Cassirers Darstellung, so handelt es sich

bei dem Averroismus gleichsam um eine prämoderne Bedrohung für

das Prinzip individueller und substantieller Subjektivität, die

allerdings erst durch diese Bedrohung zu einer Besinnung auf

die für sie selbst konstitutiven Bedingungen gezwungen wird. Es

ist also die Konfrontation zwischen Averroismus und

Christologie, die in der Philosophie von Thomas ausgetragen und

zu einer Entscheidung für die Konstitution individueller

Subjektivität gebracht wird. Es interessiert uns hier nicht, ob

diese Darstellung der geschichtlichen Wirklichkeit entspricht

oder ob Cassirers Rekonstruktion des Averroismus „richtig“ ist.

Es geht uns hier „nur“ um die immanente Logik seiner in

Ansätzen skizzierten Archäologie des Subjekts. Für diese

Archäologie wird allerdings festzuhalten sein, daß eben die

Christologie zu einem wesentlichen Moment der Konstitution von

Subjektivität wird.

Das gilt im Sinne Cassirers nicht nur für die eigentliche

christliche Scholastik, sondern auch für die Anfänge des

91 Ebd.92 Ebd.

37

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

humanistischen Persönlichkeitsideals in der Renaissance, wie

sie sich in Petrarcas Dichtungsideal artikulieren.

Es sind die Männer des neuen humanistischen Bildungsidealsund des neuen Persönlichkeitsideals der Renaissance, diezuerst zum Kampf gegen den Averroismus aufrufen. Petrarcageht auch auf diesem Weg voran. […] [H]ier ist es einegeniale Persönlichkeit, die sich aus dem Recht ihresursprünglichen Lebensgefühls heraus gegen Folgerungen, diedieses Recht beschränken, […] auflehnt. Der Künstler undVirtuose der Individualität […] setzt sich gegen einePhilosophie zur Wehr, für die alle Individualität etwasschlechthin Zufälliges, etwas rein Akzidentelles bedeutet.93

Neben das theologische tritt das ästhetische Prinzip

individueller Subjektivität. Auch hier gelangt die

Subjektivität über die Bedrohung ihres möglichen Verschwindens

zu einer bestimmten Position ihrer Individualität. Zugleich

betont Cassirers telegraphische Rekonstruktion hier ein

Abhängigkeitsverhältnis zwischen der theologischen

Subjektivität und der ästhetischen Subjektivität. „Das lyrische

Genie der Individualität entzündet sich an dem religiösen Genie

der Individualität.“94 Mit anderen Worten: Die Urstiftung des

Prinzips der Subjektivität ist theologisch-philosophisch: Sie

entspringt der Notwendigkeit, die Christologie mit der

Metaphysik zu versöhnen. Die ästhetische Subjektivität ist

schon eine Transformation dieser christologisch begründeten

Individualität im Sinne ihrer poetisch-kreativen Kompetenz. Ist

das endliche und geschaffene Subjekt an sich selbst ästhetisch

und schöpferisch, so findet es in der Christologie die

phänomenologische Struktur vor, die nicht nur seine

Individualität, sondern die Möglichkeit seiner

93 Ebd., S. 136.94 Ebd.

38

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

„Selbsttranszendenz“ begründet, die Möglichkeit also, sich

selbst je von neuem selbst zu schaffen, also sich zu

überschreiten, zu negieren und neu zu konstituieren.

Über die Genese von Subjektivität wird ihr selbst – Cassirers

Rekonstruktion zufolge – die Möglichkeit der Selbsttranszendenz

als ihre Existenzbedingung durchsichtig, insofern die

Urstiftung der Subjektivität aus der Möglichkeit ihrer totalen

Negation hervorgeht. Damit erhält die vermeintliche

„Substantialität“ der Subjektivität ihre erste einschneidende

Korrektur im Sinne eines „Seins“, das eben darin besteht, sich

selbst zu überschreiten, also zu „werden“. Die Totalität der

Negation von Subjektivität wird so entschärft, daß sie als

Selbstnegation aufgefaßt werden kann, die zu einem

„transsubstantialen“ Verständnis von Subjektivität hinführt.

Ist Subjektivität ohne die Christologie von Tod und

Auferstehung in dieser Rekonstruktion nicht denkbar, so

bedeutete das im Sinne Cassirers immer schon, daß eine totale

Negation von Subjektivität gar nicht möglich ist. Eine jede

Totalnegation der individuellen Subjektivität – ob sie nun von

Averroes, Meister Eckhardt oder, wie später, von Ludwig Klages

ausgeht – ist Negation durch das denkende Subjekt selbst, das

damit nur seine Subjektivität, spezifischer: das Vermögen von

Subjektivität, sich in Frage zu stellen, unter Beweis stellt.

III Die Fortführung von Christologie und Subjektivität bei

Nikolaus Cusanus

39

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Cassirer versucht, diese skizzenhaft entworfenen genetischen

Zusammenhänge nun aus dem Denken von Nikolaus Cusanus

abzuleiten bzw. weiterzuverfolgen und zu vertiefen. Cusanus

fungiert in Cassirers Archäologie als der Vordenker der

Moderne, „der das Ganze ihrer Grundprobleme von einem

methodischen Prinzip aus erfaßt“95. Eben damit werde seine

Philosophie zunächst der Hegelschen Forderung gerecht, daß sie

nämlich „einen einfachen Brennpunkt darstellt, in dem die

verschiedenartigsten Strahlen sich sammeln“96. Es wird zu

zeigen sein, daß die Mystik des Cusanus in Cassirers kleiner

Phänomenologie des Subjekts nicht nur eine „Hegelsche

Forderung“ nach Vereinigung der Tendenzen erfüllt, sondern

zugleich zu einem Gegenmodell der Hegelschen Subjekttheorie

bzw. zu einem Modell für deren Erweiterung wird.

Die Christologie des Cusanus ist das Paradigma eines

Einheitsdenkens auf der Grundlage der Subjektivität, ohne daß

es zu der Konstruktion eines absoluten Wissens und damit zu

einer Selbstvollendung dieses Subjekts im Begriff oder zu einer

Selbstauflösung des Subjekts in der mystischen Selbsterfahrung

jenseits aller Begrifflichkeit wie bei Meister Eckhardt kommen

könnte. Cusanus’ Lehre vom christologischen Subjekt steht für

die bewußte Orientierung zwischen diesen beiden Möglichkeiten

des absoluten Wissens und der mystischen Selbstaufhebung.

95 Ebd., S. 7. Auf den Zusammenhang zwischen Cassirer und Blumenberg ist hingewiesen worden. Vgl. etwa Franz Josef Wetz, Hans Blumenberg zur Einführung, Hamburg 2004, S. 96 ff. Bei der zentralen Rolle, die Cassirer Cusanus bei der Konstitution der modernen Subjektivität zuweist, bietet sich ein Vergleich mit Hans Blumenbergs Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1996 unmittelbar an, zumal Blumenberg mit Cusanus gerade den Prozeß konstruiert, der zu einer unbedingten Loslösung der Moderne von jeder Theologie führen soll.96 Cassirer, Individuum und Kosmos, S. 7.

40

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Dabei weist Cassirer auf die Bedeutung der Mystik Eckhardts

für Cusanus’ Lehre von der Selbsttranszendenz des

christologischen Subjekts hin.97 Wenn Meister Eckhardt dabei

allerdings die mystische Selbsterfahrung der averroistische

Lehre von der Akzidentalität der Einzelseele wieder

aktualisiert, so wird Cusanus diese mystische Selbsterfahrung

im Sinne der Selbsttranszendenz und Selbstüberschreitung des

christologischen Subjekts übernehmen, aber zugleich rational

transformieren. Wo Eckhardt von einer mystischen

Selbsteinbildung in Gott spricht, faßt Cusanus eine durch den

Begriff zu erarbeitende Selbstüberschreitung ins Auge, die nur

die Kluft zwischen dem Urprinzip Gott und dem Prinzip der

Sohnschaft Gottes in Christus von neuem aktualisiert.

Man könnte also sagen, daß mit Eckhardts Mystik die

Selbsttranszendenz des Subjekts erst eigentlich fundiert werden

kann, zugleich aber die negative Möglichkeit einer Liquidation

des Subjekts Einzug in die Tradition des westlichen

Subjektdenkens hält. Bei Eckhardt heißt es:

Swenne ich predige, so pflege ich ze sprechene vonabgeschiedenheit und das der mensch ledig werde sin selbesund aller dinge, ze dem anderen male doz man wider ingebildetwerde in daz einvaltige guot daz got ist.98

Nicht also in einer solchen mystischen Ekstase der

Selbsteinbildung im Absoluten dokumentiert sich das, was

Cusanus filiatio nennt, die Gottessohnschaft, sondern in der visio

intellectualis besteht das Wesen der Selbsterhebung des Geistes,

die ihrerseits sowohl „eine in ihm selbst liegende,

97 Ebd., S. 8.98 Vgl. Reiner Manstetten, Esse est Deus. Meister Eckharts christologische Versöhnung von Philosophie und Religion und ihre Ursprünge in der Tradition des Abendlandes, Freiburg/München 1993, S. 87.

41

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

ursprüngliche Kluft“ zwischen Gott und Mensch als auch „deren

Entfaltung in einer kontinuierlichen Denkarbeit voraus[-

setzt]“99. Cusanus ersetzt damit die mystische Vereinigung

nicht durch eine rationale Theologie, die das Absolute im

Begriff erschließt, sondern er geht davon aus, daß das Absolute

als Ziel aller Selbstüberschreitung der intuitiven wie

diskursiven Erfahrung unerreichbar bleibt, das heißt in der

unendlichen Annäherung von neuem sich entzieht.

Das höchste Wissen ist nicht in dem Sinne als unerreichbaranzusehen, als wäre uns jeder Zugang zu ihm versperrt, nochdürfen wir es jemals erreicht und wirklich erfaßt wähnen,vielmehr ist es derart zu denken, daß wir uns ihm beständigannähern können, während es dennoch in seiner absolutenWesenheit dauernd unzugänglich bleibt.100

Die rationale Mystik von Cusanus definiert in der visio

intellectualis eine Schau des Absoluten, in der alle

Gegensätzlichkeiten des endlichen Wissens aufgehoben sind,

weil, wie Cassirer schreibt: „Wir in ihr über alle empirischen

Unterschiede des Seins und über alle seine bloß begrifflichen

Trennungen hinweg in seinen einfachen Ursprung […], der vor

aller Trennung und allem Gegensatz liegt, uns versetzt

sehen.“101 In dieser visio intellectualis erfüllt sich die filiatio

(Gottessohnschaft), indem sie die mystische Intention auf die

absolute Erfahrung mit dem scholastischen Rationalismus

vermittelt, und zwar so, daß über das Wesen des Begriffs die

wesentliche Differenz zwischen endlichem Wissen und unendlichem

Nichtwissen gegeben ist. Indem das Absolute jede begriffliche

Erkenntnis überschreitet, setzt die begriffliche Erkenntnis ein

99 Cassirer, Individuum und Kosmos, S. 15.100 Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neuern Zeit,Bd. I, Darmstadt 1994 (1906), S. 29 f. 101 Cassirer, Individuum und Kosmos, S. 14.

42

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Nichtwissen voraus, das allerdings aus der Perspektive dieser

begrifflichen Erkenntnis als Einheit aller begrifflich

notwendig mitgesetzten Gegensätze gedacht werden muß.

Gott ist nicht erkennbar, sondern er ist und bleibt die reine

Andersheit, der andere, das Gute „jenseits des Seins“. Zugleich

aber „weiß“ der christologische amor Dei intellectualis Gott als den

Ort, an dem alle Andersheit und Gegensätzlichkeit in einer

coincidentia oppositorum aufgehoben sind. Es ist somit die docta

ignorantia, das nichtwissende Wissen bzw. das wissende

Nichtwissen, in dem sich das Individuum in seiner vollen

Humanität für Cassirer darstellt, nämlich als nie zu

vollendende Selbstüberschreitung im Begriff, die in solcher

Unvollkommenheit der anderen Selbstüberschreitungen bedarf. In

einer solchen doppelten Bezogenheit auf anderes, die absolute

Alterität, in der alle Andersheit verschwindet und die

Alterität des anderen Menschen notwendig wird, entdeckt sich

das Subjekt – so Cassirer – als Geist und Freiheit.

Das absolut andere ermöglicht die Toleranz gegenüber dem

anderen Individuum.

Dieser Andersheit, die in der Art und im Wesen dermenschlichen Erkenntnis selbst gegründet ist, kann sich keineeinzelne Glaubensform entziehen. Jetzt steht also nicht mehreiner allgemeingültigen und einer allgemein verbindlichenOrthodoxie eine Fülle blosser Heterodoxien gegenüber, sonderndie Andersheit, das heteron ist als das Fundament der doxaselbst erkannt. Die Wahrheit, die in ihrem Ansich ungreifbarund unfaßbar bleibt, kann nur in ihrer Andersheit gewußtwerden. […] Von dieser Grundansicht aus ergibt sich fürCusanus eine wahrhaftig großartige Toleranz, die alles andereals Indifferenz ist. Denn die Mehrheit der Glaubensformenwird jetzt nicht als ein bloß empirisches Nebeneinander

43

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

geduldet, sondern sie wird spekulativ gefordert underkenntnistheoretisch begründet.102

Noch in ihrer radikalsten Gegensätzlichkeit verweisen so die

verschiedenen Formen von Religion auf den einen Ursprung in

Gott, ohne daß ein besonderes Wissen den Schritt zur Aufhebung

dieser Gegensätze in einem entfalteten Begriff des Absoluten

vornehmen könnte. „Una et religio et cultus omnium intellectu

vigentium quae in omni diversitate rituum praesupponitur“,

erklärt Cusanus in seinem Traktat De pace seu concordantia fidei,

nicht um die Perspektive auf die Auflösung der Differenz der

Bräuche, Symbole und Zeichen der verschiedenen Liturgien,

sondern um die Möglichkeit einer produktiven Kommunikation

zwischen den divergierenden Hypothesen der Wahrheit zu

eröffnen, die die Andersheit als Andersheit respektiert, weil

sie selbst sich als Perspektive weiß.

Es ist dieses nichtwissende Wissen, das Cassirer in seiner

historischen Rekonstruktion gegen das absolute Wissen ausspielt102 Ebd., S. 30. Michael Bongardt, Die Fraglichkeit der Offenbarung. Ernst Cassirers Philosophie als Orientierung im Dialog der Religionen, Regensburg 2000, versucht Cassirers Denken für eben den Dialog der Religionen zu rekonstruieren, der in vieler Hinsicht bei dem für Cassirer sicher einflußreichen Cusanus vorgedacht ist, ohne daß Cassirers Rückbezug auf Cusanus hier eine Rolle spielen würde. Möglicherweise liegt die Antwort auf die Frage von Birgit Recki, „Kultur ohne Moral? Warum Ernst Cassirer trotz der Einsicht in den Primat der praktischen Vernunft keine Ethik schreiben konnte“ (in: Frede/Schmücker, Ernst Cassirers Werk und Wirkung. S. 58–78), in der Form der Konstitution von Subjektivität, die bei Cassirer von vornherein gleichsam ethisch angelegt ist – nämlich auf die Integration und Freiheit zugleich von Individualität und Alterität. Recki entwickelt dabei die möglichen Grundlagen einer Ethik Cassirers aus seinem Konzept des Symbolbegriffs und kommt der Idee einer ethischen Subjektivität durchaus sehr nahe, auch wenn sie ihr nicht genügt: „Was eine Ethik auf der Grundlage von Cassirers Kulturphilosophie an der konsequenten Entwicklung hindert, ist nicht der mangelnde Sinn für das Praktische oder ein Mangel an den praktischen Begriffen; es ist im Gegenteil die hohe praktische Appetenz: der Ausgang von der Praktizität alles Menschlichen, mit dem im Grunde alle prägnanten Äußerungen schon als Form der Selbstbestimmung begriffen sind, so daß die spezifische Differenz der moralischen Fragestellung freilich – im Ansatz steckenbleibt.“ (Ebd., S. 78)

44

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

und das die epistemologische Bedingung der Möglichkeit für eine

Ethik des anderen wird. Cassirers Archäologie des Subjekts

grenzt sich damit in dem entscheidenden Moment von Hegel ab, wo

sie zugleich am nächsten zu ihm steht. Trotz seiner Ausrichtung

auf das Absolute bleibt dieses dem Subjekt unerreichbar als das

„Gute jenseits des Seins“103. Der andere wird hier nicht einer

vermeintlichen Identität bzw. Totalität geopfert, sondern

bleibt in seiner Andersheit und Gegensätzlichkeit notwendige

Bezugsperson, die der jeweiligen individuellen Subjektivität

bedarf.

Wenn die menschliche Erkenntnis zum Nichtwissen des Absolutengelangt, so gewinnt sie hierin das Wissen eben diesesNichtwissens selbst. Sie erfaßt nicht die absolute Einheit inihrem reinen „Was“, aber sie erfaßt sich selbst in ihrerUnterscheidung von ihr, in ihrer durchgängigen „Andersheit“.Und eben diese Andersheit schließt nun eine Beziehung zudiesem negativen Pol der Erkenntnis in sich. Das Wissenkönnte sich ohne eine derartige Beziehung nicht einmal inseiner eigenen Nichtigkeit erkennen: es könnte – mit Hegel zusprechen, dessen Grundgedanken Cusanus hier mit merkwürdigerSchärfe antizipiert – die Schranke nicht setzen, wenn es

103 Vgl. Cassirer, Individuum und Kosmos, S. 21, wo Cassirer die Konstitution der Subjektivität bei Cusanus in ihrer ethischen Dimension entfaltet. „Cusanus macht mit dem Platonischen Wort, daß das Gute ‚jenseits des Seins‘liege, wieder völligen Ernst.“ Bedenkt man den Stellenwert, den diese Formel bei demselben Emmanuel Levinas einnehmen wird, der in Davos 1929 gerade Cassirer „verballhornt“, so ergibt sich von daher vielleicht eine ganz neue Perspektive auf Davos, mindestens auf Levinas. Jedenfalls ergebensich erstaunliche Parallelen zwischen Cassirers an Cusanus orientierter Geneaologie der Subjektivität aus dem anderen und dem Guten jenseits des Seins und der Ethik des anderen von Levinas, die „das Gute, in bezug auf welches das Sein selbst erscheint“, ins Zentrum stellt (vgl. das Vorwort von Totalität und Unendlichkeit, München 1993, S. 12). Ich habe weder bei Karlfried Gründer, „Cassirer und Heidegger in Davos 29“, in: Hans-Jürg Braun (Hrsg.), Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankfurt a. M.1988, noch bei Dominic Kaegi und Enno Rudolph, Cassirer – Heidegger. 70 Jahre Davoser Disputation, Hamburg 2002, einen entsprechenden Hinweis auf den Bezug zwischen Cassirers Ethik des anderen auf der Grundlage des Cusanus und der Ethik des anderen bei Levinas finden können. Handelt es sich bei Levinas umeine bewußte Selbstkorrektur oder um eine unbewußte Wiederaufnahme von Denkmotiven des einst verspotteten Humanisten?

45

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

nicht über sie im gewissen Sinne schon hinaus wäre. DasBewußtsein des Unterschieds schließt die Vermittlung desUnterschieds in sich. Aber diese Vermittlung kann wiederumnicht bedeuten, daß das Unendliche, das absolute Sein mit demendlichen empirischen Selbstbewußtsein irgendein Verhältniseingeht. Hier klafft nach wie vor ein Abgrund, der sich nichtüberspringen läßt. An Stelle des Menschen des empirischenSelbst muß vielmehr ein allgemeines Selbst – an Stelle desMenschen als einer individuellen Sonderexistenz muß dergeistige Gehalt der Menschheit treten. Und dieser geistiguniverselle Gehalt des Menschentums ist es, den Cusanus inChristus beschlossen sieht. Er allein ist daher die echtenatura media, die Endliches und Unendliches in Eins faßt.104

Telegraphisch faßt Cassirer hier Identität und Differenz

zwischen der Cusanischen und Hegelianischen Christologie

zusammen, wenn er diese Christologie als die Menschheit

„säkularisiert“, in der Unendliches und Endliches vermittelt

werden. Für beide Theorien der Subjektivität fungiert die

Christologie 1) als Modell für Subjektivität überhaupt, die 2)

über sich hinaus auf das Absolute bezogen ist, damit also 3)

ein dynamisches Sein darstellt, das, indem es sich

transzendiert, sich selbst negieren und positionieren kann.

Wenn dabei 4) für beide – Cusanus und Hegel – die Christologie

gerade auch in ihrer Vermittlungsfunktion zwischen Endlichkeit

und Unendlichkeit eine zentrale Rolle spielt und damit 5) zur

Metonymie der Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem wird,

so besteht Cassirer auch hier auf der radikalen Differenz

zwischen dem absoluten Bewußtsein und dem wissenden

Nichtwissen, von der her das Verhältnis von Allgemeinem und 104 Cassirer, Individuum und Kosmos, S. 41. Vgl. auch Enno Rudolph, „Eine Renaissance des Individuums. Cassirers Ausblick auf eine Kultur individueller Humanität“, in: ders., Odyssee des Individuums. Zur Geschichte eines vergessenen Problems, Stuttgart 1991. Rudolph geht es freilich vor allem um dieepistemologische Konstitution individueller Subjektivität, weniger um die Geschichte oder Ethik der Subjektivität, obwohl im Ganzen die Begründung der Individualität im eminenten Sinne ethisch ist.

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Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Besonderem nie durch ein besonderes Wissen erfaßt werden kann.

Wo also bei Hegel die Geschichte als Selbstwerdung des

absoluten Bewußtseins finalisiert wird, da können bei Cusanus

die verschiedenen Formen des Wissens, des Glaubens und des

Lebens selbst nur in ein konstellatives Ensemble treten, dessen

Struktur sich je nach der Perspektive modifizieren muß. Hier

gilt allerdings, daß alle Konjekturen bzw. Perspektiven in

dieser Struktur repräsentiert sein müssen. Die Vermittlung des

Endlichen und Unendlichen in der Idee der Menschheit

artikuliert sich nicht in einem absoluten Bewußtsein, sondern

in der Einsicht in die unendliche Variabilität und in die

(oppositionelle) Kompossibilität der Wissensformen, die die

Grundlage für die ethische Forderung nach der absoluten Würde

des Individuellen darstellt. Totalität und Unendlichkeit

verlangen keine absolute Trennung zwischen Struktur und

Individuum, sondern sie werden durch einen unendlichen

Perspektivismus integrierbar. Cassirer schreibt:

Die Einheit des menschlichen Geistes ist die Wesenheit seinerKonjekturen: mentis humanae unitas est conjecturarum suarumentitas. So wird alles einzelne Wissen bedingt und getragenvon der Einheit des Geistes und seiner Grundsätze und erhälterst in ihr festen Bestand. Die conjectura bedeutet nichtlediglich die Aufhebung des absoluten Wissens, sondern ebendarin den Gehalt und die relative Wahrheit der veränderlichenErscheinungswelt.105

Diese Idee einer durch die Christologie vorgebildeten Einheit

von Totalität und Unendlichkeit findet ihren prägnanten

Ausdruck in Cusanus’ Schrift De visione Dei, mit der Cassirer den

konstellativen Perspektivismus dieser Subjektlehre

zusammenfaßt. Hier erläutert Cusanus bekanntlich seine Lehre am

105 Vgl. Cassirer, Das Erkenntnisproblem, Bd. I, S. 29.47

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Beispiel des Selbstbildnisses von Roger van der Weyden, „das

die Eigenschaft besaß, daß es jedem Beschauer, wo immer er sich

befinden mochte, stets den Blick direkt zuzukehren schien“106.

Cassirer kommentiert das Gleichnis, indem er den Begriff der

visio intellectualis jetzt zusammenfassend definiert:

Jedes Besondere und Individuelle hat eine unmittelbareBeziehung auf Gott – steht ihm gleichsam Auge in Augegegenüber. Der wahrhafte Sinn des Göttlichen aber erschließtsich erst dann, wenn unser Geist nicht mehr bei einer dieserBeziehungen, noch auch ihrer Gesamtheit verweilt, sondernwenn er sie in die Einheit einer Schau, einer visiointellectualis zusammennimmt. Wir begreifen alsdann, daß esfür uns widersinnig ist, das Absolute an sich, ohne einesolche Bestimmung durch einen individuellen Blickpunkt, auchnur denken zu wollen – daß aber andererseits keiner dieserBlickpunkte vor dem andern den Vorrang hat, weil es eben erstihre konkrete Totalität ist, die uns ein wahrhaftes Bild desGanzen zu vermitteln vermag. In dieser Totalität ist jedeEinzelansicht befaßt, ist zugleich in ihrer Zufälligkeit wiein ihrer Notwendigkeit erkannt.107

Eben dieser Perspektivismus wird schließlich zum Modell von

dem, was Cassirer seinen eigenen „kritischen Idealismus“ nennt,

der zwar auf die Einheit der Symbol- und Wissensformen hin

orientiert ist, diese aber nicht in einem absoluten Bewußtsein

integriert.

Critical idealism puts itself a different and more modesttask then the absolute idealism of Hegel. It does not pretendto be able to understand the contents and the scope ofculture so as to give a logical deduction of all its singlesteps and a metaphysical description of the universal planaccording to which they evolve and form the absolute natureand substance of mind. But in spite of this critical idealismdoes not think that the single stages and processes by whichthe universe of culture is built up lack true and real unity,

106 Cassirer, Individuum und Kosmos, S. 32.107 Ebd., S. 33.

48

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

that they are nothing but disiecta membra, scatteredfragments.108

Das Entscheidende ist hier, daß der Philosoph, was die mögliche

Einheit der symbolischen Formen betrifft, nicht nur auf die

Idee einer offenen Einheit der individuellen Blickpunkte des

Wissens bzw. der Symbolordnungen rekurriert, sondern vor allem

die Geschichte der Subjektivität selbst aus der Perspektive

ihrer möglichen Einheit zu konzipieren versucht, ohne diese

Subjektivität als eindeutig logischen Prozeß zu konstruieren.

Was also für die synchron-diachrone Struktur der Symbolordnung

gilt, das gilt nicht minder für die Möglichkeit einer

Konstruktion der Geschichte der Subjektivität, die Cassirer

immerhin, im Sinne Hegels, als Prozeß der Selbstbewußtwerdung

beschreibt. Im Vorwort zu seinem Buch Philosophie der Aufklärung

beschreibt er – wieder in klarer Anlehnung und Abgrenzung an

bzw. von Hegel – das eigene methodische Vorgehen als einen nach

hinten und nach vorne offenen Prozess der Selbstbewußtwerdung:

Denn die Bewegung, die hier geschildert werden sollte, bleibtnicht in sich selbst beschlossen, sondern sie weist nachvorwärts wie nach rückwärts, über sich hinaus. Sie bildet nur[…] eine Einzelphase in jenem geistigen Gesamtgeschehen,kraft dessen der moderne philosophische Gedanke die Gewißheitvon sich selbst, sein spezifisches Selbstgefühl und seinspezifisches Selbstbewußtsein errungen hat. Ich habe infrüheren Schriften, insbesondere in meiner Schrift„Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance“und in der Schrift über „Die Platonische Renaissance inEngland“ andere Phasen dieser großen Gesamtbewegungdarzustellen und in ihrer Bedeutung zu würdigen gesucht.109

Was einer solchen Betrachtung zunächst in einzelnen Phasen

entgegentritt und potentiell nur „als bloße Bausteine [und] als

108 Cassierer, Symbol, Myth and Culture, S. 90.109 Cassirer, Philosophie der Aufklärung, S. VII.

49

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Bruchstücke“ sich darstellt, „deren fragmentarischen Charakter

ich nicht verkenne“, das möchte Cassirer immerhin in einer

„Phänomenologie des philosophischen Geistes“ perspektivisch in

seiner Einheit zu konstruieren versuchen.

Eine solche Betrachtungsweise will in der Entwicklung derphilosophischen Doktrinen und Systeme zugleich einePhänomenologie des philosophischen Geistes zu geben suchen;sie will die Klärung und Vertiefung verfolgen, die dieserGeist in seiner Arbeit an den rein objektiven Problemen, vonsich selbst, von seinem Wesen und von seiner Bestimmung, vonseinem Grundcharakter und seiner Mission gewinnt.110

Was also für die einzelnen symbolischen Formen gilt, nämlich

daß diese Formen synchron-diachron in ihrer Einheit zu

konstruieren sind, trifft erst recht für die Möglichkeit zu,

die Geschichte der verschiedenen Phasen der Konstitution von

Subjektivität zu konzipieren. Aber eben dadurch, daß Cassirer

diese Geschichte selbst als Prozeß der Selbstbewußtwerdung

denkt, nähert er das eigene Projekt noch einmal ganz nah an

Hegel heran, was durchaus auch der Bezeichnung dieses Projektes

als „Phänomenologie des philosophischen Geistes“ entspricht.

IV Subjektivität angesichts ihrer möglichen vitalistischen

Liquidierung

Im Zusammenhang mit den Überlegungen zur Metaphysik der

symbolischen Formen versucht nun Cassirer den Begriff der

Subjektivität, der den möglichen Einheits- und Bezugspunkt für

die Pluriversalität der symbolischen Formen darstellt,

hinsichtlich ihrer Funktionsweise im Rahmen der

110 Ebd., S. VIII.50

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

zeitgenössischen lebensphilosophischen Diskussion zu klären. Er

will die Subjektivität vor einer drohenden Generalkapitulation

retten, die den Geist der Kultur in seinen Grundlagen

erschüttert. Auch hier rekurriert Cassirer vor allem auf

Cusanus’ Lehre von der Subjektivität, um sich nunmehr von der

absolut negativen Option einer Liquidierung des Subjekts

abzugrenzen.

Die Philosophie der symbolischen Formen bedarf nach der

Ausführung und Ausarbeitung ihrer verschiedenen symbolischen

Ordnungen und Diskursfelder eines Einheitsprinzips, das

Cassirer in der schöpferischen Subjektivität zu begründen

sucht.

Jede dieser [symbolischen] Verhaltensweisen mußte nach ihremeigenen ursprünglichen Prinzip gedeutet, mußte nach den ihreigentümlichen Kategorien befragt werden. Jetzt aber, nachdemdiese Sonderung der einzelnen Wegrichtungen erfasst ist,nachdem die phänomenologische Analyse die Urform dessprachlichen, des mythischen, des wissenschaftlichen Denkensherauszustellen gesucht hat, scheint um so dringlicher undgebieterischer die Synthese wieder ihr Recht zu fordern.111

Was sich in den einzelnen Diskursfeldern als fragmentierte

Formen des Wissens darstellt, was in ihnen

„auseinanderstrebt“, soll perspektivisch unter dem Blickpunkt

der Subjektivität betrachtet werden. Cassirer erkennt in der

Subjektivität den Grund aller Wissensformen, der als das „Eine

in sich Unterschiedene“ bzw. mit Cusanus als die coincidentia

oppositorum fungiert, ohne daß dieser Grund sich selbst in voller

Transparenz durchsichtig werden könnte. Es ist diese Differenz

zwischen dem Wissen und dem Grund des Wissens, dem Leben bzw.

der Subjektivität, die Cassirer in der sogenannten

111 Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 5.51

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Lebensphilosophie von Georg Simmel und Ludwig Klages

wiedererkennnt. Am Beispiel dieser beiden Artikulationen des

Vitalismus kann er nun seine eigene Spezifikation des Problems

der Subjektivität im Sinne der zentralen Kategorien von Leben

und Form reformulieren. Das Symbol ist Formprinzip neben

anderen sozialen, institutionellen oder politischen Formen, in

denen „Leben“ sich produktiv entäußert und selbst bestimmt.

Wenn Cassirer das lebensphilosophische Doppelprinzip von

Leben und Form aufnimmt, so geht es ihm sowohl um die

Formulierung des eigenen systematischen Ansatzes als auch um

die Bewältigung der sogenannten Kulturkrise und Tragödie der

Kultur, die lebensphilosophisch als tiefe Entfremdung des

(individuellen) Lebens von den symbolischen, sozialen und

politischen Formen vorgestellt wird. So formuliert Georg Simmel

das, was er die Tragödie der Kultur nennt, in der

lebensphilosophischen Dualität von Leben und Form

folgendermaßen:

Offenbar nämlich sprechen wir von Kultur, wenn dieschöpferische Bewegung des Lebens gewisse Gebildehervorgebracht hat, an denen sie ihre Äußerung, die Formenihrer Verwirklichung findet, und die ihrerseits die Flutungendes nachkommenden Lebens in sich aufnehmen und ihnen Inhaltund Form, Spielraum und Ordnung geben: so die sozialenVerfassungen und die Kunstwerke, die Religionen und diewissenschaftlichen Erkenntnisse, die Techniken und diebürgerlichen Gesetze und unzähliges andere. Aber dieseErzeugnisse von Lebensprozessen haben das Eigentümliche, daßsie im Augenblick ihres Entstehens schon einen festen Bestandhaben, der mit dem ruhelosen Rhythmus des Lebens selbst,seinem Auf- und Niedergang, seiner steten Erneuerung, seinenunaufhörlichen Spaltungen und Wiedervereinigungen nichts mehrzu tun hat.112

112 Georg Simmel, „Der Konflikt der modernen Kultur“, in: ders., Das individuelleGesetz, S. 148.

52

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Cassirer geht es im Hinblick auf die Lebensphilosophie –

ähnlich wie in der Abgrenzung gegenüber Hegel – um eine

dialektische Konzeption von Subjektivität, die die Verdopplung

des Lebens als Leben und Form festhält, ohne eine der beiden

Prinzipien, in diesem Fall das Leben, metaphysisch zu

hypostasieren. „Denn so wenig das Leben je aus seiner Gestalt

heraustreten kann, weil eben dieses Heraustreten selbst noch

sein Werk und seine Tat bleibt, so wenig kann es jemals in

einer seiner Gestalten […] als abschließbar gedachte Gesamtheit

derselben aufgehen.“113 Mit anderen Worten: Weder lassen sich

Leben und Form in selbständige Substanzen auflösen, noch kann

die dialektische Spannung oder Polarität in eine dieser

Substanzen, den Lebensgrund oder eine reine Form, ein reines

Wissen aufgelöst werden.

Schon in Substanzbegriff und Funktionsbegriff hatte Cassirer für die

naturwissenschaftliche Begriffsbildung Subjekt und Objekt im

Sinne ihrer unhintergehbaren Verhältnismäßigkeit und

Funktionalität definiert.

Das Problem der Erkenntnis hat uns statt zu einemmetaphysischen Dualismus der subjektiven und der objektivenWelt, zu einem Inbegriff von Beziehungen zurückgeführt, derdie Voraussetzung für die gedankliche Entgegensetzung desSubjekts und Objekts selbst enthält. Vor diesem Inbegrifferweist sich die herkömmliche Trennung als undurchführbar: erist objektiv, sofern auf ihm alle Constanz derErfahrungserkenntnis und somit alle Möglichkeit desgegenständlichen Urteils beruht, während er andererseits nurim Urteil selbst und somit in der Tätigkeit des Denkens zuerfassen ist.114

113 Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 8.114 Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragender Erkenntniskritik, Darmstadt 1994 (1910), S. 433.

53

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Diese funktionale Beziehung wird dann in „Philosophie der

symbolischen Formen“ im Symbolbegriff als Ausdruck einer

Subjekt-Objekt-Beziehung so gedacht, daß er über die

Naturwissenschaft hinaus zum Zentralbegriff für die

Kulturwissenschaften im Ganzen eingesetzt werden kann. Leben

und Form werden nun zu den letzten Kategorien, von denen her

das ursprüngliche Subjekt-Objekt-Problem zugleich erweitert wie

auch hinsichtlich seiner modellhaften Lösung konstruiert werden

soll. „Das geistige Leben kann sich gar nicht anders als in

irgenwelchen Formen dartun, aber es kann andererseits niemals

seine eigene Totalität in die Form hineinlegen und in die

Grenze der Form bannen.“115

Cassirer konstruiert damit Leben und Form als dynamischen

Lebensprozeß der Subjektivität, die sich in den Formen von

neuem selbst repräsentiert und ihrer selbst bewußt wird. Mit

Georg Simmel, dessen späte Abhandlung zur Metaphysik des Lebens

Cassirer zum Vorbild der eigenen Definition der

Lebensproblematik erhebt, definiert der Philosoph der

symbolischen Formen diesen Prozeß als „immanente Transzendenz“,

als ein „Über-sich-Hinausgreifen“ des Lebens, das seine eigenen

Formationen und Selbstdarstellungen freisetzt und im Sinne der

grundsätzlich unendlichen Offenheit negiert, um sich in einer

neuen Subjekt-Objekt-Konstellation zu aktualisieren. „Das Wesen

des konkret erfüllten Lebens ist nicht etwas, was zu seinem

Sein hinzukäme, sondern sein Sein ausmachend: daß ihm die

Transzendenz immanent ist.“116

115 Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 9. Vgl. auch die exzellenteEinführung zur Philosophie der symbolischen Formen von Oskar Schwemmer, „Die Vielfalt der symbolischen Welten und die Einheit des Geistes“, in: Frede/Schmücker, Ernst Cassirers Werk und Wirkung, S. 1–57.116 Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 9.

54

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

In solcher Transzendenz des Lebens wird Subjektivität, die

die Dialektik des aboluten Subjekts bei Hegel ganz aus der

Perspektive der individuellen Existenz reproduziert – in

Anlehung an Cusanus –, allerdings zu einem „wissenden

Nichtwissen“. So definiert Simmel selbst die Lebensbewegung

derart, „daß wir unser Wissen und Nichtwissen selbst wissen und

so fort in das potentiell Endlose, das ist die eigentliche

Unendlichkeit der Lebensbewegung auf der Stufe des Geistes“117.

Damit ist dieses wissende Nichtwissen, der stets über sich

hinausgreifenden Lebensbewegung, an einem Ideal orientiert, das

nie in einer Substanz sich vollenden läßt, sondern wie bei

Cusanus sich als perspektivisch offenes Ensemble aller

Perspektiven des Wissens stets von neuem aktualisiert.

Diese lebensformale coincidentia oppositorum ist dabei in

Cassirers Definition säkularisiertes Analogon zur Cusanischen

Gottheit:

Der moderne Begriff des Lebens muß hier, wie unter dem Zwangeder metaphysischen Denkart selbst, den gleichen Weg gehen,den in der älteren Metaphysik der Gottesbegriff gegangen ist.Im Gottesbegriff entwickelt sich aus dem Gedanken derabsoluten Totalität heraus mit systematischer Notwendigkeitund Folgerichtigkeit der Gedanke der coincidentiaoppositorum.118

Wie also Gott bei Cusanus dasjenige Subjekt ist, das alle

Wirklichkeit in sich vereinigen soll und damit zum „Zentrum und

Angelpunkt all der Prädikate wird, die in der empirischen

Sphäre und unter den Gesetzen der logischen Reflexion einander

ausschließen“, so wird durch einen „völlig analogen Doppelakt

117 Ebd., S. 11.118 Ebd., S. 11 f.

55

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

des Denkens […] auch bei Simmel der Grundbegriff seiner

Metaphysik: der Begriff der Absolutheit des Lebens erreicht.“119

„Was reißt uns hin? Das Leben! Und was wird hingerissen? Das

Ich!“ schreibt Klages in Vom kosmogonischen Eros.120

Als Träger des Lebens sind wir gleich allen LebenwesenIndividuen, als Träger des Geistes sind wir überdies nochIche oder Selbste. Person, von personare – hindurchtönenkommend und ursprünglich die Maske bezeichnend, durch welcheein Dämon redet, ist längst zum geistvergewaltigenden Lebengeworden, zum Leben im Dienste der Rolle, die ihm befohlenwird von der Maske des Geistes.121

Die Lebensphilosophie von Ludwig Klages radikalisiert die bei

Georg Simmel formulierte Krise und Tragödie der modernen

Kultur, indem sie jede dialektische Vermittlung von Leben und

Form ausschließt und sich von der Destruktion der Formen,

Institutionen und Ordnungen eine Befreiung des unverstellten

und unentfremdeten Lebens verspricht. Da Klages Vernunft und

Verstand – Geist im weitesten Sinne – nur als

Herrschaftswissen, als instrumentelle Vernunft begreift, deutet

er Kultur als einen Mechanismus, der, indem er Natur, Leben und

Eros unterwirft, sich selbst als Geist nur radikal von sich

selbst entfremden kann. „Seine gesamte theoretische Lehre vom

Bewußtsein“ kommentiert Cassirer die Thesen von Klages,

drängt sich in den Nachweis seiner lebenszerstörendenBedeutung zusammen. Nur in der Ekstase, in der Abkehr vomBewußtsein wird ein Auslöschen derselben möglich, vermag nachihm das Leben noch einen Rückgang zu sich selbst zu gewinnen,aber in ihr ist es nicht etwa der Geist des Menschen, der

119 Ebd., S. 12.120 Klages, Vom kosmogonischen Eros, S. 67.121 Ebd., S. 64.

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Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

sich befreit, sondern es ist seine Seele und sie befreit sichnicht vom Leib, sondern vom Geist.122

Wenn sich Klages von der Entgeistung und Entselbstung eine

Befreiung des Lebens, eine Rückkehr zu einem rein ekstatischen

und intuitiven Ursprung des Lebens erhofft, so artikuliert

seine Lebensphilosophie nicht nur die radikale Krise von Kultur

und Subjektivität – ihre größte Gefahr –, sondern sie kann im

Sinne von Cassirers Verständnis positiv zu einer letzten

Klärung des Wesens von Subjektivität und von da aus zu einer

Rettung von Kultur und Subjektivität führen. „Gegen sich selbst

fragen können, ist gerade eine Urfunktion, ja vielleicht die

tiefste Funktion des Geistes selber.“123 Mit anderen Worten, der

Akt, der das vermeintlich ursprünglich-intuitive Leben von den

Formen des Geistes und damit vom Geist im Ganzen befreien soll,

kann nur als Akt des Geistes selbst begriffen werden, als

dessen Selbstnegation.

Denn jede, auch rein negative Wertung des Geistes bejaht ihnselbst in seinen höchsten, seinen wahrhaft positivenLeistungen […]. Selbst wenn die ganze Sphäre des Geistigenmit einem negativen Vorzeichen versehen wird, wenn alle Tatenverleugnet und verworfen werden, so ist doch schon die bloßeSetzung eben dieses Vorzeichen selbst wieder eine neue Tat,die uns in der Welt des Geistes, der wir zu entfliehenhofften, aufs Neue festhält.124

Die Rückkehr zum reinen Ursprung des Lebens wird demzufolge von

Cassirer in einem doppelten Sinne als Mythos entlarvt: einmal,

weil diese Rückkehr zum reinen, intuitiven Leben die

Entfremdung, die sie angeblich aufheben will, nur reproduzieren

muß, und dann, weil die Idee einer rein intuitiven und

ekstatischen Selbsterfahrung im Sinne einer Selbstaufhebung nur122 Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 23.123 Ebd., S. 211.124 Ebd., S. 31.

57

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

dem Stadium entspricht, das Cassirer in der Philosophie der

symbolischen Formen als mythisches Bewußtsein analysiert. Die

Indifferenz zwischen Bild bzw. Repräsentation und realem

Objekt, die in der Intuition intendiert wird, stellt gerade den

Grundzug des mythischen Bewußtseins dar, das deshalb nicht

weniger selbst schon aktives Bewußtsein ist. Im Mythos wie in

der höchsten Mystik des Lebens gilt daher, daß die

Selbsttätigkeit des Geistes, der Vernunft sich selbst

undurchsichtig bleibt. So heißt es bei Cassirer:

Und doch waltet in diesem Trieb der Vernichtung des Denkensund der Auslöschung des Subjekts noch immer die geheimeVoraussetzung, deren keine Mystik ganz zu entraten vermag:die Voraussetzung daß mit Meister Eckhardt zu reden, einFunke des Selbst zurückbleibt, der eben dieser Auflösunggewahr wird.125 sowieNicht das Leben an sich entläßt aus seinem Schoße auch schonBilder [der Intuition], die in das Subjekt, das sich ihnengegenüber als leidend, als tabula rasa verhält, eindringen,sondern der Geist ist es, der durch Berührung mit demLebensgrund Bilder formt.126

Aus der Perspektive von Klages’ ekstatischer Lebensphilosophie

entwickelt Cassirer seine eigene Version einer Dialektik der

Aufklärung, die, indem sie den Mythos selbst schon als eine

frühe Form von Aufklärung und als eine frühe Form von

Selbsttätigkeit des Subjekts auffaßt, gerade die Unmöglichkeit

einer Rückkehr zum Mythos auch für den Fall des

lebensphilosophischen Zivilisationsunbehagens behaupten kann.

Der Weg zurück zum Ursprung ist die Illusion, die wegen der

fortschreitenden Rationalisierung der Kultur und ihrer

Institutionen sich diesen Institutionen gegenüber als 125 Ebd., S. 20.126 Ebd., S. 209.

58

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

entfremdet erfährt und Kultur im Ganzen als entfremdenden Geist

destruieren will, um eben in einem solchen Rückschritt Kultur

zu setzen. Der Weg zurück zum Ursprung ist nicht nur verstellt,

er würde nur eine Wiederholung, ein „da capo de al fine“

desselben Aufklärungsprozesses in die Wege leiten. Es gibt

keine reine Unmittelbarkeit des Lebens. Die scheinbare

Alternative zwischen Vermittlung und reiner Intuition des

Lebens erweist sich vollends als Illusion, weil die reine

Intuition nicht nur faktisch schon wieder Geist und Ichfunktion

voraussetzt, die sie zu überwinden vermeinte, sondern weil

diese Intuition im Realfall nur auf die Destruktion aller

Kultur hinauslaufen kann. Cassirer schreibt:

Wenn alle Kultur sich in der Erschaffung bestimmter geistigerBilderwelten, bestimmter symbolischer Formen wirksam erweist,so besteht das Ziel der Philosophie nicht darin, hinter alldiese Schöpfungen zurückzugehen, sondern vielmehr darin, siein ihrem gestaltenden Grundprinzip zu verstehen und bewußt zumachen. In dieser Bewußtheit erst erhebt sich der Gehalt desLebens zu echter Form. Das Leben tritt aus der Sphäre desbloß naturgegebenen Daseins heraus: es bleibt ebensowenig einStück dieses Daseins wie ein bloß biologischer Prozeß,sondern es wandelt und vollendet sich zur Form des Geistes.Die Negation der symbolischen Formen würde daher in der Tat,statt den Gehalt des Lebens zu erfassen, vielmehr diegeistige Form zerstören, an welche dieser Gehalt sich für unsnotwendig gebunden erweist.127

An Klages’ Ekstatik bestätigt sich nur die dem Leben eigene

Ekstatik, die sich über das Leben hinausbegibt, um sich in

solcher Objektivierung selbst zu finden, so daß offenbar die

totale Negation von Geist nur als die extreme Antithese der

totalen Position von Geist verstanden werden muß. Die Ekstatik

solcher Negation kann nur dialektisches Moment der

127 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. I, S. 50 f.59

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Lebensbewegung des Subjekts sein, die zu einer neuen

Formgründung führt. So konstatiert Cassirer: „Der

kosmosgonische Eros kann nicht rein pathisch, erleidend sein,

denn erst das Tun schafft den Kosmos aus der Nacht des

Chaos.“128 Aus dieser Perspektive erweist sich das Leben als der

metaphysische Grund sowohl der kulturellen wie der kosmischen

Schöpfung, der „Kosmogonie“, die Klages nur vollstrecken kann,

wenn er dem Logos zu seinem Recht verhilft. Cassirer

beschließt: „Der Menschengeist ist es, der das Wort, den logos,

‚Es werde Licht‘ sprechen muß. Diese Form der Lichtwerdung

schafft erst ein Bild der Welt – ohne das Licht des Geistes,

ohne den gestaltenden Logos, den Klages schmäht und verwirft,

gibt es keine Kosmogonie.“129

Aus der Perspektive der möglichen aktuellen

lebensphilosophischen Strategie, über die ekstatischen

Ausbrüche des Lebens die Grundlagen der Kultur zu zerstören,

aus der Perspektive dieses absoluten Krisenbewußtseins und

vollendeten Unbehagens an Kultur und Fortschritt ergibt sich

erst eigentlich die Perspektive auf die Ursprünge der modernen

Subjektivität. Aus dem möglichen Telos fällt erst das Licht auf

die Genese der europäischen Subjektivität, ihre Urstiftung.

Cassirer konstruiert also einen historischen Zusammenhang

zwischen zwei Augenblicken der Geschichte, der sich aus dem

Telos dieser Krise perspektivisch ergibt. Dem Wunsch nach

Entselbstung und Ent-ichung am Ende entspricht die Strategie

des mittelalterlichen Averroismus, das individuelle Ich ganz im

göttlichen Verstand aufgehen zu lassen. Telos und Ursprung

erhellen von hierher das Wesen der Subjektivität als128 Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 210.129 Ebd.

60

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Selbstnegation und Selbsttranszendenz, als die fundamentale

Fähigkeit, die in der Christologie modellhaft in Tod und

Auferstehung der Einzelseele vorgedacht ist. Die Archäologie

der Subjektivität aus ihrem christologischen Ursprung soll

damit offenbar nicht nur die Krise von Kultur aus der

fundamentalen Krisenfähigkeit von Subjektivität ableiten und

zugleich überwinden, sie ermöglicht auch die alternative

Rekonstruktion von Subjektivität, die das Subjekt vor seiner

rationalen Apotheose als absolutem Geist und seiner

vitalistischen Apotheose als reinem intuitivem Leben bewahren

soll. Wenn dabei als historische Momente Averroismus und

Vitalismus zuerst hervortreten und in eine Konstellation

treten, so ergibt das Gesamtbild von Cassirers Archäologie eine

jeweils doppelte Gefahr. Für das Mittelalter bezeichnen

Averroismus und Mystik die rationale und die intuitive Form der

Entselbstung, während für die Moderne Hegels Metaphysik und

Klages’ Vitalismus hier diese beiden Formen der Entselbstung

repräsentieren.

Die Christologie des Cusanus führte zunächst aus dem

mittelalterlichen Engpaß heraus. Sie fungiert bei Cassirer aber

als Modell und Analogon für Simmels Metaphysik der

Subjektivität. Er appelliert an sie, wenn er Klages’ Vitalismus

„dekonstruiert“. Cusanus wird im Hinblick auf Klages zum Modell

eben der Strategie, die Subjektivität aus ihrer extremsten

Polarität noch als immanente Transzendenz zu rekonstruieren

vermag. Im Hinblick auf diese extreme Polarisierung von Leben

und Geist bei Klages stellt Cassirer fest:

Bei Cusanus nimmt das Problem eine andere Wendung gemäß dermetaphysischen Lage seiner Zeit – hier heißt es nicht Geist –

61

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Leben, sondern Geist – Gott. Aber Cusanus erfaßt aufsschärfste den Dualismus und überwindet ihn zugleich. […] Auchhier wird zunächst die volle Pol-Spannung erreicht (NegativeTheologie) – der Geist ist das Prinzip des Nennens undMessens […], aber alle nominatio und mensuratio reicht anGott nicht heran – das Sein als absolutes Sein (derLebensgrund) wird dadurch nicht erfaßt, nicht einmal berührt.Dann aber der Umschwung in Cusanus’ späteren Schriften – undzwar aus der Einsicht heraus, daß der Geist das Wert gebendePrinzip ist – nicht Gott ist der Schöpfer des Wertes, sondernerst im Geist entsteht das Problem des Wertes, wie Gott dieseinsgebende , so ist der Geist allem Licht gebende Kraft.[…] Wenden wir dies auf Klages […] an, so läßt sich sagen,daß beide ein bestimmtes Wertsystem voraussetzen, vermögedessen sie das Leben dem Geist überordnen. Aber eben dieseÜberordnung ist schon ein Werk des Geistes.130

Von diesem kritischen Bezug zwischen Cusanus und Klages aus –

Cusanus’ Idealismus wird auch hier dekonstruktiv gegen jeden

Versuch eingesetzt, die Dialektik des Lebens abzubrechen –

gelangt Cassirer noch einmal zum Fazit seiner Definition der

Subjektivität als Negation: „[...] es ist, und darin liegt die

eigentliche Dialektik hier, keineswegs das Leben, das der Geist

negiert, sondern es ist der Geist, der sich gegen sich selbst

kehrt, gegen sich selbst fragt.“131 Eben in dieser Möglichkeit

der Selbstnegation des Geistes bestätigt sich für Cassirer das

schlechthin konstitutive Moment der Subjektivität, denn „gegen

sich selbst fragen können ist gerade eine Urfunktion, ja

vielleicht die tiefste Funktion des Geistes.“

V Die Phänomenologie der Subjektivität als Kritik politisch-

theologischer Herrschaft

130 Ebd., S. 211.131 Ebd.

62

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Indem sich Cassirers Archäologie des Subjekts an Cusanus

orientiert und an ihm einen dritten Weg aufzuzeigen versucht,

nämlich eine Subjektivität der immanenten Transzendenz und

Offenheit für anderes, erkennt sie in der Apotheose als Geist

und der Apotheose als Leben die ultimative Gefahr, die durch

die Hypostasierung einer der Pole der Dialektik diese zum

Stillstand bringen kann. In diesem Sinn konstatiert Cassirer im

Rückblick auf die Katastrophe der Kultur in Deutschland nicht

nur den Sieg der „neuen Macht des mythischen Denkens“, sondern

ortet die Ursprünge des totalitären Staates vor allem in Hegels

Metaphysik und konkreter: in dessen politischer Philosophie,

der er immerhin das größte Kapitel im Mythus des Staates widmet.

„Kein anderes philosophisches System hat so viel zur

Vorbereitung des Faschismus und Imperialismus getan, als Hegels

Lehre vom Staat – ‚von dieser göttlichen Idee, wie sie auf

Erden existiert‘.“132 Damit stellt Cassirer zumindest implizit

nicht nur die absolute Metaphysik des Geistes und den absoluten

Mythos des Lebens in dieselbe Konstellation der realen

Destruktion der Kultur, sondern seine eigene „Phänomenologie

des philosophischen Geistes“ erweist sich in letzter Instanz

132 Cassirer, Mythus des Staates, S. 356. Hierzu den Aufsatz von Peter Eli Gordon, „Myth and Modernity: Cassirer’s Critique of Heidegger“, in: New German Critique, Nr. 94, Winter 2005, S. 127–168. Er stellt den für Cassirers Mythus des Staates wesentlichen Zusammenhang von Entmythologisierung und Liberalität in Frage: „But it would be a mistake to assume that the critique of modern autonomy as illusory must result in conservative politics. There is no obvious or axiomatic relation between politics and ontology. Cassirer believed that ‘modern political myths’ were both politically undesirable as well as false. But what if autonomy is itself a ‚myth’?“ Mit Marcel Gauchet formuliert er einen möglichen Zusammenhang zwischen „a truly liberal theory of politics“, die „might best emerge from the post-Heideggerian recognition of human finitude.“ (Ebd., S. 165) SolcheÜberlegungen sprengen freilich den Rahmen der meisten Debatten über Cassirer und Heidegger, die oft genug nach von vornherein feststehenden Regeln abzulaufen scheinen.

63

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

als Versuch, die politisch-theologischen Konsequenzen dieser

beiden Hypostasierungen der lebensprozessualen Momente von

Leben und Form, Leben und Geist kritisch zu überwinden.

Ohne daß Cassirer den Zusammenhang zwischen der politischen

Theologie Hegels und der neuen (politischen) Mythologie

jenseits der in der Überschrift formulierten These vom Mythus

des Staates näher erläutern würde, ergibt sich der Zusammenhang

aus den verschiedenen Aussagen zu beiden Artikulationen

totalitärer Politik. Es ist die aus der absoluten Metaphysik

des Geistes entfaltete Politik, die sich als Mythos erweist,

während der Mythos, politisch gedacht, dieselbe Form

totalitärer Herrschaft produziert, die für Hegels politische

Theologie charakteristisch ist. Die Selbstverwirklichung des

Geistes bzw. der Vernunft im Staat ist, da sie das Absolute in

einem Partikularen als realisiert behauptet, Mythos und als

solcher Ausdruck der unmittelbaren Konsequenzen der

Verstaatlichung der als offen gedachten Kultur.

Nach Hegels Meinung ist es ein allgemein anerkanntes Prinzip,daß dem besonderen Staatsinteresse die höchste Wichtigkeitzukomme. „Der Staat ist der Geist, der in der Welt steht undsich in derselben mit Bewußtsein realisiert […]. Es ist derGang Gottes in der Welt, daß der Staat ist […]. Bei der Ideedes Staates muß man nicht besondere Staaten vor Augen haben,nicht besondere Institutionen, man muß vielmehr die Idee,diesen wirklichen Gott, für sich betrachten.133

Der Gott als Staat ist der Kerngedanke dieser politischen

Theologie, die das Absolute mit dem Realen, das Unendliche im

133 Cassirer, Mythos des Staates, S. 345. Inwieweit Cassirer hier auch Franz Rosenzweigs Kritik an Hegels Staatsphilosophie aufnimmt, kann nur vermutet werden. „Einzelmensch und Nation sind in gewissem Sinne dem Staat zu opfern, dem vergötterten Staat das Eigenrecht des Menschen wie die Ganzheitder Nation.“ (Franz Rosenzweig, Hegel und der Staat, München/Berlin 1920, S. 243) Vgl. hierzu Stéphane Mosès System und Offenbarung, S. 19 ff.

64

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Endlichen kurzschließt und damit zur politischen Mythologie

wird.

Aus der genuinen Perspektive des Mythos beschreibt Cassirer

die Krise der modernen Kultur am Beispiel der Odyssee als

Urwunsch, das eigene Ich aufzugeben.

Wir haben erfahren, daß der moderne Mensch trotz seinerRuhelosigkeit, den Stand des unzivilisierten Lebens nichtwirklich überwunden hat. Wenn er denselben Kräften ausgesetztist, kann er leicht in den Zustand vollständiger Ergebung undSichberuhenlassens zurückgeworfen werden. Er stellt sie nichtmehr in Frage, er nimmt sie als eine natürliche Sache hin.Von den traurigen Erfahrungen der letzten zwölf Jahre istdies vielleicht die furchtbarste. Sie mag mit der desOdysseus auf der Insel Kirke verglichen werden. Aber sie istnoch ärger. Kirke hatte die Gefährten des Odysseus inverschiedene Tiergestalten verwandelt. Aber hier sind esMenschen von Erziehung und Intelligenz, ehrenhafte undaufrechte Menschen, die plötzlich das höchste Privilegaufgeben. Sie haben aufgehört, freie und persönlich handelndeMenschen zu sein. Indem sie dieselben vorgeschriebenen Ritenvollziehen, beginnen sie, auf die gleiche Weise zu fühlen, zudenken und zu sprechen.134

Was den Mythos vor und nach seiner Rück- und Wiederkehr in die

Kultur kennzeichnet, ist laut Cassirer nicht nur die Sehnsucht

des Individuums, von den Fesseln seiner Individualität befreit

zu werden, sondern der Wunsch, mit eben dieser Entselbstung im

Absoluten aufzugehen. Cassirer beschreibt das Wesen des Mythos

am Beispiel des (für die Mythologen des Post-Nietzscheanismus

so wichtigen) Dionysius-Kultes:

Was hier erscheint, ist das Urgefühl der Menschheit, das denprimitivsten Riten und den verfeinertsten, vergeistigstenmystischen Religionen gemeinsam ist. Es ist die tiefeSehnsucht des Individuums, von den Fesseln seinerIndividualität befreit zu werden, sich in den Strom desuniversalen Lebens zu tauchen, seine Identität zu verlieren,

134 Cassirer, Mythos des Staates, S. 373.65

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

im Ganzen der Natur aufzugehen – dieselbe Sehnsucht, die inden Versen ausgedrückt ist: „Wer die Macht des Tanzes kennt,wohnt in Gott.“135

Auch wenn Cassirer den Namen Klages in seinem Essay über den

Mythus des Staates merkwürdigerweise nicht erwähnt, so erkennt

man doch in seiner Charakteristik des Mythos den

philosophischen Ansatz des dionysischen und ekstatischen

Mythikers ohne weiteres wieder, zumal Klages die negative Macht

des Geistes und der Rationalität mit dem Geist des Judentums

identifiziert und so den politischen Rassenmythos übernimmt.

Auf jeden Fall begegnen sich die politische Theologie Hegels

und die neue (politische) Mythologie der Ekstase (für die der

Name Klages stehen soll) in drei Momenten:

1) Beide verabsolutieren eines der beiden dialektischen Momente

von Leben oder Geist und bringen damit den dynamischen Prozeß

des Lebens zum Stillstand.

2) Das Absolute bezeichnet einen fundamental

(mytho-)theologischen Ursprung der existenziell-politischen

Praxis, so daß in beiden Fällen von spezifischen Fällen

politischer Theologie gesprochen werden kann.

3) In beiden hypostatischen Formen der Metaphysik geht es um

die Suspension von Individualität durch das absolute

Seinsprinzip und damit um den Widerruf der Verantwortlichkeit

des Subjekts – zuletzt also um die Aufgabe der ethischen

Dimension des Lebens. Was Cassirer am Beispiel des Mythos

erläutert, die Sehnsucht, das eigene Ich aufzugeben, wiederholt

sich für ihn auf anderer Ebene in der Einsicht in die

vermeintlich rationale Geschichtsrealität bei Hegel:

135 Ebd., S. 58.66

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Die Versöhnung, die Hegel in seiner Geschichtsphilosophieversuchte, ist ein ganz andere Typus des Denkens. Er nimmtdie gegebene Ornung hin; er sieht in ihr die wahre ethischeSubstanz. Er versucht nicht, die Übel, das Unglück und dieVerbrechen aus der historischen Welt wegzuschaffen.136

Beide Formen von politischer Theologie, Hegels Metaphysik des

Geistes und die von Nietzsche inspirierte und radikalisierte

Mythologie dionysischer Ekstase von Ludwig Klages, erscheinen

zunächst als die Pole einer Antithese, der absoluten Form des

Geistes einerseits, die in einer absoluten Lebenserfahrung

vernichtet werden soll, wie andererseits die absolute Form des

Geistes als Resumee und Erinnerung der Geschichte das Ende des

Lebens indiziert. Gerade in solcher mythischer Exklusivität

gegenüber dem ihr Heterogenen konvergieren diese beiden Formen

von politischer Theologie in einer real-politischen coincidentia

oppositorum. Die absolute Rationalität ist in solcher

Kurzschließung des Absoluten mit dem Partikularen als Staat,

Nation, Rasse die absolute Irrationalität, die in Gewalt und

Terror umschlagen muß.

Dem Volke, dem solches Moment [die Nation zu sein, die dasAbsolute repräsentiert] als natürliches Prinzip zukommt, istdie Vollstreckung desselben in dem Fortgang des sichentwickelnden Selbstbewußtseins des Weltgeistes übertragen.Dieses Volk ist in der Weltgeschichte, für diese Epoche – undes kann in ihr nur einmal Epoche machen – das Herrschende.Gegen dies sein absolutes Recht, Träger der gegenwärtigenEntwicklungsstufe des Weltgeistes zu sein, sind die Geisterder anderen Völker rechtlos, und sie, wie, deren Epochevorbei ist, zählen nicht mehr in der Weltgeschichte.137

Der rationale Mythos begegnet sich mit dem irrationalen Mythos

im Kulminationspunkt der Herrschaft und Souveränität, die sich

gegenüber dem anderen notwendig und also gewaltsam durchsetzen 136 Ebd., S. 335.137 Ebd., S. 356 f.

67

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

müssen. Cassirer rekonstruiert im Grunde für beide Formen des

politischen Mythos die Bedingung der Möglichkeit der

Souveränität, die sich prinzipiell und zuletzt über das

Feindprinzip real konstituiert. Dem entspricht dann auch

durchaus, daß der eigentliche Theoretiker der politischen

Theologie der Souveränität, Carl Schmitt (den Cassirer nicht

erwähnt), seinen Begriff des Politischen sowohl

lebensphilosophisch als auch hegelianisch begründen kann. Vom

Standpunkt des Politischen aus lassen sich beide antithetischen

Formen von Metaphysik, wie dies Cassirer selbst in Der Mythus des

Staates vorführt, auf einen souveränen Begriff bringen.

Eine solche Perspektive auf die Vermittlung von

hegelianischer Philosophie der Geschichte und vitalistischer

Mythologie über das Moment von Herrschaft findet sich vor allem

bei dem von Cassirer zum Kronzeugen der politischen Krise

erhobenen Oswald Spengler.

In 1918, immediately after the first world war, OswaldSpengler published his book, „Der Untergang des Abendlandes“[…]. In his book a new step was made, a step that, in acertain sense, proved to be of much graver impact and hadmore far reaching political consequences than the system ofHegel. Spengler did not make the slightest attempt to changethe firm concrete historical situation. His only intuitionwas to describe and interpret his situation […]. He describedthe decline and fall of all our cultural ideals as inevitable[…]. No effort of thought of will, he declared, can changeour destiny.138

Die textuelle Kreuzung, an der das System der Vernunft und die

mythologische Metaphysik von Leben und Geschichte

aufeinandertreffen, ist Spenglers Untergang des Abendlandes, in dem

die Idee von Herrschaft aus dem Mythos des Lebens im Sinne

138 Cassirer, Symbol, Myth and Culture, S. 227.68

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

einer Logik der Notwendigkeit und des Schicksals begründet

wird. Wenn Hegels politische Metaphysik die Vernunft durch die

überlegene Macht eines konkreten Staates in der Geschichte

realisieren will, der aufgrund seiner Macht auch gegenüber

anderen Staaten „im Recht“ ist, so bedeutet das in der Sprache

des politischen Mythos, wie Spengler ihn formuliert, daß es

sich in der Geschichte

um das Leben und immer nur um das Leben, die Rasse, denTriumph des Willens zur Macht, und nicht um den Sieg vonWahrheiten, Erfindungen oder Geld [handelt]. DieWeltgeschichte ist das Weltgericht. Sie hat immer demstärkeren, volleren, seiner selbst gewissen Leben Rechtgegeben, Recht nämlich auf das Dasein.139

Wenn auch Hegel den historisch-notwendigen Prozeß in einem

System der Freiheit begründet, in dem die politische Herrschaft

ihren Sinn durch die am Ende des historischen Prozesses

herstellbare Freiheit erhält, verfaßt Spengler aus der

Perspektive des Mythos des Lebens ein System der zwangsläufigen

Unfreiheit und des notwendigen Untergangs. Dennoch macht es

eben für das seiner selbst bewußte Individuum prinzipiell

keinen Unterschied, insofern in beiden logischen

Interpretationen der historischen Situation das Individuum dem

Ganzen der politischen Entwicklung, die durch den politischen

Führer personifiziert wird, passiv ausgeliefert ist. So lautet

Spenglers Fazit am Ende seiner Untergangsvision: „Wir haben

nicht die Freiheit, dies oder jenes zu erreichen, aber die, das

Notwendige zu tun oder nichts. Und eine Aufgabe, welche die

Notwendigkeit der Geschichte gestellt hat, wird gelöst mit dem

einzelnen oder gegen ihn.“140

139 Oskar Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Bd. 2, München 1922, S. 635. 140 Ebd.

69

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Indem Metaphysik und Mythologie in der Realität sich als

Herrschaft darstellen müssen, sind sie in ihrem Wesen

politisch: Sie werden wahr im Staat. Wenn sie sich ferner nur

über die Herrschaft legitimieren, insofern für beide gilt, daß

das, was herrscht, eben entweder die Vernunft oder das

Schicksal ist, wird die Herrschaft selbst zum einzigen

Kriterium und Maßstab für Vernunft und Schicksal, denen sich

der Einzelne unterwirft, wenn er nicht einfach von der Macht

überrollt werden will. Je mächtiger die Macht, desto

gesicherter sind Vernunft und Schicksal. Um Macht politisch zu

stabilisieren, bedarf es dann des Mythos, der durch Ritus, Kult

und Narration sich die massenhafte Unterstützung sichert. Damit

wird der Mythos, der ursprünglich eine spontane, unbewußte

Produktion des imaginären Lebens darstellt, nunmehr gezielt und

sorgsam geplant, um die Macht zu konsolidieren bzw. deren

Expansion zu ermöglichen. „It is a myth that in a sense is

completely rationalized. Myth remains irrational in its

content, but it is very clear and conscious in its aims.“141

Wenn Metaphysik und Mythologie notwendig politisch werden

müssen, so ergibt sich aus der rückblickenden Perspektive, daß

die Zeit zwischen dem ersten und zweiten Weltkrieg selbst schon

wesentlich ein politischer Konflikt im Sinne einer Fortsetzung

des Krieges mit anderen, politisch-ideologischen Mitteln war.

Als solcher Kampf des ideologischen Mythos gegen die Kultur der

symbolischen Vernunft war dieser Kampf im Prinzip von

vornherein entschieden:

The opponents of National Socialism had lost their cause evenbefore the battle began. For in the political struggle it isalways a vital importance to know the adversary, to enter in

141 Cassirer, Symbol, Myth and Culture, S. 236.70

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

his ways of thinking and acting. The political leaders of theWeimar republic were not equal to this task.142

Wenn der Mythos des zwanzigsten Jahrhunderts in der Herrschaft

und diese Herrschaft im Führer kulminiert, mit dessen absolutem

göttlichen Willen der einzelne hofft, sich identisch setzen zu

können, dann muß dieser Führer seine Macht dadurch sichern und

erweitern, daß er nicht nur seine Macht und sein Recht gegen

die durchsetzt, die ohmächtig und rechtlos sind, sondern daß er

sich als die absolute mythologische Macht setzt, die seine

hörigen Anhänger von allen dämonischen Gegenmächten, dem

ultimativen Feind, befreien wird, indem er sie vernichtet. „The

process of deification had to be completed by a process that we

may describe as devilization.“143 Die politisch-religiöse Macht,

die dadurch ihre Macht unter Beweis stellt, daß sie in einem

endzeitlichen Kampf ihr absolutes Regime errichtet, muß den

Feind vernichten. Politik als Ritus, Kultus und Mythos muß in

der Aufopferung des anderen kulminieren. Insofern konnte die

nationalsozialistische Herrschaft gar nicht anders denn als

Todeskampf sich realisieren, dessen Ziel die „complete

extermination of the Jews“ sein sollte.

Was Cassirer hier in einzelnen Ansätzen aufzeigt, ist das,

was er in Der Mythus des Staates „die Inkarnation des Göttlichen im

Staat“ genannt hat, eine Formel, in der immerhin mit der

mythologischen zugleich die christologische, besser: die

christologische als mythologische Perspektive eingeholt wird,

die für die eigene systematisch-historische Konstruktion der

Subjektivität eine zentrale Rolle spielt. Aus der zu Ende

gedachten Logik der Metaphysik und der Mythologie der Macht

142 Ebd.143 Ebd., S. 238.

71

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

bezeichnet diese Inkarnation des Absoluten in der realen Figur

des Führers, die real-historische Apokalypse der Menschheit, an

die Cassirer nicht zu erinnern vergißt, wenn er diese

politische Theologie der absoluten Souveränität zuletzt in den

Kontext der apokalyptischen Mythologie vom Millenium dieser

Herrschaft stellt.

Wenn Cassirer die Konstellation des epochalen Geistes aus

dessen Extremen konstruiert, nämlich als Antithese von Geist

und Leben, um die Identität dieser differenten Formen von

Subjektivität, das heißt deren gemeinsamen politisch-

theologischen Nenner als Inkarnation des Absoluten im Realen

aufzuzeigen, so bezeichnet der eigene Rekurs auf die

Christologie, vor allem bei Cusanus, eine alternative Form von

Säkularisation bzw. politischer Theologie, in der das Absolute

zum idealen Orientierungspunkt einer Einheit der Gegensätze

wird, ohne daß Individualität hier der Idee oder dem Ganzen

aufgeopfert werden kann. Die Inkarnation steht in dieser

letzten Konstellation von Subjektivität für die gewaltsame

Identität von Absolutem und Realem, das heißt für das

katastrophale Scheitern von Säkularisation, vor deren

Hintergrund Cassirers Rückgriff auf die durch die Christologie

vermittelte Idee einer Identität des vielen aus dem einen in

ihrer potentiell unendlichen Vielfalt der Perspektiven ihren

Sinn bestätigt. Auf dem Hintergrund der Möglichkeit ihrer

inkarnativen Säkularisation entwirft Cassirer seine alternative

Säkularisation als Christologie offener Freiheit. Gegen die

Inkarnation des Absoluten als der Identität von Gutem und Sein

insistiert Cassirer mit Cusanus auf der fundamentalen Differenz

zwischen Gutem und Sein, die sich aus der Idee der

72

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Unendlichkeit des Absoluten, die endlich nicht gewußt werden

kann, notwendig ergibt.

Die aus dem Geist wissenden Nichtwissens entworfene

Christologie und Subjektivität der Freiheit und Offenheit für

anderes ist bei Cassirer immer auf das Individuum hin gedacht

und damit immer auch im Sinne einer Ethik, die sich aus dem

offenen Bezug zur Individualität des anderen bestimmt. Gegen

die inkarnative Christologie der Verwirklichung des Absoluten,

in der die Individualität verschwindet, entwirft Cassirer mit

Cusanus eine Theorie der Subjektivität, die am „Guten jenseits

des Seins“ sich orientiert.

Wir begreifen alsdann, daß es für uns widersinnig ist, dasAbsolute an sich, ohne eine solche Bestimmung durch einenindividuellen Blickpunkt, auch nur denken zu wollen – daßaber andererseits keiner dieser Blickpunkte vor dem anderenden Vorrang hat, weil es eben erst ihre konkrete Totalitätist, die uns ein wahres Bild des Ganzen zu vermittelnvermag.144

Bisher hat Cassirer die Archäologie der Subjektivität ganz aus

diesem Geiste einer offenen Christologie entworfen und damit

die eigene jüdische Existenz als eine Version von Alterität als

in diese offene Totalität integrierbar gesetzt. Aus der

Perspektive der Katastrophe am Ende seines Lebens, auch hier

nur in fragmentarischen Ansätzen, kommt es allerdings zu einer

Reorientierung, einem Perspektivwechsel, der die jüdische

Perspektive nicht mehr nur als eine mögliche Perspektive im

Ensemble der perspektivischen Blickpunkte, sondern nunmehr das

jüdische Subjekt auf der Grundlage der ethischen

Grundorientierung als Ursprung für diese ethische Transzendenz

einsetzt. Im Kontext der Erläuterung der Mythologie vom Führer

144 Cassirer, Individuum und Kosmos, S. 33.73

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

und vom jüdischen Feind, dessen Ursünde eben in der radikalen

Infragestellung aller politischen Mythen und Idolatrien

besteht, kommt es immerhin zu einer durch die Feindzuweisung

bedingten Selbstidentifikation Cassirers mit diesem jüdischen

Feind.

To deny or even to doubt this ideology was to them a mortalsin. It became a crimen laesae majestatis – a crime of hightreason against the omnipotent and infallible totalitarianstate. That the Jews were guilty of this crime was obvious.They had proved it by their whole history, by theirtradition, by their cultural and religious life. In thehistory of mankind they had been the first to deny and tochallenge those very conceptions upon which the new state wasbuilt for it was Judaism which first made the decisive stepthat led from a mythical to an ethical religion.145

Aus der absolut negativen Perspektive Adolf Hitlers, vom Juden

als dem Feind, wird das Judentum nun zu der Grundlage des

eigenen kritischen Idealismus, dessen eigentliche Funktion im

Kampf zwischen Vernunft und Mythos, Freiheit und Macht, in der

Mythos- und Machtkritik liegt. Aus der Perspektive der totalen

Katastrophe erweisen sich nicht nur die Weimarer Jahre als

Ausnahmezustand, sondern Cassirer stößt auf den eigentlichen

politischen Sinn seines Denkens, das den Mythos nun nicht mehr

nur als mögliche Wissensform des Absoluten in die ideal-

utopische coincidentia oppositorum integriert, sondern als die

potenzielle größte Gefahr eben für diese coincidentia wahrnimmt:

als deren Zerstörung. Die neue Situation führt also über die

Entdeckung der Rolle des Mythos für die Machtpolitik nicht nur 145 Cassirer, Symbol, Myth and Culture, S. 240. Vgl. Jürgen Habermas’ Bemerkung zu Cassirers, Judaism and the modern Political Myth: „Gegen die Gewalt politischer Mythen vertraut Cassirer bemerkenswerterweise nicht so sehr auf die wissenschaftliche als vielmehr auf die religiöse Aufklärung – auf jene vom Monotheismus längst geleistete Bezwingung des Mythos in dessen eigener Sphäre.“ Jürgen Habermas, „Die befreiende Kraft der symbolischen Formgebung“, in: Frede/Schmücker, Ernst Cassirers Werk und Wirkung, S. 103

74

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

zu einer Reformulierung des eigenen Projekts des kritischen

Idealismus als einer in der jüdischen Theologie begründeten

mythos- und machtkritischen Ethik, sondern zur Entdeckung des

„Politischen“ im Sinne einer fundamentalen Ebene des eigenen

philosophischen Projektes. Der kritische Idealismus findet über

das politisch-mythologische Problem zur politischen Theologie

des Judentums, die zwar an der ursprünglichen Position der

Einheit der gegensätzlichen Symbolordnungen festhält, aber mit

der politischen Dimension immerhin einen Urkonflikt zwischen

einer inkarnativ-mythologischen Tendenz zur Totalisierung und

dem ethischen Pluralismus erzeugt, der den Mythos sprengt.

All the higher ethical religions – the religion of theprophets, Zoroastrianism, Christianity – set themselves acommon task. They relieve the intolerable burden of the taboosystem, but they detect, on the other hand, a more profoundsense of religious obligation that instead of being arestriction or compulsion is the expression of a new positiveideal of human freedom.146

Das Modell für eine solche Orientierung am eigenen Judentum,

die Neubegründung des Ursprungs ethischer Subjektivität im

Judentum als der ersten Religion, die den Mythos sprengt, hat

Cassirer mit aller Wahrscheinlichkeit bei Hermann Cohen

gefunden, der eben diese Dimension des Anti-Mythos für die

politische Theologie des Judentums in den Vordergrund stellt.147

Cohen, immerhin der Lehrer und Förderer Cassirers, hatte in

seinem Buch Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums Israels

staatenlose Existenz unter den Völkern positiv in eben diesem 146 Ernst Cassirer, An Essay on Man, New Haven 1944, S. 108.147 Zum Verhältnis Cassirers zu Cohen siehe vor allem John Michael Krois, Cassirer: Symbolic Forms and History, New Haven 1987, S. 38–42, der insbesondere Cassirers Versuch, sich von Cohen abzuheben, betont, allerdings auf diese spätere Rückkehr nicht eingeht. Vgl. Andrea Poma, Yearning for Form and other Essays on Hermann Cohen’s Thought, Dordrecht/Berlin 2005, hier: „Religion as End of Culture and the System of Philosophy“, S. 169–202.

75

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Sinne einer messianischen Mission gedeutet, die Staat, Macht

und Mythos, wenn es sein muß, in einem kollektiven Martyrium

unter Beweis stellt. Jedenfalls ergibt sich aus diesen letzten,

fragmentarisch gebliebenen Reflexionen, daß das Judentum zu

einem eigenen individuellen Subjekt avanciert, dessen Bedeutung

ihm negativ zunächst aus der unvermeidlichen Feindschaft jeder

mythisch-inkarnativen Konzeption von politischer Macht

erwächst, dann positiv als eben die theologisch-messianische

Mission bestimmt wird, die Mythos und Machtpolitik kritisiert.

Erstaunlich ist dabei im Grunde, daß Cassirer den

eigentlichen politisch-theologischen Mythos des Judentums, den

Purim-Mythos, nicht selber aufgreift, sondern ihn als Adolf

Hitlers Schreckensvision vom möglichen eigenen Untergang

übergeht, den die Juden eben in einem Purim-Spiel feiern

könnten.

When reaching Hitler's last orders marking the 11thanniversary of his National Socialist regime, we meet with astrange phenomenon. Hitler has completely changed his tone.He is no longer promising the conquest of the world to theGerman race. He begins to see his defeat and he feels itsconsequences. But what does he say at this critical moment?Does he speak to the innumerable evils which his aggressionhas brought to the German people, to Europe, to the wholeworld? Does he think of the defeat of his armies, of thedistinction of German cities? Nothing of the kind. His wholeattention is still fixed on one point. He is obsessed andhypnotized by one thing alone. He speaks of the Jews. If I amdefeated – he says – Jewry could celebrate a secondtriumphant Purim festival.148

Es ist der Mega-Stratege des politischen Mythos, Adolf Hitler,

der hier ausgerechnet auf den jüdischen Mythos von Purim

zurückgreift, der die Geschichte von der Verschwörung des

148 Cassirer, Symbol, Myth and Culture, S. 241 f.76

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

persischen Hofministers Haman gegen die Juden im Persischen

Reich berichtet. Haman hegt bekanntlich einen regelrechten

Vernichtungsplan gegen die Juden, weil diese sich weigern, den

persischen König durch eine Verbeugung zu verehren. Dieser

Vernichtungsplan kann allerdings durch die jüdische Königin

Esther und ihren Onkel Mordechai wunderhaft abgewendet werden.

Der Mythos, der die politisch-theologische Mission des

jüdischen Monotheismus als Kampfansage gegen jede Idolatrie

hier in der Geste der Verweigerung der Herrscherverehrung und -

vergöttlichung kodifiziert, um zugleich den gefährlichen

Konflikt, der aus dieser Verweigerung erwächst, zu

dramatisieren, bildet die Grundlage für das jüdische Purim-

Fest. In diesem Fest erinnern die Generationen ihr historisches

Schicksal archetypisch und feiern zugleich ihre Errettung von

dem Judenfeind und der von ihm angestifteten Verfolgung. In

vieler Hinsicht handelt es sich hier also um den politisch-

theologischen Mythos des Judentums par excellence. Er

vergegenwärtigt die durch die Geschichte bestimmte, vorläufige

ewige Wiederkehr der durch die Perspektive auf die Sprengung

dieser Zyklizität gegebenen Konfliktsituation, wie sie Cassirer

immerhin selber aus der Perspektive seiner wie immer hilflosen

Anknüpfung ans Judentum deutet. Denn so sehr das Judentum eben

die schlechthin antimythische Macht bezeichnet, so wird sein

historisches Schicksal immer wieder Ausdruck der mythischen

Wiederkehr des durch diese Antimythik bestimmten Konfliktes.

Cassirer erwähnt Hitlers Evozierung des Purim-Spiels, ohne

selber auf diesen jüdischen Mythos zurückzugreifen und von ihm

her die spezifisch-aktuelle jüdische Situation seinerseits

„mythisch“ zu entfalten. Die Zeit für einen Triumph sei nach

77

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

den erfahrenen Schrecken ohnehin unwiederbringlich vorüber. „In

our eyes, in the life of a modern Jew, there is no room left

for any sort of joy or complacency, let alone of exaltation or

triumph. All this has gone forever.“149 Zugleich aber schließt

er diesen fragmentarischen Text eben doch mit einer genuin

jüdischen Geschichtskonstruktion.

The victims of this ordeal cannot be forgotten; the woundsinflicted upon us are incurable. Yet amidst all these horrorsand miseries there is, at least, one relief. We may be firmlyconvinced that all these sacrifices have not been made invain. What the modern Jew had to defend in this combat wasnot only his physical existence or the preservation of theJewish race. Much more was at stake. We had to represent allthese ethical ideals that had been brought into being byJudaism and found their way into general human culture, intothe life of all civilized nations. And here we stand on firmground. The ideals are not destroyed and cannot be destroyed.[…] If Judaism has contributed to break the power of themodern political myth, it has done its duty, having once morefulfilled its historical and religious mission.150

Diese Konstruktion versteht nicht nur die jüdische Geschichte

als fundamentalen politisch-theologischen Konflikt zwischen

mythischer Macht und ethischer Machtkritik, sondern ordnet die

eigene Auffassung von philosophischer Kritik offenbar im Lichte

der politischen Dimension nunmehr der jüdischen Mission selbst

zu. In Anlehnung an Hermann Cohen ist er bereit, diese Mission

im Sinne einer jüdischen Geschichtstheodizee, die dem

wiederkehrenden Leiden in dem bisher immer noch sich

wiederholenden Zyklus von Herrschaft und Herrschaftskritik Sinn

verleiht, zu deuten.

149 Ebd., S. 241.150 Ebd.

78

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Ironie und KenosisVon Kierkegaards zu Schmitts Kritik der romantischen Ironie

I Ästhetik zwischen Theologie und Politik

Carl Schmitts Essay über die Politische Romantik151 inszeniert

das Scheitern des Versuches, politische Romantik zu definieren.

Dieses Scheitern beruht auf dem Nachweis, dass „politisch“ und

„romantisch“ unvereinbare Gegensätze sind. Wenn allerdings das

Politische = Entscheiden/Handeln, und das Romantische =

ironischer Vorbehalt gegen jede Entscheidung ist, dann wird

nicht nur jeder Definitionsversuch unmöglich, sondern das

Scheitern der Definition wird an sich sozusagen souverän. Dabei

begründet es nicht nur die Souveränität des Autors Schmitt.

Zwar ist das Entweder – Oder hier an sich selbst noch nicht

151 Carl Schmitt, Politische Romantik, Berlin 1991 (1925). Vgl. zur Frage eines Zusammenhangs zwischen der romantischen Ästhetik und Schmitts eigener politischen Position vor allem Jürgen Habermas, „Die Schrecken der Autonomie – Carl Schmitt auf englisch“, in: ders., Eine Art Schadensabwicklung – Kleine politische Schriften, Frankfurt a. M. 1987, und Karl Heinz Bohrer, Die Kritik derRomantik – Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne, Frankfurt a. M. 1989. Vgl. auch David C. Durst, Weimar Modernism. Philosophy, Politics, and Culture in Germany 1918–1933, Lanham 2004, Kapitel 2: „Berlin Dada, Carl Schmitt, Georg Lukacs and the Critique of Contemplation“, S. 33–72. Die Frage nach dem Verhältnis der oft am Ästhetischen orientierten Dekonstruktion zu Kierkegaards oder Schmitts Entweder – Oder bezeichnet sicher den Moment einer kritischen Reflexion über die Dekonstruktion, die bei Jacques Derridaselbst: The Gift of Death, Chicago 1995, und ders., Politik der Freundschaft, Frankfurt a. M. 2000, aufgenommen wird. John D. Caputo, „Either – Or, Undecidability, and Two Concepts of Irony, Kierkegaard and Derrida“, in: Elsabeth Jegstrup, The New Kierkegaard, Bloomington 2004, S. 14–41 bringt die Tendenz auf den Begriff, wobei es ihm v.a. darum geht, Derrida von einer romantisch-ästhetischen und ironischen Haltung „freizusprechen“. Ähnliches gilt für Mark Dooley, Kierkegaard and Derrida: Between Totality and Infinity, S. 199 –213oder Richard Kearney, „Kierkegaard and Hamlet. Between Art and Religion“, in: Jegstrup (Ed.), The New Kierkegaard, S. 224–243.

62

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

„das Politische“, aber im Prinzip enthält es schon die

Dramaturgie dessen, was Schmitt mit diesem Begriff meinen wird.

Schmitts Rhetorik ist hinlänglich bekannt. Da, wo Gegensätze

ästhetisch, in einem Gespräch oder in einem höheren Dritten

aufgelöst werden, sollen Entscheidungen, also ein Entweder –

Oder etabliert werden. „Es wäre ganz unrichtig“, meint Schmitt

für den Fall des Romantikers, „hier von Dualismus oder Monismus

zu sprechen, denn Dualismus und Monismus sind hier keine

Gegensätze, weil die Gegensätze selbst keine Gegensätze sind,

sondern nur Anlässe. Kein Begriff behält seine Form, alles löst

sich auf in oratorische Musik.“152

„Politische Romantik“ ist also das Produkt einer solchen

„oratorischen Musik“, in der das Unvereinbare ästhetisch

versöhnt wird. Es ist rhetorisch ein Oxymoron, onto-logisch:

eine coincidentia oppositorum. Damit aber gibt Schmitt zu

erkennen, daß hier ein zusätzliches, fundamentaleres Problem

vorliegt, das vor dem existenziellen Entweder-Oder eine onto-

logische Entscheidung verlangt. Die Idee der Einheit der

Gegensätze, das Seinsprinzip aller romantischen Ironie werde im

Diskurs der politischen Romantik – so Schmitt – von Gott auf

das Subjekt übertragen, womit eben der ästhetische

Expansionismus ausbreche, der alle Lebensbereiche erfaßt und

neutralisiert. Die Kritik der Romantik als Kritik der Ironie

setzt so – vor der jeweils konkreten Entscheidung – eine

Grundentscheidung voraus: nämlich eine theo-egologische

Disjunktion, die Trennung von Gott und Subjekt.

152 Schmitt, Politische Romantik, S. 142 f.63

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Bis hierher, so könnte man sagen, rekapituliert Schmitt also

nur die Ironiekritik Kierkegaards an einem prägnanten

Beispiel.153 Aber eben dieses Beispiel markiert an sich schon

ein drittes Entweder-Oder, das diese Rekapitulation erst

legitimiert. Es geht Schmitt nicht um eine zuletzt theologisch

begründete, sondern eine politische Kritik der Ironie. D.h.

wenn er, wie Kierkegaard, die Ironie gegen sich selbst wendet,

dann entdeckt er nicht das theologische Problem der Sünde und

den Horizont ihrer Erlösung durch die Liebe, sondern er

entdeckt das politische Problem vom Willen zur

Selbstbehauptung, dem Feind und seiner Bekämpfung durch den

Souverän.

153 Sören Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates, Gütersloh 1994 (1841). Carl Schmitt erwähnt Kierkegaards Namen in der Politischen Romantik nur in einer Fußnote, S. 76, wo er freilich behauptet, daß seine Lösung „für die politische Romantik [...] nicht in Betracht [kommt].“Dabei übernimmt er das Kategoriensystem Kierkegaards für seine eigene Ironiekritik fast wörtlich. Zugleich hat Schmitt an anderer Stelle Kierkegaards Bedeutung für sein eigenes Denken betont. Carl Schmitt, Donoso Cortes in gesamteuropäischer Interpretation. Vier Aufsätze, Köln 1950, S. 102 u. S. 107, wo Kierkegaard zu den „mit aktueller Kraft erfüllten Namen“ gezählt wird. Vgl. Klaus Michael Kodalle, „Der non-konforme Einzelne. Kierkegaards Existenztheologie“, in: Jakob Taubes (Hrsg.), Der Fürst dieser Welt, München 1983, S. 198–226. Allgemein zur Kierkegaard Rezeption vgl. „The Unknown Kierkegaard. Twentieth century receptions“, in: Alastair Hannay/Gordon Daniel Marino, The Cambridge Companion to Kierkegaard, 1998, S. 48–79 Zu seinem Politikverständnis vgl. auch Hermann Deuser, Dialektische Theologie. Studien zu Adornos Metaphysik und zum Spätwerk Kierkegaards, München/Mainz 1980 oder ders., „Religious Dialectice and Christology“, in: Hannay/ Marino, Companion S. 395: „In this respect Kierkegaard had counted subsisting Christendom the worst enemy of Christianity and also strictly rejected church participationin the civil political reform. Conservative and revolutionary agendas are mixed here; and here, too, the role of the corrective is not to be overlooked.“ Peter J. Mehl, Thinking through Kierkegaard. Existential Identity in a Pluralistic World, Chicago 2005, erkennt in Kierkegaard‘s Theologie nur die Kompensation sozial-kultureller Strukturen: „Kierkegaard's unyielding affirmation of the ideal of the morally serious strong spriritual evaluator, an affirmation that generates the rationale for the move to theism and Christianity, rests on the powers that constituted him: his social and cultural context.“ (S. 169)

64

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Wie Kierkegaard fordert Schmitt eine scharfe Disjunktion

zwischen Theologie und Politik, aber eben um des Politischen

willen. Das Politische soll von all den theologischen Residuen

gereinigt werden, die die Verwechslung von Theologie und

Politik in der Moderne, also die politische Utopie eines

Himmelreichs auf Erden hinterlassen haben und deren ultimative

rhetorische Ausdrucksform eben die Ironie sein soll. Damit wird

sich zuletzt die Frage stellen, ob das implizit geschlossene

Konkordat zwischen dem Theologen Kierkegaard und dem

Theoretiker des Politischen, Carl Schmitt, auf die Dauer sich

aufrechterhalten läßt, und wenn ja, unter welchen Bedingungen.

Im Folgenden soll es also um drei Disjunktionen gehen: Zuerst

um die zwischen dem Romantischen und dem Politischen, dann um

die zwischen Gott und Subjekt und zuletzt um die Entscheidung

zwischen „dem Theologischen“ und dem „Politischen“ – also der

Möglichkeit eines Konkordats zwischen beiden. Dieses letzte

Entweder – Oder betrifft im Prinzip zwei existenzielle

Möglichkeiten, nämlich die der agapeischen Liebe einerseits und

die des reinen Willens zur eigenen Macht, die erotische

Souveränität,154 andererseits.

Die Auseinandersetzung um den Stellenwert des Theologischen

soll zuletzt an Schmitts Parodie der Kenosis, der Menschwerdung

Gottes – auch hier in Hinsicht auf Kierkegaard – verifiziert

werden. Aus der Perspektive der Kenosis wird sich zeigen, daß

154 Den Begriff der erotischen Souveränität entnehme ich der exzellenten Untersuchung über Ethik und Ontologie von William Desmond, Ethics and the Between, New York 2001, S. 323 ff. Desmond stellt dieser erotischen Souveränität als Wille zur Selbstbehauptung die Möglichkeit der agapeischenSolidarität gegenüber, ohne daß er diese beiden Artikulationen der Liebe ontologisch auseinanderreißt. Die Liebe ist hier nicht wie in der neusten Phänomenologie „jenseits des Seins“, vgl. Jean-Luc Marion, God without Being, und ders., The Idol and Distance.

65

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Carl Schmitt weder in einer einfachen Nachfolge zu Kierkegaards

Denken steht, noch daß die von ihm am Modell der Theologie

vollzogene Emanzipation von der Theologie erfolgreich

durchgeführt werden kann. Als Hauptthese formuliert: Schmitt

reproduziert zuletzt die onto-theologische Identität, den

Gottmenschen, den er für das radikale Scheitern der Moderne

verantwortlich macht. Nur während der Gottmensch als Ironiker

sich von jeder Realität fernhalten muss, wird man sich den

Gottmenschen qua Souverän als permanente Kriegserklärung gegen

die Realität vorstellen müssen. In beiden Fällen wird die

Realität verfehlt.

II Entweder – Oder I

Schon oft hat man sich darüber gewundert, warum Schmitt den für

seine Verhältnisse langen Essay über die politische Romantik

der Kritik des fast vergessenen politischen Romantikers Adam

Müller widmet. Hugo Ball meinte gar, daß Schmitt hier einen

ganzen Wald eingezäunt habe, um einen Haasen zu hetzen.155 In

der Tat erscheint der Begriffsapparat, den Schmitt von

Kierkegaard entleiht, unverhältnismäßig im Vergleich zu dem

Objekt der Kritik.

Diese Unverhältnismäßigkeit der Methode erhält allerdings

ihre Legitimation dadurch, daß 1) Schmitt mit dem Rückgriff auf

155 Hugo Ball, „Carl Schmitts politische Theologie (1924)“, in: Hugo Ball, Der Künstler und die Zeitkrankheit, Ausgewählte Schriften, Frankfurt a. M. 1984. Vgl. auchEllen Kennedy, „Carl Schmitt und Hugo Ball – Ein Beitrag zum Thema politischer Expressionismus“, in: Zeitschrift für Politik, Jahrgang 35, S. 143–162 und mein Buch Die Apokalypse des Subjekts, vor allem Kapitel VIII: „Genie, Souveränoder Asket“, S. 134–151.

66

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

die theologisch motivierte Ironiekritik Kierkegaards die

Theologie implizit zum Verbündeten bei der Destruktion der

Moderne erhebt, 2) die theologische Kritik dabei explizit ins

Politische wendet und 3) Adam Müllers politische Romantik als

exemplarischen Fall dessen kennzeichnet, was er später als die

politische Theologie der Moderne im Ganzen kritisieren wird.

Es verwundert nicht, daß Schmitt über die Herkunft seines

Begriffsinstrumentariums kaum ein Wort verliert. In einer

Fußnote grenzt er sein eigenes Programm von dem Kierkegaards

scharf ab:

Bei ihm sind alle Elemente des Romantischen wirksam gewesen:Ironie, ästhetische Weltauffassung, Gegensätzlichkeiten vonMöglichem und Wirklichem, Unendlichem und Endlichem [...]Sein protestanistisches Christentum machte ihn zum einzelnen,bewußt im Gott des Christentum existierenden Individuum. Inder Unmittelbarkeit des Gottesverhältnisses war jede alssolche wertvolle, menschliche Gemeinschaft aufgehoben. Fürdie politische Romantik kommt diese Lösung nicht inBetracht.156

Dabei geht es Schmitt nicht nur um die Adoption von

Kierkegaards Unterscheidungskategorien – endlich/unendlich,

wirklich/möglich, intuitiv/diskursiv – sondern er übernimmt vor

allem dessen Methode des „katastrophischen Gebrauchs“ dieser

Kategorien, um den politischen Romantiker zu Fall zu bringen.

Dieser katastrophische Gebrauch kommt bei Schmitt durch einen

einfachen Perspektivwechsel zustande. Was Kierkegaard immerhin

aus intimer Kenntnis, aus der Innenperspektive sozusagen,

beleuchtet, visiert Schmitt von außen mit dem kalten Blick des

Analytikers an. Was Kierkegaard als die eigene und gleichsam

„jemeinige“ Pathologie beschreibt, das portraitiert Schmitt als

die Gestalt des anderen und Fremden. Da also, wo Kierkegaard 156 Schmitt, Politische Romantik, S. 76.

67

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

die existenzielle Pathologie der romantischen Psyche

beschreibt, die sich vergeblich um ein Gleichgewicht bemüht,

zwischen dem Wunsch, ein einmaliges Ich zu sein, und der

Verzweiflung darüber, eben dieses Ich sein zu müssen –, da kann

Schmitt nur Inkonsequenzen konstatieren, die opportune bis

fatale politische Konsequenzen zeitigen müssen.

Die katastrophale Disjunktion von Politik und Romantik

erlaubt keine Sympathie und keine alternative, etwa sokratisch

empathische Ironie, sondern es geht hier um die Fixierung von

Schwächen, um den Gegner zu überführen und zu schlagen. Wenn

Schmitt Adam Müller vor das Gericht des Entweder-Oder zerrt,

ist freilich schon alles entschieden, denn eine Entscheidung

für das Romantische = die Nichtentscheidung fällt ohnehin von

vornherein aus. Das Ganze erhält den Charakter eines

Schauprozesses, bei dem der Angeklagte, auch wenn er geständig

wird, nicht mit mildernden Umständen rechnen darf.

Wenn Kierkegaard das Dasein aus der Perspektive einer

angestrebten Synthese auf das System der

Unterscheidungskategorien hin auslegt, so erkennt er

bekanntlich an den Polen bzw. der Vereinseitigung einer der

Momente die Pathologie, die das Dasein in die Verzweiflung

treibt.157 Schließt sich der Bürger tendenziell in der

Endlichkeit und Wirklichkeit ein, so verlegt sich der

romantische Phantast ganz auf die Modalität der Möglichkeit,

die das Leben in eine unendliche Reihe potentieller

Lebensentwürfe auffächert. Beide müssen verzweifeln.

157 Vgl. vor allem: Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, hrsg. von Liselotte Richter, Hamburg 1991 (1849).

68

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Das besondere Interesse gilt hier freilich diesem

romantischen Ästhetiker und Ironiker, der sich in Freiheit zu

setzen beabsichtigt, indem er sich jeder konkreten Bindung an

die Realität enthält. Ironie als Lebensform beruht auf der

metaphysischen Voraussetzung, daß jede konkrete Erscheinung des

Subjekts eine Negation seines an sich unendlichen Wesens

darstellt, daß also jede Erscheinung des Ichs immer schon eine

ironische Verkehrung und damit das Gegenteil von dem ist, was

es eigentlich und wirklich ist.158 Indem sich das ironische

Dasein so als Freiheit, Unabhängigkeit, Selbstmacht und Fülle

der Möglichkeiten setzt, wird es Objekt einer Ironie der

Ironie, die die Freiheit in Unfreiheit, die Selbstmacht in

Ohnmacht etc. verkehrt. Kierkegaard beschreibt diesen Prozess

als Umschlag des ästhetischen Lebensbezugs in Langeweile,

Melancholie und Verzweiflung und in letzter – theologischer –

Instanz als einen besonders prägnanten Fall von Sünde.159

Insofern nämlich ein Leben jenseits konkreter Entscheidungen

sich zwangsläufig den Kaprizen der jeweiligen Stimmungen

unterwerfen muß und sich so in eine Abfolge diskontinuierlicher

Anlässe fragmentiert, denen allen nur das eine gemeinsam ist,

daß keine Stimmung das Ich wirklich hinreißen und damit binden

darf, bildet sich notwendig die Fundamentalstimmung der

Langeweile heraus. Sie ist die Stimmung, die sich von jeder

Faszination freihält, aber als solche schon den Umschlag der

Freiheit in eine Qual anzeigt, die in Schwermut, Verzweiflung

158 Vgl. Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie, hier vor allem das Kapitel über die „Nachfichtesche Ironie“, S. 277 ff.159 Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, Zweiter Abschnitt: „Verzweiflung ist dieSünde“, S. 73 ff. Vgl. Marion, God without Being, der diese Phänomenologie derStimmungen aufgreift, um die Krise des Seinsbezugs des Daseins zu demonstrieren, in Kapitel 4, S. 108–138.

69

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

und Wahnsinn sich steigern muß. Diese Steigerungswerte sind

Index des wachsenden Bewußtseins der existentiellen

Unausweichlichkeit einerseits, und einer trotzigen

Selbstbehauptung andererseits, die sich Heilung und Therapie

deswegen versagen muß, weil damit der Anspruch auf Selbstmacht

vollends aufgegeben werden müßte. Langeweile, Melancholie und

Verzweiflung sind nicht nur die Symptome eines Daseins, dessen

Krankheit für Kierkegaard nichts anderes als das urtheologische

Drama der Erbsünde repräsentiert, die darin besteht, daß das

Dasein selbst Gott sein will. Indem Freiheit und Selbstmacht in

Unfreiheit und Ohnmacht sich verkehren, verurteilt sich das

Dasein zuletzt zu einer reinen Potentialität. Da keine reale

Äußerung des phänomenalen Ichs vor dem absoluten Anspruch des

wesenhaften Ichs standhalten kann, kann das wahre Ich mit

seiner Erscheinung nur unzufrieden sein, beginnt sich deswegen

zu hassen und geht zuletzt so mit sich ins Gericht, dass es

sich faktisch schon in der Hölle befindet.

Haben sich Selbstmacht ironisch in Ohnmacht, Freiheit in

Selbstgefangennahme verkehrt, so fordert die Befreiung aus

dieser ironischen Freiheit ein fundamentales Entweder-Oder,

indem das Ich sich für sich selbst entscheidet und sich

verendlicht. Diese Verendlichung kann allerdings nur so

zustandekommen, daß das endliche Ich die Unendlichkeit als

„anderes“ (voraus)setzt und sich diesem anderen im Glauben

unterwirft. Solche Befreiung als Unterwerfung wird allerdings

nur möglich, wenn das Unendliche als die Liebe gedacht wird,

die das verhasste Endliche mit dem Unendlichen, und über dieses

mit sich selbst versöhnt.160

160 Dieser Gedankengang ist schon in: Sören Kierkegaard, Entweder – Oder II, (1843) Jena, ohne Jahresangabe, in dem Brief über „Das Gleichgewicht des

70

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Schmitt setzt dieselben Kategorien – möglich/wirklich,

endlich/unendlich – ein, um da, wo Kierkegaard eine Synthese

anstrebt, eine reine Polarität zu konstruieren. An die Stelle

des Versuches, ein Gleichgewicht zwischen den Momenten zu

erzeugen, dem eine existenziell lebbare Synthese und Versöhnung

entspricht, inszeniert Schmitt den Konfliktfall. Der

romantische Daseinsentwurf entspricht dabei auch bei Schmitt

dem für die Moderne repräsentativen Daseinsentwurf, insofern

hier das Subjekt einer Überdosis von der Modalität der

Möglichkeit verfällt. Die romantische Selbstbefreiung als

Befreiung vom Zwang des Realitätsprinzips setzt für Schmitt auf

den Zustand, in dem das geniale Ich sich nicht nur als Ursprung

aller seiner Möglichkeiten, sondern vor allem als Ursprung auch

der einander entgegengesetzten Möglichkeiten setzt. Das

ästhetische Subjekt, das im Namen seiner Freiheit das

Ästhetische zum Seinsprinzip erhebt, fordert die Reduktibilität

aller seiner Vorstellungen auf das Ich und setzt damit immer

schon die Einheit der Gegensätze – möglich/wirklich,

endlich/unendlich, Ich/Nicht-Ich. Wenn so das Ich „das

Ästhetische“ zum Seinsprinzip und damit alle regionalen

Ontologien dem ästhetischen Grundprinzip unterwirft, ergibt

sich das, was Schmitt „ästhetischen Expansionismus“ nennt, der

nicht nur „alles Geistige, Religion, Kirche und Nation“161

erfasst, sondern alle Handlungen in vorläufige und jederzeit

widerrufbare, also ironische Handlungen verwandelt. Damit

Ästhetischen und des Ethischen in der Ausarbeitung der Persönlichkeit“ vollentwickelt, dann in der Beilage: „Die Definition der Sünde hat die Möglichkeit des Ärgernisses in sich; eine allgemeine Bemerkung über Ärgernis“ (Die Krankheit zum Tode, S. 78 ff.). Vor allem aber in: Sören Kierkegaard, Der Liebe Tun I/II, Gütersloh 1998161 Schmitt, Politische Romantik, S. 16.

71

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

können, so Schmitt, „alle sachlichen Gegensätze und

Unterschiede, Gut und Böse, Freund und Feind, Christ und

Antichrist zu ästhetischen Kontrasten“ und zu Mitteln der

Intrige eines Romans werden und sich ästhetisch in die

Gesamtwirkung eines Kunstwerkes einfügen. Aber eben diese

Ästhetisierung der Gegensätze zu Kontrasten transformiert das

ästhetisch -ironische Dasein nicht nur zu einem

diskontinuierlichen, d.h. hier unvorhersehbaren opportunen

Spiel mit diesen Gegensätzen. In der Konfrontation mit der

Gesetzmäßigkeit der Realität erscheint der romantische

Ironiker, da er unvermutet von einer Position zu deren

Gegenposition wechseln kann, als unberechenbar, willkürlich und

verantwortungslos, also primär als Verräter. Der politische

Romantiker kann so heute für die Revolution eintreten, morgen

ein Monarchist werden, und übermorgen beide Positionen in einem

Liberalismus aufheben, wobei solche Positionswechsel im

Zweifelsfalle der jeweiligen Interessenlage entsprechen.

Ironisches Leben ist, wenn nicht einfacher Opportunismus, so

eine Art permanenter Selbstverrat, der allerdings von außen als

Intrigenspiel wahrgenommen wird.

Da, wo nun Kierkegaard die existentielle Stimmung des Ichs

als fundamental für die Katastrophe dieses Daseins setzt, da

stellt sich aus der Außenperspektive das katastrophale Phänomen

der opportunen Gelegenheit dar: die occasio, der Anlaß und

Zufall, denen das Dasein verfällt. „Romantik ist

subjektivierter Occasionalismus, d.h. im Romantischen behandelt

das Subjekt die Welt als Anlaß und Gelegenheit seiner

romantischen Produktivität.“162 Diese occasio nun ist „ein

162 Ebd., S. 18.72

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

auflösender Begriff, denn alles, was dem Leben und dem

Geschehen Konsequenz und Ordnung gibt, sei es die mechanische

Berechenbarkeit des Ursächlichen oder ein narrativer

Zusammenhang, ist mit der Vorstellung des Occasionalismus

unvereinbar.“163

Was als souveräne Selbstmacht sich begreift, erweist sich

auch hier bei der ersten Gelegenheit als komplexe Strategie

der Realitätsflucht, die nicht nur sich nicht festlegen will,

sondern de facto Realität gegen Realität ausspielt. „Der

Romantiker, der kein Interesse daran hat, die Welt in realitate

zu verändern, hält es für gut, wenn sie ihn in seiner Illusion

nicht stört. Ironie und Intrige bieten ihm ausreichende Waffen,

um seine subjektive Autarkie zu sichern.“164 Aber auch der

Versuch, sich vor der Realität durch Ironie und Intrige

abzusichern, verkehrt sich allzu schnell in den Zustand der

Verzweiflung darüber, daß „in ihm [dem Romantiker] mehrere

Realitäten ironisch durcheinanderspielen.“165

Die vermeintliche Souveränität, die sich als Herr über das

Weltspiel wähnte, erfährt sich selbst als blindes Spiel und

Objekt von fremden Mächten. Insofern der Ironiker meinte, alle

Zufälle des Lebens als Materialien ansehen zu können, aus denen

der Romantiker machen kann, was er will, und so dieses Material

– nach dem Wort des Novalis – Ausgangspunkt und Anfang eines

unendlichen Romans sein soll, wird der Roman des Romantikers

nicht zufällig zur Szene, in der dieser Umschlag sich

dokumentiert. Die Helden in Tiecks ersten Romanen, schreibt

Schmitt und folgt hier wieder ganz auf den Spuren Kierkegaards,

163 Ebd.164 Ebd., S. 105.165 Ebd.

73

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

experimentieren als große Maschinisten im Hintergrund desGanzen und halten die Fäden des Spiels in ihrer Hand. Dochmüssen sie schließlich erkennen: auch mit ihnen spielt dasSchicksal widerum auf seine Weise [...] nur ein großes Spiel,eine Posse, in der fürchterliche Gestalten seltsamdurcheinandergemischt sind. Lovell, der geglaubt hatte, dasSchicksal seiner Umgebung mit ironischer Überlegenheit zubeherrschen, war selbst das Werkzeug der Ironie des Anderengewesen.166

Wenn so das Spiel des Romantikers gar nicht für den Fall

vorgesehen ist, daß auch der andere sich seiner Strategie

bedient, d.h. die Souveränität des Ironikers im Stillen also

schon immer voraussetzt, daß die Welt nach der alten

Gesetzmäßigkeit abläuft und eben die anderen sich nicht

ironisch verhalten, wenn anders das ironische Spiel nicht

seinen Sinn verlieren soll, so handelt es sich immerhin nur um

ein esoterisches Spiel, das niemals Grundlage einer

ernstzunehmenden Politik werden kann – was aber bedeutet, daß

der Romantiker selbst schon einen Gegensatz von romantisch und

politisch voraussetzen müßte.

Adam Müllers „Begriff des Politischen“ ist eine Projektion

des romantischen Subjekts ins Politische. Als ideales

Überindividuum, dessen naturhafte Funktion das einzelne

Individuum werden soll, spielt es „in allen erdenkbaren

Gegensätzen und Polaritäten, wird es Mann und Weib, Adel und

Bürgertum, Krieg und Frieden, Recht und Nutzen [...] kurz (es

ist) die romantische Aufreibung der Realität167“. Die

ästhetische Staatsauffassung, die im Staat ein Kunstwerk, ein

für die Interpretation offenes Spiel der Gegensätze möglicher

Deutungen erkennt, werde bei Adam Müller, am Ende zu der

166 Ebd., S. 126.167 Ebd.

74

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

"Geliebten, die sich in alles verwandeln und in die man alles

verwandeln kann, also Gegenstand eines Affekts und als solcher

occasionell, heute Preußen, morgen Österreich, bald Souverän,

bald Gesamtkredit, in jedem Fall ein „in globaler Form

schwingendes Produkt seiner eigenen Vibrationen“168.

Auch das berühmte romantische Gespräch, das in Müllers

Ökonomie der totalen Harmonisierung aller Gegensätze eine

zentrale Rolle spielt, ist selbst immer schon die Einheit von

Reden und Hören, also zuletzt doch nur ein Selbstgespräch des

einen Überindividuums. „Der Redner muss sich als Hörer denken,

der Hörer als Redner, man kann beide Rollen vertauschen, wie

Subjekt und Objekt, positiv und negativ usw. Das ist die ewige

Wechselwirkung, von der Adam Müller immer spricht.“169

Das ins Phantastische gesteigerte ideale Überindividuum als

Staat bedeutet zuletzt nicht nur die Aufhebung des Gegensatzes

und der Feindschaft, sondern die Aufhebung des anderen als

solchen, die Voraussetzung auch der harmonistischen Politik.

Schmitt drückt das Fazit dieser Überlegungen im folgenden

Passus aus:

Die deutsche Romantik romantisierte erst die Revolution, danndie herrschende Restauration, und seit 1830 wurde sie wiederrevolutionär. Trotz Ironie und Paradoxie zeigt sich einehistorische Abhängigkeit. Im engsten Bereich seinerspezifischen Produktivität, im Lyrisch-Musikalisch-Poetischenmag der subjektive Occasionalismus eine kleine Insel freienSchöpfertums finden, aber selbst hier unterwirft er sichunbewußt der nächsten und stärksten Macht, und seineÜberlegenheit über die bloß occasionell genommene Gegenwarterleidet eine höchst ironische Umkehrung: alles Romantischesteht im Dienste anderer, unromatischer Energien, und dieErhabenheit über Definition und Entscheidung verwandelt sich

168 Ebd., S. 128.169 Ebd., S. 142.

75

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

in ein dienstbares Begleiten fremder Kraft und fremderEntscheidung.170

Schmitts Text inszeniert das Scheitern des Definitionsversuches

des Begriffs „Politische Romantik“. Als Gegensätze durch keine

Ästhetik zu überwinden, bezeichnet dieses Scheitern allerdings

nicht nur die Genese des diskursiven Souveräns Schmitt, sondern

eben die Genese seines Begriffs des Politischen,171 der für den

Ernstfall eben den Konflikt zwischen dem, der sich entscheidet,

und dem, der der Entscheidung ausweicht, vorsieht. So wird Adam

Müller nicht nur zum Prototyp des liberalen Politikers, sondern

eben zu dem ultimativen Feind, der Feindschaft im Gespräch, in

der Diskussion zu überwinden hofft. Der harmlose Träumer als

Opportunist und Parteigänger – Adam Müller – wird aber aus zwei

Gründen zum Archetyp des Feindes, einmal weil er sich gegen den

eigenen Anspruch dienstbar für andere Mächte macht, zum anderen

weil er sich bis zur Selbstvernichtung selbst schwächt.

Da wo Kierkegaard den Ironiker als den Prototyp der Erbsünde

durch die göttliche Liebe – eucharistisch – über Umkehr und

Vergebung zu heilen beabsichtigt, da steht bei Carl Schmitt der

Ironiker für den Feind, der in souveräner Entscheidung erkannt

und erledigt werden soll. Dabei gilt für beide kritische

Ansätze gegen die Moderne, daß die Entscheidung, sowohl die

existentiell theologische wie die existentiell politische, eine

Grundentscheidung voraussetzt, nämlich die radikale Disjunktion

von Gott und Subjekt, deren Vergessen bzw. Verdrängen im einen

Fall den Tatbestand der Sünde, im Anderen den der Feindschaft

ergibt. Die Insistenz auf dieser ontischen Differenz begründet

170 Ebd., S. 168.171 Vgl. Carl Schmitt, Politische Theologie, vor allem das vierte Kapitel nimmt die Romantikkritik wieder auf. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen.

76

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

sowohl den Zusammenhang bzw. das Konkordat von Theologie und

Politik, wie es Schmitt hier aktualisiert, als auch die

radikale Differenz zwischen diesen beiden

säkularisationskritischen Positionen, die das Konkordat in

Frage stellt.

III Entweder – Oder 2: Gott oder Mensch

Schon bei Kierkegaard setzt die existentielle Entscheidung eine

Bereitschaft des Daseins, sich zu verwirklichen und zu

verendlichen, eine fundamentalere Entscheidung voraus: Erst

wenn nämlich das Dasein sich von der Illusion seiner

Unendlichkeit und Absolutheit zu emanzipieren vermag, wenn es

sich selbst, das ästhetische Ich, in seiner theologischen =

Gott-verfallenheit erkennen kann, bzw. diese in ihrer

katastrophalen, absolut lähmenden Wirksamkeit durchschauen

kann, wird es frei für die existentielle Entscheidung. Existenz

setzt für Kierkegaard eine fundamentale ontische Differenz

voraus, die erst den Selbstbezug und Selbstentwurf gelingen

läßt. Aus der Perspektive dieser ontischen Differenz wird der

ästhetische Lebensentwurf nicht nur als Rebellion gegen Gott,

also als Sünde neu zu definieren sein, es stellt sich um so

entschiedener für Kierkegaard die Frage, wie sich der Mensch

von dieser Ursünde zu befreien vermag, die als Rebellion des

Subjekts gegen Gottes Souveränität erkennbar die Moderne im

Ganzen als Zeitalter der radikalen Sündhaftigkeit kennzeichnen

soll. Kierkegaards Antwort ist praktisch: weil das Dasein an

dem Vergessen der ontischen Differenz zwischen Gott und Mensch

77

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

zutiefst leidet und theologisch gesehen, die Ursünde der

Rebellion schon das Gericht über den Sünder ist. Das Drama, das

Kierkegaard in der „Krankheit zum Tode“ beschreibt, läßt sich

auf die Formel einer scheiternden Selbstbeziehung bringen:

Indem das Ich sich gegenüber seiner realen Selbstdarstellung

absolut setzt, artikuliert es nicht nur die Inadäquanz von Ich

und Ich, sondern es muß jede Selbstdarstellung zugleich zum

Objekt des unendlichen Ungenügens und der unerbittlichen Kritik

werden.172 Die intendierte Freiheit und Selbstmacht muß als

intendierte Selbstliebe und positiver Selbstbezug, ebenso wie

Freiheit und Macht, sich ins Gegenteil verkehren: in Selbsthaß,

der eben Funktion dieser Diskrepanz zwischen absolutem Maßstab

und realer Verwirklichung ist. Damit aber beginnt das Dasein,

das sich absolut gegen seine reale Erscheinung auflehnt, diese

kritisiert, verurteilt, und zuletzt mit dieser ins Gericht

geht, den eigenen Leidensweg. Er beginnt mit der Langeweile,

und überschlägt sich in Melancholie, Trotz und Wahnsinn. Nicht

nur wird die intendierte Omnipotenz Impotenz, der Aufenthalt im

eigenen Ich als permanentes Selbstgericht zur Hölle für dieses

Ich, sondern es muß sich gegen jeden Heilungsversuch sperren,

je mehr es der Heilung bedürftig wird.173 Das Ergebnis ist, dass

sich dieses Ich sozusagen gegen jede Intervention von außen

verbarrikadiert, „trotzig“ jetzt gerade das Ich sein will, das

es zuletzt so schwer fand, zu sein. Es kompensiert, hier ist

Kierkegaards Analyse der Psyche des Tyrannen Nero

172 Kierkegard, Krankheit, S. 65 ff.173 Unter den zahlreichen Analysen von Kierkegaards Ironiekritik und Subjektivitätstheorie scheint die von Romano Guardini, „Der Ausgangspunkt der Denkbewegung von Soeren Kierkegaard“, in: Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst, Jahrgang 24, April–September, Band II, München1927, S. 12–33, immer noch die beste Arbeit zu sein.

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Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

paradigmatisch, die Heilungsbedürftigkeit durch Machtzufuhr,

bis es unter der eigenen Last des Ichs wahnsinnig

zusammenbricht.174 Kierkegaard zeichnet die Stationen eines

Leidens nach, dessen Therapie nicht nur in der Einsicht in die

ontische Differenz besteht, sondern in der Einsicht in die

radikale qualitative Differenz zwischen Gott und Mensch. Nur

wenn die Kreatur sich an Gottes Stelle setzt, wird Gott zu dem

unerträglichen Gericht, wird mit der Selbstentzweiung Gott zum

Feind. Der eigentliche Skandal aber seiner Offenbarung besteht

darin, dass Gott da ist, um den Menschen von seinem Wunsch,

Gott zu sein, zu erlösen, d.h. er bietet ihm die Liebe an, die

es ihm abnimmt, Gott sein zu müssen, und es ihm gestattet, sich

selbst als Mensch anzunehmen.

Kierkegaards Entweder – Oder bezeichnet so nicht nur ein

existentielles Entweder-Oder, sondern es signalisiert eine

radikale Kritik an der sogenannten Säkularisation175 als

katastrophalen Akt der Aneignung der Liebe Gottes durch die

Selbstliebe, die mit Lessing176 beginnt und im Werk von

Kierkegaards Zeitgenossen Ludwig Feuerbach 177 manifest wird.

Der Rückzug auf das autonome Subjekt muß dabei nicht nur die

Liebe Gottes als fehlgeleitete Projektion der Selbstliebe

„enthüllen“, sondern diese Reduktion reduziert die göttliche

174 Vgl. Kierkegaard, Entweder – Oder II, S. 159 ff.175 Zum Begriff der Säkularisation vgl.: Hermann Lübbe, Säkularisation – Geschichte eines ideenpolitischen Begriffes, Freiburg 1965; Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen; ErikVoegelin, The New Science of Politics; Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1996.176 Gotthold Ephraim Lessing, „Das Testament des Johannes“, in: ders., Werke, Bd. 8, München 1979, S. 15–19 177 Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6, Stuttgart 1960, S. 15: „Gott ist das offenbare Innere, das ausgesprochene Selbst des Menschen; die Religion die feierliche Enthüllung der verborgenenSchätze des Menschen, das Eingeständnis seiner innersten Gedanken, das öffentliche Bekenntnis seiner Liebesgeheimnisse.“

79

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Liebe und die Nächstenliebe notwendig auf die Selbstliebe, die

zuletzt nur noch ästhetisch als Eros und Sexus sich

konstitutiert, als erotische Souveränität und Wille zur

Macht.178 Dieser Wille zur Macht als Wille zur souveränen

Selbstbehauptung muß ultimativ alles, was dem Selbst und seinem

Willen entgegensteht, als Fremdes, anderes, als Feindliches

wahrnehmen und bekämpfen.

Indem Carl Schmitt die Wurzel des modernen Subjekts in eben

dieser ontischen Verwechslung, bzw. im Vergessen der ontischen

Differenz erkennt, setzt seine politische Kritik eben eine

Rehabilitierung dieser Differenz voraus und versteht sich als

radikale Kritik an Säkularisation: „Metaphysik ist etwas

Unvermeidliches“, schreibt Schmitt in der Einleitung zur

„Politischen Romantik“,

man kann ihr nicht dadurch entgehen, daß man daraufverzichtet, sich ihrer bewußt zu werden. Wohl aber kann das,was die Menschen als letzte, absolute Instanz betrachten,wechseln, und Gott kann durch irdische und diesseitigeFaktoren ersetzt werden. Das nenne ich Säkularisation.179

Schmitt möchte hier nicht missverstanden werden. „Nicht

äußerliche Fälle, wie daß z.B. die Kirche durch das Theater

ersetzt [...], das Gotteshaus als Museum behandelt wird“, meine

er hier, sondern den prägnanten Fall der Moderne, also die

Tatsache, daß die „letzte Instanz von Gott in das geniale Ich

verlegt“180 wird. Eben dadurch ändere sich der ganze Vordergrund178 Friedrich Nietzsche, „Der Wille zur Macht VI: Der Wille zur Macht als Kunst“, § 363, in: Nietzsche Werke in zwei Bänden, II, Leipzig, ohne Jahresangabe,S. 484–485; Sigmund Freud, „Das Unbehagen in der Kultur“, in: Freud Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt a. M. 1982, vor allem Kapitel V, das eine Reduktion der Nächstenliebe auf die Selbstliebe enthält und in dem Nächstenliebe zu dem Unrecht wird, das wir an denen ausüben, die wir wirklich lieben. (S. 238 ff.)179 Schmitt, Politische Romantik, S. 18.180 Ebd., S. 19.

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Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

und so trete „das eigentlich Occasionalistische rein zutage.

[...] Jetzt erst kann wirklich alles zum Anlaß für alles

werden.“181

Auch für Schmitt weist das existentielle Problem also zurück

auf das ontotheologische Problem, die Verwechslung von Gott und

Subjekt. Die Differenz zwischen beiden ist in der Metaphysik

der Moderne in Vergessen geraten und hat die politische

Theologie gezeitigt, die aus der Identität beider die Bedingung

der Möglichkeit der Fusion von Gottesreich und irdischem Reich

ableitet. Schmitt bezieht sich hier auf zwei metaphysische

Modelle, die die katastrophale Entwicklung der Säkularisation

erhellen sollen. Die eigentliche Formel vom Occasionalismus

führt zu Malebranche, die Formel von der Einheit der Gegensätze

zu Nikolaus Cusanus. Diese doppelte Reduktion entspricht

durchaus der Logik, die Schmitt hier als Logik der

Säkularisation rekonstruieren möchte. Malebranches

Occasionalismus sieht in Gott „die letzte Instanz, und die

ganze Welt und alles, was in ihr vorgeht, (ist) bloßer Anlaß

seiner alleinigen Wirksamkeit. Das ist ein großartiges Bild der

Welt und steigert Gottes Überlegenheit zu einer

ungeheuerlichen, phantastischen Größe“182.

Malebranche steht also offenbar für den Aspekt des göttlichen

Willens, während Cusanus hier für die absolute Vernunft steht,

die alle realen Gegensätze als Einheit setzt.

Der Gegensatz von Möglichem und Wirklichem wird mit dem vonUnendlichem/Endlichem, Intuitivem/Diskursivem verschmolzen.Der Mystiker des Mittelalters, der das Problem auf den Streitder Modalitäten zurückführte, fand auch hier wieder dieLösung des Konflikts in Gott: nur Gott ist zugleich

181 Ebd.182 Ebd., S. 18.

81

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

unendliche Möglichkeit und jede konkrete Möglichkeit; ervereinigt das posse und das esse in sich als die Aufhebungaller Gegensätze [...] Er ist, wie die seltsame Wortbildungdes Nikolaus Cusanus lautet, das Possest. 183

Der göttliche Wille, auf das ästhetische Subjekt übertragen,

wird zur destruktiven Willkür und Intrige, die göttliche

Vernunft auf das Genie hin gedacht, zur Aufhebung aller

Aktivität. Schmitt ortet das Problem der Moderne in eben dieser

Transformation von Gott ins geniale Subjekt, die hier als die

metaphysische Bedingung der Möglichkeit derjenigen politischen

Theologie ins Blickfeld gerät, die das „Gottesreich auf Erden

errichten“ will, und damit zuletzt immer mehr der eigentlichen

Realität des Politischen ausweicht bzw. „das Politische“ als

Entscheidung, Ausnahme, Konflikt neutralisiert. Nicht zufällig

bedürfe das absolut gewordene Ich der Romantik daher zweier

Instanzen, die Schmitt in gnostischer Anspielung: Demiurgen

nennt. Er meint den Demiurgen der Geschichte und den der

Menschheit: „Was der mittelalterliche Mystiker in Gott gefunden

hatte, suchte das romantische Subjekt selbst zu übernehmen,

ohne aber die Möglichkeit aufzugeben, den beiden Demiurgen, der

Menschheit und der Geschichte, die Aufgabe einer solchen

Vereinigung zuzuweisen.“184

Der Ironiker projiziert seine ästhetische Metaphysik der

Einheit aller Gegensätze auf die zwei temporalen „Ekstasen“,

die die Flucht aus der Gegenwart, dem Augenblick der

Entscheidung, kompensieren sollen. Der Gott der Menschheit

eröffnet die Perspektive auf eine Realisierung der Einheit

aller Gegensätze in der Zukunft, der Gott der Geschichte

verlegt diese Einheit in die Geschichte, das stetige Werden, 183 Ebd., S. 78.184 Ebd.

82

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

die Tradition, wobei sich nicht nur beide Demiurgen jeweils

ergänzen können, sondern den ständigen Frontenwechsel des

Romantikers zwischen Revolution und Restauration erläutern.

„Das Korrektiv der revolutionären Schrankenlosigkeit lag bei

dem anderen, dem zweiten Demiurgen, der Geschichte. Sie ist der

konservative Gott, der restauriert, was der andere

revolutioniert.“185

Aber eben diese Entlastung des genialen Ichs durch die

Vergangenheit und die Zukunft bestätigen nur die fundamentale

Abstinenz des säkularisierten Gottes von jeder Gegenwart. „Der

Augenblick wird zu einem übermächtigen irrationalen

gespenstischen Ereignis, insofern er die stets vorhandene

ununterbrochene Negation der zahllosen Möglichkeiten (ist), die

er vernichtet.“186

Es bedarf der Einsicht in die ontische Differenz von Mensch

und Gott, um das Entweder-Oder einzuleiten, das jetzt

historisch politisch auszutragen ist, und das Schmitt für den

grossen Augenblick, das „Ereignis“, vorbereitet. Dieser

Augenblick aber besteht tatsächlich nur in der Negation all der

Synthesen, die der politische Romantiker und Feind der

Disjunktion, vollzieht.

Beide, Schmitt und Kierkegaard setzen mit der existenziellen

Entscheidung also eine ontische Differenz voraus. Für beide ist

die Moderne als Säkularisation die Katastrophe, die sich

notwendig als Folge des Vergessens dieser Differenz einstellt.

Beide erkennen im „Ästhetischen“ die metaphysische

Grundhaltung, die den Unterschied zwischen Gott/Subjekt

verdeckt. Für beide wird die Säkularisation zuletzt zu einer 185 Ebd., S. 71 f.186 Ebd., S. 80.

83

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Parodie der Menschwerdung Gottes. Aber gerade an dem

Verständnis der Christologie läßt sich die Differenz zwischen

der theologischen und der politischen Deutung noch einmal

präzisieren.

Wenn Kierkegaard „Säkularisation“ als das Vergessen der

ontischen Differenz auffaßt, so beschreibt er Subjektivität als

einen notwendigen Leidensprozeß, der sich aus der Gottwerdung

des Menschen ergibt. Die erste Ironie besteht darin, daß dieser

Leidensweg nicht nur die Intention auf Freiheit, Macht und

Selbstliebe in Unfreiheit, Ohnmacht und Selbsthaß verkehrt,

sondern daß der moderne Gottmensch, gerade indem er die

Freiheit des neuen Menschen propagiert, die eigene Humanität

aufopfern muß. Wenn die Moderne mit ihrer wesenhaft

ästhetischen Metaphysik aus dieser Perspektive nur eine

grandiose Wiederholung der Erbsünde, der Krankheit zum Tode als

„Erkrankung“ an Gott ist, so besteht die letzte Ironie

natürlich darin, daß Heilung hier durch die Umkehrung dieser

Gottwerdung des Menschen nur dadurch zustandekommen kann, daß

nun Gott selbst eben Mensch wird, um den Menschen von dieser

Sehnsucht, Gott zu sein, zu befreien. Die KENOSIS, in der sich

Gott seiner Göttlichkeit begibt, um dem Menschen zu dienen und

sich für ihn aufzuopfern, soll den Menschen von eben der

fundamentalen Sünde erlösen, selber Gott sein zu wollen.

Bei Schmitt bleibt von diesen ironischen Konstruktionen nur

das kryptische Bild des modernen ironischen Ästhetikers als

Subjekt einer fürchterlichen Entstellung des Menschlichen

übrig, die er allerdings in der Tat als fehlgeleitete

Christologie vorstellt und verhöhnt. Politisch ist das

romantische Subjekt erledigt, weil es sich notwendig in den

84

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

„Dienst anderer unromantischer Energien stellt, so daß die

Erhabenheit über Definition und Entscheidung [...] sich in ein

dienstbares Begleiten fremder Entscheidung verwandelt.“ Schmitt

liest aber die Subjektwerdung Gottes nicht nur als

Vereinheitlichung aller Gegensätze, sondern ebenso als Prozeß,

in dem das Subjekt, alle gesellschaftlichen Funktionen auf sich

selbst vereinigt und unter deren Kreuz es schließlich

zusammenbrechen muß.

In dieser Gesellschaft ist dann dem „Individuum überlassen,sein eigener Priester zu sein, aber nicht nur das, sondern,wegen der zentralen Bedeutung und Konseqenz der Religion,infolgedessen auch der eigene Philosoph, der eigene König,der eigene Dombaumeister an der Kathedrale seinerPersönlichkeit. Im privaten Priestertum liegt die letzteWurzel der Romantik und der romantischen Phänomene. [...] Manmuß drei Menschen sehen, deren entstelltes Antlitz durch diebunten romantischen Schleier hindurchstarrt, Byron,Baudelaire und Nietzsche, die drei Hohepriester und zugleichdie drei Schlachtopfer dieses privaten Priestertums.187

Wird also das romantische Subjekt hier im Sinne des

neutestamentlichen Hebräerbriefes tatsächlich als Christus

imaginiert, der Hohepriester und Schlachtopfer zugleich ist, so

dient dieses Bild hier Schmitt nur dazu, um eben dieses an sich

selbst leidende Subjekt zu verhöhnen, es seinen eigenen

Schmerzen, seiner Tragödie zu überlassen, von der sich der

Blick des politischen Autors gleichsam entsetzt und angewidert

nur noch abwenden will. Das moderne Subjekt als Christus

zerbricht unter dem Kreuz der eigenen intendierten

Göttlichkeit. Gerade in dieser ultimativen Schwäche erweist

sich dieses Subjekt als der verächtliche Feind aller Politik

und verdient es, wenn nicht besiegt zu werden, unterzugehen.

187 Ebd., S. 21.85

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

IV Entweder – Oder 3

Wenn Carl Schmitts Kritik der politischen Romantik sich an

Kierkegaards existenzieller Theologie orientiert, um sie in ein

politisches Entweder-Oder zu übersetzen, so kommt hier ein

politisch-theologisches Konkordat zustande, das freilich nur

solange funktioniert, wie der theologische „Freund“ für den

Konflikt mit dem politischen Feind instrumentalisiert werden

kann. Das heißt konkret: solange sich die existenzielle

Theologie mit dem Rückzug aus der Moderne im Sinne eines

Rückzugs aus deren politischer Theologie begnügt und sich also

auf den privaten Glauben des Individuums beruft, das sich denn

auch den realen politischen Mächten – der berühmten Obrigkeit

aus Römerbrief 13 – unterwirft, wird dieser Bund intakt bleiben

können. So gesehen ist Schmitts Bemerkung, Kierkegaards Kritik

an der romantischen Ironie komme als eine theologische Kritik,

die auf das Individuum bezogen sei, für die politische

Romantik nicht in Frage, doppelt irreführend:

1) Es ist Kierkegaards theologische Kritik an der Romantik, die

Schmitt ins Politische wendet;

2) diese Ironiekritik bedarf eben der Theologie, die sich im

Namen von Glauben und individueller Seele aus der

Öffentlichkeit zurückzieht, um den öffentlichen Raum der

politischen Macht zu überlassen.

Die Theologie ist der Garant für einen nicht-politischen Raum,

der die politische Öffentlichkeit durch eine Lehre von der

86

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Sünde und der Obrigkeit als Hüterin der Sünde ideologisch

stützt. Friedrich Gogartens Politische Ethik188 von 1932 versteht

sich in diesem Sinne nicht nur in der theologischen Nachfolge

Kierkegaards, sondern verschärft dessen Theologie zu einer

Legitimation des autoritären Staates, wie Schmitt ihn in der

politischen Theologie von 1922 konzipiert. Hier also übernimmt

die Theologie bewußt die Aufgabe, die über die Betonung des

Sündenbewußtseins die theologischen Grundlagen für den

souveränen Staat schafft, der eben das Böse, die Sünde in

Schach halten soll.

Andere dialektische Theologen im Gefolge Kierkegaards, wie

Karl Barth189 und in seiner ersten Phase Erik Peterson190, haben

aus der Trennung von Gott und Subjekt, von Theologie und

Politik eine Lehre von der theologischen Gegenpolitik

entwickelt, die auf der Grundlage der paulinischen Theologie

zwar den Staat als Macht gegen die Sünde bejaht, ihn aber in

seiner Legitimation als Ordnung für die Menschen zugleich in

188 Friedrich Gogarten, Politische Ethik, Jena 1932189 Karl Barth, Der Römerbrief, München 1923, hier vor allem Kapitel 12–15: „Die große Störung“ überschrieben, in denen Barth zu einer radikalen Kritikder politischen Theologie der Moderne ausholt, die das Gottesreich in die Geschichte verlegt, ohne allerdings, wie sein anfänglicher Weggenosse Friedrich Gogarten, zu einer Rechtfertigung autoritärer Politik zurückzugreifen. Zur Unterscheidung von Friedrich Gogarten und Karl Barth siehe Dieter Schellong, „Jenseits von politischer und unpolitischer Theologie. Grundentscheidungen der ‚Dialektischen Theologie‘“, in: Taubes, Fürst, S. 292–315, wo die jeweilige Position zur politischen Theologie sehr klar aufgezeigt wird: Barths ideologiekritische Haltung und Gogartens. Den Gipfel von Gogartens politischer Theologie, wie sie schon in seiner politischen Ethik sich darstellt, ist ein Text von 1933, der im Titel die These formuliert: Einheit von Evangelium und Volkstum, Hamburg 1933. Der Vergleichzwischen Barth und Schmitt von Mathias Eichhorn, Es wird regiert! Der Staat im Denken Karl Barths und Carl Schmitts in den Jahren 1919 bis 1938, Berlin 1994, ist, wie mir scheint, zu sehr an den Ähnlichkeiten interessiert, um ein scharfes Profil der Antithese Schmitt – Barth zeichnen zu können. Der Vergleich Schmitts mit Gogarten wäre da in jedem Fall ergiebiger geworden.190 ? Vgl. Erik Peterson, Paulus – Der Brief an die Römer.

87

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Frage stellt. Die Christologie wird zum Modell eines

martyrologischen Widerstandes gegen jede totalitär-

terroristische Ordnung.

Wenn also auch politisch-kritische Positionen aus Kierkegards

theologischem Rückzug aus der Politik sich ableiten lassen

mochten, so weist dies nur darauf hin, daß das Bündnis zwischen

Theologie und Politik, das Schmitt grundsätzlich vorsieht,

früher oder später zu einer letzten Entscheidung führen muß, in

dem Schmitt den Primat des Politischen garantieren soll. Dies

scheint immerhin der Sinn der Transformation von der

politischen Theologie von 1922 zum Begriff des Politischen von

1927/32 gewesen zu sein.191 Die Begründung des Politischen als

Ausnahmezustand bedarf keiner Theologie bzw. keiner

theologischen Analogie (Wunder), sondern läßt sich ganz allein

aus dem Begriff des Feindes bzw. einer Anthropologie vom bösen

und gefährlichen Menschen bestreiten. Dem entspricht die

berühmte Fußnote über die evangelische Feindesliebe, die diese

bekanntlich der Privatsphäre zuweist und also die Kirche als

politische Institution unter den politischen Primat der

Feindeserkenntnis und -bekämpfung stellen soll.192

Erstaunlicherweise kündigt sich diese Emanzipation des

Politischen von jedem theologischen Kontext schon in der

Politischen Romantik an, insofern eben hier das aus der

ästhetischen Harmonisierung herausgelöste Politische die reine

Antithese ist zu jeder Diskussion, Reflexion und inhaltlichen

Setzung. Das Politische ist die reine Entscheidung ohne

191 Schmitt, Der Begriff des Politischen. 192 Ebd., S. 29: „Die vielzitierte Stelle ‚Liebet eure Feinde‘ (Math. 5,44, Luk. 6:27) heißt ‚diligite inimicos vestros‘ [...] und nicht ‚diligite hostes vestros‘; vom politischen Feind ist keine Rede.“

88

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Aufschub gegen die Diskussion ohne Entscheidung. Damit wird

diese Entscheidung aber nicht nur von jedem Inhalt entleert,

sondern sie wird – unter den apokalyptischen Umständen, die

Schmitt hier für die Moderne voraussetzt – zu der gleichsam

absoluten und zugleich rein intuitiven Handlung, die weit über

die konkrete Situation hinaus, die Moderne im „Augenblick der

Wahrheit“ zur Umkehr zwingt. Damit aber geht es dieser Politik

nicht mehr nur um eine Kritik an der Säkularisation und

politischen Theologie der Verwechslung von Gott und Subjekt,

sondern sie muß selbst zu einer alternativen Säkularisation

eben des Theologischen geraten, und zwar mit dem gleichen

Effekt einer Verwechslung. An die Stelle des Gottesreiches, mit

seiner Verwirklichung aus dem Geist der alle Gegensätze

vereinigenden Vernunft, tritt der Akt eines absoluten Handelns,

eines Handelns ohne Verzug also, das – auch hier hat

Kierkegaard den Modellfall Christus konstruiert – für Schmitt

nun politisch wirksam wird.

Da wo Christus, der eine Gottmensch, für Kierkegaard das

absolute Handeln symbolisiert, das ohne Verzug, Ausrede,

Diskussion das Werk der Liebe vollzieht, da setzt Schmitt den

Souverän ein, der – absolut – das Werk der Feindschaft

vollziehen soll. Beide, Christus und Souverän, stehen in ihrem

reinen Handeln über dem Gesetz, d.h. sie stehen nicht unter

einer Forderung, einem Sollen, über das sie reflektieren oder

89

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

diskutieren müssten.193 „Christus war Liebe, und seine Liebe war

des Gesetzes Erfüllung“, schreibt Kierkegaard,

alles in ihm war Wahrheit, es war in seiner Liebe nicht einesAugenblicks, eines Gefühls, eines Vorsatzes Abstand zwischender Forderung des Gesetzes und dessen Erfüllung [...]. DieLiebe in ihm war lauter Handeln; es gab keinen einzigenAugenblick in seinem Leben, da die Liebe nur ein untätigesGefühl gewesen wäre, das nach Worten sucht, während es dieZeit verrinnen läßt, oder eine Stimmung, die sich selbstgenug ist, bei sich selbst verweilt.194

Christus ist hier die Gegenfigur zum romantischen Ironiker, der

sich der Stimmung überläßt und die Entscheidung unendlich

aufschiebt.

Insofern Schmitts Souverän am Ende nichts anderes ist als das

reine Handeln über jedem Gesetz, ein Handeln also, das jede

Entscheidung, Reflexion und Diskussion beendet, wird es weitaus

mehr als nur zum säkularisierten Gegenbild Christi. Wo Christus

sein Werk der Liebe im Werk der Selbstaufopferung auch noch für

den Feind vollbringt, da vollstreckt der Souverän im Namen

seines Willens zur Macht, seiner auf den eigenen Eros

reduzierten Macht, sein politisches Werk als Vernichtungszug

gegen den Feind. In solcher Imitation und Umkehrung Christi

193 Vgl. Slavoj Zizek, „Carl Schmitt in the Age of Post-Politics“, in: Chantal Mouffe (Hrsg.), The Challenge of Carl Schmitt, London/New York 1999, S. 19:„Do we not encounter here Christ’s own religious suspension of the ethical?[…] [A] Sovereign compels us to respect laws precisely in so far as he is the point of suspension of laws.“ Zizek treibt den Vergleich zwischen Souveräen und Christus bis zu ihrer psychologischen Identität, wobei freilich die Differenz zwischen beiden gänzlich verwischt wird und das eigentlich politsch-theologische Problem nicht mehr zu erkennen ist. 194 Kierkegaard, Der Liebe Tun I, S. 111. Vgl. Vanessa Rumble, „Love and Difference: The Christian Ideal in Kierkegaards Works of Love“, in: Jegstrup, The new Kierkegaard, „An unqualified transcendence just like a deified immanence, has its dangers. At their worst moments, Derrida and Kierkegaard posit as our enemy the circle of the same, which is, after all,always already interrupted – and we live our lives only within this circle and can meet each other only there. At their best, they remind us of precisely this.“

90

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

zeigt sich allerdings, daß der Souverän in letzter Instanz zu

einer dämonischen Inkarnation eben des politischen Willens

wird, der die ontische Differenz wieder in sich aufhebt.

Gerade, weil Schmitt nur in Disjunktionen denken kann, kann er

der Moderne, die er kritisiert, nicht entkommen, weil ihm der

dialektische Atem ausgeht. Dem ironischen Gottmenschen, der

sich der Realität verweigert, tritt der souveräne Gottmensch

gegenüber, der die Realität obsessiv in Beschlag nimmt. Wo die

moderne Penelope tagsüber ihre ironischen Synthesen strickt, da

finden wir sie nachts dabei, wie sie diese Synthesen wieder

auseinandernimmt. Der ironischen Abstinenz von Realität

entspricht am Ende nur deren souveräne Überstrapazierung und

zuletzt Zerstörung.

91

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Deus sive NaturaFritz I. Baers Abhandlung über die Galut (1936) als politisch-

theologischer Traktat aus dem Geist der Apokalypse

I Baers Versuch einer Revision jüdischer Geschichtsschreibung

Fritz Izhak Baers kleine Abhandlung über die Galut195, das

jüdische Exil, ist in Wahrheit ein kleiner politisch-

theologischer Traktat. Unter dem Eindruck der Katastrophe der

nationalsozialistischen Machtergreifung verfaßt, geht es dem

Autor erklärtermaßen nicht um eine Ideengeschichte, sondern um

die in dieser Geschichte der Galut sich dokumentierende

Existenzfrage. Es ist dies die Frage nach den realen Ursachen

für Fortdauer und Aufhebung der Galut, die – wenn richtig

begriffen – zur Aufhebung des modernen geschichtlichen Denkens

des Judentums führen soll, denn „das geschichtliche Denken des

modernen Judentums“, so Baer, „krankt bis heute und in allen

195 Fritz Izhak Baer, Galut, Berlin 1936, gehört mit Leo Baeck, Die Pharisäer. Ein Kapitel jüdischer Geschichte, Berlin 1934; Martin Buber, Königtum Gottes, Berlin 1934;Elias Bickermann, Die Makkabäer. Eine Darstellung ihrer Geschichte von den Anfängen bis zum Untergang des Hasmonäerhauses, Berlin 1935; Hans Lewy, Von den Machterweisen. Eine zeitgenössische Darstellung der Judenverfolgungen unter dem Kaiser Caligula, Philon von Alexandrien, Berlin 1935; Leo Strauss, Philosophie und Gesetz, Beiträge zum Verständnis Maimunis und seiner Vorläufer, Berlin 1935, zu einer Reihe programmatischer wie rein theoretischer Reflexionen über die Situation der Wissenschaft vom Judentum angesichts der bevorstehenden bzw. schon angebrochenen Katastrophein Deutschland. Sind damit längst nicht alle Publikationen benannt, die damals im Rahmen des Schocken-Verlages erschienen, so läßt sich an den genannten Texten die Tendenz verfolgen, wie die historische Objektzeit auchdurch die Subjektzeit des Autors mitbestimmt wird. Dies wird vor allem an den programmatischen Schriften kenntlich wie auch an solchen, deren explizite Funktion es ist, über die historische Erinnerung tatsächlich so etwas wie Hoffnung und Trost zu spenden.

81

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Kreisen an den Wirrungen einer nicht richtig verstandenen

religiös-politischen Erbschaft.“196

Die Geschichte der Galut schreiben, heißt in diesem

Augenblick der Gefahr, eben dieses politisch-theologische

Testament „richtig antreten“. Das aber bedeutet für Baer, den

Historiker, daß die Geschichte „natürlich und kausal“ zu

erklären ist. Er möchte nun aber die historische Tatsache und

das historische Selbstverständnis der Galut erklären, das ganz

einem theologischen Geschichtsbild angehört. Damit wird der

Historiker also nicht von Gottes Handeln in der Geschichte,

sondern vom Handeln des Menschen berichten wollen, der

allerdings dieses Handeln aus dem vermeintlichen Handeln Gottes

ableitet. Das bedeutet also, daß das theologische

Selbstverständnis ein realer Faktor der Erklärung des

menschlichen Handelns wird, so etwa, wenn es darum geht, kausal

zu erklären, warum die Juden die im ganzen unerträgliche Galut

so lange haben ertragen können. Sie haben sie ertragen, weil

sie die Galut als Gottes Strafe und Vorbereitung auf die von

Gott einst herbeizuführende Erlösung begriffen haben.

Insofern aber nun dieses theologische Geschichtsverständnis

realhistorische Ereignisse im Sinne dieses Handelns Gottes

erklärt, ersetzt der Historiker das theologische

Geschichtsverständnis durch ein natürliches. Ein Beispiel:

Theologisch gesehen entspricht die Galut als Zerstörung des

Tempels und Exilierung des jüdischen Volkes einem Akt der

Strafhandlung Gottes, der, da Israel gesündigt hat, jetzt

gesühnt werden muß, damit Gott sich mit seinem Volk durch die

Aufhebung der Galut versöhnen kann. Diese theologisch-ethische

196 Baer, Galut, S. 99 f.82

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Kausalität ersetzt der Historiker nun durch eine natürlich-

politische Kausalität, der zufolge der kleine jüdische Staat –

zumal in einer bürgerkriegsähnlichen Situation – dem Ansturm

der römischen Weltmacht um 70 n. Chr. militärisch und

organisatorisch nicht gewachsen sein konnte.

So weit, so klar. Indem nun aber Baer das theologische

Verstehen der Geschichte als kausalen Grund für ein bestimmtes

Verhalten – nämlich das Aushalten der Galut – in Betracht

ziehen muß, wird dieses Verhalten selbst „unnatürlich“. Das

Überleben der kleinen jüdischen Minderheit innerhalb der

europäischen/christlichen Kultur widerspricht nämlich der

Gesetzlichkeit der natürlichen Geschichtskausalität, derzufolge

eben die schwachen von den starken Nationen zugrundegerichtet

werden. So muß der Historiker, der sich auf die natürliche

Erklärung stützt, davon ausgehen, daß die jüdische

Gesellschaft, insofern sie 2000 Jahre Galut überstanden hat,

sozusagen die natürliche Naturgesetzlichkeit suspendiert hat.

Das politisch-theologische Erbe richtig verstehen, heißt

damit zunächst: Die Geschichte nicht nur natürlich zu

konstruieren, sondern diese natürliche Konstruktion für die

Praxis umzusetzen. Dies soll in dem realpolitischen Akt

geschehen, mit dem der unnatürlichen Existenz eine natürlich-

politische Grundlage im jüdischen Staat verschafft werden soll.

Baer ist Zionist. Und indem er diese praktische Konsequenz aus

der natürlichen Geschichte zieht, ist die geforderte aktive

Politisierung der theologisch-messianischen Hoffnung auf die

einstige Aufhebung der Galut eben die „richtige“ Einsicht in

den universal-gesetzlichen Zusammenhang aller Politik.

83

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Wohl befindet sich das Judentum 1936 in der absoluten Krise,

aber dies vor allem, weil es an der Idee eines theologischen

Ausnahmezustands festhält. Zionist sein heißt, die Geschichte

restlos zu naturalisieren. Gerade aber von einer solchen

Naturalisierung erhofft sich Baer nicht weniger als die

„Erlösung“ Israels, d.h. er hofft, daß „für uns doch die letzte

Konsequenz des modernen kausal-geschichtlichen Denkens mit dem

letzten Schluß der alten jüdischen Geschichtsauffassung

zusammentrifft“197. In dieser Hoffnung auf eine mögliche

Konversion des theologischen und des natürlichen bzw. des

natürlichen und des theologischen Weltbildes liegt nun

sozusagen die für den Zionismus allgemein charakteristische

Ambivalenz zwischen Säkularisierung und Theokratie überhaupt.

Meine These ist, daß, wenn man Baers Bericht sehr genau

liest, sich ergibt, daß sowohl Baers Beschreibung als auch die

praktische Ableitung aus dieser Beschreibung sich einem

apokalyptischen Perspektivwechsel verdanken. Gerade die in der

Galut sich verstärkende theologisch-apokalyptische

Interpretation der geschichtlichen Ereignisse – der Aufenthalt

unter den Weltherrschern entspricht im Buch Daniel dem

Aufenthalt unter wilden Tieren – enthält sozusagen den

Schlüssel für eine natürliche Lesart der politischen

Ereignisse. Diese ergibt sich, wenn der Historiker das

Verhalten dieser politischen Tiere in ihrer baren Natürlichkeit

zu analysieren versucht, um sich etwa – natürlich – gegen deren

Wildheit zu schützen. Dieser Blickwechsel, der sozusagen die

Geburtsstunde der modernen jüdischen Geschichtsschreibung

ausmacht, vollzieht sich mit und nach der Vertreibung der Juden

197 Ebd., S. 103.84

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

aus Spanien, also am Anfang des 16. Jahrhunderts, bei solchen

Historikern wie Don Izchak Abravanell und vor allem Schlomo Ibn

Virga.

Wenn nun dieser historiographische Naturalismus zu einer

neuen politischen Kultur führt, in der Juden sich dem

nichtjüdischen König anempfehlen, indem sie – wie etwa Mosche

Chaijm Luzatto und Menasse Ben Israel – darauf hinweisen, daß

sie nicht nur besonders geeignet für Ökonomie und Diplomatie

sind, sondern daß sie als schwache Nation keine Gefahr für den

König darstellen, so ist dieser Naturalismus für den Historiker

Baer auf halbem Wege stehengeblieben. Er erkennt in dieser, aus

dem Naturalismus der politischen Situation der Galut gewonnenen

Realpolitik, eine „Krankheit der modernen jüdischen

Historiographie“, die in letzter Instanz zu einer fatalen

Entstellung, ja Verstümmelung des natürlichen Volkskörpers

führen muß. Die Transformation von der Apokalypse zur Natur zu

vollziehen, heißt für Baer, nicht nur diesen modernen Zustand

des Leidens aufzuheben, sondern den Eintritt in die aktive,

souveräne Politik im Sinne einer Restitution des natürlichen

Körpers zu vollziehen. Mit anderen Worten: Unter dem Eindruck

der Katastrophe von 1936 kann zuletzt die Kehre von der

apokalyptischen zur natürlichen qua real-politischen Geschichte

in ihrem vollen politisch-theologischen Sinn, d. h. praktisch

aktualisiert werden. Hiermit wäre dann die „religiös-politische

Erbschaft“ tatsächlich richtig begriffen.

Eben dies aber setzt in letzter Instanz voraus, daß Gott und

Natur in der Tat eins sind. Die metaphysische Bedingung der

Möglichkeit der politischen Theologie des Zionismus wäre also

85

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

der Pantheismus, und zwar so, wie er in einer

nationalreligiösen Sprache zu formulieren ist: als Kabbala.198

II Die Definition der Galut

Politische Knechtschaft, Zerstreuung, Sehnsucht nachBefreiung und Wiedervereinigung, Sünde, Buße und Versöhnung,das sind die großen Linien, die das Wesen der Galutbezeichnen.199

Baer stellt in dieser groben Skizze des Galutbegriffs zwei

Erklärungssysteme nebeneinander: das politische und das

theologische. System I: politische Knechtschaft, Zerstreuung,

Sehnsucht nach Befreiung und Wiedervereinigung. System II:

Sünde, Buße und Versöhnung.

Das theologische Selbstverständnis beruht auf einer Reduktion

des politischen auf das eigene Begriffssystem: Daß das jüdische

Volk in die Galut geführt wird, ist ein Strafgericht Gottes,

der die römische Weltmacht als Instrument einsetzt. Dieses

göttliche Handeln stellt die berechtigte Hoffnung auf eine

Wiedervereinigung Israels in seinem Land in Aussicht. Wenn das

politische Handeln gelingt, so ist dies sozusagen schon der

Beweis für das göttliche Handeln im Sinne der Versöhnung.

Für Baers natürliche Perspektive gilt, daß im Judentum der

zweiten Tempelperiode „Politeia [Gesetzes- und Lehrverfassung],

Volk und Land [zusammen-]gehören“200, das heißt, der sich

198 Über den Zusammenhang von Kabbala und politischer Theologie vgl. meinen Aufsatz, „Der häretische Imperativ. Gerschom Scholems Kabbala als politische Theologie?“, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 50. Jahrgang,Heft 1 (1998), S. 61–83. In erweiterter Buchform: Der häretische Imperativ. 199 Baer, Galut, S. 6.200 Ebd., S. 6.

86

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

ausbildende Begriff der Galut wird im Bezug zu einem zunächst

noch bestehenden politischen Zentrum in Palästina gedacht, in

der „der nationale Staat in Eretz Israel und das Heiligtum,

dessen sühnende Kraft der ganzen Menschheit gilt“201, also noch

existiert. Das Exil ist hier nicht nur negativ das Zeichen für

die politische Knechtschaft, sondern es besitzt durchaus eine

positive Funktion, nämlich die der „Vorbereitung der wahren

Lehre in der ganzen Welt“202. Wenn Baer also gleich mit der

Definition des heiligen Gefüges – Gesetz, Land, Volk – die

religiöse Gesetzeserfassung als Politeia beschreibt und die

Begriffe „Versklavung“, „gegenwärtiger Zustand“ und

„Wiedervereinigung“ ausdrücklich politisch definiert, dann

deutet er selbst offenbar die beiden Reihen der obengenannten

Begriffsbestimmung der Galut aus der ersten, der politischen

Perspektive, das heißt er reduziert die theologische Reihe

ausdrücklich auf die politische Reihe. Die Begriffe „Sühne“,

„Strafe“ und „Buße“ etc. kommen hier nur als Momente der

theologischen Deutung der realen historischen Erfahrung durch

die Träger dieser Geschichte vor.

Mit dieser ersten Definition, die sich in der Destruktion der

ursprünglichen Totalität von Politeia, Volk und Land nach der

Zerstörung des Tempels als eine im wesentlichen auf Tora und

Volk beschränkte Struktur herausbildet, sind die wesentlichen

Elemente der Galut benannt. Mit dem griechisch-römischen

Judenhaß und der schon in dieser Epoche voll ausgebildeten

Lehre vom Märtyrer für das Gottesreich zeigen sich aber schon

hier zwei weitere zentrale Elemente, die in späteren Epochen

immer größeres Gewicht erhalten werden.201 Ebd.202 Ebd.

87

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Die synchrone Einheit der Hauptmomente Politeia, Land, Volk

wird durch die Galut zu einer binären Struktur, die aus Volk

und Politeia (ohne Staat) besteht. Dieser Transformation

entspricht eine diachrone Abfolge von Exilierung, politischer

Knechtschaft, Sehnsucht nach Heimkehr: also die

Wiederherstellung der ternären Struktur Politeia, Volk und

Land.

III Die Geschichte der Galut

Die Geschichte der Galut verläuft nun über eine Reihe von

Stadien, Epochen, die zu bestimmten Akzentverschiebungen

innerhalb dieser Struktur führen, in der mit der Konstruktion

von Dominanten andere Elemente in ihrer Bedeutung zurücktreten

oder gar entfallen. Dieser Geschichte entspricht im Sinne der

Leidenserfahrung eine Bildmetaphorik, die das Volk als „Leib“,

„Körper“, „Statue“ usw. beschreibt, die zunehmend Schaden

nehmen, bis sie zu einem Torso werden und immer mehr entstellt

erscheinen. Auf der diachronen Achse unterscheidet Baer nach

der Epoche des Zweiten Tempels:

1) die Epoche der römischen Galut, die mit der Tempelzerstörung

im Jahre 70 der christlichen Zeitrechnung einsetzt;

2) die für diese Geschichte entscheidende Phase der

christlichen Herrschaft in Europa, der christlichen Auffassung

von der Galut als Zeichen des Heilsverlusts und der Usurpation

der Idee der heiligen Gemeinde durch die christliche Civitas

Dei;

88

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

3) innerhalb dieser christlichen Metaepoche das Mittelalter und

das Zeitalter der Kreuzzüge;

4) die Epoche der Vertreibung der Juden aus Spanien mit der

Ausbildung der verschiedenen Formen einer Marranentheologie bis

Sabbatai Zwi und Baruch Spinoza;

5) das Zeitalter der jüdisch-religiösen Aufklärung;

6) schließlich die eigentliche moderne Aufklärung als Ausdruck

der radikalen Krise, insofern diese Epoche sozusagen die

vollendete Galutvergessenheit repräsentiert.

Überblickt man die Entwicklung dieser verschiedenen Stadien in

der Darstellung Baers, so ergeben sich – wie mir scheint –

folgende historische Haupttendenzen:

Durch die Vertreibung aus dem Land wird „das immer gewaltiger

anwachsende System der Ausdeutung der Tora zum bestimmenden

Faktor im Leben des Volkes“. Diese Tendenz überschlägt sich

gewissermaßen in der mystischen Interpretation von Halacha und

Erlösungsgeschichte, die den realgeschichtlichen Aufschub der

Erlösung sozusagen kompensiert: „Durch die gewaltig anwachsende

kabbalistische Systematik wird das Galut-Problem in einen so

weitgespannten kosmisch-metaphysischen Rahmen eingebaut, daß

[am Schluß] eine Rückkehr zur Realität von hieraus kaum möglich

ist.“203 Es handelt sich also um einen eindeutigen Fall von

Überkompensation, wo die mystische Vertröstung zur Auflösung

der Realität führt, um deretwillen die Mystik entstanden ist.

Gegenüber dieser mystischen Reduktion der Geschichte erkennt

Baer eine Parallelentwicklung, nämlich eine Tendenz zur

Naturalisierung und zu einem historischen Realismus, der die

203 Ebd., S. 59.89

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

geschichtliche Situation zunehmend aus politischen, sozialen

und ökonomischen Gesetzmäßigkeiten zu begreifen versucht. Diese

Tendenz erkennt Baer schon bei Izchak Abravanell, aber vor

allem bei Schlomo Ibn Virga, der zum Begründer der modernen

jüdischen Geschichtsschreibung wird, weil er im Grunde schon

eine volle Reduktion des „Theologischen“ auf das „Politische“

vornimmt.

Es ist diese gegenläufige Dialektik einer radikalen

Mystifizierung einerseits und einer realistisch-natürlichen

Einschätzung andererseits, mit der sich das Bewußtsein einer

extremen Kluft ausbildet, das zuletzt unerträglich werden muß.

Die sabbatianische Krise, die moderne Aufklärung und das

Assimilationsjudentum sind für Baer radikale Artikulationen

dieses Krisenbewußtseins, das sich besonders eindrücklich in

der Bildmetaphorik vom entstellten Körper darstellt.

Die richtige politisch-theologische Erbschaft dieser

Geschichte antreten heißt nun, diese gewaltige Dynamik zu

erkennen, und das bedeutet, nicht nur den Ursprung der modernen

jüdischen Geschichtsschreibung in dieser Rekonstruktion

auszumachen, sondern den theologisch-apokalyptischen Ursprung

dieser natürlichen Geschichtsschreibung zu rekonstruieren.

Dieser erlaubt es, den politisch-theologischen Auftrag vor

allem dann in seiner ganzen Bedeutung zu realisieren, wenn die

Geschichte wieder, wie um 1936, in eine apokalyptische

Konstellation eintritt.

Ich skizziere jetzt etwas ausführlicher die beiden

auseinanderführenden Tendenzen, indem ich dem historischen

Bericht Baers folge:

90

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Erste Tendenz: Der entscheidende Einschnitt in der Galut-

Geschichte ereignet sich mit der Tempelzerstörung und der

Vertreibung aus dem Land Israel. Das heilige Gefüge Politeia,

Land, Volk wird zu einer binären Struktur: Volk und Tora. Mit

dieser Verkürzung, die endgültig mit der Zerstörung des (wie

auch immer unter schweren Bedingungen fortexistierenden)

jüdischen Lebenszentrums in Palästina während der Kreuzzüge

besiegelt wird, ist die Geschichte zunehmend aus der Relation

Volk-Gott verstanden, d.h. die Galut ist nunmehr Indiz für eine

„über alle naturgesetzlichen Zusammenhänge hinaus gehobene

Existenz“204. Die Historiographie der Galut beruht auf einer

Analogie zur siebentägigen Schöpfungsgeschichte:

Den ersten Tagen der heiligen Geschichte, da der Tempel nochstand, schließen sich der fünfte und der sechste Tag mit derHerrschaft der Tiere, d. h. der Weltreiche an, bis dann derWeltsabbath die gestörte Harmonie auf Erden und im Himmelwieder herstellen wird.205

Mit der Verschärfung der Bedingungen der Galut geht eine

Polarisierung der natürlichen und der heiligen Geschichte

einher. Die Galut, in der Israel unter die Herrschaft der Tiere

gerät – dies die apokalyptische Metapher für die in der

Naturgesetzlichkeit waltende Macht des Stärkeren –, ist eben

die Epoche, in der Israel, vollends land- und wehrlos, sich

gerade der natürlichen Gesetzlichkeit immer mehr entzieht. Den

ersten Höhepunkt der Verschärfung der Bedingungen bildet das

Vordringen der Herrschaft des römischen Christentums, das für

sich die Theologie der Galut „im Sinne der religiösen

Propaganda wie im Sinne des zum Zweck der Menschheitserlösung

übernommene Leiden“ beansprucht. Die Civitas Dei bestreitet 204 Ebd., S. 8.205 Ebd.

91

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

aber gerade damit den heilsgeschichtlichen Sinn der Galut und

weist den Juden als Zeugen der Strafe sowohl für den Gottesmord

als auch für die Wahrheit der christlichen Religion seinen

demütigenden Ort in der Welt zu. Die bisherige politische

Feindschaft wird zu einer politisch-theologischen Feindschaft

intensiviert. Die Juden sinken „zu einer in der ganzen Welt

politisch und religiös verfolgten Klasse“206 herab.

Mit den katastrophalen Ereignissen während der Kreuzzüge, den

Zwangstaufen, den blutigen Verfolgungen und vor allem dem

endgültigen Verlust von Jerusalem als dem wie auch immer

geschwächten „Schwerpunkt jüdischer Politik“, vollzieht sich,

was Baer als einen vollkommenen Rückzug des jüdischen Volkes

aus der aktiven politischen Geschichte beschreibt. „Das

jüdische Volk schied nun aus der Reihe der kämpfenden Nationen

aus und legt seine Geschichte ganz in die Hand Gottes – ein

einzigartiges geschichtliches Faktum, das noch kein Historiker

an der ihm gebührenden Stelle gewürdigt hat.“207 Es ist dieser

206 Ebd., S. 12.207 Ebd., S. 14. Theologisch ist der Rückzug des jüdischen Volkes aus jeder historisch-politischen Aktivität gerade in der deutsch-jüdischen Theologie immer schon Wahrzeichen einer wahren jüdischen Identität. Vgl. Cohen, Religion der Vernunft, S. 173: „So haben alle Völker auch ihre Staaten. Die Vereinsamung Israels muß konsequenterweise auch zur Staatenlosigkeit führen. […] Daher ist Israel in seiner Geschichte ein Prototyp des Leidens,ein Symbol des Menschenleids, des Menschenwesens. In der Liebe Gottes zu Israel prägt sich, nicht minder als in der zum Armen, die Liebe Gottes zu dem Menschengeschlechte aus.“ Ähnlich auch Rosenzweig, Stern, III. Buch: „Es[das jüdische Volk] muß, um das Bild der wahren Gemeinschaft unversehrt zu erhalten, sich die Befriedigung verbieten, die den Völkern im Staate wird.“In Nahum Norbert Glatzer, Geschichte der talmudischen Zeit, Berlin 1937 (der Text gehört zur Schocken Reihe), wird diese Auffassung von der notwendigen Staatenlosigkeit des jüdischen Volkes zur Grundlage einer Historiographie, die sich offenbar auf Rosenzweig bezieht: „Die jüdische Geschichtsschreibung ist nicht aus Mangel an Kraft erloschen“, schreibt Glatzer, „sondern aus der Erkenntnis, daß es eine jüdische Geschichte im eigentlichen Sinne des Wortes nicht mehr gab. Es gab vom Blickpunkt der Juden aus nur noch die Geschichte ‚der anderen‘, die in das Leben der jüdischen Gemeinschaft hinübergriff und die Verhältnisse schuf, unter denen

92

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

durch die politisch-theologische Leidenssituation bestimmte

Geschichtsverzicht, mit der die Galutlehre immer mehr in eine

reine Theologie sich verwandelt, die den Verlust der real-

politischen Macht zusehends mystisch-apokalyptisch

„kompensiert“208. In dem Traktat des Abraham Bar Chija – Megilat

HaMegale – von 1129 wird die schon erwähnte Analogie von

Schöpfung und Weltgeschichte nicht nur im Sinne einer

ziffernmäßigen Harmonie aufgerechnet, sondern das Weltende

selbst, insofern mit den Kreuzzügen nämlich die apokalyptische

Prophetie eines Daniel faktisch erfüllt sei: „Das Heiligtum ist

entweiht und die Juden endgültig aus Jerusalem vertrieben.“209

In diesem Kontext nun klafft die Spannung zwischen religiöser

Erwartung einerseits und real-politischer Situation immer

weiter auf. Während der philosophische Rationalismus des

Mittelalters und die christliche Apologetik die Grundlagen der

jüdischen Tradition erschüttern, übernimmt die Mystik die

besondere Rolle einer geistigen Neubegründung dieser Tradition.

„Die ganze Wunderwelt der Tradition erstrahlte in einem

magischen Glanze“, schreibt Baer, „der sich auch über die

Schrecken der Galut zu verbreiten schien. Aber der so belebte

Körper der Nation glich nun fast dem überirdischen Leib, mit

ihr äußeres Leben sich vollziehen mußte. Der Jude schuf nicht mehr Geschichte, sondern er erlitt sie.“ (S. 11) Baers ganze geschichtsphilosophische Tendenz ist auf die politische Destruktion dieses theologischen Mythos gerichtet, in dem er gleichsam die Krankheit auch des modernen Judentums erkennt, seine politisch-religiöse Verirrung. (Vgl. Anm.2) 208 Die Kategorie der Kompensation, die von Joachim Ritter, Subjektivität, Frankfurt a. M. 1974, eingeführt und bei Odo Marquard, Skepsis und Zustimmung. Philosophische Studien, Stuttgart 1994, eine wichtige Rolle spielt, könnte gerade zum Verständnis der politisch-theologischen Dialektik des modernen Judentums einiges beitragen. So läßt sich Baers Traktat im Prinzip auf dem Hintergrund der theologischen Kompensation für den politischen Bedeutungsverlust rekonstruieren.209 Baer, Galut, S. 21.

93

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

dem die Toten nach dem Jüngsten Gericht und der Auferstehung

bekleidet werden sollten.“210

Am Rande sei vermerkt: Israels „Volkskörper“ hat Schaden

genommen, er ist – folgt man Baers Metaphorik – schon fast

leblos, er kann aber belebt werden. Seine Restitution gelingt

mystisch, aber nur durch die Hypostase des Körpers in einen

mystischen Leib. In dem mystischen Trostbuch von Samuel Usque

(1553) wird dieser Prozeß der Kompensation des

Geschichtsverlustes durch die mystische Vision im Sinne einer

gegenläufigen Vision beschrieben: „Während das jüdische Volk

auf Erden das Joch der großen Weltmächte auf sich nahm“ – also

das Martyrium erleiden musste – „steigt es im Himmel

stufenweise bis zur letzten Sphäre, wohin die mit der Krone des

höchsten Martyriums Geweihten gelangen.“211 Dem Maß der

Unerträglichkeit der Galut als der politischen Knechtschaft

entspricht das himmlische Königtum als das Maß spirituell-

jenseitiger Herrschaft.

Zweite Tendenz: Mit dem ausgehenden Mittelalter beginnt eine

schrittweise Auseinandersetzung mit den natürlich-politischen

Bedingungen der Galut, der Existenz unter der Herrschaft der

Weltreiche. Eine solche Annäherung stellt Baer – ohne hier

explizite Folgerungen zu ziehen – bei dem großen spanischen

Staatsmann und Humanisten Don Izchak Abravanell fest.212 Zwar210 Ebd., S. 42.211 Ebd., S. 82 f.212 Zu Izchak Abravanell vgl. Benzion Netanyahu, Don Isaac Abravanel: Statesman and Philosopher, Philadelphia 1968. Leo Strauss’ Vorlesungen über Abravanell erwecken einiges Erstaunen, zumal sie den großen Politiker der Vertreibung aus Spanien 1937 (!) in ein gegenüber Netanyahu und Baer selbst so negatives Licht stellen. Vgl. John Brande Trend/Herbert Martin Loewe, (Hg.), Isaac Abravanel. Six Lectures, Cambridge 1937. Noch denkwürdiger ist, daß das, was Strauss hier Abravanell zuweist, nämlich ein bzw. der Theoretiker der Zerstörung des Staates zu sein, sich ausgerechnet mit den Aussagen deckt, die Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre Thomas Hobbes’. Sinn und

94

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

unterliegt „das jüdische Volk einer anderen Kausalität als die

der anderen Völker“. Aber indem Abravanell

Verfassungen und Literatur von Griechenland und Rom […]ebenso wie Staatsverfassungen der Gegenwart mit dem kausalenund ästhetischen Maßstab des Humanisten beurteilt, wird nichtnur das Naturgesetz, das in der Geschichte der Völkerherrscht, und seine Größe und Schönheit in sich trägt, zueinem legitimen Maßstab, sondern sogar die jüdischeGeschichte selbst dieser Naturgesetzlichkeit zugerechnet,genauer: für die Epoche des ersten jüdischen Staatswesens.213

In diesem Kontext fallen nun gerade die exegetischen Arbeiten

Abravanells auf, die – so Baer – „in die Zeit der größten

Umwälzungen in der jüdischen Geschichte“ gehören, also in die

Zeit der Vertreibung der Juden aus Spanien. Es ist eine Epoche

intensiver apokalyptischer Spekulation, die Abravanell zugleich

mit der Tradition der spanischen Auffassung von der Galut

übernimmt. „In den letzten zweiunddreißig Jahren – so schreibt

er im Jahre 1496 – hat sich überall für Israel so schreckliches

zugetragen, wie weder ihm noch irgendeinem anderen Volk vorher

begegnet ist, so lange es Menschen auf der Erde gibt.“214 So in

Baers Bericht über Abravanell.

Aus diesen Ausführungen aber ergibt sich implizit, daß der

moderne jüdische Historiker aus der apokalyptischen Situation

geboren wird, indem er die apokalyptische Szene – das Reich der

Tiere als das Reich der Politik – als eine nach eigenen

Gesetzen funktionierende Realität zu begreifen beginnt. Die

Fehlschlag eines politischen Symbols, Hamburg 1938, zu Kabbala und Messianismus trifft und die die Juden zu den Saboteuren von Staat und Souveränität erheben. Vgl. hierzu Gopal Balakrishnan, The Enemy. An Intellectual Portrait of Carl Schmitt, London/New York 2000, S. 210 f., mit der allerdings chronologisch unmöglichen Vermutung, Strauss’ Abravanell sei eine Antwort auf Schmitts Leviathan.213 Baer, Galut, S. 53.214 Ebd., S. 57.

95

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Apokalypse „enthüllt“ mit ihrer Metaphorik nur die in der

geschichtlichen Welt immer schon wirksame Naturgesetzlichkeit

der Macht, indem diese Metaphorik (die politische Welt als

Tierwelt) die Möglichkeit eröffnet, das Politische nach den

Gesetzen der natürlichen Tierwelt zu verstehen.

Dieser Übergang vom rein theologisch-apokalyptischen zum

historisch-naturgesetzlichen Standpunkt wird nun offenbar durch

den ästhetischen Aspekt, der an der Größe der Staaten eine

natürliche Schönheit wahrnimmt, gleichsam vorbereitet. Das

Ästhetische übernimmt hier sozusagen eine Brückenfunktion

zwischen dem „Theologischen“ und dem „Politischen“. Der aus dem

Spiel natürlicher Kräfte sich entwickelnde Staat kann die

politische Macht und Größe mit dem Prinzip der Harmonie dieser

Kräfte, der Schönheit vereinbaren, auch wenn diese Harmonie

gerade in dem apokalyptischen Augenblick zerstört ist.

Die Tendenz zu einer solchen Naturalisierung der Geschichte

tritt dann vor allem in dem Buch Schewet Jehuda (1520) des

ebenfalls aus Spanien exilierten Schlomo Ibn Virga in aller

Schärfe hervor.215 Es handelt sich um eine, wie Baer feststellt:

„Untersuchung der realen und psychologischen Ursachen der

Vertreibung der Juden aus Spanien.“216 Ibn Virga dehnt die

naturgesetzliche Perspektive jetzt auf die Galut selbst aus, ja

er naturalisiert sie. „Die Unterwerfung des jüdischen

Staatswesens [entspricht] einem Naturgesetz […]. Der Höhe des

Glücks folgt unvermeidlich der Sturz.“217 Konkret übersetzt

Virga diese Logik von Glück und Sturz in die folgende – von

215 Vgl. Fritz Izchak Baer, Untersuchungen über Quellen und Komposition des Schebet Jehuda, Berlin 1936 (Veröffentlichungen der Akademie für die Wissenschaft des Judentums. Historische Sektion).216 Ebd., S. 64.217 Ebd., S. 65.

96

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Baer rekonstruierte – Analyse: „Die Juden haben aber selbst

ihren Untergang dadurch beschleunigt, daß sie sich im

Bruderkampf zerfleischten und dabei fremde Mächte einluden,

sich in die inneren Angelegenheiten des jüdischen Staates

einzumischen.“218 Nicht nur universalisiert Ibn Virga den

natürlichen Standpunkt, sondern er zeigt, wie gerade das

theologische Geschichtsverständnis sich als illusionär erweisen

mußte, insofern die Juden „im Vertrauen auf die Hilfe Gottes

[…] ihre militärische Schulung vernachlässigten – und als ihnen

Gott wegen der Sünde seine Gnade entzog, so blieben sie auf

beiden Seiten kahl.“219

Mit anderen Worten: Der theologische Standpunkt bleibt pro

forma intakt – Ibn Virga nennt die Galut eine Zeit der

göttlichen Prüfung –, aber an dem zitierten Beispiel läßt sich

immerhin die mögliche Interpretation bewahrheiten, daß die

Sünde, deretwegen Gott Israel bestrafte, eben darin bestand,

daß Israel seine politisch-militärische Schulung

vernachlässigte. Die Sünde war nur die natürliche Schwäche,

bzw. sie bestand darin, daß Israel sich auf das theologische

Geschichtsverständnis von Sünde, Strafe und Erlösung verlassen

wollte. Das heißt also, mit Ibn Virga wird eine Reduktion des

theologischen auf den politischen Standpunkt möglich – ja es

zeichnet sich der Horizont einer Identifikation des natürlichen

mit dem theologischen Standpunkt ab. Gott wird hier – in Baers

Rekonstruktion – zum Prinzip von Natur und Selbsterhaltung.

Ibn Virga analysiert sogar den Antisemitismus – ganz

untheologisch – nicht mehr als Strafe Gottes, sondern als

Funktion des gesellschaftlichen Naturgeschehens, der sozialen218 Ebd.219 Ebd.

97

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Gesetzlichkeit also und ihrer Spannungen. Als politischer

Naturalist geht es ihm somit um real-praktikable Lösungen,

wobei er befürchtet, in einem „eigenen Staat (würden) sich die

Juden durch innere Zwietracht aufreiben“220. Entscheidend ist,

daß die Gründung eines jüdischen Staates für diesen politischen

Naturalisten immerhin in Betracht kommt. Er bevorzugt aber die

Idee einer Förderung gesetzlich-juristischer Maßnahmen, um die

natürlichen Spannungen zwischen dem christlichen Pöbel und der

jüdischen Minderheit abzubauen. Ibn Virga – so faßt Baer

zusammen – gibt die messianische Hoffnung „auf die volle

politische Erlösung nicht auf, und das heißt, er kritisiert vor

allem den Glauben an eine gottverhängte Galut“221.

Wenn nun für Baer ohnehin schon eine Analogie zwischen der

Vertreibung der Juden aus Spanien und der Zeit besteht, in der

er diese Untersuchung abfaßt (1936), wenn er also eine Analogie

erkennt zwischen den Marranen damals und den Marranen heute,

also jenen jüdischen modernen Assimilationisten und

Konvertiten, so besteht hier für ihn zugleich eine implizite

Analogie zwischen der – theologisch gesehen – apokalyptischen

Situation und einer naturalistischen Deutung dieser Apokalypse.

Gerade die Verschärfung der Galut-Bedingungen, der Herrschaft

durch ein tierisches Reich der Politik, führt zu einer

Wiederholung der Situation, mit der schon Ibn Virga sich

auseinanderzusetzen hatte. Wenn also, so lese ich den

esoterischen Subtext von Baers Rekapitulation der Geschichte

der Galut, die historische Gefahrensituation schon für die

spanischen Exilanten eine gleichsam „enharmonische

Verwechslung“ von Apokalypse und Naturgesetzlichkeit nahelegte,220 Ebd., S. 68.221 Ebd., S. 66 f.

98

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

so fördert die aktuelle Gefahrensituation 1936 nicht nur einen

Korrespondenzeffekt der historischen Erinnerung, sondern sie

verlangt eine konsequente Auflösung des Problems im Sinne einer

Transformation der historiographischen Einsicht in die

politische, das heißt die zionistische Praxis.

IV Die zwei Körper des Judentums

Die eigentliche jüdische Moderne – wie sie in Baers

„Konstruktion der jüdischen Geschichte“ (der Galut) erscheint,

ist durch eine Gegensätzlichkeit aus dem Extrem gezeichnet: auf

der einen Seite die mystische Theosophie, die gleichsam

apokalyptisch auf die Wirklichkeit herabblickt, auf der anderen

Seite ein politischer Realismus, der sich von der theologischen

Mythologie zu emanzipieren sucht. Dieser neue politische

Realismus denkt sozusagen „technisch“, d.h. er sucht „Lösungen“

für historische „Probleme“. Dieser theologisch-politischen

Dissoziation entspricht eine Metaphorik des Körpers, des

Volkskörpers, der sich jetzt – unter dem Druck der Verhältnisse

– in einen idealen mystischen Körper und einen realen irdischen

Körper spaltet. Der durch die Mystik neu belebte Leib der

Nation gleicht, wie Baer feststellt, einem überirdischen Leib,

während der irdische Leib zunehmend in seiner Entstellung und

Deformation erscheint.

Diese Deformation ist nicht zuletzt Funktion des Versuches,

die jüdische Gesellschaft rechtlich und politisch in den

jeweiligen Heimatländern zu integrieren. Schon der politische

Naturalist Ibn Virga sprach von der Notwendigkeit einer

99

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

verfassungsmäßigen Lösung der jüdisch-christlichen Spannungen.

Der real-naturalistische Blick für die Galut-Situation führt zu

einer real-politischen Strategie, die das Los der Juden in der

Galut dadurch zu mildern hofft, daß sie den Weltherrschern den

Nutzen anempfiehlt, der ihnen durch die Präsenz der Juden in

ihrem Herrschaftsbereich zukommen kann. Diese Nützlichkeit

ergibt sich dabei aus der Tatsache, daß die Juden nicht nur

Handel und Kultur fördern können, über gute internationale

Beziehungen verfügen etc., sondern, wie der religiöse Aufklärer

Simone Luzzato (1638) in seiner Verteidigung der Rechte der

Juden in Venedig feststellt, „nützlich für die Regierung“

selbst sind, da sie keinen Staat haben, also, obwohl

solidarisch, eine schwache Nation sind, von der keine

Revolution, keine Rebellion zu befürchten ist. Den letzten

Aufstand hätten sie gegen den römischen Kaiser Trajan geführt,

als ihnen, den Juden, noch eine „ursprüngliche Wildheit“ eigen

war.

Die Idee ist klar: Unter den politischen Tieren kann man sich

nur politisch einrichten, wenn man der eigenen Tierheit

abschwört, das heißt jedes eigene national-politische Interesse

unterdrückt. Für die natürliche Rettung des jüdischen

Volkskörpers wird so der Preis des ausdrücklichen Verzichts auf

politische Stärke, politisch-nationale Macht, kurz: die

Souveränität, entrichtet. Die Juden seien „ein Volk ohne Stolz

und Eitelkeit“. Wenn man bedenkt, welche Rolle diese beiden

Eigenschaften des Menschen noch bei Hobbes in der Formation des

Begriffs des Politischen spielen, erahnt man, was Luzatto mit

diesem Hinweis bezweckt.222 Baers Darstellung zitiert nun in222 Vgl. Leo Strauss, „Hobbes’ politische Wissenschaft in ihrer Genesis“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, hrsg. v. Heinrich Meier, Stuttgart 2001,

100

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

diesem Kontext einen bemerkenswerten Vergleich, der einerseits

die natürliche Perspektive in einem anschaulichen Bild

zusammenfaßt, der aber, da er in der Tradition des

italienischen Humanismus formuliert wird, diese natürliche

Perspektive zugleich ästhetisiert. Wenn schon bei Abravanell

die Gleichung von Größe und Schönheit gilt, so wird bei Simon

Luzatto das durch die Galut leidgeübte Israel mit einer Statue

vergleichbar, die Schaden genommen hat. Israel als Torso! Die

Pointe besteht natürlich darin, daß dieser Torso einen eigenen

ästhetischen Wert besitzt. In den folgenden Worten faßt Baer

Luzattos ästhetisches Argument zusammen:

Wenn das verwitterte Fragment einer alten Statue von Phidiasoder Lysipp des Preises wert ist, so darf die Reliquie desalten hebräischen Volkes nicht verachtet werden, obwohl sievon Leiden entstellt und von der langen Knechtschaftverunstaltet ist, da nach allgemeiner Übereinstimmung diesesVolk einmal vom höchsten Künstler die Form der Verwaltungaller Institutionen des Lebens erhalten hat.223

So entspricht in Baers Rekonstruktion dem mystischen Körper ein

realer Torso, der durch die Leiden und der für die Galut

S. 25 f.: „Wir erinnern […] nur an eine Tatsache, die, obwohl sie so offenbar ist, unseres Wissens bisher immer übersehen worden ist, nämlich anden Grund, der Hobbes dazu veranlasst hat, seiner ausgeführtesten Darstellung der politischen Wissenschaft den Titel ‚Leviathan‘ zu geben. AmSchluß des wichtigsten Teils dieses Werkes angelangt, sagt er: ‚Hitherto I have set forth the nature of Man, (whose Pride and other Passions have compelled him to submit himselfe to Government;) together with the great power of his Governour, who I compared to Leviathan, taking that comparisonout of the two last verses of the one and forthieth of Job; where God having set forth the great power of Leviathan, called him King of the Proud.‘ Nicht die gewaltige Macht als solche ist das tertium comparationis zwischen Leviathan und Staat, sondern die gewaltige Macht, welche die Stolzenunterwirft: der Staat gleicht darum dem Leviathan, weil auch er ‚King of all the children of Pride‘ ist. Nur der Staat ist imstande, den Stolz auf die Dauer niederzuhalten, ja sogar, er hat keine andere raison d’être als die, daß die natürliche Begierde des Menschen der Stolz, der Ehrgeiz, die Eitelkeit ist.“ 223 Baer, Galut, S. 75 f.

101

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

wesentlichen politischen Impotenz des jüdischen Volkes

gezeichnet ist.

Von Luzatto aus zieht Baer nun eine große Linie bis zur

Aufklärung und verfolgt über das marranische Problem bei

Menasse Ben Israel und Sabbatai Zwi diese Dialektik von

apokalyptischer Mystik und politischem Naturalismus, von den

beiden Körpern des Judentums, weiter. In der Tat läßt sich für

Baer mit dieser impliziten Visualisierung der beiden Körper der

Prozeß der Polarisierung jüdischer Politik in die mystische

Inthronisierung einerseits und die politische

Totalentmächtigung andererseits sehr eindrücklich darlegen.

Wir übergehen die Details dieser Rekonstruktion, die sich im

wesentlichen auf Gershom Scholems These von den marranisch-

sabbatianischen Ursprüngen der modernen jüdischen Aufklärung

stützt.224 Die jüdische Moderne ist aus dieser Perspektive der

offene Ausbruch der in der Dissoziation der Körper angelegten

Krise. Mit der Aktualisierung des Messianismus durch Sabbatai

Zwi kommt es in der Tat zu einem Kurzschluß der beiden

Lebenswelten: Die apokalyptisch-messianische Tathandlung wird,

indem sie die Galut und das Leiden in ihr beenden soll, zum Akt

einer Destruktion, die die gesamte traditionelle jüdische Welt

224 Vgl. etwa Gershom Scholem, „Mizwa HaBa BeAwera“, in: ders., Mechkarim WeMekorot LeToldot HaSchabtaut WeGilguleiha, Jerusalem 1964 (1935); ders., „Die Theologie des Sabbatianismus im Lichte Abraham Cardosos“, in: Judaica I, Frankfurt a. M. 1977 (1928); ders., Zum Verständnis des Sabbatianismus. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung, Berlin 1936, S. 4: „Wir wissen aufs bestimmteste, daß gerade die eifrigsten Anhänger der Aufklärung in Böhmen und Mähren sich großenteils aus den Familien rekrutierten, die mit gutem Grund als Sabbatianer oder Frankisten verschrien waren.“ Baer hat in der Zeitschrift Zion, V (1939/40), S. 1–44, den Essay „HaReka HaHistori schel Raja Mehemna“ publiziert, in dem er den Zusammenhang zwischen der trinitären Geschichtsmystik des Joachim di Fiori (die gerade auch die deutsch-jüdische Aufklärung mitbestimmt hat) und der antinomistischen Kabbala herausgearbeitet hat, die Sabbatianismus und jüdische Aufklärung mitgeprägt haben.

102

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

in Mitleidenschaft zu ziehen droht. Baer hebt hier vor allem

drei Momente hervor, die schon das Resultat dieser ultimativen

Krise bezeichnen: erstens die Katastrophe des Zusammenbruchs

der sabbatianischen Bewegung selbst, zweitens die

antinomistische Theologie, die sich im Gefolge des

Sabbatianismus entwickelt, und drittens die Idee, daß die Galut

nun den mystischen Sinn erhält, daß der Mystiker die

verborgenen Funken aus der Welt befreien muß. Mit diesen drei

Momenten beginnt für Baer die eigentliche Säkularisation als

Galut-Vergessenheit. Die Juden glauben von nun an an die

Möglichkeit ihrer vollen Emanzipation innerhalb der

europäischen Kultur und sind potentiell stets dazu bereit, ihr

eigenes Judentum als mögliche Bedrohung für die Nichtjuden

zurückzunehmen, zu spiritualisieren und zuletzt zu liquidieren.

Baer spricht angelegentlich der Reaktion des europäischen

Publikums auf den Traktat Sfat Emet von Mosche Chagis von einer

bequemen Marranen-Theologie, die den Juden das Leben in der

Galut als Befreiung von der Galut schmackhaft machen soll.

Die von der neuen Aufklärung ergriffenen Juden waren nicht,wie da Costa und Spinoza, Empörer und Rebellen gegen diebisherige Lebensordnung, sondern einfach Skeptiker undGenießer oder auch Menschen, die am überlieferten Glaubennicht zu rütteln dachten, aber die Verantwortung gegenüberdem Gesamtjudentum und seinen politischen Bindungen ablehntenund es sich in der „Heimat“, in der Gola [Exil] so bequem wiemöglich zu machen versuchten. Solche Typen hat es natürlichzu allen Zeiten gegeben, aber vom Ende des 17. Jahrhundertsan wurden sie immer häufiger, bis sie dann schließlich in denVordergrund traten.225

Es ist letztlich also die Kluft zwischen dem apokalyptischen

Horizont der Verheißung einerseits und dem entstellten

225 Baer, Galut, S. 97.103

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Volkskörper andererseits, der zur Zertrümmerung der national-

politischen Sonderverfassung jüdischer Existenz führt. Wenn die

sabbatianische Transformation der messianisch-apokalyptischen

Dimension jüdischer Existenz in die real-historische Dimension

in einer Katastrophe endet, so ist diese jüdische Existenz von

nun an gleichsam von innen ausgehöhlt. Ohne die Dimension des

Glaubens ist sie erst recht den Erosionen der Geschichte

ausgesetzt. Der reale jüdische Volkskörper nimmt auch ohne sein

mystisches Spiegelbild Schaden an der modernen liberalen

Existenz, die dem Juden, um den Preis seiner Emanzipation vom

Judentum, seine politische Emanzipation anbietet.

Die Konversion vom mystischen Körper zum realen, natürlichen

Leib und seiner Gesetzlichkeit endet also in einer weiteren

Entstellung und Verstümmelung des natürlichen Leibs. Diese

Verstümmelung erweckt aber auch wiederum apokalyptische

Assoziationen: Der Leib ist, wie in der Vision des Propheten

Jecheskels, gänzlich entstellt, seine Gebeine vertrocknet und

versprengt:

Die […] Vision Jecheskels ging voll in Erfüllung. Vomlebendigen Volkskörper waren nur noch versprengte,vertrocknete Gebeine übrig, von denen man zunächst nicht mehrahnte, daß sie nach dem Worte des Propheten wieder zu einemlebendigen Ganzen sich zu vereinen bestimmt waren.226

In der Tat zieht Baer jetzt selbst alle Register einer

apokalyptischen Rhetorik, aber nur, um von hier aus die

naturalistische Konsequenz der ersten realistischen „Kehre“ bei

Ibn Virga noch einmal zu radikalisieren. In Baers Verständnis

ist die Naturalisierung bisher auf halbem Wege stehengeblieben

und hat eben dadurch, daß sie nicht zu den richtigen politisch-

226 Ebd., S. 99.104

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

praktischen Konsequenzen gelangt ist, zu einer neuen

Entnaturalisierung des jüdischen body politique geführt. Das Zitat

aus der Prophetie des Jecheskel ist „natürlich“ zu

interpretieren: Die Auferstehung der vertrockneten Gebeine zu

einem lebendigen Ganzen bezieht sich auf die Herstellung eines

souveränen jüdischen Kollektivs.

Diese nunmehr zum zweiten Mal vollzogene Reduktion der

Theologie auf die Politik definiert Baer gleichsam visionär in

einem weiteren, diesmal kabbalistischen Zitat. Baer montiert es

geradezu gewaltsam in den Text hinein, um damit die politisch-

theologische Identität von Vorsehung und Natur mystisch zu

konstruieren. Es ist das zionistische Deus sive Natura:

Ein ganz im alten Judentum wurzelnder Autor des sechzehntenJahrhunderts, R. Jehuda Liwa ben Bezalel aus Prag (gest.1609), leitet sein Buch über die messianische Erlösung mitder Betrachtung ein, daß das Wesen der Erlösung erst ausihrem Gegensatz, der Galut, richtig erkannt werde. DieTatsache der Galut selbst ist ihm der entscheidende Erweisfür die erwartete Erlösung. Denn die Galut ist die Aufhebungder von Gott gesetzten Ordnung. Gott hat jeder Nation ihrenPlatz angewiesen und dem jüdischen Volk Erez Israel alsseinen Ort zuerteilt. Die Galut bedeutet das Verlassen desnatürlichen [!] Ortes. Aber alle Dinge, die ihren natürlichenOrt verlassen, verlieren ihren natürlichen Halt, bis sie aufihren Platz zurückkehren. Die Zerstreuung Israels unter denVölkern ist etwas Unnatürliches. Da die Juden eine nationaleEinheit bilden, und zwar in weit höherem Grade als dieanderen Völker, ist es nötig, daß sie wieder zu einerfaktischen Einheit werden. Auch ist es nach der Ordnung derNatur nicht erträglich, daß eine Nation die andere knechte;denn Gott hat jede Nation für sich geschaffen. Die Galut kannalso nach dem Naturgesetz nicht ewig dauern.227

Die Bedingung für die politisch-theologische „Erlösung“ ist die

metaphysische Einheit von Gott und Natur. Eine solche Einheit

227 Ebd., S. 102.105

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

kann aber nicht mehr von Spinoza her gedacht werden, der sie

als metaphysisches Prinzip für den europäischen Staat

konstruierte und seine Loyalität gegenüber der jüdischen

Gemeinde aufkündigte. Sie muß daher aus der nationalen, der

kabbalistischen Mythologie hergeleitet werden. Diese Mythologie

enthält das Prinzip der metaphysischen Einheit, die es erlaubt,

die Theologie in Politik zu überführen, und läßt sich zugleich

für eine nationale politische Theologie instrumentalisieren.

„Wir dürfen“, so folgert Baer im Anschluß an R. Jehuda Liwa

Bezalel, „uns heute auf derartige Auffassungen berufen, in dem

Bewußtsein, daß der alte Glaube einen neuen Sinn erhält“228.

228 Ebd.106

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Der apokalyptische Strukturwandel der Öffentlichkeit:Von der politischen Theologie zur Theopolitik

Anmerkungen zu Erik Petersons „Buch von den Engeln“ von 1935

I Vorwort

„Du bist erhaben über jeden Namen, der nicht nur in diesem,

sondern auch im zukünftigen Äon genannt wird.“ (Eph. 1,21)

Dieser Vers aus dem Brief des Paulus an die Epheser dient in

Erik Petersons Das Buch von den Engeln (1935)229 nicht nur als

Ausgangspunkt für eine theologische Ästhetik der Liturgie,

sondern deutet auf den politischen Sinn seiner liturgisch

orientierten Theologie, die mit der Thronbesteigung Christi das

Ende weltlich-politischer Gewalt zelebriert. Der Vers, den

Peterson dreimal zitiert und in seine zwei Grundaussagen

auseinandermontiert, lautet denn auch in seiner

Vollständigkeit: „Du bist erhaben über jede Obrigkeit und

Gewalt, Kraft und Herrschaft, und über jeden Namen, der nicht

nur in dieser, sondern auch in der zukünftigen Welt genannt

wird.“

Peterson stellt seinen Traktat über die Engel damit in einen

urchristlichen, spezifisch: apokalyptischen Zusammenhang. Aber

eben dieser Zusammenhang wird durch bestimmte, gezielt

eingesetzte Vokabeln auf die aktuelle politische Situation in

Deutschland im Jahr 1935 hin transparent. Von hier aus gelangt

er zu einer radikalen Kritik an der politischen Theologie der

229 Erik Peterson, Das Buch von den Engeln. Stellung und Bedeutung der heiligen Engel im Kultus, Leipzig 1935.

97

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Moderne und ihrer Ästhetik als Ausdruck eben dieses politisch-

theologischen Zusammenhangs. Nicht zufällig veröffentlicht

Peterson den Traktat über die Engel zur gleichen Zeit wie seine

Abrechnung mit Carl Schmitts politischer Theologie, die unter

dem Titel Der Monotheismus als politisches Problem230 sehr viel

bekannter geworden ist, deren Grundlagen er aber schon in

seiner Exegese des Römerbriefes, in den 1920er Jahren also,

ausformuliert.231

Im Folgenden soll es erstens um diesen von Peterson

inszenierten apokalyptischen Parallelismus gehen, wie dieser

ihn auf einer Tagung des katholischen Akademieverbandes im

August 1934 anläßlich einer Auslegung zu Off. 1,9–3,22 auf den

kruden theopolitischen Begriff bringt: „In [der in der

Johannes-Offenbarung erwähnten Gemeinde von] Pergamo gab es

230 Erik Peterson, Monotheismus als politisches Problem. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Theologie im Imperium Romanum, Leipzig 1935. Vgl. hierzu v. a. die Ausführungen von Barbara Nichtweiß, Erik Peterson. Neue Sicht auf Leben und Werk, Freiburg 1992, S. 753 ff., in deren die Verfasserin das Verhältnis von Schmitt und Peterson analysiert. Hier zitiert Nichtweiß auch einen Brief anKarl Barth von 1935, in dem Peterson die These seines Buches zusammenfaßt: „Ich sage darin, daß mit dem dreieinigen Gott nicht politische Theologie getrieben werden kann, wohl aber mit dem Monotheismus und dem Polytheismus.“ Bekannt ist, daß Carl Schmitt in Politische Theologie II, nicht nur Petersons These von der Erledigung der politischen Theologie zu widerlegen sucht, sondern dies durch den Nachweis der Bedeutung eben der Trinität für die politische Theologie tut. Nach wie vor stellt Peter Koslowski, „Politischer Monotheismus oder Trinitätslehre. Zur Möglichkeit und Unmöglichkeit einer christlichen politischen Theologie“, in: Taubes, Der Fürst dieser Welt, eine exzellente Darstellung der Diskussion zwischen Peterson und Schmitt dar. Er zeigt dabei, wie einerseits die Trinität zur Grundlage einer politischen Theologie werden kann, andererseits aber, wie die Trinität immer schon jede Form einer „identitären“ politischen Theologie, die den Herrscher als Bild Gottes einsetzt, unmöglich macht.231 Peterson, Paulus – Der Brief an die Römer. Die Aktualität von Petersons Paulus-Interpretation als Theopolitiker wird durch Jakob Taubes (Die politische Theologiedes Paulus, München 1995) vermittelt. Giorgio Agamben, Le temps qui reste. Un commentaire de l’Epître aux Romains, Paris 2000. nimmt die These von Taubes auf, ummit ihr u. a. gegen Alain Badiou, St. Paul. La fondation de l’universalisme, Paris 1997zu argumentieren, d.h. eine differenziertere Form von Paulus’ Gesetzeskritik zu entwickeln, die die Individualität rettet.

98

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

eine kultische Verehrung des Teufels, und jetzt steht der Altar

von Pergamo in Berlin.“232 Dabei soll aber die Kritik an der

modernen politischen Theologie aus der Perspektive von

Petersons Theopolitik im Zentrum stehen. Deren apokalyptische

Orientierung muß offenbar als radikale Kritik an der Aneignung

der Apokalypse durch die politische Theologie der Moderne

verstanden werden.

Die Untersuchung des Verhältnisses zwischen politischer

Theologie und Theopolitik soll zweitens zu einer Rekonstruktion

des Zusammenhangs von Theopolitik und Ästhetik führen. Auch

dieser Zusammenhang wird erst auf dem Hintergrund der modernen

Synthese von Ästhetik und politischer Theologie zu analysieren

sein.

II Auszug aus der Polis

„Der Weg aus der Kirche führt aus dem irdischen Jerusalem in

das himmlische, aus der Stadt der Juden in die Stadt der Engel

und Heiligen. Daß die Kirche zwischen der irdischen und

himmlischen Polis ihre Existenz hat, das macht ihr Wesen

aus.“233 So die Einleitung zu Petersons Traktat über die

„Stellung und Bedeutung der heiligen Engel im Kultus“. Der hier

festgestellte programmatische Auszug der Kirche aus der Polis

läßt sich – wie Peterson selbst zunächst nahelegt – als

Paraphrase auf den neutestamentarischen Hebräerbrief lesen,

aber er läßt sich ebenso als Signal auffassen, mit dem die

232 Vgl. Nichtweiß, Erik Peterson, S. 864 f.233 Peterson, Das Buch von den Engeln, S. 13.

99

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

politische Theologie der Moderne auf den Kopf gestellt werden

soll. Ging es dieser Moderne von Lessing, Schiller, Hölderlin

über Hegel, Heine bis Ernst Bloch, aber auch Moeller van den

Bruck um die Überführung der Kirche in den Staat – genauer: des

Gottesreiches in die real-geschichtliche und politische Sphäre

der Öffentlichkeit, nämlich in jenes dritte Reich des

(heiligen) Geistes, in dem sich nach dem Vorbild der

apokalyptischen Mystik des Joachim von Fiori die Geschichte

vollenden soll234 –, so signalisiert der programmatische Satz

bei Peterson das Ende dieser politischen Theologie, also das

Ende des „Einzugs“ der Kirche in die Polis.

Diese Bewegung des „Auszugs“ nimmt, da sie sich apokalyptisch

absichert, den apokalyptischen Gestus dieser Moderne auf, indem

sie ihn umkehrt. Wenn nämlich die Moderne die eigentliche

Apokalypse – Johannes-Offenbarung, 21,2: „Und ich sah die

heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel

herabkommen“ – als Vorlage für ein praktisch-politisches

Handeln des Subjekts sich aneignet, das „schon auf Erden das

Himmelreich errichten“235 will, knüpft Peterson an diese

apokalyptische Denkstruktur an, um die Moderne als radikale

Krise dieses apokalyptisch-innerweltlichen Denkens zu

überwinden. Es geht also in dieser theologischen

Auseinandersetzung über die Moderne letzten Endes um die

adäquate Deutung der Johannes-Apokalypse. Peterson intendiert

mit dem Signal vom Auszug aus der Polis eine Gegenbewegung zu

234 Vgl. Jürgen Moltmann, Gott im Projekt der modernen Welt. Beiträge zur öffentlichenRelevanz der Theologie, Gütersloh 1997; Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen;Erik Voegelin, The New Science of Politics. 235 Heinrich Heine, ?, S.?

100

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

der modernen translatio der civitas Dei in die civitas terrena, als

Besinnung auf ihre apokalyptische Bedingung:

Der Charakter der Kirche ist dadurch bedingt, daß dieChristen das irdische Jerusalem verlassen haben, und da sieauf Erden keine Polis kennen, die Bestand hat, nach demVorbilde Abrahams die künftige Polis suchen, die von Gotterbaut ist.236

Dabei ist dieser Auszug aus der Polis ganz und gar nicht im

Sinne eines Rückzugs aus der Polis und – wie ich meine – nicht

als Revision der Moderne, sondern als Strategie einer

Theopolitik gedacht, die mit dem Ereignis der Himmelfahrt

Christi das Faktum der Thronbesteigung als Ausgangspunkt eines

radikal herrschaftskritischen Handelns konzipiert, das in

vieler Hinsicht die Moderne sozusagen zu Ende denkt –

allerdings so, daß diese entgegen ihrem eigenen

Selbstverständnis nicht vollendbar ist, vielmehr unter einem

radikalen „eschatologischen Vorbehalt“237 steht. Die

apokalyptische Intention der Moderne auf eine Gründung des

Gottesreiches auf Erden muß notwendig scheitern. Der

programmatische Auszug aus der Polis kontrapunktiert den

modernen Einzug der Kirche in die Polis so, daß er deren

apokalyptische politische Theologie umkehrt, d.h. aus der

Unmöglichkeit und Katastrophalität der Identität von Absolutem

und Politik in der Geschichte, die Konsequenz einer notwendigen

Differenzierung zwischen beiden Sphären zieht, die – solange

die Geschichte andauert – voneinander getrennt und potentiell

236 Peterson, Das Buch von den Engeln, S. 13.2379 Peterson Paulus – Der Brief an die Römer, S. 185, bezeichnet die Geburtsstunde des Begriffs vom eschatologischen Vorbehalt, der dann in der neuen politischen Theologie bei Johann Baptist Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft, S. 80 eine besondere Rolle spielt. Vgl. hierzu Kurt Anglet, „Dereschatologische Vorbehalt. Eine Denkfigur Erik Petersons“, in: Nichtweiß (Hrsg.), Vom Ende der Zeit, S. 217–239.

101

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

in Konflikt einander gegenübertreten. Die Konzeption ihrer

Identität und Synonymität bezeichnet nun Peterson mit Carl

Schmitts Begriff der politischen Theologie, deren Umkehrung und

Konstruktion als Differenz und Analogie nennt er Theopolitik.

In der frühen Exegese zum Römerbrief differenziert Peterson

zwischen politischer Theologie und Theopolitik in einer Weise,

die zwar die apokalyptische Denkstruktur von Paulus

beschreiben, aber im Prinzip das Verhältnis von politisch-

theologischer Moderne und deren theopolitischer Kritik im Kern

treffen soll:

Wenn wirklich Christus den Thron bestiegen hat und ein neuerÄon begonnen hat, dann fordert das auch eine öffentlicheAnkündigung, und der, durch den diese öffentliche Ankündigungzu erfolgen hat, das ist nun der Apostel. Er hat als Heroldnicht den Glauben einer obskuren Sekte zu verkündigen,sondern er hat den Heiden zu sagen, daß Jupiter nicht mehr imHimmel thront, er hat den Juden zu sagen, daß Christus nebenJahwe auf dem Thron sitzt und mit ihm zusammen regiert […]und daß mit ihm ein neuer Äon begonnen hat, der – nachdem diedurch Tiere charakterisierten Äonen und Reiche zu Endegegangen sind – nur durch das Erscheinen des Menschensohnscharakterisiert ist. Aber wenn man die Dinge unter diesemAspekt betrachtet, erkennt man nun auch, daß demtheopolitischen Akt der Thronbesteigung Christi eintheopolitischer Apostolatsbegriff entsprechen muß. DerApostel sagt ja nicht einfach, Jupiter sitzt nicht mehr aufseinem Thron, Christus hat seinen Platz eingenommen, – was ersagt, das sagt er dem römischen Reich, dessen politischerBestand mit der politisch-theologischen Überzeugung verknüpftist, daß Jupiter im Himmel thront. Wenn Paulus nach Rom kommtund verkündet, Christus habe den Thron Jupiters umgestoßen,dann bedeutet das doch in die politische Sprache übersetzt,daß der Apostel mit der Verkündigung des Evangeliums dasRömerreich umstoßen und dem Kommen des Reiches Christi denWeg ebnen will.238

238 Peterson, Paulus – Der Brief an die Römer, S. 15 f.102

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

In der Tat erläutert Peterson den Zusammenhang zwischen der

Thronbesteigung Christi und dem theologisch-politischen

Charakter im Apostolatsbegriff an dem Beispiel, das

traditionell als die Legitimation schlechthin für den Rückzug

aus der Politik dient, also Röm. 13,1: „Jeder Mensch sei

Untertan den vorgesetzten Obrigkeiten. Denn es gibt keine

Obrigkeit außer von Gott, und die da sind, sind von Gott

geordnet.“ Peterson destruiert den traditionellen Sinn, indem

er eine einfache Frage formuliert, nämlich nach dem Gott, der

die Obrigkeit legitimieren soll. „Das Wort Gott“, schreibt

Peterson,

hat also immer auch einen politischen Sinn. Gerade wenn mansich des […] ontologischen Zusammenhangs von exousia und Gott,von Staat und Gott erinnert, leuchtet das ein. Wenn jedeexousia auch von Gott ist, dann fragt es sich immer noch, vonwelchem faktischen Gott ist die faktische exousia? Hierbeginnt ja eigentlich erst die Schwierigkeit, die durch dieabstrakte Formulierung von Paulus verdeckt wird. Der römischeKaiser hatte seine Macht von Zeus, von dem König der Götterund Menschen. Die Christen glaubten nicht an Zeus, sondern anden Vater Jesu Christi. Damit griffen sie die exousia desKaisers an.239

Die These vom Auszug aus der Polis besitzt also einen radikal

politischen Sinn, indem sie jede politische Herrschaft und

Gewalt in Frage stellt, d. h. deren Legitimität erschüttert.

Dieser Erschütterung der Legitimität politischer Herrschaft

entspricht damit immer schon eine Konfliktsituation, die jeden

politischen Konflikt zugleich transzendiert, weil die Christen

ja nicht einen Staat innerhalb des römischen imperiums, wiedie Juden bildeten. […] Sie bedrohten nicht als Staat,sondern als imperium, als imperium Christi das imperiumRomanum. Gerade die kosmische und eschatologische Ausweitung

239 Ebd., S. 342.103

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

ihres Glaubens machte sie gefährlich, denn nun entstand derKampf nicht im Konkret-Politischen, sondern in der Metaphysikdes Staates. Die Folge war, daß Christuskult und Kaiserkultzueinander in Gegensatz traten.240

Die volle Bedeutung des programmatischen Satzes vom „Auszug aus

der Polis“ erhellt sich aus dieser spezifischen Definition des

christlichen Verhältnisses zum „Politischen“: Indem die

Christen – so Peterson – den römischen Staat nicht als

staatliche Macht, sondern als Feinde der Metaphysik des Staates

in Frage stellen, ist ihre Stellung zum Politischen durch die

Position eines radikalen Widerstandes geprägt, die die Logik

des Politischen in toto – Herrschaft und Gewalt – zu sprengen

beabsichtigt. Gerade weil die Christen aus der Polis, d.h. aus

dem Politischen sich hinausbewegen und sich provisorisch in

einer an der himmlischen Polis sich orientierenden Gemeinde der

Kirche befinden, werden sie potentiell zu einer radikalen

Bedrohung für die Polis, nämlich eben auf der metaphysischen

Ebene, in der „das Politische“ faktisch schon destruiert ist.

Christliche Politik wäre also als Funktion eines

„apokalyptischen Strukturwandels der Öffentlichkeit“ zu

definieren, d.h. die Thronbesteigung Christi ist – in dieser

Konzeption von Theopolitik als eschatologisch-kosmisches

Ereignis – die Unterminierung des real-existierenden

politischen Äons, gerade und vor allem, wenn in ihm die

politische Realisierung des Gottesreiches behauptet wird. Das

jenseitige Ereignis kehrt schon im Diesseits alle Verhältnisse

um, so zwar, daß das Verhältnis Polis und Kirche durch eine

spezifische Simultaneität der beiden Äone, der realen

Geschichte und der angebrochenen messianischen Zeit „im Jetzt“,

240 Ebd., S. 324.104

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

determiniert ist. Das Ende von Zeit und Geschichte „beginnt“

nicht erst an einem vermeintlichen Ende der Zeit, sicher nicht

im Sinne einer in der realen geschichtlichen Zeit

kontinuierlich sich vollziehenden Erfüllung der Zeit, sondern

das Ende setzt schon in der real-geschichtlichen Zeit ein, es

ist präsent in der in jedem Augenblick möglich gewordenen

Umkehr der Logik der realen Geschichte.

Was Peterson als Wesen kirchlicher Existenz bezeichnet, ihr

Sein zwischen der irdischen und der himmlischen Polis, wird bei

Paulus in verschiedenen hermeneutischen Figuren expliziert,

etwa als Epiktesis oder Extendenz, also als ein

Ausgestrecktsein, das vor allem den temporalen Sinn des

Zwischen-Seins beschreiben soll. Aber am prägnantesten

vielleicht wird das Spezifikum dieser Existenz in der Formel

vom „als ob nicht“ (1 Kor 7,29 ff.) formuliert241:

Das sage ich aber, liebe Brüder: Die Zeit ist kurz. Fortansollen auch die, die Frauen haben, sein, als hätten siekeine; und die weinen, als weinten sie nicht; und die sichfreuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen, alsbehielten sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, alsbrauchten sie sie nicht: Denn das Wesen dieser Welt vergeht.Ich möchte aber, daß ihr ohne Sorge seid.

Inwieweit dieses „Als ob nicht“ die Verkündigung der

Bergpredigt unter den Bedingungen vom Tod Christi neu

formuliert, inwieweit also diese Figur vom „Als ob nicht“ die

Verkündigung der Bergpredigt, die dem Zustand der Gegenwart

eine andere Zukunft entgegenhält, korrigiert und diese beiden

Zeiten, Gegenwart und Zukunft, notwendig in ein Jetzt

kontraktiert, ist hier nicht die Frage. Es geht vielmehr um die

Struktur eines Handelns, das die bestehenden Verhältnisse von

241 Vgl. den Kommentar von Agamben, Le Temps qui reste, S. 44 ff.105

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

innen her revolutioniert, nämlich aus der Perspektive einer

„agapeischen Solidarität“242, die die bestehende Welt als

überwunden markiert. Von hierher ergibt sich dann, daß, wie

Peterson schreibt,

die Kirche keine Politik treiben [kann], sie kann nur in diePolitik eingreifen. Vom Standpunkt einer Politik, die denStaat und das politische Handeln nur von der immanenten Seiteher betrachtet, ist das Handeln der Kirche immer nur einEingriff in einen fremden Bereich. Aber gerade darin bekundetsich nun die eigentliche Kirche, denn damit drückt sie jaaus, daß ihr politisches Handeln nicht vom alten, sondern vomneuen Äon her bestimmt ist.243

Peterson spricht hier von „dem transzendental-politischen Sinn

der Kirchenpolitik“, um den in der apokalyptischen Zeitstruktur

begründeten interventorischen Charakter der Kirchenpolitik zu

definieren. Intervention aber heißt das Ereignis, in dem der

Christ den Messias selbst in Handeln und Reden bezeugt, und das

heißt nun, so Peterson, daß er „den Öffentlichkeitsbegriff

dieser Welt sprengt und den Öffentlichkeitsanspruch einer

anderen, einer kommenden Welt kundtut“244. Ultimativ bedeutet

solches Eingreifen in das Politische mit nicht-politischen

„Waffen“, daß der Christ Glaube und Liebe „bezeugt“, d.h. ein

Martyrium auf sich nimmt. Liebe bezeugen heißt unter den

verschärften Bedingungen eines Konflikts zwischen politischer

Theologie und Theopolitik, daß die Feindesliebe als Tod für den

anderen sich bewährt. Mit diesem Zeugnis wird das „Als ob

nicht“ radikal, insofern es das Ende dieses Äons gleichzeitig

242 Desmond, Ethics in the Between, S. 476 ff., wo Desmond den agapeischen Dienst am anderen der erotischen Souveränität gegenüberstellt. Beide, Eros und Agape, sind dabei nicht Funktionen zweier verschiedener Seinsordnungen, sondern Artikulationen derselben Dialektik des Seins als dem Guten. 243 Peterson, Paulus – Der Brief an die Römer, S. 344.244 Erik Peterson, „Zeuge der Wahrheit“, in: ders., Theologische Traktate, München1951, S. 178.

106

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

mit dem Beginn des anderen Äons existentiell einleiten soll.

Peterson schreibt:

Vergessen wir nicht, daß das Schwert, das die exousia nachPaulus nicht umsonst trägt, das Schwert des Henkers und nichtdas Schwert des Soldaten ist. Wie merkwürdig, daß diesesSchwert, das die Obrigkeit nicht umsonst trägt, später dasHaupt des Paulus von seinem Leibe getrennt hat.245

Mit dem Martyrium vollendet der christliche Theopolitiker die

Erkenntnis seines „Preisgegebenseins an diesen Äon und seine

Mächte“246, das Martyrium ist so „Durchgang durch eine

Verhaltensweise gegenüber Mensch, Kosmos, Äon, der es um die

letzte Ordnung und die höchste Form der Herrschaft geht.“ Nicht

um eine Revolution ist es Paulus oder Peterson zu tun, in der

die alten nur durch neue Herrschaftsstrukturen ersetzt werden

und die, gerade wenn sie mit politischer Gewalt das

innergeschichtliche Ende von Gewalt zu realisieren behauptet,

sich erst recht als brutaler Mechanismus von Terror und

Demütigung erweist. Die Geschichte erscheint aus der

spezifischen Zeitstruktur der Paulinischen Apokalypse als eine

ewige Wiederkehr desselben politischen Prinzips, der Sukzession

der Weltreiche, die in ihrer politischen Existenz die

Metaphysik der Politik perpetuieren und das heißt immer auch:

die Schwachen erdrücken und potentiell vernichten.

In Das Buch von den Engeln, das im ersten Teil einen Kommentar

zur Johannes-Offenbarung anbietet, faßt Peterson den Sinn der

apokalyptischen Umkehrung aller Werte so zusammen:

Gesiegt hat der Löwe aus Juda. […] Darum wird also das Lammfür würdig erachtet, die Buchrolle Gottes zu öffnen und ihreSiegel zu lösen. Die Öffnung des Buches [der Offenbarung] ist

245 Peterson, Paulus – Der Brief an die Römer, S. 345.24618 Erik Peterson, Marginalien zur Theologie und andere Schriften, hrsg. von Barbara Nichtweiß, Würzburg 1995, S. 75.

107

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

an den Sieg des Löwen aus Juda gebunden. […] Kein andererSieger kann das Buch öffnen, d. h. keine rein politische, d.h. an einen Sieg auf der Erde geknüpfte Entscheidung vermagdas Schicksalsbuch […] zur Verlesung zu bringen.247

Im martyrologischen Handeln, das sich an der Passion Christi,

an dem Löwen aus Juda, der eben ein Lamm ist, orientiert,

kündigt sich eine Revolution der Äonen an, eine Veränderung

aller Lebensverhältnisse, die durch die Öffnung des Siegels

symbolisiert, nicht durch ein politisches Handeln erzwungen

werden kann, sondern nur im öffentlichen Zeugnis und handelnden

Bekenntnis des Apostels und Strellvertreters der Kirche:

Das geschlachtete Lamm ist augenscheinlich schonReichssymbol, Symbol des neuen Äons, des letzten, ewigen undunerschütterlichen Reiches. Es steht damit im Gegensatz zuden Raubtieren, die nach dem Daniel-Buche die Weltreichesymbolisieren.248

Die Formel aus dem ersten Korintherbrief, die das Leben als ein

Leben im „Als ob nicht“ kennzeichnet, enthält den Satz, daß

„die Gestalt dieser Welt aber vergeht“, womit die

Weltgeschichte als ein nichtig-nihilistisches Geschehen in den

Blick kommt, das die Daniel-Apokalypse im Zyklus der durch

Gold, Silber, Kupfer und Eisen symbolisierten Weltreiche

imaginiert, die nur durch einen Stein, durch das Reich Gottes

also, zu Fall gebracht werden (Daniel 2,34).

Wie auch immer biblisch und liturgisch verschlüsselt und

kodiert, orientieren sich Petersons Texte an zwei historischen

Wirklichkeiten, nämlich an der Realität des Urchristentums im

römischen Weltreich und an der Situation der Kirche zur Zeit

der Weltkriege, die im nationalsozialistischen Regime real-

apokalyptische Dimensionen erhält. Indem Peterson die 247 Peterson, Das Buch von den Engeln, S. 30.248 Ebd., S. 34.

108

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Paulinische Theopolitik der politischen Theologie von der

Souveränität des Staates gegenüberstellt, stiftet er eine

apokalyptische Austauschbarkeit der Zeiten, die er jeweils zur

Erhellung des textuellen bzw. politischen Tatbestandes

mobilisiert, wie etwa – ohne jede Kodierung – in einem

öffentlichen Vortrag zur Exegese der Johannes-Offenbarung in

Heidelberg 1934. In Vers 2,12 der Offenbarung heißt es:

Und dem Engel der Gemeinde in Pergamon schreibe: Das sagt,der da hat das scharfe zweischneidige Schwert. Ich weiß, wodu wohnst, da wo der Thron des Satans ist; und du hältst anmeinem Namen fest und hast den Glauben an mich nichtverleugnet, auch nicht in den Tagen, als Antipas, mein treuerZeuge, bei euch getötet wurde, da, wo der Satan wohnt.

Petersons lapidarer Kommentar: „In Pergamo gab es eine

kultische Verehrung des Teufels und jetzt steht der Altar von

Pergamo in Berlin.“249

Barbara Nichtweiß hat in ihrer monumentalen Arbeit über

Peterson nicht nur sehr genau die Beziehung von Carl Schmitt

und Erik Peterson nachgezeichnet, ihre Analyse bestätigt auch

unseren eigenen Befund von dem apokalyptischen Kontrapunkt

zwischen politischer Theologie und Theopolitik bei Peterson. So

demonstriert Nichtweiß, wie Peterson gegen Schmitts Versuch,

die Feindesliebe auf den privaten Bereich zu reduzieren250, um

249 Zit. Nichtweiß, Erik Peterson.250 Vgl. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 29: „Die viel zitierte Stelle‚Liebet Eure Feinde‘ (Math. 5,44; Luk. 6,27) heißt ‚diligite inimicos vestros‘ […] und nicht diligite hostes vestros; vom politischen Feind ist keine Rede.“ Zu einer ausgewogenen Darstellung von Carl Schmitts Begriff des Politischen sei Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Politische Theologie und politische Theorie“, in: Taubes, Der Fürst dieser Welt, S. 16–25), empfohlen; vgl. auch ders., „Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts“, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt a. M. 1991. Jacques Derrida, (Politik der Freundschaft, Frankfurt a. M. 2000) dekonstruiert die Definition des Politischen als Unterscheidung zwischen Freund und Feind freilich so, daß die Unterscheidung undurchführbar wird bzw. zu einem Drama des souveränen Subjekts, das den

109

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

„das Politische“ als Unterscheidung, Bekämpfung und Vernichtung

des Feindes von jeder theologischen Interpretation

freizuhalten, an dem öffentlichen Charakter der Feindesliebe

als Bedingung der Möglichkeit der Intervention in „das

Politische“ unbedingt festhält. Aber sie hat auch zahlreiche

Hinweise dafür gegeben, daß der Begriff des Politischen, wie er

aus Schmitts politischer Theologie sich entwickelt hat, in

letzter Konsequenz für Peterson immer die Politik von

Totalitarismus und Terror bezeichnet, die Peterson lapidar als

Reich des Satans anspricht. „Denn das Nichts“, so zitiert

Nichtweiß aus Petersons Lukas-Kommentar, „das an die Stelle

Gottes getreten ist, sei ja kein leeres Nichts, sondern

bezeichnet gerade jenes Nichts, das das Wesen des Satans

ausmache […]. Er, der gegenüber Gott ein Nichts ist, schöpft

seine ganze Kraft und Stärke ja gerade aus dem Nichts“.251

Nichtweiß vergißt ihrerseits nicht, auf Petersons Hinweis auf

Carl Schmitts Begriff der politischen Entscheidung zu

verweisen, die eben eine „Entscheidung aus dem Nichts“ sei.

Wie auch immer direkt oder indirekt, der Begriff der

politischen Theologie von Carl Schmitt steht hier

stellvertretend nicht nur für jede Reichs- und Machtpolitik, er

fungiert offenbar als Chiffre, die den apokalyptischen

Feind in der eigenen Gestalt wahrnimmt (vgl. ebd., S. 224 ff.). 251 Nichtweiß, Erik Peterson, S. 758. Dem entspricht die Aussage Petersons über den Fürsten dieser Welt: „Fürst der Engelfürsten der Nationen. Die Versuchungen, die von ihm ausgehen, sind die Versuchungen, die im Politischen sich ergeben, durch die Beziehung auf eine Welt. Der Herrscher der Welt bietet nur die Reiche der Welt (Weltherrschaft) Gott an. Er meint über die Reiche verfügen zu können. So wird er auch seine Herrschaft im Himmel aufgefaßt haben. Als Tyrannis über die himmlischen Geister der Völker. Der Begriff des Politischen [!!] ist nicht nur von der irdischen Herrschaft aus zu bestimmen, sondern man muß die himmlische Herrschaft der Engel mit hinzunehmen.“ (Erik Peterson, „Offenbarung des Johannnes und politisch-theologische Texte“, in: ders., Ausgewählte Schriften, Bd. IV, S. 256)

110

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Parallelismus zwischen dem cäsarisch-neronischem Weltreich und

dem nationalsozialistischen Tausendjährigen Reich signalisieren

soll.252 Dem entspricht sowohl die berühmte und von Carl Schmitt

als solche erkannte Formel von der „Erledigung der politischen

Theologie“ durch den augustinischen Trinitätsbegriff, mit der

Peterson seine Untersuchung über den „Monotheismus als

politisches Problem“253 beschließt, als auch die

Parallelisierung von Cäsarenkult und politischer Theologie auf

der einen, Christuskult und Theopolitik auf der anderen Seite.

Carl Schmitts Begriff des Politischen, die Idee, daß

Souveränität korrelativ zur Unterscheidung und Vernichtung des

Feindes sich konstituiert, steht dabei bei Peterson – über die

historische Parallele hinaus – für die politische

Geschichtswirklichkeit im Ganzen, die in der Sukzession der

Weltreiche und politischen Systeme die ewige Wiederkehr

desselben Prinzips von Souveränität, Herrschaft und Gewalt

dokumentiert, die durch die apokalyptische Intervention

martyrologischen Handelns „gesprengt“ werden soll. Mit anderen

Worten: Schmitts politische Theologie, die das Politische aus

der Ausnahmesituation konstruiert, in der der Feind markiert,

bekämpft und im Ernstfall vernichtet werden soll, repräsentiert

eine Art apokalyptische Stagnation der Weltgeschichte, die

Macht und Gewalt, wie immer verbrämt, zur Religion erhebt,

während Petersons Theopolitik, indem sie in dieser politischen

Ausnahme der Feindesbekämpfung nur die Regel erkennt, diese

regelmäßige Ausnahme in der absoluten Ausnahme der Feindesliebe

252 Vgl. Andreas Koenen, Der Fall Carl Schmitt. Sein Aufstieg zum „Kronjuristen des Dritten Reiches“, Darmstadt 1995; oder Balakrishnan, The Enemy.253 Vgl. Schmitt, Politische Theologie II.

111

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

durchbricht.254 Politische Theologie und Theopolitik sind also

bei Peterson zuletzt die zwei Seiten bzw. Aspekte derselben

apokalyptischen Geschichtsvision, die, ähnlich wie in der

Prophetie des Daniel von der Sukzession der Reiche der

Raubtiere und deren Untergang, immer schon gleichzeitig gedacht

werden müssen. Unter den verschärften Bedingungen der

nationalsozialistischen Machtergreifung tritt diese Struktur

als die apokalyptische Wahrheit aller Politik und Theopolitik

und als Wahrheit über den wesenhaften Konflikt zwischen beiden

klar hervor.

Aus der Perspektive dieser endzeitlichen Verschärfung kann

Politik nur Machtentfaltung und Unterdrückung, Theopolitik nur

Martyrium sein. Damit müssen allerdings auch die „feinen“

Unterschiede verschwinden, die zu einer klaren Differenzierung

zwischen dem politischen Liberalismus und dem antiliberalen

254 Vgl. Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.2, Frankfurt a. M. 1980, S. 697: „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustandes vor Augen stehen, und dadurch wird unsere Position im Kampf gegen den Faschismus sich verbessern.“ Was bei Benjamin in rein politischen Begriffen von Macht und Gewalt formuliert wird, denkt Peterson so theologisch aus der Liebe, daß eben hiermit das Politische aus den Angeln gehoben wird. Mir scheint, hier liegt tatsächlich eine abgründige Differenz zwischen Benjamin und Peterson vor, die es klar zu konstatieren gilt. Vgl. hierzu Kurt Anglet, Messianität und Geschichte. Walter Benjamins Konstruktion der historischen Dialektik und deren Aufhebung ins Eschatologische durch Erik Peterson, Berlin 1995. Anglet gibt eine überaus differenzierte Analyse beider Denker, deren Tendenz in der Überschrift klar formuliert ist, im Verlauf der Analyse aber oft vor lauter Differenzierungen untergeht. Aber vielleicht habe ich sein Buch einfach nicht richtig verstanden. Das Pech von Anglets Untersuchung besteht freilich in der Tatsache, daß Petersons unveröffentlichtes Werk nach seiner Publikation in den Ausgewählten Werken benannt worden ist. Vgl. auch Paul Hirst, „Carl Schmitt’s Decisionism“, in:Chantal Mouffe (Hrsg.), The Challenge of Carl Schmitt, London 1999, S. 12 f. und Giorgio Agamben, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 2002, S. 26 ff., mit sehr präzisen Analysen der Funktionsweise der politischen Ausnahme.

112

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Nationalsozialismus zwingen.255 Die Moderne als Ganze gerät bei

Peterson ins grelle Licht einer satanischen Politik der

Selbstermächtigung, die, indem sie das Reich Gottes mit dem

entfalteten Subjekt identifiziert, mit dessen Souveränität am

Ende nur ein Regime des Terrors entfalten kann. Aus der

apokalyptischen Verschärfung der Situation selbst wie auch der

Perspektive, muß dann Carl Schmitts politische Theologie nicht

nur für die typische Logik der Macht einer jeden Politik

stehen, sondern gerade auch für deren spezifisch moderne

„politisch-theologische“ Form, die darin besteht, daß in ihr

die Transformation der civitas Dei in dem real-historischen Staat

ins Werk gesetzt werden soll. Indem das Gottesreich „auf Erden

schon errichtet werden soll“, erfährt das Subjekt, das diese

Transformation in der Geschichte vornimmt, eine absolute

Aufwertung als Gott. Diese Tendenz entspricht der kritischen

Einsicht der Moderne, die die Theologie im Ganzen als Schein

menschlicher Projektionen und also als Anthropologie

„enthüllt“. Diese Transformation der politischen Theologie in

eine politische Anthropologie, die sowohl die Gleichsetzung von

Gott und Subjekt als auch von Gottesreich und Staat bewirkt,

läßt in der Tat alle Differenzen zurücktreten, die an den

Versionen politischer Theologie bei Gotthold Ephraim Lessing

oder bei Moeller Van den Bruck festzuhalten sind. Sie erlaubt

255 Vgl. Erik Peterson, „Politik und Theologie. Der liberale Nationalstaatdes 19. Jahrhunderts und die Theologie“, in: ders., Ausgewählte Schriften, Bd.4. Hier bezeichnet Peterson den liberalen Staat im Anschluß an Papst PiusIX. als häretischen Staat (!!): „Die Behauptung, daß Politik und Theologienichts miteinander zu tun haben, konnte vom Liberalismus also nur unter derBedingung durchgeführt werden, daß der christliche Glaube häretischentstellt wurde. Als seine Häresie und nicht als seine politische Bewegungist der Liberalismus von Pius IX. mit Recht im Syllabus verurteilt worden.“(Ebd., S. 239) Zum Wandel der katholischen Kirche zum liberalen Staat vgl.etwa die ausgezeichnete Darstellung von Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Kirche.

113

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

es, sie mit dem römischen Cäsarenkult zu vergleichen, und

legitimiert noch einmal die Konstruktion des apokalyptischen

Parallelismus bei Peterson.

Petersons programmatische Feststellung, daß „die Christen das

irdische Jerusalem verlassen haben und, da sie auf Erden keine

Polis kennen, die Bestand hat, nach dem Vorbilde Abrahams, die

künftige Polis suchen, die von Gott erbaut ist“256, muß also als

Resumee dieser Gegenüberstellung von politischer Theologie und

Theopolitik nicht nur für den antiken, sondern gerade für den

aktuellen Kontext der Abfassung des Textes gelesen werden. Sie

bezeichnet damit aber eine apokalyptische Umkehrung nicht nur

der politisch-theologischen Metaphysik der Moderne und ihrer

Utopie vom dritten Reich, sondern erst recht von deren

Ästhetik, die in der eschatologischen Ausrichtung auf eine

Identität von Absolutem und Realem in der Erscheinung, auf eine

Synthese des Reiches der Freiheit und des Reiches der Natur in

eben jenem „dritten Reich“ von Schönheit und Spiel257 für

Peterson eben nichts anderes sein kann als der adäquate

Ausdruck des modernen Einzugs der Kirche in die Polis. Hier

genau kommt Petersons Begriff der Liturgie als kritischer

Begriff ins Spiel, insofern er mit der Liturgie das ästhetische

Pendant zu seinem Begriff der Theopolitik konzipiert.

256 Peterson, Buch von den Engeln, S.13257 Vgl. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, S. 508 f. Nach Lessing entwirft Schiller die Idee eines „dritten Reiches“ im ästhetischen Kontext,der allerdings für das Reich der Mensch gewordenen Götter des Olymps steht.Vgl. Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, 14. Brief ff., in: ders., Werke in drei Bänden, Bd. 2, hrsg. von Herbert G. Göpfert, München 1966, S. 476 ff. Mit Schiller vollzieht sich die translatio der politischen Theologie Lessings in die Domäne des Ästhetischen mit ihren verschiedenen mythologischen und polytheistischen Artikulationen,so daß man von nun an mit Recht bei Hölderlin und Schelling etwa von einer neuen (politischen) Mythologie spricht.

114

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

III Leben mit den Engeln – Existenz als Transzendenz zu den

Engeln

Der Weg der Kirche führt aus dem irdischen Jerusalem in dashimmlische, aus der Stadt der Juden in die Stadt der Engelund Heiligen. Daß die Kirche zwischen der irdischen undhimmlischen Polis ihre Existenz hat, das macht ihr Wesen aus.

Im ersten Durchgang haben wir die theopolitische Bedeutung

dieses Auszugs der Kirche hinsichtlich der irdischen Polis

nachzuzeichnen versucht, jetzt soll es um deren Bezug zur

himmlischen Stadt gehen. Die Kirche hat ihr Wesen in dem

„Zwischen“, das sich als Auszugsbewegung (aus der irdischen

Polis) und Annäherung (an die himmlische Polis) darstellt. Der

Christ qua Bürger zieht sich nicht aus der Polis in einen

privaten Glauben zurück, sondern er hat als Christ immer schon

ein anderes Bürgerrecht, nämlich das der himmlischen Polis, ein

Bürgerrecht, das auf sein Handeln in der irdischen Polis

entscheidend zurückwirkt. Peterson bestimmt aber mit dieser

Zwischenstellung schon die Unmöglichkeit der apokalyptischen

Version der modernen politischen Theologie, die Gottesstaat und

irdischen Staat identisch bzw. synonym setzen will und im

Fluchtpunkt eines innergeschichtlichen Prozesses ineinander

übergehen läßt. Mit dem Zwischen-Sein der Kirche ist

theologisch und institutionell nicht nur ein scharfer

„eschatologischer Vorbehalt“ gegen diese Identität und

Synonymität formuliert, sondern zugleich sind die beiden

radikal voneinander differierenden Öffentlichkeitsräume –

115

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

irdische und himmlische Polis – in eine analoge Beziehung

gesetzt. Begriffe wie „ekklesia“, „liturgia“, „evangelion“ etc.

stammen tatsächlich ursprünglich aus dem politischen Kontext

und erfahren eine Transposition und Umkehrung zugleich durch

das Ereignis von Kreuzigung und Auferstehung, das die Kirche

fundiert. Eben diese Analogien belegen für Peterson den

spezifisch theopolitischen Charakter der Idee vom Exodus, des

Auszugs der Kirche aus der irdischen Polis.

Man könnte vielleicht sagen, daß wie die profane Ekklesia derAntike eine Institution der Polis ist, so die christlicheEkklesia eine Institution der Himmelsstadt […] Wie dieprofane Ekklesia die zum Vollzug von Rechtsaktenzusammentretende Versammlung der Vollbürger einer irdischenPolis ist, so wäre in analoger Weise die christliche Ekklesiaals die zum Vollzug bestimmter Kulthandlungenzusammentretende Versammlung der Vollbürger der Himmelsstadtzu definieren.258

Die Ekklesia ist zwischen diesen beiden Öffentlichkeitssphären

angesiedelt, sie ist die Gemeinde zwischen den Äonen und damit

identisch weder mit der realen Polis noch mit der Himmelsstadt.

Sie ist damit sozusagen institutioneller Ort und Nicht-Ort,

Zeichen und Spur für An- und Abwesenheit des Absoluten

zugleich. Die Kirche ist die Institution gewordene Differenz

von beiden Öffentlichkeiten, der Ort also, an dem mit der

Zelebrierung der göttlichen Anwesenheit in der Eucharistie

zugleich der Aufschub des Endes manifest wird. Gegen jede

Behauptung einer innergeschichtlichen Vollendung und Präsenz,

wie sie charakteristisch für die politische Theologie der

Moderne ist, ist die Kirche das Ereignis gewordene Bewußtsein

vom schon angebrochenen Ende im Jetzt und als solches das

258 Peterson, Das Buch von den Engeln, S. 16.116

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Bewußtsein vom Aufschub dieses Endes. In diesem Sinn ist sie

Ausdruck des Katechons, der Figur, die das Ende eben nicht

apokalyptisch herbeiführt, sondern es – freilich im Rahmen der

schon angebrochenen apokalyptischen Doppelung der Zeiten –

aufschiebt. (2. Thess 2,4 ff.)259 Als Auszug und Annäherung ist

Kirche Zwischen-Sein schlechthin, das öffentlich gewordene „Als

ob nicht“.

In solcher Zwischenstellung aber konstituiert sich die Kirche

als Vorbereitung auf die Himmelsstadt, und das nicht nur in

einem privaten Raum der Innerlichkeit, sondern in einer

Öffentlichkeit, in der der Glaube kultisch-rechtlich bezeugt

und praktiziert werden soll. Insofern Petersons politisches

Denken an Paulus, dem Hebräerbrief und der Johannes-Offenbarung

sich orientiert, (re-)etabliert es die Himmelsstadt als eine

real-transzendente Größe, die in dem bereits angebrochenen Äon

gegründet wird. Nicht um Poetik oder Metaphorik handelt es sich

hier bei der Feststellung von der Annäherung der Kirche an die

Himmelstadt, sondern um eine Ontologie der transzendenten

Realität. Mit der real-existierenden Himmelsstadt werden auch

deren Bürger – also die Himmelsbürger, Engel und vollendeten

Gerechten – zu realen Existenzen. Peterson schreibt:

Es ist ohne weiteres klar, daß die hier angedeuteteAuffassung über das Verhältnis von Engels- und Himmelsstadtfür das Wesensverständnis von Bedeutung ist, denn wenn die

259 Vgl. Petersons Bemerkung zum Katechon in Politik und Theologie, S. 245: „Also mußte das letzte Imperium, das Reich des Augustus, unter dem der Heiland der Welt geboren wurde, fortdauern, bis es bei seiner zweiten Ankunft zugleich mit dem ganzen Kosmos ein Ende nimmt. Es ist ja bekannt, daß die Kirchenväter das den Antichristen jetzt noch Niederhaltende (2. Thess. 2,6)auf das römische Reich bezogen haben. Wenn aber die zurückhaltende Macht beseitigt ist, so heißt es Vers 7, dann wird der Gesetzlose enthüllt werden. Der Fortbestand des römischen Reiches in der Zeit seit der Ankunft Christi ist also wesentlich durch den Charakter der christlichen Eschatologie bedingt.“

117

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Kirche das irdische Jerusalem und seinen Tempel verlassen hatund sich auf der Wanderschaft nach dem himmlischen Jerusalemund seinem Tempel befindet, dann tritt sie notwendigerweiseauch mit den Bewohnern der Himmelstadt und das sind, wie wiraus dem Hebräerbrief gehört haben, Engel, Himmelsbürger undvollendete Gerechte, in eine durch den Kult vermittelteBeziehung.260

Peterson liebt solche Formeln der Selbstverständlichkeit, um

das Unglaubliche als Tatsache zu kennzeichnen, nämlich als

Tatsache des Glaubens, die er durch Textanalyse in ihrer

Objektivität sich bestätigen läßt. Eine solche „Hermeneutik des

Schocks“ will den Glauben aus der privaten Sphäre in die

Öffentlichkeit hineintragen und ihm damit eine Objektivität

zurückverleihen, die ihr selbst der philosophische Skeptiker

nicht absprechen kann, ist doch die Existenz der im Glauben für

wahr gehaltenen transzendenten Realitäten weder beweis- noch

widerlegbar. Auf die Realität des Glaubens läßt sich vorläufig

nur aus dem Handeln des Glaubenden bzw. der Bürger der Kirche

zurückschließen, die über das Gesetz der Selbsterhaltung und

„das Politische“ hinaus eine reale Form der Transsubjektivität

als Hingabe für den anderen praktizieren. In solcher

Transsubjektivität und Selbsttranszendenz demonstriert der

Glaubende „empirisch“ seine Orientierung an der im Glauben real

gewordenen Existenzform des Engels. Damit aber ist Petersons

Theopolitik trotz ihres radikalen Objektivismus im Kern ein

theologischer Existentialismus, denn erst von seiner Analyse

des Seins des Daseins als ein Sein der Möglichkeiten dieses

Daseins im Sinne eines Über-sich-hinaus-Seins erhält der

theologische Objektivismus sein Fundament.

Peterson bestätigt das Unglaubliche:

260 Ebd., S. 17.118

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Weil das aber alles so ist, weil die Engel bei seiner[Christi] Geburt, die Engel an seinem leeren Grabe sichtbargeworden sind, darum ist uns auch nicht gleichgültig, was dieEngel sind. Sie sind mehr als poetische Staffage aus demRepertoire der Volks- und Märchenpoesie. Sie gehören zu Ihm[Christus] und sie gehören zu uns. Und wenn sie auch zu Ihmanders gehören als zu uns, und wenn sie auch alle ihm dienenin einer Weise, wie sie das uns nicht tun, und wenn sie auchfür ihn das Niedrige, für uns aber das Höhere sind, – so sindsie doch nicht in dem Sinne für uns das Höhere, daß sie füruns je das werden könnten, was Christus für uns ist. Für unsbedeuten sie doch nur eine Möglichkeit unseres Seins, eineSteigerung und Intensivierung unseres Seins, aber dochniemals die Möglichkeit eines neuen Glaubens.261

Der Engel bezeichnet zunächst die Möglichkeit der Kreatur, über

sich selbst hinauszugehen, sich der himmlischen Polis zu

nähern. In den Überlegungen zur menschlichen Existenz als

Selbst-Transzendenz wendet sich Peterson prinzipiell gegen die

Rhetorik der dialektischen Theologen Barth und Gogarten, die,

indem sie die Differenz zwischen Mensch und Gott gegen ihre

modernen Verwechslungen und Idolatrien als eine unendliche

beschreiben, den Menschen ganz in die Rolle der niedrigen und

nichtigen Kreatur – als Adam – bannen, ohne der Dimension der

durch Christus begonnenen Erlösung in irgendeiner

existentiellen Weise Rechnung zu tragen.

Es gibt tausend Wege, auf denen der Mensch zum Engel eilt,nicht weil er sich vornähme, zum Engel zu werden, sondernweil das Sein, das er lebt, nur ein vorläufiges Sein ist, undnoch nicht erschienen ist, was wir sind. […] Und wenn unsgesagt wird – Gogarten wird nicht müde, es zu betonen – daßdas die Hauptsache wäre: zu bleiben, was wir sind,festzustehen, wo wir stehen, damit der Mensch Mensch und GottGott bleibe, so geht diese Forderung doch nur auf denMenschen überhaupt, auf den Adam, den wir alle mit unsherumtragen, sie geht aber nicht auf jene anderen Menschen,

261 Peterson, Marginalien zur Theologie, S. 111.119

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

der überhaupt nicht in jener Weise „da“ ist, der irgendwieimmer nur existiert, wenn er über sich hinausgeht und demEngel oder dem Dämon sich nähert.262

Barth und Gogarten betonen im Sinne Petersons zunächst ganz

richtig gegen jede Verwechslung von Gott und Mensch, von

Theologie und Politik deren radikale Differenz, verharren aber

in solcher Negativität und permanent zu wiederholender

„bestimmter Negation“ gegenüber dem Totalitätsanspruch der

identitären Moderne, ohne über diese dialektisch

fortzuschreiten und über die Analogien und Beziehungen zwischen

beiden Seinssphären die Existenz des Menschen in ihrer

Selbsttranszendenz „über sich hinaus“ zu Gott zu erfassen. Der

gegen Gott rebellierende Adam der Schöpfung geht in seiner

Bekehrung zum Glauben an Christus eben über sein bloß

kreatürliches Sein hinaus:

Dieser Mensch, der über sich hinaus geht, weil er eben nur indem Übersichhinausgehen da ist, der vermag zu steigen und zusteigen […] und in einem metaphysischen Sinne steigt er nunüber sich selbst hinaus und zum Genossen Engel undErzengel.263

Peterson unterscheidet also zwischen zwei prinzipiellen

Tendenzen der Selbsttranszendenz, der in Richtung auf den Engel

und der hin zum Dämon. Beschreibt die erste Tendenz eine

Selbstüberschreitung hin zum anderen, so die zweite Tendenz

eine Selbstüberschreitung, die über sich hinausgeht, um nur

sich selbst wieder zu begegnen. Das „Über sich hinaus“ des

Daseins ereignet sich hier als existentielle Intensivierung hin

zur je eigenen Souveränität im Sinne des Willens zur Macht.

Steht die angelologische Selbsttranszendenz im weitesten Sinne

262 Ebd., S. 111.263 Ebd., S. 111 f.

120

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

für eine „agapeische“ Selbstüberschreitung hin zum anderen, so

die dämonische Selbsttranszendenz für die Transzendenz der

kreatürlichen, ästhetisch-erotischen Souveränität, die sich als

Selbst und Selbstheit zu behaupten sucht. Die angelologische

Selbsttranszendenz dagegen vollzieht sich auf zwei zentralen

Weisen, die martyrologische und die hymnische, die sich

allerdings als zwei Aspekte derselben Form von

Selbsttranszendenz, nämlich als Zeugnis, erweisen sollen.

Zunächst wendet sich Petersons Angelologie der Existenz

wieder ganz konkret gegen die dialektische Theologie, die auf

der Trennung von Gott und Mensch gegen ihre Verwechslung

beharrt und damit notwendig eine negative Theologie darstellt:

Nicht dadurch predigt man Glauben, daß man vom Glauben immerredet, nicht dadurch zeugt man von diesem Letzten, daß man inunaufhörlicher Dialektik alle Aussagen wieder aufhebt,sondern daß man im Vorletzten zum Ausdruck bringt, daß mandas Letzte hat, daß man mit Engeln, Sonne und Mond, die dochalle nicht das Letzte sind, von dem zeugt, was das Letzteist, und was selber doch erst sichtbar werden wird, wennSonne und Mond vergangen sein werden und wenn auch der Todnicht mehr sein wird.264

Die unendliche Differenz zwischen Gott und Mensch soll

existentiell-theologisch überwunden werden, indem der Christ

sein kreatürliches Sein transzendiert und nicht mehr nur in

philosophischer Distanz objektive Aussagen über Gott macht, die

ohnehin – als Aussagen – nur negativ sein können.

Selbsttranszendenz verwirklicht sich dagegen in einer in der

hymnischen Anrede zu bezeugenden Annäherung an „das Letzte“.

Während also die begrifflich-negative Aussage der ersten Stufe

von Theologie in der Tat dem kreatürlichen Status des Adam

264 Ebd., S. 113.121

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

angemessen sei, verwirklicht sich Theologie in einem hymnischen

Sprechen, in dem dieser Adam sich selbst zu den Engeln hin

überschreitet.265 „Der Ausdruck ‚Theologia‘ ist zweideutig“,

schreibt Peterson.

„Das Wort bezeichnet auf der einen Seite in der antikenPhilosophie das Wissen um die höchsten Prinzipien des Seins.Auf der anderen Seite konnte mit Theologie aber nun nichtbloß die Wissenschaft, sondern auch der Logos, speziell diegleichsam poetische Rede der Sänger der Urzeit bezeichnetwerden.“266

In dieser doppelten Bedeutung findet der Begriff der Theo-logia

in der christlichen Mystik Verwendung, die, wie Peterson

selbst, beide Formen von Theologie, die diskursiv-negative und

die hymnisch-positive, in einer Stufenlehre integriert, die die

Annäherung an Gott als ein Über-sich-hinaus-Gehen des Daseins

in bestimmten Phasen und Graden beschreibt.

Mit anderen Worten: Die liturgische Hymne ist der authentisch

ästhetische Ausdruck der Theo-logia selbst. Insofern es ihr um

den Lobpreis dessen geht, der über alle Gewalten und Namen ist,

ist sie eine in ihrem Wesen ästhetische Rede, in der sich

zugleich das Über-sich-hinaus-gehen der Kreatur in Richtung auf

den Engel verwirklichen soll. Diese liturgisch-ästhetische Rede

– die Hymne auf Gott – ist der Logos der wahren Theologia, die

sich über die Negativität der dialektischen Theologie erheben

soll, die zugleich die Voraussetzung der Hymne ist. Als solche

ist die Hymne höchstes Zeugnis, das der über sich hinausgehende

Glaubende vor Gott ablegen kann. 265 Vgl. hierzu die philosophische Begründung hymnischen Sprechens bei Marion, The Idol and Distance, vor allem Paragraph 16: „The Discourse of Praise“, S. 180–195. Auch den Essay Marions „In the Name. How to Avoid speaking of „Negative Theologie““, in: John Caputo/Michael J. Scanlon, God, the Gift and Postmodernism, Bloomington 1999, S. 20–42.266 Peterson, Das Buch von den Engeln, S. 85.

122

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Mit dem Begriff des Zeugnisses wird aber nicht nur die

hymnische, sondern, wie wir sahen, auch die martyrologische

Dimension dieses Über-sich-hinaus-Gehens hin zu den Engeln in

Erinnerung gebracht. In letzter Instanz bedeutet „Zeugnis

ablegen“ eben das Zeugnis für Christus ablegen, mit dem dessen

Wort existentiell-politisch imitiert wird, nämlich in der

Selbtserniedrigung für den anderen:

Kein Apostel leidet für sich selber, kein Heiliger wirdheilig für sich allein, immer zieht der Märtyrer und derHeilige andere mit sich, immer führt es die Gläubigen übersich selbst hinaus in eine Liebe, die sich selber vergißt,und in eine Demut, die sich selber für nichts achtet.267

Das Über-sich-hinaus-Gehen ist hier kein Wille zur Macht, keine

erotisch-ästhetische Souveränität, die sich selbst um ihrer

selbst willen überbietet. Das Ich überbietet sich, indem es

sich in Demut und Selbsthingabe als Selbst gerade aufgibt.

Solches Über-sich-hinaus-Gehen als Selbstaufgabe und Liebe der

Selbsthingabe vollendet sich in dem Tod für den anderen, dem

Martyrium, das existentiell-theopolitisch die Umkehrung aller

Werte bezeichnet, die in der existentiell-politischen

Selbsterhaltung gründen. Aus dieser existentiellen Perspektive

sind Auszug (aus der irdischen Polis) und Annäherung (an die

himmlische Polis), wie sie das Sein der Kirche beschreiben,

Funktion des Über-sich-hinaus-Gehens des Ichs als

Selbsthingabe, die sich allerdings im Rahmen der kirchlichen

Gemeinde vollziehen soll.

Die Kirche bedarf zu ihrem Leben und Wachstum der Märtyrerund Heiligen, weil sie es sind, die in ihrem Hinausgehen übersich selbst, bis zur Preisgabe des Lebens, uns nötigen, inLiebe uns selbst zu vergessen und in Demut unserer selbst für

267 Peterson, Marginalien zur Theologie, S. 74.123

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

nichts zu erachten, um so die mystische Freude der LiebeChristi zu erfüllen.268

Damit ist aber, so scheint es, die Identität von Martyrium und

Hymne im „Zeugnis Ablegen“ bzw. im Über-sich-hinaus-Gehen für

Peterson evident geworden.

In dem Philipperkommentar von 1938, „Apostel und Zeuge

Christi“ überschrieben, geht Petersons Rhetorik selbst noch

einmal über ihre eigenen Grenzen hinaus und definiert,

ausgehend von Phil. 2,6 ff., den inneren Zusammenhang beider

Formen der Zeugenschaft:

Da liegt die letzte Wurzel der christlichen Demut, die bereitist, Armut und Niedrigkeit entgegenzunehmen, dem Tode sichhinhält im Wissen um die Niedrigkeit unserer Sklavengestaltund am Kreuze sich anheften läßt, in dem Erkennen desPreisgegebenseins an diesen Äon und seine Mächte. Demut istalso mehr als ein moralischer Akt, sie ist ein Wissen um dasSein des Menschen, des Kosmos und dieses Äons; aber damit istdann auch schon gesagt, daß in dieser eschatologischenVerhaltungsweise der Demut ein Hinweis auf eine Erhöhung undauf ein Herrschaftsbild gegeben ist, das sein Urbild in derErhöhung Jesu zu der höchsten Herrschaftswürde hat. Demut istalso nicht eine negative Tugend, die in sich selber Ziel undGenüge fände, sondern Durchgang durch eine Verhaltensweisegegenüber Mensch, Kosmos und Äon, der es um die letzteOrdnung und die höchste Form der Herrschaft geht. Wer bereitist, in der Demut Armut auf sich zu nehmen, tut es, weil erum den wahren Reichtum weiß; wer sich nicht scheut, derNiedrigkeit sich zu unterwerfen, hat eine Einsicht in das,was wahre Würde ist; wer sich dem Tode in Demut hinhält,erwartet die Überwindung des Todes in der Auferstehung derToten; wer sich den Mächten dieses Äons zur Kreuzigungpreisgibt, glaubt an das Kommen und die Nähe desGottesreiches. So wird denn Christus, der aller Demut Urbildist, auch in urbildlicher und besonderer Weise erhöht und indem Namen, den Gott ihm gibt, der Triumph über einMenschenbild, einen Kosmos und einen Äon sichtbar, der Engel,Menschen und Tote in den bewundernden Ruf „Herr ist Jesus

268 Ebd.124

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Christus zur Verherrlichung Gottes des Vaters!“ ausbrechenläßt.269

Damit werden Kult und Liturgie zum ultimativen Zeichen der

Tatsache des Zwischenseins der Kirche, das sich als Bewegung

von Auszug und Annäherung auszeichnet und dem Über-sich-hinaus-

Gehen des Glaubenden als Selbsthingabe der Liebe verdankt. Kult

und Eschatologie stehen somit für Peterson in keinem

Widerspruch zueinander, vielmehr ist der Kult von dem

apokalyptischen Drama gar nicht zu trennen, wie dies Peterson

am Beispiel der Johannes-Offenbarung auch textuell belegen

will. In diesem Text sind bekanntlich liturgische Hymnen in die

eigentliche Erzählung vom Endgeschehen einmontiert. Diesen

Hymnen kommt nun im Sinne der „Ökonomie der Erzählung“, wie

Peterson erklärt, eine „retardierende Funktion“ zu.270 Aus der

Perspektive des überzeitlich-göttlichen Äons ist die textuelle

Einheit von apokalyptischem und liturgischem Geschehen nämlich

Ausdruck der theologischen Tatsache,

daß alles eschatologische Weltgeschehen in Gottes ewiger Weltgründet, so daß die Schilderung der eschatologischenEreignisse im Kosmos notwendigerweise den Hintergrund einerewigen Welt und die grausame Beschreibung alles Leidens inder eschatologischen Zeit notwendigerweise die Schilderungeiner leidentrückten Welt, die nur das Lob Gottes kennt,sichtbar machen muß.271

Da also Kult und Eschatologie bei Peterson nicht Gegensätze,

sondern komplementäre Aspekte desselben Ereignisses des Auszugs

und der Annäherung darstellen, heißt es im hymnischen Lobpreis

Gottes folgerichtig, daß Gott der ist, „der da war, der da ist

und der da kommt.“ Diese christliche Variation einer jüdischen

269 Ebd., S. 75.270 Peterson, Das Buch von den Engeln, S. 19.271 Ebd., S. 21.

125

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Gebetsformel weist für Peterson darauf hin, daß die Ewigkeit

göttlichen Seins, daß der ontologische Ewigkeitsbegriff durch

den eschatologischen Begriff sowohl „durchbrochen“ wird, wie er

eben auch zu diesem Sein gehört. Der Simultaneität der Äone,

die die Theopolitk als interventorische Praxis begründet,

entspricht eine parallele Simultaneität von Sein und Kommen in

der göttlichen Sphäre. Eben diese Gleichstellung von Sein und

Kommen in Gott ist es denn auch, die die für Peterson als

selbstverständlich gesetzte Beteiligung der Kirche am Kult der

Engel und umgekehrt der Engel am Kult der Kirche ermöglichen

soll. Wenn nämlich dem in der hymnischen Formel artikulierten

Tatbestand von Gottes Gewesensein, Sein und Kommen die

liturgische Dreiteilung von Preis, Ehre und Danksagung

entspricht, so wird in der Danksagung, der Eucharistie, immer

schon die reale Manifestation Gottes zelebriert.

Die Eucharistie ist so nicht nur der kultisch-liturgischeAusdruck dafür, daß Gott seine kosmisch-ontologische Ewigkeitdurchbrochen hat und sich in der Knechtsgestalt erniedrigt undselbst hingegeben hat, sondern sie ist es, die die Verbindungzwischen irdischem und englischem Kult, den Übergang zwischenKirche und himmlischer Polis ermöglicht.272

Im Martyrium, der existentiellen Bezeugung von Gottes Kommen,

wird die Umkehr aller politischen Werte vollzogen, die im

Siegeshymnus dann als Lobpreisung der Gerechten und der Engel

vor Gott hymnisch bezeugt wird. In diesem Sinne zitiert

Peterson den hymnischen Lobpreis aus Off. 5,3:

Würdig bist du, zu nehmen das Buch und zu öffnen seineSiegel, denn du wurdest geschlachtet und hast erkauft mitdeinem Blute aus allen Stämmen, Sprachen, Völkern und

272 Ebd., S. 24.126

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Nationen und machtest sie zu einem Königtum und zu Priestern,und herrschen werden sie auf Erden.

Der Kult ist die liturgische Inszenierung und zugleich

Vorwegnahme der schon vollzogenen Identität von Sein und

Kommen, mit der der Fürst dieser Welt, das imperium romanum mit

seinem Kaiserkult bzw. das nationalsozialistische

Tausendjährige Reich endgültig als besiegt imaginiert werden

darf. Dieser Sieg wird durch das Martyrium eingeleitet und

besiegelt zugleich, insofern es nicht zu politischen Mitteln,

nicht zur Gewalt greift, also Politik als besiegt ausweist.273

Dieser Überwindung der Politik entspricht das Symbol von der

Öffnung des Buches.

Der Hymnus ist also als Siegeshymnus – kein anderer Siegerkann das Buch öffnen, d. h. keine rein politische, an einenSieg auf der Erde geknüpfte Entscheidung vermag dasSchicksalsbuch, das in Gottes Hand ruht, zur Verlesung zubringen. Nur der Sieg des Löwen aus Juda löst das Siegel vondem Schicksalsbuch der Geschichte […]. Wenn die Kirche inihrem Hymnus „das geschlachtete Lamm“ preist, so geschiehtdas, weil sie von der Überlegenheit des Löwen aus Judagegenüber allen Königen der Erde weiß, weil sie ein König-und Priestertum kennt, das allen anderen Königtümern undPriestertümern überlegen ist, da es aus allen „Stämmen,Sprachen, Völkern und Nationen“ gewonnen ist. Der Hymnus derKirche ist die Transzendierung aller nationalen Hymnen, wiedie Sprache der Kirche die Transzendierung aller Sprachen

273 Vgl. Erik Peterson: „Der Fürst dieser Welt“, in: ders., Ausgewählte Werke,Bd. IV, S. 256 f. In diesem Fragment beschreibt Peterson denapokalyptischen Sieg über die Mächte dieser Welt aus eben der angelischenPerspektive, deren kultische und existentielle Dimension er hier als seinengenuinen „Begriff der Politischen“ (!!) zu deuten versucht. „Der Begriffdes Politischen ist nicht von der irdischen Herrschaft aus zu bestimmen,sondern muß die himmlische Herrschaft der Engel mit hinzunehmen.“ Erst soerhellt sich die theopolitische Bedeutung von Martyrium und Kult, die dasBuch von den Engeln bestimmt. „Der Genius der Weltgeschichte (Napoleon usw.)ist in diesem Sinn ein von Engeln (guten und bösen) bestimmter Mensch.“Diese existentielle Angelologie ist offenbar immer schon eingebaut inPetersons „Begriff des Politischen“.

127

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

ist, und das darum, weil der Sieg des Löwen aus Juda den Siegaller Könige der Erde transzendiert hat.274

Die Hymne ist somit Ausdruck des Sieges über Herrschaft und

Gewalt, die in einer Sprache vorgetragen wird, die alle

nationalen und partikularen Sprachen transzendieren soll. Die

apokalyptische Theopolitik gipfelt in dem ästhetischen Ausdruck

hymnischen Sprechens – der eigentlichen Theo-logie also, deren

Sinn der Vers des eingangs zitierten Verses aus dem Brief des

Paulus an die Epheser in prägnanter Form zusammenfaßt: „Du bist

erhaben über jede Obrigkeit und Gewalt, Kraft und Herrschaft

und über jeden Namen, der nicht nur in dieser, sondern auch in

der zukünftigen Welt genannt wird.“

IV Ästhetik als Theologia

Der Hymnus der Liturgie ist also der authentische Ausdruck der

Theologia und als solcher der höchste Ausdruck martyrologischer

Theopolitik. Diese Hymne, dieser Lobpreis Gottes ist als

poetische (An-)Rede, zumal Gebet, liturgischer Gesang und

mystische Ekstase wesenhaft „ästhetische“ Rede. Petersons

Theopolitik findet ihren adäquaten Begriff in einer Ästhetik

als Theologia, deren Sinn der unaussprechliche Name Gottes ist,

der in solcher Transzendenz aller Namen das Ende von Herrschaft

und Gewalt indiziert. Der Vers aus Paulus’ Brief an die Epheser

ist nicht zufällig einmontiert in die von Peterson ausführlich

diskutierte Markus-Liturgie; er enthält die Quintessenz seiner

Theo-logia als Liturgie und Theopolitik.

274 Ebd., S. 31.128

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Gerade aber in dieser Zusammenstellung von unaussprechlichem

Namen und überwundener Herrschaft erscheint Petersons Theologie

der Grundtendenz moderner Ästhetik zum Verwechseln ähnlich. Der

Namenlosigkeit und Transzendierung der Herrschaft entspricht

scheinbar der moderne Begriff autonomer Schönheit als

Begrifflosigkeit, deren Sinn die Negation von Interesse und

Herrschaft ist. Wenn bei dem Begründer der autonomen Ästhetik,

bei Kant, Begriff und Interesse im ästhetischen Urteil

suspendiert werden275, so bezeichnet die von keinem Begriff

fixierbare Schönheit die Sphäre des Spiels freier

Deutungsversuche und somit einer unverzerrten Kommunikation,

die dann spätestens bei Schiller eine politisch-theologische

Bedeutung erhält: nämlich als die historisch-innerweltliche

Utopie des dritten Reiches der Schönheit276, das die

joachitische Apokalypse vom dritten innergeschichtlichen Reich

kantianisch im Sinne einer Sphäre der idealen Vermittlung von

Natur und Freiheit (um)bestimmt und damit in der Schönheit den

gottgewordenen Menschen utopisch zelebriert. Dieser

Zusammenhang von Begriffs- und Machtkritik bestimmt die moderne

Ästhetik bis zu Adorno, Marcuse und Heidegger, insofern das

„Ästhetische“, ob negativistisch oder affirmativ, das Ereignis

der historischen Realisierung des Absoluten in der Geschichte

bezeichnen soll. Damit aber entspricht das Ästhetische nicht

nur einer anderen Verfassung von Gesellschaft, sondern vor

allem einer anderen Form von Subjektivität, die ästhetisch

„über sich hinaus“, das naturgeschichtliche Wesen des Menschen

275 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, und Schriften zur Naturphilosophie, Darmstadt 1981, §§ 5 und 9.276 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, S. 476 ff.

129

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

überwunden haben soll. Ob dieses Ereignis im Sinne eines

ursprünglich ontologisch abgesicherten Bezugs zum Sein jenseits

des Willens und des Interesses (Heidegger)277 oder, wie bei

Adorno, nur in den seltenen Augenblicken ästhetischer

Erschütterung möglich wird, in denen das Subjekt sich seiner

Subjektivität wie eines Panzers entledigen kann278 – die

Transformation des Subjekts ist als ein „Über sich hinaus“

immer zugleich auch als ein „Zu-sich-selbst-Kommen“ konzipiert,

das in der Geschichte sich ereignen und vollenden soll. In

diesem Sinne bezeichnet die Epiphanie des von Herrschaft

befreiten Menschen das Ereignis der Transposition des

Gottesreiches auf die realpolitische Ebene der Geschichte:

Erlösung. Die Ästhetik der Moderne konstruiert das synthetische

Menschenbild, das glänzende Idol, das in der politischen

Theologie der Moderne utopisch vorausgesetzt wird, insofern es

dieser – von Lessing und Schiller über Feuerbach bis Adorno –

um die Emanzipation des Subjekts im Sinne einer idealen

277 Vgl. etwa Martin Heidegger, „Wozu Dichter?“, in: ders., Holzwege, Frankfurt a. M. 1977, S. 296 ff.: „Wenn aber der Mensch der Gewagte ist, der mit dem Wagnis geht, indem er es will, dann müssen die Menschen, die manchmal noch wagender sind, auch noch wollender sein.“ An Rilkes Poesie entlang entwickelt Heidegger hier zum ersten Mal seine Idee von einem Wollen des Nichtwollens, mit der der Wille zur Macht als Urmacht herrschaftlicher Metaphysik überwunden werden soll. Wenn nämlich der Wille zur Macht selbst nicht das letzte, sondern schon Ausdruck einer fundamentalen Schutzlosigkeit ist, dann bedeutet das „Wollender sein“ die Möglichkeit der Umkehr: „Das Auszeichnende des Wendens besteht darin, daß wir das Schutzlossein als das Drohende gesehen haben. Erst solches Gesehenhaben sieht die Gefahr. Es sieht, daß das Schutzlossein als solches unser Wesen mit dem Verlust der Zugehörigkeit in das Offene bedroht.“ (Ebd., S. 300)278 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1973, S. 401 etwa: „Das von Kunst erschütterte Subjekt macht reale Erfahrungen; nun jedoch, kraft der Einsicht ins Kunstwerk als Kunstwerk solche, in denen seine Verhärtung in der eigenen Subjektivität sich löst, seiner Selbstsetzung ihre Beschränktheit aufgeht.“

130

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Inkarnation des Göttlichen im Menschen geht, also

paradoxerweise: um die Menschwerdung Gottes.

Wenn formal Theologia und moderne Ästhetik zunächst zum

Verwechseln ähnlich zu sein scheinen, so zeigt der Rekurs auf

die mit dem Begriff der Schönheit korrelierende ästhetische

Subjektivität zugleich die radikale Differenz zwischen diesen

beiden Formen von Ästhetik, insofern nämlich die Emanzipation

des Subjekts sich exemplarisch in der Emanzipation des Genies

von den Ketten der Tradition verwirklicht. Nicht zufällig

stellt Peterson seiner angelologischen Konzeption von

Humanität, die sich als Selbsttranszendenz von Demut und Liebe

entfaltet, eine andere Selbsttranszendenz gegenüber, die als

Steigerung und Intensivierung des Ichs in der Selbstliebe und

damit als Wille zur Macht alle Konventionen, Normen und Gesetze

transzendiert. Diese Form der Selbsttranszendenz benennt

Peteson mit dem Daimon, lateinisch: genius, der gemeinsam mit

dem Begriff des ingenium, die ästhetische, ja die moderne

Subjektivität im Ganzen definiert. Der Schönheit jenseits von

Begriff und Interesse entspricht auf der Seite der Produktion

das Subjekt als Genie, das, um diese Schönheit zu realisieren,

ein Kunstwerk so produzieren muß, daß es den bekannten

Regelkanon stets transzendiert. Kants Definition des Genies

stellt diesen Zusammenhang im Sinne einer Korrelation von

Schönheit und ästhetischer Subjektivität folgendermaßen dar:

Denn eine jede Kunst setzt Regeln voraus, durch derenGrundlegung allererst ein Produkt, wenn es künstlich heißensoll, als möglich vorgestellt wird. Der Begriff der schönenKunst aber verstattet nicht, daß das Urteil über dieSchönheit ihres Produkts von irgendeiner Regel abgeleitet

131

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

werde, die einen Begriff zum Bestimmungsgrunde habe, mithineinen Begriff von der Art, wie es möglich sei, zum Grundelege. Also kann die schöne Kunst sich selbst nicht die Regelausdenken, nach der sie ihr Produkt zu Stande bringen soll.Da nun gleichwohl ohne vorhergehende Regel ein Produktniemals Kunst heißen kann, so muß die Natur im Subjekte […]der Kunst die Regel geben, d. i. die schöne Kunst ist nur alsProdukt des Genies möglich.279

Wenn diese Definition von Kunst durch Kant selbst sofort

eingeschränkt wird, insofern nämlich eine Einbildungskraft ohne

Aufsicht durch die Urteilskraft und den Geschmack „in ihrer

gesetzlosen Freiheit nichts als Unsinn hervor[bringen]“280 soll,

so zeichnet sie doch das Telos der sich stetig

autonomisierenden Kunst vor, das, ausgehend von einer solchen

eingeschränkten Freiheit, sich zuletzt, in der Avantgarde, als

radikale Freiheit aktualisieren wird. Ausgehend von einer

bestehenden Verfassung von Kunst, setzt das Genie diese

zunächst ideal ins Werk um, also so, daß die eigentliche

Anwendung der Regel unerkenntlich bleibt, um dann im Namen der

Freiheit und des individuellen Ausdrucksbedürfnisses des

Subjekts diese Verfassung zunehmend kritisch zu modifizieren,

bis am Ende eben diese Verfassung der Kunst vom ästhetischen

Subjekt in toto suspendiert wird. Das Gesetz der Schönheit als

Freiheit von Norm, Begriff und Gesetz wird vom ästhetischen

Subjekt vollstreckt, das damit selbst seine souveräne Freiheit

aktualisiert und, da es sich nun von der Verfassung emanzipiert

hat, nunmehr mit jedem Werk, wie Adorno für den modernen

279 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 46.280 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 255. Vgl. hierzu meinen Aufsatz „Die Endzeit des Genies. Zur Problematik des ästhetischen Subjekts in der (Post)moderne“, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 69. Jahrgang 1995, S. 181–184.

132

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Komponisten feststellt, eine „creatio ex nihilo“281 vollziehen

muß.

Die Dialektik dessen, was man als die ästhetische Form

bezeichnen kann, also der Prozeß, in dem das Ausdrucksmoment

gegen das Formmoment radikalisiert wird, besitzt – im Rahmen

der politischen Theologie der Moderne – einen paradigmatischen

Charakter, weil das ästhetische Subjekt immer schon als idealer

Repräsentant für die politische Freiheit des Subjekts gilt.

Wenn der Genius klassisch Natur und Freiheit, Neigung und

Gesetz in sich und seiner Poesis harmonisch ins Werk zu setzen

versteht, so ist das ästhetische Subjekt hier sowohl Modell für

eine allgemeine Form von Subjektivität wie auch Ausnahme,

insofern es dieses Allgemeine in sich schon real antizipiert.

Aber eben die Teleologie der Schönheit selbst, die sich als

Wesen vor Begriff und Interesse realisiert, verlangt eine

Dissoziation von Form und Subjektivität, die das ästhetische

Subjekt zuletzt zu einer Suspension der Verfassung zwingt, mit

der es als Ausnahme und souveräne Instanz vor jedem Gesetz und

vor jeder Norm auch einen ganz anderen Typus von Politik zu

repräsentieren hat. Insofern nun „das Ästhetische“ die ideale

Darstellung „des Politischen“ bildet, wird das ästhetische

Subjekt potentiell zum Prototyp einer souveränen Politik, die

in Carl Schmitts Politische Theologie folgerichtig und in ihrer

ganzen Tragweite zur Formulierung gelangt. Schmitts Einsicht,

daß „im Normalfall das selbständige Moment der Entscheidung auf281 Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, Frankfurt a. M. 1978, S. 101: „Der Triumph der Subjektivität über die heteronome Tradition, die Freiheit,jeden musikalischen Augenblick subsumtionslos ihn selber sein zu lassen, kommt teuer zu stehen. Die Schwierigkeiten der geforderten Sprachschöpfung sind prohibitiv. Nicht bloß wird dem Komponisten als Arbeit aufgebürdet, was vordem die intersubjektive Sprache der Musik weithin ihm abgenommen hatte.“

133

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

ein Minimum zurückgedrängt werden kann, während im Ausnahmefall

die Norm vernichtet“282 wird, erscheint wie ein Analogon zu der

Formulierung des Künstlers Busoni etwa, der der Routine als

Anwendung einiger weniger Regeln „auf alle vorkommenden Fälle“

eine Kunst vorzieht, „bei welcher jeder Fall eine neue, eine

Ausnahme wäre“283.

So wie Schmitt die Souveränität aus dem Ausnahmefall

konstruiert, nämlich als Akt einer notwendigen Aufhebung der

Rechtsordnung „in einer Entscheidung aus dem Nichts“, so

folgert Busoni aus der neuen Situation der Kunst nach der

Destruktion der ästhetischen Verfassung einen Akt der creatio ex

nihilo, der das Kunstwerk „aus nichts“ erzeugen soll. Nicht nur

handelt es sich hier um analoge Fälle, die in der Tat den

Diskurs der Avantgarde der 20er Jahre beherrschen, sondern das

ästhetische Subjekt ist die ultimative Realisierung des

politischen Subjekts, insofern das ästhetische Subjekt das

Prinzip souveräner Grenz- und Normüberschreitung radikal ins

Werk setzt. Eine solche Grenzüberschreitung bedarf aber der

Macht, die die Grenze als eine durch die Gesellschaft, das

Allgemeine, gegen die Willkür des Ichs errichtete Grenze zu

durchbrechen wagt. Die ästhetisch-politische Souveränität als

Selbstranszendenz des Subjekts verwirklicht sich als Wille zur

Macht, der sich, dieser Logik der Normenkritik entsprechend,

jeweils von neuem als Ausnahme zu konstituieren hat. Die

Selbsttranszendenz als ein „Über-sich-hinaus-Sein“ muß so

jeweils den erreichten Stand der Souveränität, wie er sich als

282 Schmitt, Politische Theologie, S. 19.283 Ferruccio Busoni, Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, Wiesbaden 1954 (1916),S. 31. Vgl. meinen Aufsatz „Logik der Ausnahme. Zum ästhetischen Subtext der Politischen Theologie von Carl Schmitt, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Bd. XLI/2 (1996), S. 259–279.

134

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Begriff, Norm, Wahrheit darstellt, auf neue Möglichkeiten des

Selbst-Seins hin überschreiten. Was Heidegger an Nietzsches

Konzept vom Willen zur Macht herausstellt, erhellt nicht nur

dieses ästhetische „Über-sich-hinaus-Sein“, sondern weist das

„Ästhetische“ als die Sphäre des Seins selbst aus, die in ihrer

Orientierung an der Möglichkeit die „Wahrheit“ als Bestand und

Wirklichkeit immer schon überbietet.

Im Hinblick auf die Sicherung der jeweils erreichtenMachtstufe ist die Wahrheit der notwendige Wert. Aber siereicht nicht zu, um eine Machtstufe zu erreichen; denn dasBeständige, für sich genommen, vermag niemals das zu geben,dessen der Wille allem zuvor bedarf, um als Wille „über sichhinaus“ und das heißt erst in Möglichkeiten des Befehlshinauszugehen. […] Das Schaffen von Möglichkeiten desWillens, aus denen sich der Wille zur Macht erst zu sichselbst befreit, ist für Nietzsche das Wesen der Kunst.284

In solcher Reduktion des Willens zur Macht ist die

Selbsttranszendenz des Subjekts konsequent auf die „jemeinige“

Machtsteigerung hin angelegt und erweist sich in dieser

Jemeinigkeit – aus der theologischen Perspektive – als Ausdruck

einer radikalen Selbstliebe, oder, um mit dem amerikanischen

Philosophen William Desmond zu sprechen: einer radikalen

„erotischen Souveränität“285. Die moderne politische Theologie

und moderne Ästhetik wollen seit Lessing das Gottesreich auf

Erden gründen und die christliche Nächstenliebe zum Grundgesetz

ihrer utopischen Politik erheben. Wie dies Feuerbach fordert,

„enthüllen“ sie Gott selbst als Spiegelbild und Metapher des

Ichs und reduzieren mit der Gottesliebe auch zunehmend die

Nächstenliebe konsequent auf die Selbstliebe und „erotische

284 Heidegger, „Nietzsches Wort ‚Gott ist tot‘“, S. 240 f.285 Desmond, Ethics in the Between, S. 443.

135

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Souveränität“.286 Dieser Tendenz entsprechend, werden mit dem

metaphysischen Schein dann auch beide, Gottes- und

Nächstenliebe, tatsächlich als fundamentales „Unrecht“

entlarvt. So schreibt Freud:

Eine der sogenannten Idealforderungen der Kulturgesellschaftkann uns hier die Spur zeigen. Sie lautet: Du sollst denNächsten lieben wie dich selbst […]. Warum sollen wir das?Was soll es uns helfen? […] Meine Liebe ist etwas mirWertvolles, das ich nicht ohne Rechenschaft verwerfen darf.Sie legt mir Pflichten auf, die ich mit Opfern zu erfüllenbereit sein muß. Wenn ich einen anderen liebe, muß er es aufirgendeine Art verdienen. […] Er verdient es, wenn er mir inwichtigen Stücken so ähnlich ist, daß ich in ihm mich selbstlieben kann […]. Aber wenn er mir fremd ist und mich durchkeinen Wert, keine bereits erworbene Bedeutung für meinGefühlsleben anziehen kann, wird es mir schwer, ihn zulieben. Ich tue sogar unrecht damit, denn meine Liebe wirdvon all den Meinen als Bevorzugung geschätzt; es ist einUnrecht an ihnen, wenn ich den Fremden ihnen gleichstelle.287

Die ästhetische Souveränität, in ihrer Logik und Repräsentanz

zu Ende gedacht, erweist sich als ästhetische, erotische und

politische Souveränität, die sich in dem Maße zu behaupten

versteht, als das sie sich im Selbst die ultimative

Machtstellung zu verschaffen weiß und den anderen als Störung,

Fremden und Feind aus seinem Lebensumkreis verbannen kann.

Potentiell findet der erotische Souverän, um seiner

Machtsteigerung willen, in dem Feind seine eigentliche raison

d’être.288

286 Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Leipzig, 1958, S. 122: „Die Religion ist die Reflexion, die Spiegelung des menschlichen Wesens in sich selbst. Was ist, hat notwendig einen Gefallen, eine Freude an sich selbst, liebt sich und lebt sich mit Recht. […] Sein heißt sich behaupten, sich bejahen, sich lieben; […] Gott ist der Spiegel des Menschen.“287 Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: ders., Das Unbewußte. Schriften zur Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1960, S. 381 f.288 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 26 ff.

136

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

In der scheinbar einfachen Sprache, die Peterson in seinem

Buch über die Engel verwendet, wird diese Form der

Selbsttranszendenz mit der angelologischen Selbsttranszendenz

vergleichbar, aber als deren Umkehrung und Perversion ins

Dämonische. Der Daimon ist allerdings die griechische Vorlage

eben des lateinischen Genius, der zusammen mit dem Begriff des

Ingeniums seit dem ausgehenden Mittelalter den Prozeß der

Emanzipation der Subjektivität zunächst in der Poesie, dann

aber auch in Philosophie und Wissenschaft inspiriert. Peterson

schreibt:

Es gibt viele Wege, auf denen der Mensch zum Engel eilt,nicht, als ob er sich eigentlich vornähme, zum Engel zuwerden, sondern weil das Sein, das er lebt, nur einvorläufiges Sein ist und weil noch nicht erschienen ist, waswir sind. Und wenn wir nicht zum Engel eilen, der vor Gottsteht, dann eilen wir sicherlich zu jenem Engel, der sich vonGott abgewandt hat, dann nähern wir uns dem Daimon.289

Ist der Heilige die Gegenfigur zum Herrschersouverän, so

verschärft sich das Paradox ihrer Beziehung noch einmal

dadurch, daß ästhetisch-erotische Souveränität einerseits und

agapeische Bereitschaft zur Selbstaufopferung andererseits in

ihrer Beziehung zum Gesetz – faktisch: in der Tatsache, daß

beide, Souveränität und Agape, über dem Gesetz stehen –

einander ähnlich werden. In letzter Instanz stehen beide für

die Grenzformen von Subjektivität schlechthin und in solcher

Transzendierung des Gesetzes für den politischen Extremfall:

Gründet der Souverän seine politische Macht auf den durch den

Feind provozierten Ausnahmezustand, so der Heilige seine

Heiligkeit in dem ihm befohlenen Akt, auch den Feind noch zu

lieben, womit er die politische Ausnahme durch die

289 Peterson, Das Buch von den Engeln, S. 93.137

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

theopolitische Liebe noch einmal überbietet und als Ausnahme

der Ausnahme durchbricht. Da, wo sich der erotische Souverän

als Repräsentant der modernen politischen Theologie und

politischen Ästhetik und der agapeische Heilige als

Repräsentant der Theopolitik und ihrer liturgischen Ästhetik,

scheinbar ähnlich werden, aber nur im ultimativen Konflikt

begegnen können, da ereignet sich eine Revolution der Moderne,

die scheinbar den Weg zurück von Nietzsche ins Mittelalter

weist, zur angelologischen Mystik etwa eines Dionysius

Areopagita290. Für Peterson aber bedeutet diese Rückkehr in

Wahrheit die wahre Zukunft desjenigen Denkens, das die Liebe

wie bei Lessing und Feuerbach für eine universale Politik der

Gerechtigkeit einsetzen wollte, aber – der innergeschichtlich-

apokalyptischen Logik der Moderne, also jenem Einzug des

Gottesreiches und der Engel in die real-politische

Öffentlichkeit entsprechend – dem Machtdenken der erotischen

Souveränität überlassen mußte.

290 Vgl. Pseudo-Dionysius Areopagita, Die Namen Gottes, Stuttgart 1988. Zur Bedeutung der radikalen Ästhetik (im Dada) für die Wiederentdeckung des Dionyius vgl. Hugo Ball, Byzantinisches Christentum. Drei Heiligenleben, Frankfurt a. M. 1979; hierzu auch Bernd Wacker (Hrsg.), Dioysius DADA Areopagita. Hugo Ball und die Kritik der Moderne, Paderborn/München 1996; aber auch mein Buch Die Apokalypse des Subjekts, Kapitel IX. Bei Marion, God without Being, wird Dionysius Areopagita zu einem Modell für die neue Theologie „jenseits des Seins“. Hier ist vor allem interessant, wie er zu einem Gegenmodell zu Nietzsches Metaphysik der Macht avanciert. Vgl. hierzu auch Marion, The Idol and Distance.

138

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Nach dem Gesetz Das politische Unbehagen an der Kultur. Leo Strauss liest Carl

Schmitt

Ein fundamentales Unbehagen an der Kultur verbindet Carl

Schmitt und Leo Strauss in den zwanziger Jahren.291 Sie sind

sich einig darüber, daß die Tiefendimension dieses Unbehagens

unmittelbar mit dem säkularen Charakter der Kultur zu tun hat.

Beide entziffern diese Säkularisation als ein Phänomen der

Depotenzierung ursprünglicher Einsichten über die Natur des

Menschen, die durch die Idee der Kultur als Entfaltungsraum

subjektiver Autonomie fatal verdrängt worden sind.

Es gilt bei Schmitt und Strauss, eben diese verdrängten

Einsichten, das politisch-theologische Unbewusste der Kultur

gleichsam, zu Bewußtsein zu bringen. Die zu diesem Zweck

inszenierten Archäologien bzw. Genealogien der Moderne

produzieren die für beide typischen telegraphischen

Reduktionen, in denen diese Depotenzierung sich schlüssig

dokumentieren soll. So bringt Schmitts Politische Theologie von 1922

den Verfallsprozeß des „Politischen“ bekanntlich auf den

simplen Begriff der Analogie von Theologie und Politik, deren

Verfallsprozeß sich in der Transformation von der Offenbarung

291 Die folgenden Überlegungen beziehen sich vor allem auf den Zeitraum von 1922 bis etwa 1938. Es handelt sich bei Schmitt um die Epoche, an deren Anfang Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (1922) und an deren Ende Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines Symbols (Hamburg 1938) stehen. Für Leo Strauss kommen hier vor allem seine „Anmerkungen zu Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen“, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 67. Bd., Heft 6, Tübingen 1932; dann seine Untersuchung Hobbes’ politische Wissenschaft, Neuwied 1965 (1935) und ders., Philosophie und Gesetz. Beiträge zum Verständnis Maimunis und seiner Vorläufer, Berlin 1935, in Betracht.

123

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

zur Vernunft Gottes und zuletzt zur Vernunft ohne Gott in den

politischen Institutionen von Souveränität, konstitutioneller

Monarchie und parlamentarischer Demokratie widerspiegeln

soll.292

Ähnlich konstruiert Leo Strauss in Philosophie und Gesetz (1935)

einen Prozeß der Entpolitisierung, der sich in der Entwicklung

der jüdischen politischen Theologie nach Maimonides abzeichnet,

bei Rabbi Levi ben Gerschon einen spezifischen, dem Deismus der

Aufklärung vergleichbaren Ausdruck erhält und sich in Rabbi

Isaak Abravanels anarchischem Utopismus vollendet.293 Wenn

Gerschon schon die politische Dimension des Maimonides nicht

mehr zu erfassen vermag, so verfalle Abravanel dann einem

292 Siehe Schmitt, Politische Theologie, S. 43, wo Schmitt die politisch-theologische Analogie mit dem ausdrücklichen Hinweis auf ihren analogischenCharakter vorführt.293 Strauss, Philosophie und Gesetz, S. 66: „Lewi nähert sich also nicht bloß dem neuzeitlichen Deismus, er nähert sich damit zugleich in erstaunlicher Weisederjenigen modernen Politik, die zuerst ausdrücklich, später unausdrücklichauf Grund eines scheinbar radikalisierten, in Wahrheit abstrakten, die Macht des Bösen übersehenden Vorsehungsglaubens die Wirksamkeit des Staatesin die allerengsten Grenzen einschließen zu können glaubt.“ Vgl. auch Strauss’ Essay „On Abravanel’s Philosophical Tendency and Political Teaching“, in: Trend/ Loewe, Isaac Abravanel, S. 110: Abravanel „conceives of urban life and of coercive government, as well as of private property, as productions of human rebellion against the natural order instituted by God:the only life in accordance with nature is a state of liberty and equality of all men, and the possession in common of the natural goods. […] his criticism of political organization is truly all-comprehensive. And the ultimate reason of this anti-political view is Abravanel’s anti-rationalism.“ Während Lewi den Übergang vom Monarchismus zum Liberalismus bezeichnet, steht Abravanel für die endgültige Leugnung des Politischen, für den Anarchismus. In beiden Texten läßt sich also ohne weiteres die Wirksamkeit der politisch-theologischen Analogie nachweisen, die Schmitt inder Politischen Theologie von 1922 in Erinnerung ruft. So schön es wäre, wenn Strauss’s Abravanel von 1937 als eine Antwort auf Carl Schmitts Leviathan verfasst wurde, der bekanntlich die für Abravanel typische jüdische Mystik und ihren Messianismus für die Zerstörung des Staates verantwortlich macht,chronologisch geht, wie ich bereits bemerkte, diese Vermutung von Gopal Balakrishnan: The Enemy, S. 211 f. nicht auf. Strauss’s Abravanel stammt aus dem Jahre 1937, während Schmitt seinen Leviathan erst 1938 verfaßt hat. Aber die Korrespondenz ist einigermaßen erstaunlich und nicht nur, was Schmitt angeht, anrüchig.

124

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

anarchischen Utopismus, der das Königtum und mit ihm Staat und

Herrschaft überhaupt zugunsten einer natürlichen Idylle

menschlicher Gemeinschaft ohne Herrschaft und Besitz verwerfe.

Beide Denker des Politischen, der katholische Jurist und der

jüdische Philosoph, sind dabei besonders besorgt über die

eigentliche Entwicklung der modernen Kulturidee, die sich seit

dem 17. und 18. Jahrhundert im Sinne einer Ethik der Autonomie

durchsetzt. Sie orientieren sich bewußt an Denkern, die

traditionell zu den Ahnherren der Gegenaufklärung gezählt

werden. Macchiavelli294 und Hobbes295 werden vor Rousseau und

Kant bevorzugt. Sie setzen auf politischen „Realismus“ gegen

jede Form von mystischem oder häretischem Illusionismus, und

zwar im Namen der Natur des Bösen und der Gefährlichkeit des

Menschen, die die liberale Forderung nach einem Konsensus um

jeden Preis aufkündigt. Schmitt und Strauss meinen es beide

ernst. Sie begnügen sich nicht mit Max Webers Befund, die

restlos entzauberte Kultur gleiche einem eisernen Gehäuse,

einer Maschine, die zwar perfekt funktioniere, deren

eigentlicher Zweck aber nicht mehr einsichtig sei. Die Kultur

befindet sich – laut Strauss, der hier Maimonides und Al Farabi

paraphrasiert, in „einer tieffinsteren Nacht, in der das

Menschengeschlecht ziellos umhertappt“.296 Schmitt hält es

294 Leo Strauss, Thoughts on Machiavelli, Glencoe 1958.295 Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Leo Strauss, The Political Philosophy of Hobbes. Oxford 1936. Es handelt sich bekanntlich um eine Übersetzung aus dem Deutschen, die allerdings erst 1965 im Original unter dem Titel Hobbes’ politische Wissenschaft, Neuwied und jetzt in ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3 (hrsg. v. Heinrich Meier, Stuttgart 2001) erneut publiziert wurde.296 Vgl. Strauss, Philosophie und Gesetz, S. 116, wo Strauss durchaus affirmativ Maimonides’ Perspektive auf die politische Mündigkeit der Menschheit zitiert: „[...] so wie nach Platon der vollkommene Staat nur durch den Philosophen verwirklicht werden kann, der aus der Höhle in das Licht hinaufgestiegen ist, der die Idee des Guten geschaut hat, ebenso kann nach

125

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

bekanntlich mit Donoso Cortes, wenn es darum geht, die Moderne

als Katastrophe zu beschreiben: „Die Menschheit taumelt blind

durch ein Labyrinth, dessen Eingang, Ausgang und Struktur

keiner kennt, und das nennen Geschichte.“297

Bei näherem Hinsehen zeigen sich jedoch sofort gravierende

Differenzen, die in letzter Instanz das Einvernehmen in einen

unversöhnlichen Gegensatz verwandeln:

1) Da, wo Carl Schmitt die Souveränität als

Entscheidungsvermögen über den Ausnahmezustand und als Instanz

über dem Gesetz definiert, wird Leo Strauss gerade eine

Souveränität des Gesetzes behaupten.

2) Wenn Carl Schmitt in seinem Angriff auf das Gesetz den

Neukantianismus kritisiert, so meint er implizit die Lehre des

Gesetzes, die bei Hermann Cohen in der Formel von der

„Souveränität des Gesetzes“ ihren prägnanten Ausdruck findet.

Eben diese Formel von Cohens „Souveränität des Gesetzes nimmt

Strauss auf, um sie allerdings von ihren neukantianischen

Maimuni […] der vollkommene Staat nur durch den Propheten verwirklicht werden, dem die Nacht, in der das Menschengeschlecht umhertappt, durch Blitze aus der Höhe, durch unmittelbare Erkenntnis der oberen Welt erleuchtet werden.“ Von der Fußnote aus der Einführung zu Philosophie und Gesetz, S. 13, weiß der Leser, daß Strauss mit der Formel von der Rückkehr in die Höhle das eigene politisch-philosophische Programm zusammenfaßt: „[...] nur die Geschichte der Philosophie ermöglicht den Aufstieg aus der zweiten ‚unnatürlichen‘ Höhle, in die wir weniger durch die Tradition selbst als durch die Tradition der Polemik gegen die Tradition geraten sind, in jene erste ‚natürliche‘ Höhle, die Platons Gleichnis schildert, und aus der ans Licht zu gelangen der ursprüngliche Sinn des Philosophierenist.“297 Schmitt, Politische Theologie, S. 63: „[...] die Menschheit ist ein Schiff, das ziellos auf dem Meer umhergeworfen wird, bepackt mit einer aufrührerischen, ordinären, zwangsweise rekrutierten Mannschaft, die gröhltund tanzt, bis Gottes Zorn das rebellische Gesindel ins Meer stößt, damit wieder Schweigen herrsche.“

126

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Implikationen zu emanzipieren und im Platonischen und jüdischen

Gesetz neu zu begründen.298

3) In letzter Instanz handelt es sich damit bei diesen beiden

Theoretikern des politischen Unbehagens an der Moderne um einen

theologisch begründeten Gegensatz, den Strauss an der Stellung

der europäischen Kultur zu Paulus festmacht.299 Während Schmitt

die „radikale Gesetzeskritik“ des Paulus politisch zu

aktualisieren versucht, will Strauss selbst das „Politische“

gegen seine Paulinische „Entstellung“ wieder so im Gesetz und

Nomos verankern, das es im Einvernehmen mit Moses’ Offenbarung

(be)stehen kann.

4) Wenn Strauss die politische Problematik schließlich analog

zu der ästhetischen Diskussion über den Status der Moderne in

einer „Querelle des Anciens et des Modernes“ zugunsten der

normativen Antike entscheidet, und also gleichsam „eine

Rückkehr in die platonische Höhle“300 vorsieht, so verirrt sich

Schmitt gegen das eigene Selbstverständnis in den Abgründen

eines ästhetischen Ultramodernismus, der sich von allen Normen,

Regeln und Gesetzen der Tradition emanzipiert, um in einem der

ästhetischen Avantgarde vergleichbaren Akt souverän jede

Gesetzesverfassung zu suspendieren.

298 Leo Strauss, „Cohen und Maimuni“, unveröffentlichte Rede aus dem Jahr 1931, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, hrsg. v. Heinrich Meier, Stuttgart1997, S. 393–436.299 Ebd., S. 428: „Der Gedanke des Gesetzes, des nomos, ist es, der Juden und Griechen vereinigt: der Gedanke der konkreten verbindlichen Ordnung desLebens, dieser Gedanke, der uns durch die christliche und die naturgesetzliche Tradition, in deren Bann sich mindestens unser philosophisches Denken bewegt, verdeckt wird. Durch die christliche Tradition: die einsetzt mit der radikalen Gesetzeskritik des Apostels Paulus. Durch die naturrechtliche Tradition, ein abstraktes Normensystem statuiert, das vom positiven Recht erst ausgefüllt und brauchbar gemacht werden muß.“300 Vgl. Anm. 6.

127

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Seit Heinrich Meiers detaillierter Rekonstruktion von Schmitts

drei verschiedenen Auflagen von Der Begriff des Politischen (1927–

1933) und der Rekonstruktion der Korrekturen, die Schmitt im

Anschluß an Leo Strauss’ „Anmerkungen zu Carl Schmitt, Der Begriff

des Politischen“ von 1932 in seiner letzten Revision des Traktats

von 1933 vorgenommen hat301, gilt die These vom Dialog unter

Abwesenden, in dem Carl Schmitt den Namen seines Dialogpartners

verschweigt, sich dessen Argumentation aber stillschweigend

zueigen macht. Die These von der verborgenen Dialogizität

scheint dabei weitaus überzeugender als die aus dieser

Dialogizität folgenden Schlußfolgerungen für das von Heinrich

Meier konstatierte Verhältnis von „politischer Theologie“ (Carl

Schmitt) und „politischer Philosophie“ (Leo Strauss). Der

Gegensatz zwischen diesen beiden Modi politischer

Konzeptualisierung läßt zumindest für die Jahre, in denen diese

Auseinandersetzung stattfindet, geradezu eine umgekehrte

Deutung zu: nämlich daß der politische Theologe Carl Schmitt

sich mit Der Begriff des Politischen gerade von der Theologie zu

emanzipieren und der Kritiker des Traktats, Leo Strauss, seine

eigene Position – in letzter Instanz zumindest – theologisch zu

verankern sucht. 302

301 Heinrich Meier, Carl Schmitt, Leo Strauss und der „Begriff des Politischen“.302 Heinrich Meier, Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung Politischer Theologie und Politischer Philosophie, Stuttgart 1994, bestäigt und verschärft die Unterscheidung von politischer Theologie und Philosophie so stark, daß das ganze Werk Schmitts zum Ausdruck einer einzigen katholischen Verschärfung wird. „Die Höhepunkte der großen Politik sind zugleich die Augenblicke, in denen der providentielle Feind erkannt, in denen die eigene Bestimmung erfüllt wird.“ (S. 98) Diese Interpretation wendet sich explizit gegen HansBarion, „Weltgeschichtliche Machtform: Eine Studie zur politischen Theologie des II. Vatikanischen Konzils“, 1968, in: ders., Kirche und Kirchenrecht, Paderborn 1984, der auf S. 606 behauptet, daß Schmitt „nach 1922 einen Weg eingeschlagen [habe], der ihn schließlich zu einer Position

128

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Gegen Meiers Befund, Schmitt verberge in Der Begriff des Politischen

seine ursprüngliche theologische Agenda, an die Strauss ihn

dann erinnere, möchte ich zunächst die These vertreten, daß

Carl Schmitt in seinem Traktat Der Begriff des Politischen (1927)

tatsächlich die säkulare Konsequenz zu vollziehen versucht, die

sich allerdings schon in Politische Theologie (1922) abzuzeichnen

beginnt. Nur so scheint verständlich zu werden, warum Schmitt

in der Analyse des Politischen plötzlich von einer „reinen

Politik“ spricht. Zwar betont er hier noch den „methodischen

Zusammenhang theologischer und politischer

Denkvoraussetzungen“, aber er setzt sofort hinzu, daß „die

theologische Unterstützung die politischen Begriffe öfters

verwirrt“303.

Vergewissern wir uns: Schmitts Politische Theologie von 1922 läuft

bekanntlich auf eine Definition der Souveränität als Macht

hinaus, die den Ausnahmezustand zu erkennen und über ihn zu

entscheiden vermag. Schmitts Deduktion ist ebenso bekannt.

führte, welche ‚einer thetischen Zerschneidung der geschichtlichen Nabelschnur zwischen Theologie und Politik gleichkommt.‘“ Die These geht wahrscheinlich auf Hugo Balls Text, „Carl Schmidts politische Theologie“ (1923/4) in: ders., Der Künstler und die Zeitkrankheit, zurück, der diese noch vor dem Erscheinen des Begriffs des Politischen formuliert! Indem Meier das gesamte Werk Schmitts zur freien Verfügung von Zitaten bereitstellt, fällt es ihm nicht schwer, entsprechende Zitate aus den verschiedensten Zusammenhängen zu zitieren, die theologisch geprägt sind. Daß der Schmitt der Kriegsgefangenschaft wieder den gläubigen Katholiken spielt, der er angeblich einmal gewesen sein soll, gehört zu den Farcen derselben Überlebenstaktik, die ihn 1933 Staat, Bewegung, Volk, Hamburg 1933 hat verfassenlassen, das eben den Führer jenseits aller Theologie zum ästhetischen Absoluten erhebt. Ähnlich gilt für den jungen Strauss zumindest, daß seine angeblich rein philosophische Orientierung sich oft genug theologisch versichert, wie dies etwa in Strauss, „Cohen und Maimuni“, klar wird. Ohnehin muß die Unterscheidung von Politischer Theologie und Politischer Philosophie, die Meier hier suggestiv einsetzt, immer schon von einer sauberen Trennung beider ausgehen, wie sie etwa ein Heidegger, der Ontologie und Theologie sauber trennen will, sich gewünscht haben mag, aberfaktisch ist sie eine Fiktion. 303 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 64.

129

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Solange der Monarch als souveräner Repräsentant Gottes in der

Welt aufgefaßt wurde und solange dieser im Wunder der

Offenbarung die Staatsverfassung und ihre Gesetze, um ihre

Verteidigung zu sichern, aufheben konnte, war der Staat

ideologisch vor seinen Feinden sicher. Mit der deistischen

Metaphysik beginnt für Schmitt ein Verfallsprozeß, in dem die

für „das Politische“ prägende und analoge Macht Gottes durch

die von ihm selbst geschaffenen Gesetze neutralisiert wird, bis

zuletzt das universale Gesetz der Vernunft jede personale

Instanz der Macht suspendiert. Mit der Auflösung des Wunders

könne diese Gesetzesvernunft keine Ausnahme mehr denken,

sondern sie definiere den Menschen jetzt als vernünftiges und

gutes Wesen, das mit der Befreiung von jeder Herrschaft eben

das Böse und die Feindschaft abgeschafft hat, so daß von nun an

Konflikte in einer „unverzerrten Kommunikation“ durch den

sanften Zwang des besseren Arguments beigelegt werden können.

Schmitts Begriff des Politischen definiert nicht nur das Politische

als Polemik und Konflikt, er versteht sich als einzige Polemik

gegen die neukantianische Verfassungslehre von Hans Kelsen, der

das „Problem des Souveränitätsbegriffs“ dadurch zu lösen

versuche, „daß er es negiert.“304 „In der Sache ist das die alte

liberale Negierung des Staates gegenüber dem Recht“, stellt

Schmitt fest, um die eigene Auffassung einer personalen

Souveränität gegen die Souveränität des Gesetzes

herauszustellen. Geradezu berauscht von der Rhetorik des

Entweder-Oder, die die liberale Diskussion und

Unentschiedenheit ersetzen soll, erweist sich dabei schon die

politische Theologie als Strategie der Ambivalenz, nämlich

304 Schmitt, Politische Theologie, S. 29. 130

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

hinsichtlich der theologischen Dimension des Politischen

selbst, die im Grunde durch die absolute Radikalisierung des

Souveränitätsbegriffs, also durch die Emanzipation von jeder

kommissarischen Einsetzung zugunsten einer vollen

diktatorischen Souveränität, überflüssig wird. Deren

Entscheidung stützt sich nicht auf einen „päpstlichen Befehl“

oder auf eine unmittelbar im Glauben verankerte göttliche

Transzendenz, sondern, wie Schmitt feststellt, „auf das

Nichts“. Die Souveränität, wie sie Schmitt hier konzipiert, ist

die Entscheidung „aus dem Nichts“305.

Mit dieser Selbstlegitimation „aus dem Nichts“ will Schmitts

politische Theologie im Prinzip eine zu der aus dem

Protestantismus hervorgegangenen Säkularisation alternative

Säkularisation konstruieren, die nicht das göttliche Prädikat

der Gerechtigkeit und Vernunft, sondern das der Macht

verweltlicht und gegen das Prinzip der Gerechtigkeit ausspielt.

Mit anderen Worten: Der Begriff des Politischen wird nicht als

Taktik einer esoterischen Verbergung des „Theologischen“,

sondern im Sinne dieser Tendenz und Konsequenz der politischen

Theologie durch Schmitt gerade von dem Theologischen

emanzipiert, um damit allerdings das Gewicht von der

Souveränität Gottes auf die Frage nach dem Feind zu verlegen.

Da wo die politische Theologie den Gott der Offenbarung als

transzendentes Prinzip der Ausnahme einsetzte, genügt im

305 Ebd., S. 69: „Sobald Donoso Cortes erkannte, daß die Zeit der Monarchie zu Ende ist, weil es keine Könige mehr gibt und keiner den Mut haben würde,anders als durch den Willen des Volkes König zu sein, führte er seinen Dezisionismus zu Ende, das heißt, er verlangte eine politische Diktatur. Schon in den zitierten Äußerungen von de Maistre lag eine Reduzierung des Staates auf das Moment der Entscheidung, konsequent auf eine reine, nicht raisonnierende und nicht diskutierende, sich nicht rechtfertigende, also aus dem Nichts geschaffene absolute Entscheidung.“

131

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Begriff des Politischen der innerweltliche Feind, um die

Forderung nach einer Ausnahmehandlung zu legitimieren.

Der Begriff des Politischen ist so gesehen die Fortsetzung

der Souveränität mit anthropologischen Mitteln. So heißt es in

der Version von 1932, die Instanz der Entscheidung über Freund

und Feind „genüge, einen vernünftigen Begriff von Souveränität

zu begründen“306. Die alternative Säkularisation, die Schmitt

vorschlägt, beruht also in letzter Instanz auf der Ersetzung

Gottes durch den Feind, dessen Instanz (und Präsenz) durchaus

ausreicht, um Souveränität zu begründen.

Schmitt formuliert so implizit eine Art Anti-Feuerbach, das

heißt seine eigene Version von der Formel, die Theologie müsse

Anthropologie307 werden: „Man könnte alle Staatstheorien und

politischen Ideen auf ihre Anthropologie prüfen und danach

einteilen, ob sie, bewußt oder unbewußt, einen von Natur bösen

oder von Natur guten Menschen voraussetzen.“308 Genau an dieser

Stelle nun beruft sich Carl Schmitt auf Thomas Hobbes’ Lehre

vom Naturzustand als Modell für den Typ Anthropologie, der es

erlaubt, Souveränität nunmehr jenseits der Theologie zu

begründen.

306 Ebd., S. 43.307 Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Leipzig, 1958, S. 6: „Was nämlich in dieser Schrift sozusagen a priori bewiesen wird, daß das Geheimnis der Theologie die Anthropologie ist, das hat längst a posteriori die Geschichte der Theologie bewiesen und bestätigt.“ Diese Reduktion wird allerdings über die Liebe vollzogen, das heißt das Wesen des Menschen ist die auf Gott projizierte Selbst- und Nächstenliebe als Grundlage für eine Politik der Emanzipation. „Gott wird geliebt und liebt wieder, in der göttlichen Liebe vergegenständlicht, bejaht sich nur die menschliche Liebe.In Gott vertieft sich nur die Liebe in sich als die Wahrheit ihrer selbst.“(Ebd., S. 112) Dort, wo Feuerbach an die Stelle Gottes Selbst und Nächsten dialogisch einsetzt, wird Schmitt Gott durch den Feind ersetzen, der die Souveränität begründet. 308 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 59.

132

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Leo Strauss’ Lesung von Carl Schmitt setzt hier ihren eigenen

spezifischen Akzent, insofern Strauss mit Schmitt den Versuch

bejaht, die Systematik der neukantianischen Kulturtheorie, des

Liberalismus und der Autonomie zu überwinden. Mit Schmitt

erkennt er auch, daß es noch kein alternatives System zum

Liberalismus gibt. Strauss bestätigt hier nur, was Schmitt

selbst betont: „Das Verständnis des Politischen impliziert eine

grundsätzliche Kritik zum mindesten des herrschenden

Kulturbegriffs.“309 Insofern nun mit Schmitt gilt, daß das

Politische auf der Auffassung der Natur des Menschen gründet,

also auf der Annahme eines status naturalis und status belli, so

bedeutet das „in Schmitts Terminologie“, wie Strauss

ausdrücklich betont, daß der „status naturalis […] der

eigentliche politische Stand“310 ist.

Wenn Strauss zunächst nur Schmitts Selbstverortung bei Hobbes

wiederholt, so zeigt er durch einen näheren Vergleich

gewichtige Unterschiede auf. Während Hobbes von einem

Naturzustand ausgeht, in dem sich nur Individuen ausschließlich

in Feindschaft gegenüberstehen, geht Schmitt von einem

Naturzustand aus, in dem Kollektive von „Freunden“ einander als

Feinde begegnen. Vor allem aber setze Hobbes den Naturzustand

nur, um ihn durch den status civilis aufzuheben, während bei Schmitt

der Eindruck entsteht, als wolle er diesen „politischen“

Naturzustand der Feindschaft positiv setzen. Dementsprechend

konstruiere Hobbes den Staat, um das Leben des Individuums zu

sichern, während Schmitt vom Bürger fordert, sein Leben für den

Staat aufs Spiel zu setzen. Hobbes „illiberaler Naturzustand“

309 Strauss, Anmerkungen zu Carl Schmitt, S. 103.310 Ebd., S. 106.

133

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

besitze nur einen polemischen Status, dessen Sinn darin

bestehe, seine Aufhebung durch den status civilis zu begründen.

Er [Hobbes] setzt in einer liberalen Welt wider dieilliberale Natur des Menschen die Grundlegung desLiberalismus durch, während die Späteren, unwissend über ihreVoraussetzungen und Ziele, auf die in Gottes Schöpfung undVorsehung begründete ursprüngliche Güte des Menschenvertrauen und auf Grund naturwissenschaftlicher NeutralitätHoffnungen auf eine Verbesserung der Natur hegen, zu denendie Erfahrung des Menschen über sich selbst kein Rechtgibt.311

Aus der Perspektive dieser Antithese zwischen Schmitt und

Hobbes kann Strauss dann den überraschenden Schluß ziehen, daß

der Kulturliberalismus, den Schmitt (wie Strauss selbst) „in

seiner Systematik überwinden“ möchte, in eben der politischen

Philosophie begründet ist, auf die Schmitt sich in seiner

Anthropologisierung des Politischen modellhaft beruft. Mit

anderen Worten: An Schmitts Konstruktion der Geschichte der

Moderne als Prozeß fortschreitender Neutralisierungen dämmert

das Bewußtsein auf, das Strauss durch seine Analyse von Hobbes

in einer formelhaften These verschärft: Die moderne Kultur mit

ihrer Verdrängung der Natur und der Gefährlichkeit des Menschen

besitzt in Hobbes’ Überwindung des Naturzustands durch den

status civilis eine paradigmatische Urszene der Überwindung und

Verdrängung. Von hierher erscheint die Anamnesis des

„Politischen“ entweder als unpolemisch-positive Setzung

(Schmitt) oder als schicksalhafte Wiederholung der Hobbesschen

Urszene (Strauss), ein Da Capo de al Fine gleichsam, mit dem der

Naturzustand gesetzt wird, um von neuem in der Kultur

aufgehoben und vergessen zu werden. In beiden Fällen aber

311 Ebd., S. 108 f.134

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

bestätigt sich die Diagnose, daß es noch kein Gegensystem zum

Liberalismus gibt.

Im zweiten Fall ergibt sich das Bild einer potentiell sich

ewig wiederholenden Geschichte der Moderne, die im Augenblick

ihrer radikalen Autonomisierung und Individualisierung zu dem

durch die Kultur verdrängten Naturzustand zurückkehrt, um den

Prozeß der Zivilisierung und Aufklärung von Hobbes, Spinoza,

Pufendorf, Rousseau, Kant, Hegel bis Nietzsche nur zu

wiederholen. Strauss’ Buch über Hobbes von 1935 interpretiert

die Moderne als eine solche „ewige Wiederkehr“ der gleichen

modernen Politik aus dem Prinzip der Souveränität als der

Metaphysik des Willens zur Macht. Wenn Strauss jedenfalls den

Naturzustand, den Hobbes als Konflikt zwischen zwei

axiomatischen Affekten – der vanity und der anxiety – beschreibt,

auf den „Willen zur Macht“ (= vanity) und die „Angst, getötet

zu werden“ (= anxiety), zurückführt, also auf Nietzsches

Willensmetaphysik einerseits und auf Carl Schmitts Der Begriff des

Politischen (als Gefahr der Feindschaft) andererseits anspielt312,

dann schließt er Anfang und Ende der eigentlichen Geschichte

312 Vgl. Strauss, Hobbes’ politische Wissenschaft in ihrer Genesis, S. 23: „Der vollkommenste und klarste Ausdruck für die naturalistische Auffassung der menschlichen Begierde ist der Satz, daß der Mensch spontan und kontinuierlich, also in einem Strahl des Begehrens, die unzählige isolierteWahrnehmungen hervorgerufen würden, nach Macht und immer größerer Macht begehrt.“ Legen diese Sätze, mit denen Strauss eines der Grundmotive menschlichen Handelns bei Hobbes, die vanity, beschreibt, eine Analogie mit Nietzsches Metaphysik nahe, so die folgenden, die die Angst beschreiben, eine Analogie zu Schmitts „Metaphysik“ des Politischen: „Nicht die vernünftige und also immer ungewisse Erkenntnis, daß der Tod das größte undhöchste Übel ist, sondern die Furcht vor dem Tod, d. h. das affektive, unvermeidliche und daher notwendige und gewisse Zurückweichen vor dem Tod.“(Ebd., S. 30) Möglicherweise ist mit der „Furcht vor dem Tod“ auch eine Anspielung auf Heideggers Analytik des Daseins in Sein und Zeit (1927) (obwohl hier natürlich von „Angst“ die Rede ist) gemeint, mit der Heidegger ja die Grundlagen der bürgerlichen Kultur und ihrer Philosophie zu erschüttern beabsichtigte.

135

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

der politischen Moderne so kurz, daß an ihr der mythische

Charakter der Willensmetaphysik aufgeht. Der souveräne Wille

begründet den modernen Staat, wie er, wenn die Souveränität zur

Souveränität eines jeden Individuums wird, diesen Staat wieder

auflöst.

Im ersten Fall, den Strauss für Schmitt annimmt, nämlich daß

das Politische als Naturzustand positiv gesetzt wird, würde das

Politische mit seiner Tendenz, sich in der kriegerischen

Auseinandersetzung zu manifestieren, zum unbedingten Ziel des

Handelns erhoben, ohne daß es bei dieser Auseinandersetzung

noch um irgendeinen Inhalt gehen würde. Es ginge nur noch rein

formal um die Auseinandersetzung als Auseinandersetzung. Eben

damit, meint Strauss, reproduziert Schmitt nur den

neutralisierenden Liberalismus, den er bekämpft.313 Wie der

Liberalismus das Politische neutralisiert, so neutralisiert

„das Politische“ die Inhalte. Das, so Strauss, könne nicht die

Intention Schmitts sein, der an anderer Stelle eben gerade die

moralische Bedeutung des Konflikts, also dessen Inhalt und Wozu

betont, also den Sachverhalt, daß das Politische eine

Auseinandersetzung „um das Gute“ ist. Strauss zitiert aus

Politische Theologie, um Schmitt gegen seine eigenen Konsequenzen zu

313 Vgl. Nasser Behnegar, Leo Strauss, Max Weber, and the Scientific Study of Politics, Chicago 2003, S. 52, stellt Strauss Kritik an Schmitts Liberalismus mit umgekehrtem Vorzeichen neben Hans Kelsens liberalen Relativismus (S. 42), den Strauss mit folgender Aussage über die Despotie zitiert: „The assertionthat in despotism there is no rightful order but only the rule of arbitrarywill of the despot is completely meaningless […] In a despotically ruled state there is also some sort of an order of human affairs […] This order is precisely the rightful order. To deny its rightful character is only a natural right naïvieté or presumption. What is referred to as an arbitrary will is only the rightful possibility of the autocrat to appropriate every decision to himself in order to determine unconditionally the activity of subordinate agents and to challenge or invalidate the legal norms at any time with general or special authority.“ Die Kritik am Liberalismus trifft sowohl den Relativismus der Werte wie den des Dezisionisten.

136

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

verteidigen: „Nur so kann Schmitt mit sich selbst in Einklang

bleiben, wenn anders ‚der Kern der politischen Idee die

moralisch anspruchsvolle Entscheidung‘ ist.“314

Strauss zitiert hier aus Schmitts Politische Theologie, um auf die

moralische Dimension des Politischen hinzuweisen und die Aporie

zu kennzeichnen, in der sich Schmitts Begriff des Politischen

verirrt, wenn er den Liberalismus überwinden will. Eben weil

Schmitt mit dem Politischen keine Wertung ins Spiel bringen

wolle, die ihrer Natur nach wieder nur liberal wäre, behaupte

er die Notwendigkeit des Politischen als eines Schicksals und

müsse damit das Politische als Konflikt um jeden Preis setzen.

Eben damit aber bleibe das Politische „wertlos“ und verkomme

nur zum konfliktuellen Gegenbild des liberalen Kompromisses um

jeden Preis: Beiden geht der Inhalt, die Moral verloren.315

Indem Schmitt sich an der „Moralauffassung seiner Gegner“, also

der liberalen Moral orientiert, die das Böse, die Gefahr, den

Feind aus ihrem Vokabular gestrichen hat, bleibe er zuletzt „in

der von ihm bekämpften Auffassung befangen“316.

Es ist jetzt aber die Frage, ob Strauss’ Hinweis auf die

politische Theologie Schmitts dessen Begriff des Politischen

auf eine vermeintlich verborgene theologische Dimension

vereidigen will, wie Heinrich Meier meint. Vielmehr scheint mir

immerhin plausibel zu sein, daß Strauss hier durchaus die

nicht-theologische Grammatik des Politischen bei Schmitt als

solche erkennt und würdigt, aber eben die Schwierigkeiten

314 Strauss, „Anmerkungen zu Carl Schmitt“, S. 117.315 Vgl. Slavoj Zizek, „Carl Schmitt in the Age of Post-Politics“, in: Mouffe, The Challenge of Carl Schmitt, der dieses Argument wiederholt, S. 18: „his [Schmitt’s] very polemics against liberal – democratic formalism inexorablygets caught in the formalist trap.“ 316 Ebd., S. 122.

137

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

kennzeichnet, in die sich ein solcher Versuch verstrickt. Er

möchte Schmitt gleichsam „weiterhelfen“, das Projekt der

Überwindung des Liberalismus konsequent zu vollenden, und das

heißt: eine andere Moral zu entwickeln, die den „Anspruch der

humanistisch-pazifistischen Moral, Moral zu sein“, in Frage

stellen kann.317 Nichts hat Schmitt – im Sinne von Strauss –

besser getan als eben das: indem er nämlich aufzeigt, wie die

liberale Moral de iure zwar das Politische negiert, aber de

facto mit ihrem Ideal von der Menschheit eben den Menschen, der

diesem Ideal nicht entspricht, ultimativ zum Unmenschen

transformiert und damit im Grunde das brutalste Feindprinzip –

hinter den Kulissen pazifistischer Ideologie – ins Werk setzt.

Indem Schmitt die verborgene liberale Politik auf einen solchen

krassen Begriff bringt, rührt er, so darf man vermuten, an

genuin jüdische Erfahrungen mit dem modernen Liberalismus, der

– so die Formel – die Emanzipation des Juden an die Bedingung

seiner Emanzipation vom Judentum knüpft. Wird das Ideal der

Menschheit zum Prinzip der Liquidation von Individualität, so

bewahrheitet sich die von Schmitt aufgezeigte politische Crux,

die Strauss weiter, d.h.: zu Ende denken will. Dabei mutet er

offenbar weder Schmitt noch sich selbst zu, diese Crux einfach

theologisch zu übergehen. Eben weil es Strauss wie Schmitt um

die Rettung des Ernstes der Auseinandersetzung geht, zuletzt

also um die Rettung des Menschen, dessen Menschlichkeit in der

Frage nach dem Guten als dem Grund seines Menschseins liegt,

erkennt er die Gefahr, die – posttheologisch – in der Umkehrung

der liberalen (Nicht-)Moral durch eine politische (Nicht-)Moral

liegt. Eben weil es ihm ernst ist, ahnt Strauss hier eine sehr

317 Ebd.138

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

ernst zu nehmende Gefahr. Er erkennt Schmitts Aversion gegen

den „Massenglauben eines antireligiösen Diesseitsaktivismus“,

die er teilt, aber er weiß selber eben nicht, wie der

entgegengesetzte „Glaube“ aussehen könnte. Er beteuert

vielmehr, daß dieser Glaube, „wie es scheint, noch keinen Namen

hat“318. Auch wenn er mit Schmitts Politische Theologie an die

moralische Dimension des Politischen erinnern will, hält er

doch daran fest, daß es um eine Moral geht, deren Definition

noch aussteht. Keine politische Theologie also, sondern eine

noch namenlose Politik wird hier mit Schmitt anvisiert.

Anders als Meier meint, der hier eine verborgene theologische

Agenda bei Schmitt erkennen will (die sich bei Schmitts durch

Politische Theologie bedingtem Ruf tatsächlich merkwürdig ausnehmen

würde), geht es Strauss hier um die Bedeutung des Ästhetischen

als der akuten Gefahrenzone, in die Schmitt, indem er das

Politische vom Theologischen reinhalten will, in der Gefahr

ist, sich zu begeben.

Während bei Hobbes die natürliche und darum unschuldigeBosheit zuletzt darum hervorgehoben wird, damit sie bekämpftwird, spricht Schmitt von der nicht moralisch zu verstehendenBosheit mit einer unverkennbaren Sympathie. Diese Sympathieist aber nichts anderes als die Bewunderung der natürlichenKraft und von dieser Bewunderung gilt, was Schmitt über dasÄsthetische sagt.319

318 Ebd., S. 124.319 Ebd., S. 117.

139

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

In der Tat bezeichnet das Ästhetische für Schmitt schon in

Politische Romantik320 und dann in Politische Theologie321 die „Ursünde“

der Moderne, nämlich die Auflösung aller Begriffe, Zwecke und

Gegensätze des Menschlichen im Spiel. Steht das Schöne seit

Kants Kritik der Urteilskraft für die begrifflose Erscheinung, die

sich in einem unendlichen Spiel von ultimativ scheiternden

Sinnentwürfen je von neuem der Subsumtion entzieht, so wird es

für Schmitt in seiner romantischen Hypostasierung bei Schlegel,

Tieck und Novalis zum Symbol bürgerlich-liberaler

Unentschiedenheit, also jenes unendlichen Gesprächs über den

möglichen, nie wirklichen Sinn. Das Ästhetische steht bei

Schmitt für Realitätsvermeidung und Ausweichen vor der

320 Carl Schmitt, Politische Romantik, Berlin 1991, S. 168: „Im engen Bereich seiner spezifischen Produktivität, im Lyrisch- und Musikalisch-Poetischen, mag der subjektive Occasionalismus eine kleine Insel freien Schöpfertums finden, aber selbst hier unterwirft er sich unbewußt der nächsten und stärksten Macht, und seine Überlegenheit über die bloß occasionell genommene Gegenwart erleidet eine höchst ironische Umkehrung: alles Romantische steht im Dienste anderer, unromantischer Energien, und die Erhabenheit über Definition und Entscheidung verwandelt sich in ein dienstbares Begleiten fremder Kraft und fremder Entscheidung.“ Vgl. auch meinen Aufsatz „Logik der Ausnahme“. S. 259 ff. Im übrigen hat Jürgen Habermas, „Die Schrecken der Autonomie. Carl Schmitt auf Englisch“ (in: ders., Eine Art Schadensabwicklung. Kleine politische Schriften 6, Frankfurt a. M. 1987) auf den fundamental ästhetischen Charakter der politischen Theorie Schmittsverwiesen. Ähnlich stellt Manfred Gangl, „Gesellschaftliche Pluralität und politische Einheit. Zu Carl Schmitts politischer Theorie“, in: Wolfgang Bialas/Manfred Gangl, Intellektuelle im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M./Berlin 2000, S. 112 fest: „Die von Anhängern wie Gegnern Schmitts so gerühmte Fähigkeit zu scharfen und klaren Begriffesbestimmungen erweist sich bei näherem Hinsehen als durchaus fragwürdig. Gerade die zentralen Begriffe seiner politischen Theorie sind abstrakte inhaltslose Leerformeln, hinter die man sehr Beliebiges und Heterogenes subsumieren und damit freilich sehrbestimmte Inhalte transportieren und sehr konkrete politische Zielsetzungenverfolgen konnte. In ihrer anscheinenden theoretischen Schwäche verbirgt sich aber ihre eigentliche politische Brisanz. Ernst Jünger hatte 1930 in bezug auf den Begriff des Politischen und die dort entwickelte Freund-FeindUnterscheidung in einem Brief an Carl Schmitt bewundernd die „vollkommene Sicherheit, Kaltblütigkeit und Bösartigkeit Ihres Hiebes“ gewürdigt und bezeichnete ihn als „eine Mine, die lautlos explodiert.“321 Vgl. Schmitt, Politische Theologie, S. 59 ff., wo Schmitt das „ewige Gespräch“mit der Entscheidung kontrapunktiert.

140

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

(politischen) Entscheidung und somit für eine im wesentlichen

konsumierende und genießende Haltung. Zugleich freilich ist das

Ästhetische auch das Geschehen, das durch seine Regelkritik das

Moment in der Moderne darstellt, das – gegen Schmitts

Pauschalbehauptung – die Ausnahme zum Grundgesetz erhebt und

damit immerhin eine „Souveränität“ des ästhetischen Subjekts

vorsieht. Gerade wenn der Künstler der Avantgarde der 20er

Jahre – also zur Zeit der Abfassung von Politische Theologie und Der

Begriff des Politischen – die letzte Konsequenz aus dieser Logik des

Schönen zieht und – wie Ferruccio Busoni322 oder Hugo Ball323

etwa – die Verfassung der Tradition in einem Akt souveräner

ästhetischer Entscheidung suspendiert, so wird er immerhin zum

Prototyp des politischen Souveräns, insofern dieser wie sein

ästhetisches Pendant die rechtlichen Verhältnisse ex nihilo neu

begründen soll. Gegen Schmitts eigene Polemik gegen das

Ästhetische bewahrheitet er mit jedem Feldzug nur dessen Macht:

Da, wo die Kunst für die Modalität des Möglichen steht, da

setzt Schmitt einfach die Wirklichkeit, eine Umbesetzung, die

sich freilich in der Kunst selbst vollziehen muß, insofern

diese die ihr traditionell gesetzten Grenzen von Kunst und

Schein mit eben der Suspension ihrer traditionellen Verfassung

auch schon zur Realität hin überschreitet.

322 Ferruccio Busoni, Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, Wiesbaden 1954 (1916), S. 31: „Routine bedeutet: Erlangung und Anwendung weniger Erfahrungen und Kunstgriffe auf alle vorkommenden Fälle. Demnach muß es eine erstaunliche Anzahl verwandter Fälle geben. Nun erträume ich mir gerneeine Art Kunstausübung, bei welcher jeder Fall ein neuer, eine Ausnahme wäre.“323 Vgl. mein Buch Die Apokalypse des Subjekts, S. 52: „Wenn Hugo Ball, vom eschatologischen Accelerando der Avantgarde mitgerissen, verkündet, daß ‚der Entschluß der Poesie, […] die Sprache fallen zu lassen […], nahe bevorsteht‘ oder daß es jetzt gelte, ‚den flatternden Text, den andere geschrieben, auszulöschen‘, so besteht er stets darauf, daß das ästhetischeExperiment politisch werde.“

141

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Indem Schmitt in Politische Theologie Souveränität in letzter

Instanz als eine „Entscheidung aus dem Nichts“ charakterisiert

und so prinzipiell schon säkularisiert, verstrickt sich sein

Begriff des Politischen in eben das Ästhetische, das ihm als

Feindprinzip entgegenzutreten scheint und das Schmitt in seiner

Konstruktion der Souveränität ständig verleugnet. Souveränität

ist der zu Ende geführte ästhetische Antinomismus unter den

Bedingungen des spätbürgerlichen Individualismus, dessen

eindeutigen Ausdruck Schmitt ihm dann in Staat, Bewegung, Volk324

geben wird: Der Führer als der restlos säkularisierte Souverän,

die Macht um der Macht willen, die jeden Begriff und damit

jeden Nomos transzendiert – wie das Schöne steht der Führer für

eine reine „begrifflose Präsenz“.

Die römisch-katholische Kirche hat für ihre Herrschaftsgewaltüber die Gläubigen das Bild vom Hirten und der Herde zu einemtheologisch-dogmatischen Gedanken ausgeformt. Wesentlich andiesem Bilde ist, daß der Hirt der Herde absolut transzendentbleibt. Das ist nicht unser Begriff von Führung. Eineberühmte Stelle in Platons Schrift Politikos behandelt dieverschiedenen für den Staatsmann in Betracht kommendenVergleiche mit einem Arzt, einem Hirten oder einemSteuermann, um das Bild vom Steuermann zu bejahen. Es istdurch den gubernator in alle lateinisch beeinflußten Sprachender romanischen und angelsächsischen Völker übergegangen, unddas Wort für Regierung geworden als gouvernement, governo,government oder als das Gubernium der früheren habsburgischenMonarchie. Die Geschichte dieses gubernators enthält eingutes Beispiel dafür, wie ein bildhafter Vergleich zu einemjuristisch-technischen Begriff wird. Ein anderescharakteristisches Bild ist das vom Roß und dem Reiter, dasder große französische Historiker Hippolyte Taine für dieHerrschaft Napoleons über das französische Volk verwendet.[…] Keines dieser Bilder trifft wesentlich das, was unterpolitischer Führung im wesentlich deutschen Sinn des Worteszu verstehen ist. Dieser Begriff von Führung stammt ganz aus

324 Schmitt, Staat, Bewegung, Volk.142

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

dem konkreten, substanzhaften Denken dernationalsozialistischen Bewegung. Es ist bezeichnend, daßüberhaupt jedes Bild versagt und jedes treffende Bildsogleich schon mehr als Bild oder Vergleich, sondern ebenschon Führung in der Sache selbst ist. Unser Begriff isteines vermittelnden Bildes oder eines repräsentierendenVergleichs weder bedürftig noch fähig. […] Er ist ein Begriffunmittelbarer Gegenwart und realer Präsenz.325

Dies scheint mir die wahre Ahnung von Strauss zu sein, daß er

die Gefahr der Verirrung des nicht mehr theologischen Begriffs

des Politischen in seiner Ästhetisierung klar erkennt.

Souveränität als letztes politisches Prinzip erfüllt sich in

der „Entscheidung aus dem Nichts“ und ist so gleichsam der

„schöpferisch-destruktive Grund“ der politischen Realität, der

seine Macht-Möglichkeit in die Wirklichkeit umsetzt. Von hier

aus wird dann zunächst zweierlei an Strauss’ Position

verständlich: 1. die Forderung von Strauss, zu Hobbes

zurückzukehren, um von ihm aus hinter den Kreislauf der Kultur

bzw. hinter den durch Hobbes erst tatsächlich voll ausgeführten

Begriff von Souveränität und Herrschaft zu gelangen. An

Schmitts aporetischer Verirrung wird sich Strauss über das

eigene Projekt klar: Es geht darum, die mythische Wiederkehr

desselben Souveränitätsprinzips zu überwinden. 2. Von hier

zeigt sich, warum Strauss in seiner positiv-kritischen Aufnahme

Schmitts den Begriff der Souveränität, der auch für Hobbes das

Zentrum seiner politischen Philosophie charakterisiert, gar

nicht aufnimmt, auch wenn dieser Begriff die ursprüngliche

Definition des Politischen sowohl in Politische Theologie wie in Der

Begriff des Politischen bezeichnet.

Beide Strategien verweisen natürlich aufeinander, insofern

der Begriff der Souveränität nicht nur bei Schmitt, sondern 325 Ebd., S. 41 f.

143

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

eben schon für Hobbes zentrale Bedeutung besitzt. Die negative

Besetzung dieses Begriffs weist schon die mögliche Richtung

über oder hinter Hobbes zurück. Einmal nur nimmt Strauss in

seinem Essay über Schmitt auf diesen Begriff eindeutig

negativen Bezug, nämlich mit Hinweis auf seine

produktionsästhetische Bedeutung:

Dem herrschenden Kulturbegriff zufolge sind aber nicht erstdie einzelnen Kulturprovinzen im Verhältnis zueinander,sondern ist zuvor schon die Kultur als ganzes autonom; diesouveräne Schöpfung, die reine Erzeugung des menschlichenGeistes.326

Folgt man dem Vorwort von Strauss’ Philosophie und Gesetz (1935),

so zeigt sich, daß die Souveränität für Strauss nicht den

Ausweg aus der Krise von Moderne und Kultur bezeichnet, sondern

eben deren Ursprung und den Grund für deren Katastrophe.

Souveränität wird hier als der Versuch charakterisiert, Gottes

Schöpfung durch das System des autonomen Subjekts zu ersetzen.

Der Kampf um die Wahrheit, das Gute, wird bei Strauss als Kampf

zwischen der jüdischen Orthodoxie, die an der Offenbarung des

Gesetzes festhält, und dem modernen atheistischen Judentum

konstruiert, das alle Mittel zur Bekämpfung der Orthodoxie

einsetzt. So schreibt Strauss:

Die Widerlegung der Orthodoxie hing ab vom Gelingen einesSystems. Der Mensch mußte sich theoretisch und praktisch alsHerr der Welt und Herr seines Lebens erweisen, die von ihmgeschaffene Welt mußte die ihm bloß „gegebene“ Welt zumVerschwinden bringen, dann war die Offenbarung mehr alswiderlegt – sie war überlebt.327

Den Willen zur Selbst-, Welt- und Staatsbegründung erkennt

Strauss vor allem in dem großen Mythos vom Leviathan als dem

326 Strauss, „Anmerkungen zu Carl Schmitt“, S. 105.327 Strauss, Philosophie und Gesetz, S. 21.

144

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Mythos der Selbstermächtigung des Subjekts schlechthin,

insofern nunmehr alles auf den Willen des Subjekts ankommt.

Weil also die Vernunft grundsätzlich ohnmächtig ist, darumgenügt die Auskunft nicht, daß der Ursprung und Sitz derHerrschaft die Vernunft sei, und darum wird es von Grund auffraglich, welche von den untereinander gleichen Menschen überdie anderen herrschen […] dürfen […] darum kommt es zu einemProblem der Souveränität […]. Weil alle gleich vernünftigsind, darum muß willkürlich, als künstlicher Ersatz für diefehlende natürliche Vernunftüberlegenheit eines oder mehrererdie Vernunft eines oder mehrerer beliebiger Individuen zurmaßgebenden Vernunft gemacht werden.328

Die Souveränität des Subjekts bezeichnet bei Strauss die

Nullstunde der Genese der Moderne, die auf die Krise der

Vernunft, vor allem auf die Krise der antiken durch Plato

begründeten Vernunft folgt. Diese platonische Vernunft wird bei

Hobbes durch eine mathematische Technik der Herrschaft über die

Leidenschaften ersetzt. Hobbes’ neue Wissenschaft der Politik

steht für den dramatischen Umbruch von der antiken, auf das

objektive Gesetz der Vernunft gegründeten Politik, zu der

modernen Politik des souveränen Willens des Subjekts. Jenseits

des monumentalen Diskurses der durch Hobbes’

Souveränitätsbegriff begründeten modernen Vernunft hebt sich

nunmehr der aus der Antike stammende Diskurs einer im

transzendenten Gesetz verankerten Vernunft ab. Der antike

Begriff einer objektiven Vernunft steht nunmehr in Strauss’

Konstruktion der „Querelle des Anciens et des Modernes“ einem

modernen Vernunftbegriff gegenüber, der ganz in der

Subjektivität des Subjekts begründet ist.

The Greeks believed in the need of education to tame and toharmonize social opinions to the spirit and tune of a fixed

328 Strauss, Hobbes’ politische Wissenschaft in ihrer Genesis, S. 180 f.145

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

and fundamental law. The modern belief is in need of arepresentation to adjust and harmonize a fluid and changingand subordinate law to the movement of a sovereign publicopinion or a general will.329

Der souveräne Wille ist Ersatz für die Macht des Gesetzes. Eine

„neue Politik“ jenseits der Aporie des Liberalismus bzw. seiner

mythischen Struktur kann nur über das, was Strauss die

„Souveränität des Gesetzes“ nennen wird, begründet werden.

Strauss findet sie bei Platon und den jüdischen und arabischen

Philosophen des Mittelalters, die sich in ihrer Prophetologie

und ihrem „Begriff des Politischen“ auf Platon stützen. Diese

Souveränität des Gesetzes bezeichnet nun genau den Punkt, von

dem aus Leo Strauss mit und gegen Schmitt dessen Kritik des

Gesetzes im Sinne des neukantianischen Gesetzes der modernen

(liberalen, sozialistischen) Kultur noch einmal überbietet, um

eine vor-moderne Souveränität des Gesetzes zu statuieren, die

eben nicht mehr im Subjekt begründet ist.

Mit anderen Worten: Im Namen des Politischen, der Einsicht in

die fundamentale Konfliktualität menschlicher Existenz, bedarf

es einer politischen „Ordnung der Dinge“, die hinter den

Begriff der neukantianischen Kultur, hinter das Gesetz der

individuellen Selbstbestimmung, die Autonomie, zurückgeht, aber

dieser Rückgang muß noch über Hobbes’ Grundlegung des Gesetzes

in der Macht des souveränen Subjekts hinausgehen, insofern

diese das Gesetz begründende Macht des souveränen Subjekts für

Strauss nur die von der autonomen Subjektivität verdrängte

Urform ihrer selbst darstellt. Andernfalls würde die Kritik an

Liberalismus und Kultur nur wieder in die an Schmitt kenntlich

gewordene Aporie verwickeln – und das Drama der Moderne

329 Ebd., S. 182.146

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

mythisch wiederholen. Die „Ordnung der Dinge“, die Strauss von

Schmitt aus entfalten will, zielt auf ein Gesetz, das nicht

durch den Menschen gesetzt, sondern den Menschen erst zu seinem

Handeln ermächtigt.

Strauss konstruiert also einen inneren Zusammenhang zwischen

der Souveränität vor dem Gesetz (Hobbes und Schmitt) und der

Souveränität des autonomen Gesetzes (Kant und Cohen), die

gewöhnlich (auch bei Schmitt) als die beiden politischen

Antipoden der Moderne aufgefaßt werden. Der Tradition von

Hobbes’ politischem Denken der Souveränität im Sinne des

„auctoritas facit legem, non veritas“ wird die Tradition des

John Locke mit ihrem Grundsatz „Law gives authority“

entgegengestellt. Aus der hier von Strauss eingenommenen

metaphysikgeschichtlichen Perspektive, die an Heideggers Kritik

der Metaphysik des Willens erinnert330, ist die Moderne die

Epoche nicht nur der Subjektivität, sondern der in der

Souveränität des Willens begründeten Subjektivität, deren

Differenzierungen als Einzel- oder Gesamtwillen nichts an der

Krisenhaftigkeit einer solchen Metaphysik zu ändern vermögen.

Weil also die Vernunft wesentlich ohnmächtig ist, darumgenügt die Auskunft nicht, daß der Ursprung und Sitz derHerrschaft die Vernunft sei; darum wird es von Grund auffraglich, welche von den untereinander gleichen Menschen überdie anderen herrschen können und dürfen, und unter welchenBedingungen und innerhalb welcher Grenzen sie einen Anspruchauf Herrschaft haben; darum kommt es zu einem Problem derSouveränität. Weil alle Menschen gleich vernünftig sind,darum muß willkürlich, als künstlicher Ersatz für diefehlende natürliche Vernunft-Überlegenheit einer odermehrerer beliebigen Individuen zur maßgebenden Vernunft

330 Vgl. Martin Heidegger, „Nietzsches Wort ‚Gott ist tot‘“ in: ders., Holzwege. Frankfurt a. M. 1977, S. 238 f., wo Heidegger die Genealogie des autonomen Bewußtseins von Descartes bis Nietzsche gleichsam telegraphisch entfaltet.

147

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

gemacht werden […] Aus demselben Grund, aus dem die Ersetzungder Vernunft durch die souveräne Gewalt notwendig wird –nämlich weil die Vernunft ohnmächtig ist – verliert nun aberauch das vernünftig „law of nature“ seine Dignität, tritt anseine Stelle das zwar vernunftgemäße, aber nicht eigentlichvon der Vernunft, sondern von der Todesfurcht diktierte„right of nature“. Der Bruch mit dem Rationalismus ist alsodie entscheidende Voraussetzung sowohl desSouveränitätsbegriffs als auch der Verdrängung des Gesetzesdurch das Recht […]. Der Bruch mit dem Rationalismus, derdemnach die Möglichkeitsbedingungen aller spezifisch modernenPolitik ist, findet bei Hobbes seinen schärfsten Ausdruckdarin, daß er die souveräne Gewalt, welche die von der Naturfehlende allgemeine Vernunft ersetzt, nicht als Vernunft,sondern als Willen auffaßt. […] Ausdrücklich wendet er sichgegen die in seinem Zeitalter noch herrschende Ansicht, daßder Inhaber der obersten Gewalt zum Staate in demselbenVerhältnis stehe wie der Kopf zum Menschen: der Inhaber derobersten Gewalt ist nicht der „Kopf“, d.h. das beratende undplanende Vermögen, sondern die „Seele“, d.h. das befehlendeVermögen im Staate. Von hier aus bedarf es nur noch einesSchrittes bis zur Lehre Rousseaus, daß der Ursprung und Sitzder Herrschaft die „volonte generale“ ist.331

Wenn Strauss die mythische Struktur moderner Selbstbegründung,

wie sie das politische Denken des Hobbes über Rousseau und von

hier zu Kant, Nietzsche und bis zur Philosophie der Kultur

(Hermann Cohen) bestimmt, überwinden will, so verdankt er

immerhin Hermann Cohen selbst den Hinweis auf den möglichen

Horizont einer Neubegründung des Politischen. Bei seiner

Analyse der Philosophie des Moses ben Maimon, des Maimonides,

stößt Cohen auf die Tatsache, daß das politische Verständnis

des Aristotelikers Maimonides sich nicht auf Aristoteles’ Idee

des Politischen, sondern nur auf Plato stützen kann, und weist

damit nicht nur der Philologie der mittelalterlichen

Philosophie den Weg zu einem neuen Verständnis der Rezeption

der Politeia im Mittelalter überhaupt. Cohen will die Politeia 331 Strauss, Hobbes’ politische Wissenschaft in ihrer Genesis, S. 180 ff.

148

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

allerdings auf dem Hintergrund seines eigenen kantianischen

Verständnisses von Politik und Nomos als „Sittlichkeit“

verstehen, Maimonides also gleichsam kantianisieren. Auf dem

Hintergrund dieser „Verwechslung“ kündigt sich mit Hermann

Cohens Einsicht in den Platonischen Hintergrund des Begriffs

des Politischen bei Moses ben Maimon für Strauss die

Möglichkeit einer Transformation des subjektiven

(Kultur-)Gesetzes in den Platonischen Nomos an. In seiner

Zusammenfassung zu „Cohen und Maimuni“ von 1931 formuliert

Strauss das Programm:

Der Cohensche Ansatz „Der Gott des Aristoteles in Ehren, aberder Gott Israels ist er nicht“ führt nicht weiter, wenn manden Gott Israels als Gott der Sittlichkeit interpretiert. Manmuß statt (kantianischer) Sittlichkeit sagen: Gesetz. DerGedanke des Gesetzes, des Nomos, ist es, der Juden undGriechen vereinigt: der Gedanke der konkreten verbindlichenOrdnung des Lebens […]. Auf den Weg zur Wiedergewinnungdieses Grundbegriffs der Menschheit bringt uns Cohen selbst,indem er den Gesichtspunkt der Gesinnung durch den derHandlung ersetzt.“332

Die von Strauss imaginierte Synthese von Juden und Griechen,

von jüdischer Gesetzesoffenbarung und Platonischer Nomos-

Gesetzlichkeit soll die Voraussetzung für eine Umkehrung aller

modernen politischen Werte werden, insofern diese Moderne vor

332 Strauss, „Cohen und Maimuni“, S. 428 f. In Leo Strauss’ Einführung zu der amerikanischen Übersetzung von Cohens Religion der Vernunft, dem Introductory Essay to „Hermann Cohen, Religion of Reason out of the Sources of Judaism“ (1972), in: Leo Strauss, Jewish Philosophy and the Crisis of Modernity. Essays and Lectures in Modern Jewish Thought, hg. von Kenneth Hart Green, New York 1997, S. 267–282, tritt die Kritik an Cohen zugunsten einer distanzierten Würdigung vollkommen zurück. Es handelt sich dabei offenbar um den letzten Text, den Strauss verfaßt hat. David N. Myers, Resisting History. Historicism and its Discontents in German-Jewish Thought, Princeton 2003, hebt neben der Nähe von Strauss zu Karl Barth, Martin Heidegger, Rudolph Otto, Franz Rosenzweig und Max Scheler (S.119) vor allem die mit Hermann Cohen zu vergleichende Biographie von Leo Strauss hervor (S. 123 ff.), die immerhin zu sehr verschiedenen Auffassungen vom Wert der liberalen Kultur führt.

149

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

allem durch die christliche, gesetzeskritische Theologie,

letzten Endes also durch Paulus, bestimmt sein soll. „Der

Gedanke des Gesetzes, des Nomos“, fährt Strauss fort, „dieser

Gedanke [ist] uns durch die christliche und naturgesetzliche

Tradition, in deren Bann sich mindestens unser philosophisches

Denken bewegt, verdeckt […]. Durch die christliche Tradition,

die einsetzt mit der radikalen Gesetzeskritik des Apostels

Paulus.“333

Die Kritik, die mit Schmitt die Bedingungen des liberalen

Kulturbegriffs überschreiten will, gewinnt über Hobbes die

Einsicht nicht nur in die aporetische Situation eines solchen

Überwindungsversuches, sondern sie erkennt die Notwendigkeit,

hinter Hobbes zu einem „objektiven“ Begriff gesetzlicher

Ordnung vorzudringen. Diesen Ordnungsbegriff entdeckt Strauss

nun an Platon und der jüdisch-arabischen Philosophie des

Mittelalters, um von hier aus eine für die Geschichte der

Moderne maßgebende politisch-theologische Alternative zu

konstruieren. Auf der einen Seite gibt es eine griechisch-

jüdische Tradition, die für die Objektivität des Nomos, auf der

anderen Seite eine christliche Tradition, die für eine

gesetzeskritische Subjektivität steht. In letzter Instanz führt

die politische Reflexion, die sich am „Unbehagen an der Kultur“

entzündet, auch bei Strauss zu einer theologischen Einsicht in

die Ursprünge europäischer Politik. Wie auch immer

säkularisiert und philosophisch artikuliert, in letzter Instanz

wendet sich Strauss an die theologischen Bedingungen des

333 Strauss, „Cohen und Maimuni“, S. 428 f. Vgl. zu Strauss’s Theorie des Gesetzes und seine Bedeutung für seine Wiederentdeckung der jüdischen und vor allem islamischen Theologie des Gesetzes als Grundlage einer Kritik vonSäkularisation Leora Batnitzky, „Leo Strauss’s Disenchantment with Secular Society“, in: New German Critique, Number 94, Winter 2005, S.106–126.

150

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Politischen, spielt auch er, zumindest in den späten 1920er und

dann vor allem in den 30er Jahren, die politisch-theologische

Karte!

Aus dieser Perspektive nun gerät die Tradition der modernen

Souveränität des Subjekts, wie auch immer säkularisiert, in das

Licht der Paulinischen Gesetzeskritik und ihrer Begründung der

Subjektivität des Glaubens. Ihre Überwindung stellt sich als

Rückkehr zu einer präsubjektiven Gesetzesordnung dar, die

Strauss an dem Denken der Antike, wie es Griechen und Juden

eignete, festmachen will. Der Gegensatz von Antike und Moderne,

den Strauss hier mobilisiert, wird damit zugleich immer auch zu

einem politisch-theologischen Gegensatz zwischen Judentum und

Christentum.

Carl Schmitts Begriff des Politischen ist aporetisch, weil er in

einer theologischen Tradition verankert ist, die auf Paulus

zurückgeht und das Gesetz nur aus der Perspektive seines

Ungenügens für das Subjekt begreifen kann, während Leo Strauss’

Kritik des Politischen auf dem Hintergrund dieser fundamental

theologischen Einsicht eben diese moderne christliche Struktur

politischen Denkens im Sinne einer Besinnung auf das jüdische

Gesetz umkehren will. Schmitts Souverän ist der Feind einer

jeden Theorie und Theologie des Gesetzes, während Strauss’

Gesetzeslehre Souveränität nur als Gesetzlosigkeit verurteilen

kann. Wie immer philosophisch und säkularistisch drapiert,

beide Theorien des Politischen stehen einander als die

ultimative Opposition und Antithese gegenüber.

Aber unter welchen Bedingungen kann es denn tatsächlich einen

Rückschritt zum „objektiv“ gültigen Gesetz geben? Ist die von

Strauss initiierte Umkehr aller modernen politischen Werte

151

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

unter den Bedingungen einer subjektivistischen Moderne

tatsächlich möglich oder muß Strauss nicht selbst den

ultimativen Akt einer Souveränität voraussetzen, den er

negiert, wenn er eine Neubegründung des Politischen

beabsichtigt? Hier nun zeigt sich die Aporie von Strauss’

Begriff des Politischen: daß er die Souveränität setzen muß,

die er nicht setzen darf. Aus dieser Aporie kann ihn nur noch

die Theologie retten, nämlich ein Offenbarungsakt, wie er an

Moses ergangen ist, dem Gott am Berge Sinai das Gesetz

mitgeteilt hat.

Von daher ergibt sich immerhin, daß Strauss Schmitt nicht an

seine theologischen Ursprünge erinnert, um gegen diese eine

philosophische Argumentation aufzunehmen, sondern daß Strauss’

Position in letzter Instanz, jedenfalls in dieser frühen Phase

seines Denkens, ebenso theologisch motiviert ist, wenn sie eine

Rückkehr zum „präsubjektiven“ Gesetz ins Auge faßt. Schmitt

geht in die eine Falle der liberalen Aporie, wenn er das

Politische als Faktum setzt, damit alle Gegensätze in

kriegerische Konflikte verwandelt und so, in letzter Instanz,

die liberale Wertneutralität reproduziert. Strauss verläuft

sich in die andere Falle des liberalen Autonomismus, wenn er

die Souveränität über dem Gesetz durch einen ultimativen Akt

der Souveränität überwinden will, die sich dann unter das

Gesetz stellen soll. Es ist die klassische Aporie der

Möglichkeit einer Tradition nach der Traditionskritik. Ist

Schmitts Begriff des Politischen ultimativ ein Epiphänomen

christlicher Gesetzeskritik, für die der Name Paulus steht und

die sich unter den säkularistischen Bedingungen der Moderne nur

im Ästhetischen verirren kann, so erweist sich, daß Strauss’

152

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Begriff des Politischen in letzter Konsequenz nur als Theologie

möglich ist: Nur in einer Offenbarung an das Subjekt könnte

dieses Subjekt tatsächlich seinen Anspruch auf Souveränität

revidieren.334

334 Es nimmt aus dieser Perpektive kein Wunder, daß ein Kritiker der Liberalismuskritik wie John P. McCormick, Carl Schmitt’s Critique of Liberalism, die Trennung zwischen Politischer Theologie und Politischer Philosophie von Heinrich Meier nicht nur nicht erwähnt, sondern Schmitt und Strauss in dieselbe Tradition des Antiliberalismus als aktuelle politische Strömung inAmerika einrückt, vor der er gerade unter den neuen globalen Bedingungen warnen will – und dies noch lange vor 9/11: „Thus, there are clear lines ofsuccession back to Schmitt in all of the major components of contemporary American conservatism: cultural conservatism via Strauss, technoeconomic conservatism via Hajek, and foreign policy conservatism via Morgenthau. [...] In the absence of the Soviet enemy, these conservative tendencies maybecome less moderate than the word ‚conservative‘ connotes, and they may – and in fact at last rhetorically – set their sights on liberalism itself asan enemy.“ (S. 304). Zu einer kritischen Beurteilung von Strauss im Kontextder amerikanischen Politik nach 9/11 siehe Anne Norton, Leo Strauss and the Politics of American Empire, New Haven/London, 2004, die immerhin zwischen Straussund den Straussianern, William Kristol, Robert Kagan, Richard Perle etc. unterscheidet. Dabei wird man ihr kaum zustimmen können, wenn sie Strauss zuletzt eben dem Hermann Cohen zurechnet, den Strauss in den zwanziger Jahren durch Maimonides und Plato ersetzt.

153

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

„Sein eigenes Gesetz sein …“Politisch-theologische Voraussetzungen und Konsequenzen der

Theorie der

Kabbala der symbolischen Formen bei Gershom Scholem

I Vorüberlegung

Scholems Theorie der Kabbala beruht in letzter Instanz auf

einer Theorie des mystischen Symbols, die sich gerade aus der

radikalen Krise des Symbols im Sabbatianismus erklärt.335 Beruht

der sabbatianische Messianismus auf einem symbolischen

Ausnahmezustand, in dem das Gesetz beziehungsweise die

normative Grammatik der Tradition suspendiert wird, so versucht

Scholem, vor dem Hintergrund der durch den Sabbatianismus

vollzogenen Kritik aller traditionellen Autorität eine

Theologie auf der Basis der „eigenen Erfahrung“ des Subjekts

des Mystikers und von dieser aus, die Funktionsweise des

religiösen Symbols neu zu begründen.

Damit führt Scholems Kritik an der jüdischen

Säkularisation336, Autonomie und Emanzipation nicht zu einer

Theologie der Offenbarung zurück, sondern sie setzt über die

335 Gershom Scholem, Zum Verständnis des Sabbatianimus. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung. Berlin 1936; ders., „Die Krise der Tradition im jüdischen Messianismus“ in: ders., Judaica III, Frankfurt a. M. 1973, S. 152–196; ders., „Die kryptojüdische Sekte der Dönme (Sabbatianer) in der Türkei“, in: NumenVII, Dezember 1960, S. 93–122; ders., „Karriera schel Frankist. Mosche Dobruschka WeGilgulaw“, in: Mechkarim WeMekorot Be Toldot HaSchabtaut WeGilguleiha, Jerusalem 1974, S. 141–216; ders., Sabbatai Zvi. The Mystical Messias, Princeton 1975 (deutsch: Sabbatai Zwi. Der mystische Messias, Frankfurt a. M. 1992).336 Zu Scholem und der Theorie der Säkularisation vgl. Stéphane Mosès, Sprache und Säkularisation, in: ders., Der Engel der Geschichte. Franz Rosenzweig, Walter Benjamin. Gershom Scholem, Frankfurt a. M. 1994; mein Buch Der häretische Imperativ.

142

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

immer schon gültige sabbatianische Voraussetzung das autonome

Subjekt in eine hermeneutische Souveränität ein, die als die

letzte Instanz aller religiösen Autorität, auch noch der von

Moses selbst, fungiert. Damit gelingt es ihm, den politisch-

theologischen Absolutheitsanspruch sowohl der orthodoxen

Tradition als auch der sabbatianischen Destrukteure dieser

Tradition so zu relativieren, daß beide Positionen als mögliche

theologische Hypothesen prinzipiell in das Ensemble der

verschiedenen theologischen Interpretationen des Wortes Gottes

integriert werden können.

Auf diese Weise entwirft Scholem nicht nur eine theologische

Semiotik, die aus der modernen Perspektive der hermeneutischen

Subjektivität stets von einer prinzipiellen Differenz zwischen

Zeichen und Bedeutung ausgehen muß, sondern diese semiotische

Differenz wird zum Indiz einer zweifachen ontologischen

Differenz in Gott selbst. Ist das Zeichen als Deutung immer

schon unzureichender Ausdruck einer „Gestaltlosigkeit der

ursprünglichen Erfahrung“, so tritt Gott selbst in das Spiel

der symbolischen Ent- bzw. Verdeckung, als sein „Nichts“ und

„Sein“ ein, das in der spezifisch jüdischen Form gnostischer

Theologie reflektiert wird. Läßt sich diese ontologische

Differenz als ein Effekt der semiotischen Differenz

beschreiben, so ergibt sich von hier aus immer auch die

Möglichkeit, daß das durch die Sprache unerreichbare „Nichts“

Gottes in Wahrheit immer schon das „Nichtsein“ Gottes bedeutet,

das dann vor allem die bekannte säkularistisch-ästhetische

Reflexion über die mystische Symbolik etwa bei Kafka in die

Wege leitet.337

337Vgl. Nathan Rothenstreich, „Symbolism and Transcendence. On Some Philosophical Aspects of Gershom Scholem’s Opus“, in: Revue of Metaphysics, 31

143

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Mit einem solchen offenen Horizont semiotischer Bezeichnung

setzt Scholems „Kabbala der symbolischen Formen“ auf eine Ethik

des religiösen Symbols, die sich nicht nur auf den „Binnenraum“

der jüdischen Tradition, sondern gerade auch auf den

„exterritorialen“ Raum der anderen (monotheistischen)

Religionen erstreckt. Diese Ethik des Symbols, die einen

posttraditionellen politisch-theologischen Horizont eröffnet,

erinnert nicht zufällig an Ernst Cassirers Philosophie der

symbolischen Formen. Beide Symboltheorien deduzieren das Symbol

aus der Gefahr seiner Suspension, beide erkennen in dem

symbolischen Ausnahmezustand den katastrophalen Versuch, das

Absolute in reiner Präsenz mit der historischen Situation

kurzzuschließen. Beiden Symboltheorien geht es zuletzt um die

Begründung einer Ethik des Symbols.338

Wenn aber Scholems Kabbala der symbolischen Formen

tatsächlich den sabbatianischen Ausnahmefall zum Ausgangspunkt

einer Rekonstruktion der jüdischen Tradition aus der

Perspektive des Symbols erhebt, so ernennt sie Sabbatai Zwi

selbst indirekt zu demjenigen Messias, der die jüdische

Tradition vom Messianismus endgültig befreit. Indem Sabbatai

(1977/78), S. 605: „Symbolik einerseits und die Leugnung von unio mystica und Pantheismus andererseits bilden anscheinend die beiden korrelierenden Achsen, die sozusagen die epistemologische und die ontologische Komponente von Scholems exegetischem Schaffen ausmachen.“338 Moshe Idel, „Zur Funktion von Symbolen bei G. Scholem“, in: Stéphane Mosès/Sigrid Weigel, Gershom Scholem. Literatur und Rhetorik, Köln/Weimar 2000, stellt sich kritisch gegen David Biale, Gershom Scholem. Kabbala and Counterhistory, Cambridge 1982, S. 138–140, der Scholems Symboltheorie auf Goethe, Creuzer, Mallarmé und Benjamin zurückführt. Idel meint dagegen, daßder Begriff Symbol faktisch kaum eine Rolle in der Kabbala spiele und daß Scholems Symboltheorie sich am ehesten von Johannes Reuchlins De Arte Cabbalistica, Stuttgart 2006 (1517), ableiten lasse (S. 55). Für meine eigene Rekonstruktion spielt es keine große Rolle, woher der Begriff stammt, sondern welches Problem damit ins Spiel kommt. Die Nähe zu Cassirer scheintmir, was die Symboltheorie angeht, für Scholem dennoch wahrscheinlich, zumindesten läßt sich eine analoge Problematik erkennen.

144

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Zwi nämlich das moderne Judentum durch den letzten

„metaphysischen“ Akt der Destruktion der Symbolordnung selbst

zu einer Neubegründung auf der Grundlage einer Ethik des

Symbols zwingt, „erlöst“ er es von der Intention auf einen in

der Geschichte sich ereignenden Akt der Erlösung.339 An die

Stelle des zerstörten Tempels rückt in Scholems impliziter

Rekonstruktion der Tradition die Ruine der messianischen

Handlung als Ursymbol der Unmöglichkeit einer jeden (auch

jüdischen) politischen Theologie der Moderne, die das Reich

Gottes auf Erden errichten will. An die Stelle der halachischen

Ethik, die sich aus der Katastrophe der Tempelzerstörung in der

rabbinischen Kultur entwickelt, rückt jetzt die Symbolethik,

die auf die Katastrophe der politischen Messianologie der

Moderne reagiert. In beiden postmessianischen Formen der Ethik

geht es dabei also um eine Bewahrung der messianischen

Dimension des jüdischen Lebens im Sinne einer katastrophalen

Erinnerung, die ihrerseits das messianische Ereignis wieder

zurück in eine unerreichbare Zukunft verlegt. Wegen der

strukturellen Nähe dieser Form von Postmessianismus zu Paulus

verwundert es freilich nicht, daß Scholem seine eigene Theorie

des mystischen Symbols immer wieder von Paulus abgrenzt, dessen

Messianismus ja als eine Emanzipation von jedem „äußeren“

geschichtlich-politischen Messianismus verstanden werden muß.340

339 Vgl. Walter Benjamin, „Politisch-theologisches Fragment“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II.1, Frankfurt a. M. 1980, S. 203.340 Vgl. Jakob Taubes, „Der Preis des Messianismus“, in: ders., Vom Kult zur Kultur. Bausteine zu einer Kritik der historischen Vernunft, hrsg. v. Aleida und Jan Assmann, München 1996, S. 44: „Wie anders läßt sich Erlösung definieren, nachdem der Messias die äußere Welt eben nicht erlöst hat, als durch eine Verlagerung in die Innerlichkeit?“ Mit dieser Frage stellt Taubes die für Scholem konstitutive Unterscheidung zwischen einem äußeren jüdischen und einem verinnerlichten christlichen Messianismus in Frage, wie Scholem sie in „Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum“ (Judaica I, Frankfurt a. M. 1977) vertritt. Thomas Macho („Zur Frage nach dem Preis des

145

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

II Von der Autorität zur eigenen Erfahrung

Scholems implizite Theorie des mystischen Symbols geht immer

wieder von dem Grenz- und Ausnahmefall aus, nämlich dem

Augenblick der Suspension bzw. Destruktion der symbolisch-

halachischen Ordnung. „Frank lehrte die Notwendigkeit, durch

alle ‚Gewänder‘ hindurchzugehen und alle zu verleugnen, um in

dem Abgrund der Vernichtung aller Gesetze […] das anarchische

Leben zu finden.“341 Der sabbatianische Messianismus und der aus

diesem sich entwickelnde mystische Nihilismus Jakob Franks

bezeichnet für Scholem dabei den historischen Ausdruck oder das

historische Symptom eines fundamentalen strukturellen Problems

der religiösen Symbolik überhaupt, nämlich des Problems der

„Gestaltlosigkeit der ursprünglichen Erfahrung“. Insofern

Scholem die Krise der jüdischen Moderne und der Säkularisation

als das Resultat des Verfalls der symbolischen Ordnung des

Judentums versteht und den historischen Ursprung dieser

Destruktion am Sabbatianismus und seinen Ausläufern erkennt,

ist damit die Einsicht in das historische Problem immer schon

an das strukturell-epistemologische Problem gebunden. Der

gezielte Akt der messianischen Destruktion symbolischer Formen

und Handlungen durch den sabbatianischen Mystiker läßt sich fürMessianismus. Der intellektuelle Bruch zwischen Gershom Scholem und Jacob Taubes als Erinnerung ungelöster Probleme des Messianismus“, in: Moses/Weigel: Gershom Scholem: Literatur und Rhetorik) kommentiert das Dilemma sehr klar: „Das Dilemma wurde zwar auf Scholem projiziert: Doch war und ist es ein echtes Dilemma, ein ungelöstes Problem. Es ergibt sich schlicht aus derKomplexität messianischer Logik, aus dem Zwang, den erscheinenden Messias entweder (paulinisch) als die Figur der Aufhebung des Messianismus zu denken, oder aber als den prinzipiell ‚falschen‘ Messias zu verwerfen.“ 341 Scholem, Zum Verständnis des Sabbatianismus. S. 11.

146

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Scholem immer nur als eine im Absoluten selbst angelegte

dialektische Konsequenz konstruieren. Offenbart sich das

absolute Sein Gottes nämlich auch dieser mystischen Erfahrung

als ein schlechthin „Namenloses“, „Undarstellbares“,

„Gestaltloses“ und, was die Möglichkeiten von Denken und

Sprache angeht, als „Nichts“, so enthält das Absolute schon in

sich selbst eine negative und destruktive Macht, die im

sabbatianischen Messianismus dann nach außen schlägt.

Die Gestaltlosigkeit der ursprünglichen Erfahrung kann zurAuflösung aller Gestalt auch in der Deutung führen. Es istdiese Perspektive zerstörerisch, aber doch dem ursprünglichenAntrieb des Mystikers nicht unverwandt, die uns den Grenzfalldes nihilistischen Mystikers als den eines allzu legitimenErben mystischer Erschütterungen erkennen läßt.342

Diese Perspektive erfaßt den Sabbatianismus also als einen

symbolischen Ausnahmezustand, mit dem die Tradition von

Offenbarung und Gesetz im Namen ihrer messianischen

Verwirklichung suspendiert und, da hier nur das Absolute in die

partikulare Realität einstürzt, destruiert wird. Damit aber

erweist sich der historische Augenblick der Suspension der

halachischen Ordnung nicht nur als ein dramatisches Stadium in

der Geschichte von Deutung und Auslegung von Gottes Wort. Die

Tatsache, daß dieser historische Augenblick in dem

dialektischen Wesen Gottes selber begründet ist, erlaubt auch

ein tieferes Verständnis für das Wesen der Krise und der

Säkularisation, das auf diese Weise eine Neubegründung von

jüdischer Theologie und Tradition möglich machen soll.

Die geschichtliche Situation und die Auffassung von Gottes

Wesen, die häretische Destruktion der Symbolordnung einerseits

342 Gershom Scholem, „Religiöse Autorität und Mystik“, in: ders., Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Zürich 1960, S. 20 f.

147

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

und die Seinsweise Gottes andererseits, bilden damit die

extremen Pole und Korrelate von Scholems Grammatik des

mystischen Symbols, wie sie aus der postsabbatianischen

Perspektive unter gleichsam posttraumatischen Bedingungen

rekonstruierbar wird. Die „ursprüngliche Gestaltlosigkeit der

Erfahrung“, die im Sabbatianismus historisch evident wird, ist

so gesehen ein geschichtlich vermitteltes Konstitut, das erst

innerhalb der Tradition, also der Geschichte der Auslegung sich

darzustellen beginnt. Sie entwickelt sich aus und innerhalb der

Dialektik zwischen dem durch die Autorität des Moses

vorgegebenen Symbol und seiner Interpretation, Explikation und

Applikation343 durch ein mystisches Subjekt, das sich in

Scholems Darstellung zunächst gerade in den Grenzen bewegt, die

ihm durch den Gründungsakt des Moses vorgegeben sind. So

entdeckt der Mystiker die Autorität zunächst noch einmal, wenn

er seine Erfahrungen „in einer Sprache, in Bildern und

Begriffen“ formuliert, „die vor ihm und für ihn geschaffen

wurden“344. Zugleich aber reproduziert der Mystiker nicht nur

die traditionelle Sprache, sondern er wird sich in der

mystischen Erfahrung eben der Dimension des „gestalt- und

namenlosen Seins“ bewußt, das die traditionellen Symbole

umkreisen, indem sie es zu benennen versuchen. Anders

formuliert: Im Prozeß der Vermittlung zwischen Erfahrung und 343 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1975, vor allem das Kapitel „Die exemplarische Bedeutung der juristischen Hermeneutik“, S. 330–346, das unter anderem auchdie politischen Konsequenzen für die jeweilige Stellung gegenüber dem Gesetz skizziert. „So ist es für die Möglichkeit einer juristischen Hermeneutik wesentlich, daß das Gesetz alle Glieder der Rechtsgemeinschaft in gleicher Weise bindet. Wo das nicht der Fall ist, wo etwa wie im Absolutismus, der Wille des absoluten Herrschers über dem Gesetz steht, kann es keine Hermeneutik geben, da ‚ein Oberherr seine Worte auch wider die Regeln gemeiner Auslegung erklären kann‘.“ 344 Scholem, Religiöse Autorität und Mystik, S. 16.

148

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Bezeichnung erfährt der Mystiker die Diskrepanz zwischen beiden

und damit den tatsächlich symbolhaften Charakter des Symbols.

Ist es doch eben dieses Element des Unbestimmbaren, derAbwesenheit, der Fähigkeit zum Ausdruck, die die größteSchwierigkeit der mystischen Erfahrung darstellt. Sie läßtsich nicht einfach und restlos in klar umrissenen Bilder oderBegriffe umsetzen.345

Die Offenbarung Gottes, seine Rede beziehungsweise seine Stimme

stellen sich immer mehr als die absolute Bedeutung vor jedem

konkreten, den Sinn eingrenzenden Wort dar. „Das Wort Gottes

muß unendlich sein […], das absolute Wort ist zwar in sich noch

bedeutungslos, aber es ist bedeutungsschwanger.“346 Mit dem sich

einstellenden Bewußtsein dieser symbolischen Differenz wird

nicht nur die unendliche Macht von Gottes Wort und dem

biblischen Text neu begründet und vertieft, sondern auch die

Kompetenz des Mystikers selbst, der nunmehr nicht nur „einen

Faktor dar[stellt] im Prozeß der Hochhaltung der Tradition,

sondern zugleich in dem Prozeß, der sie entwickelt und

vorwärtstreibt“347. Die sich konstituierende eigene Erfahrung,

die sich aus der Differenz von prästabilierter Symbolordnung

und der konkreten Situation der Interpretation entwickelt,

artikuliert sich als Nachvollzug, Anpassung und Modifikation

der vorgegebenen Regel, im Zweifelsfalle auch in der Erfindung

neuer Regeln und Symbole. Ist die mystische Subjektivität also

zunächst durch die interpretatorisch-modifizierende „Differenz“

konstituiert, die in den Falten des Wortes sich „einnistet“, so

verwirklicht sie sich eigentlich erst in dem Fall, wo die

eigene Erfahrung sich von der vorgegebenen Struktur der Sprache

345 Ebd., S. 19 f.346 Ebd., S. 22.347 Ebd., S. 17.

149

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

emanzipiert, sich also gegen die prästabilierte Symbol- und

Gesetzesordnung kehrt und diese suspendiert. Der häretische Akt

der Interpretation ist die Geburtsstunde des nunmehr sich auf

sich selbst verlassenden, souveränen mystischen Subjekts, das

sich über alle Autorität erhebt und damit den messianischen

Anspruch erhebt, „sein eigenes Gesetz zu sein“348.

Damit enthält die Tradition nicht nur das Ereignis ihrer

Selbstüberwindung, sie ist ganz auf dieses Ereignis hin

ausgerichtet. Das objektiv geltende Gesetz bzw. Symbol, wie es

durch die Tora des Propheten Moses übermittelt wurde, wird

gerade im Namen des absoluten Wesens Gottes durch das mystische

Subjekt suspendiert.

Es ist dabei gerade der heilige Status des (Gesetzes-)Textes,

der die verschiedenen hermeneutischen Strategien ermöglicht,

deren sich der Mystiker bedient, um seiner Erfahrung Ausdruck

zu verleihen. Der heilige Text der Tora ist eben dadurch

heilig, daß er einer unendlichen Interpretation fähig ist, daß

alles in ihm Sinn besitzt. Als ein solcher Speicher unendlichen

Sinns ist der Text der Tora Symbol des unendlichen Wesens

Gottes selbst, das so immer unendlicher, unergründlicher wird,

bis es zu dem Wesen jenseits aller Sprache, zum Wesen jenseits

des Gesetzes erhoben werden muß. Hier kündigt sich dann die

fundamentale symbolische Differenz an, die Gott in die

ontologische Differenz von Wesen und Erscheinung so versenkt,

daß das Wesen sich jeder Signifikation verweigert. Da, wo

Gottes Macht tatsächlich absolut und unendlich geworden ist,

kommt es dann zu der Suspension der objektiven symbolischen und

gesetzlichen Ordnung, die das Subjekt zu dem Akt einer

348 Ebd., S. 20.150

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

souveränen Interpretation und Gesetzgebung ermächtigt. Von nun

an hat das Gesetz seinen objektiv offenbarten Charakter

verloren und kann nur noch als eine Deutung durch das Subjekt

begriffen werden, das nunmehr „sein eigenes Gesetz“ geworden

ist.

Sabbatai Zwi bezeichnet damit für die jüdische Moderne den

fundamentalen epochalen Umbruch, den Leo Strauss auf

europäischer Ebene für die Genese von Hobbes’ politischer

Philosophie feststellt: die Begründung des Gesetzes aus dem

Subjekt.349 An die Stelle der Souveränität des Gesetzes, das dem349 So sehr verschieden die Kontexte, so läßt sich dieselbe Tendenz wiedererkennen. Vgl. Leo Strauss, Hobbes’ politische Wissenschaft in ihrer Genesis. Leo Strauss beschreibt diesen Übergang vom objektiven Gesetz zum subjektiven Gesetz bei Hobbes folgendermaßen: „Die beiden fundamentalen Neuerungen, dieHobbes zuzuschreiben sind, die Vorordnung des Rechts vor das Gesetz und dieErkenntnis der vollen Bedeutung der Idee der Souveränität, stehen in unmittelbarem Zusammenhang. Ihren gemeinsamen Ursprung erkennt man, wenn man nach der Möglichkeitsbedingung des Problems der Souveränität zurückfragt. Das antike Analogon zu diesem modernen Problem ist die Frage: wer oder was soll herrschen? Die antike Antwort lautet: das Gesetz. Diese Antwort wird von den Philosophen, die sich bei der göttlichen Herkunft des Gesetzes nicht beruhigen können, folgendermaßen begründet: herrschen soll, zu herrschen verdient das Vernünftige über das Unvernünftige (die Alten über die Jungen, der Mann über das Weib, der Herr über den Sklaven) und darum das Gesetz über die Menschen. Zum Problem der Souveränität kommt es erst dann, wenn das Herrschaftsrecht der Vernunft oder der Vernünftigen angezweifelt wird. Der Zweifel richtet sich zunächst bloß gegen die Anwendbarkeit des Prinzips, daß zu herrschen berechtigt ist, wer oder was vernünftig ist: zugegeben, daß es Menschen gibt, die kraft ihres Verstandesden anderen unbezweifelbar überlegen sind – würden die anderen sich ihnen schon darum unterwerfen und ihnen gehorchen? Würden sie ihre Überlegenheit anerkennen? Der Zweifel macht hierbei nicht halt: es wird geleugnet, daß eseinen erheblichen Unterschied hinsichtlich der Vernünftigkeit zwischen den Menschen gibt; in allen praktischen Angelegenheiten ist grundsätzlich jederMensch so vernünftig wie jeder andere. […] Von Natur sind alle Menschen gleich vernünftig […]. Weil also die Vernunft wesentlich ohnmächtig ist, darum genügt die Auskunft nicht, daß der Ursprung und Sitz der Herrschaft die Vernunft sei; darum wird es von Grund auf fraglich, welche von den untereinander gleichen Menschen über die anderen herrschen können und dürfen, und unter welchen Bedingungen und innerhalb welcher Grenzen sie einen Anspruch auf Herrschaft haben; darum kommt es zu einem Problem der Souveränität. Weil alle Menschen gleich vernünftig sind, darum muß willkürlich, als künstlicher Ersatz für die fehlende natürliche Vernunftüberlegenheit eines oder mehrerer die Vernunft eines oder mehrerer

151

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Subjekt Autorität gibt, tritt die Autorität des Subjekts, das

das Gesetz stiftet. „Auctoritas facit legem, non veritas.“ Da

aber eben die Autorität des Subjekts nur noch auf der eigenen

Subjektivität beruht, wird damit der Status des subjektiven

Gesetzes unendlich problematisch, gerade weil es sich in

letzter Instanz nur durch einen puren Machtspruch des

souveränen Subjekts durchsetzen kann.

Die eigentliche Pointe Scholems ist nun zunächst folgende:

Statt wie Leo Strauss einen Weg zu suchen, der die verlorene

objektive Qualität des „antiken“ Gesetzes für das „moderne“

Zeitalter restaurieren könnte, verschärft er das Problem, indem

er aus der modernen Perspektive nun auch den Status des

„antiken“ Gesetzes, also das Gesetz des Moses in seiner

Autorität erschüttert. Während zunächst Moses eine Autorität zu

besitzen schien, die ihm durch das objektive Gesetz zukommt,

sind Sabbatai Zwi und Jakob Frank souveräne Agenten ihrer

eigenen, subjektiven Erfahrung, die eben diese Autorität

unterminiert. Von dieser eigenen Erfahrung stellt Scholem fest,

daß sie „im äußersten Fall den Anspruch erheben wird, über

aller Autorität zu stehen“, und der Häretiker mit dieser „sein

eigenes Gesetz zu sein“350 beansprucht. Indem Scholem aber aus

der Perspektive des Grenz- und Ausnahmefalls die Funktionsweise

der symbolischen Ordnung rekonstruiert, denkt er implizit jede

Autorität, also auch die Autorität des Moses aus der

Perspektive der sabbatianischen „eigenen“ Erfahrung. In seiner

Exposition der Deutung des Rabbi Mendel Torum von Rymanow zur

beliebigen Individuen zur maßgebenden Vernunft gemacht werden. […] Der Bruch mit dem Rationalismus ist also die entscheidende Voraussetzung sowohldes Souveränitätsbegriffs als auch der Verdrängung des Gesetzes durch das Recht.“ (S. 180 f.)350 Scholem, Religiöse Autorität und Mystik, S. 20.

152

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Offenbarung am Sinai faßt Scholem das Problem von Autorität und

Mystik für die Situation des Moses so zusammen, daß die

sabbatianische Katastrophe, die Symbol, Gesetz und Gemeinschaft

sprengt, sowohl als Grundlage für die Auffassung vom Symbol wie

für seine Bewahrung sich darstellt. Der Preis, der für diese

Rettung der Tradition entrichtet werden muß, ist die radikale

Umwertung des Moses als Volksgründer aus dem Geiste der

Offenbarung.

Was eigentlich, läßt sich fragen, ist das wirklich Göttlichean der Offenbarung, wie sie Israel am Sinai gegeben wurde,einer Offenbarung, die, wohlverstanden, ein ungemein scharfumrissenes Stück von Lehre und ein Aufruf an die menschlicheGemeinschaft ist, eine Offenbarung, die in allen Stückenüberaus artikuliert ist und in keiner Weise eine mystische,im unendlich Deutbaren bleibende Losung darstellt? Schon imTalmud gibt es eine Diskussion über diese Frage der ErfahrungIsraels beim Empfang der Zehn Gebote. Was eigentlich konntensie hören, und was hörten sie? Nach einigen wären alle Geboteihnen durch das ungebrochene Medium der göttlichen Stimmezugekommen. Nach anderen hätten sie nur die ersten zweiGebote – „Ich bin der Herr, dein Gott“ und „Du sollst keineanderen Götter neben mir haben“ (Ex. 20,2/3) – unmittelbaraus Gottes Munde vernommen. Dann aber sei die überwältigendeMacht dieser Erfahrung zu viel für das Volk gewesen, und siehätten der göttlichen Stimme nicht standhalten können. Daherhätten sie sich an Moses halten müssen, durch dessenVermittlung sie nun die übrigen Gebote empfingen. Mosesallein konnte die Wucht der Stimme ertragen und wiederholtenun in menschlicher Stimme jene Aussagen höchster Autorität,die die Zehn Gebote sind.Diese Funktion Moses’ als Deuter der göttlichen Stimme fürdas Volk – über die schon Maimonides sich sehr viel weitergehende Gedanken gemacht hatte – konnte nun noch weiterausgedehnt werden, und das ist es eben, was dem R. Mendel vonRymanow zugeschrieben wird, der im Grunde nur die Gedankendes Maimonides in voller Zuspitzung ausdrückt. Ihm zufolgestammen nicht einmal die ersten beiden Gebote aus einerunmittelbaren Offenbarung an die ganze Gemeinde Israel.

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Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Alles, was ihnen offenbart wurde, was Israel hörte, warnichts als jenes Aleph, mit dem im hebräischen Text der Bibeldas erste Gebot beginnt, das Aleph des Wortes „anochi“, Ich.Dies scheint mir in der Tat ein überaus bemerkenswerter undnachdenklich stimmender Satz. Der Konsonant Aleph stelltnämlich im Hebräischen nichts anderes dar als den laryngalenStimmeinsatz […], der einem Vokal am Wortanfang vorausgeht.Das Aleph stellt also gleichsam das Element dar, aus demjeder artikulierte Laut stammt, und in der Tat haben dieKabbalisten den Konsonanten Aleph stets als die geistigeWurzel aller anderen Buchstaben aufgefaßt, der in seinerWesenheit das ganze Alphabet und damit alle Elementemenschlicher Rede umfaßt. Das Aleph zu hören ist eigentlichso gut wie nichts, es stellt den Übergang zu allervernehmbaren Sprache dar, und gewiß läßt sich nicht von ihmsagen, daß es in sich einen spezifischen Sinn klar umrissenenCharakters vermittelt. Mit seinem kühnen Satz über dieeigentliche Offenbarung an Israel als die des Alephreduzierte also Rabbi Mendel diese Offenbarung zu einermystischen, das heißt zu einer Offenbarung, die in sichselbst zwar unendlich sinnerfüllt, aber doch ohnespezifischen Sinn war. Sie stellt etwas dar, das, umreligiöse Autorität zu begründen, in menschliche Spracheübersetzt werden mußte, und das ist es, was im Sinne diesesAusspruchs Moses tat.351

Scholem projiziert am Beispiel dieser Deutung des Rabbi Rymanow

die moderne Erfahrung interpretatorischer Souveränität zurück

auf die Autorität des Moses selbst. Von daher muß nun der

Gründungsakt der Tradition durch Moses selbst als „Deutung

einer gestaltlosen Erfahrung“ durch das Subjekt behauptet

werden. „Jede Aussage, die Autorität begründet, wäre demzufolge

nur eine, wenn auch noch so gültige und hochrangige, aber immer

nur menschliche Deutung von etwas, das sie transzendiert.“352 Im

Sinne dieser Rückprojektion der häretischen Deutung des

mystischen Souveräns, die ihrerseits erst eigentlich die

Subjektivität als autonomes Prinzip der Deutung und des 351 Ebd., S. 46 ff.352 Ebd., S. 48.

154

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Gesetzes begründet, muß dann die Autorität des Moses zum

Ausdruck einer möglichen und legitimen Deutung „durch das

Subjekt“ herabsinken. Damit aber kann die traditionell

orthodoxe Auffassung von dem für diese Autorität maßgeblichen

Absolutheitsanspruch des Moses gar nicht mehr aufrechterhalten

werden. Das semiotisch-hermeneutische Prinzip der mystischen

Symbolizität erhebt nunmehr seinen eigenen und neuen

universalen Anspruch:

The binding character of Revelation for a collective hasdisappeared. The word of God no longer serves as a source forthe definition of possible contents of a religioustradition.353

Die Tradition ist damit nicht mehr in dem Sinne bindend, wie es

der Begriff der Tradition selbst verlangt. Und doch erlaubt die

symbolische Neuauflage der Tradition als Werk der Deutung,

gerade auch durch ihre Projektion auf die begründende

Autorität, eine neue Existenzform von Tradition, die von nun an

allerdings auf der autonomen Entscheidung des Subjekts beruht,

ihre Legitimität also aus dieser Entscheidung gewinnt.

III Die sabbatianische Krise und die Krise des Lebens in der

Kultur

Der ganze Sinn dieser hermeneutisch fundierten Theorie des

Symbols liegt jedoch nicht nur in der Rückprojektion der

häretischen Suspension auf den Gründungsakt des Moses, dessen

Autorität durch die eigene Erfahrung relativiert, historisiert

353 Gershom Scholem, „Reflection on Jewish theology today“, in: ders., On Jews and Judaism in Crisis. Selected Essays, New York 1976, S. 268 f.

155

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

und subjektiviert werden muß, sondern gerade auch in der

Konsequenz für die Autorität dessen, der die symbolische

Verfassung im Namen einer neuen messianischen Ordnung

suspendiert. Gerade der messianische Absolutheitsanspruch des

häretischen Subjekts selbst wird nun ebenfalls durch die

Verankerung seiner „eigenen Erfahrung“ im namenlosen Absoluten,

im Nichts, das seine Entscheidungen bestimmen soll, radikal

entschärft.354 Wenn nicht durch die Macht der Tradition, die

politische Macht oder ein Charisma, wie soll sich die nur noch

auf die individuelle Erfahrung gründende Autorität anders auf

die Dauer behaupten als durch den freien Konsensus der anderen

Subjekte, die diese Erfahrung der je eigenen Erfahrung als

entsprechend wahrnehmen?

Vergleichbar ist die Situation des Häretikers, der das Gesetz

der Tradition suspendiert, mit der eines modernen Künstlers wie

etwa Arnold Schönberg. Nachdem die musikalische Verfassung der

Tradition – die Tonalität – mit der Autonomisierung des

Künstlers und Komponisten seit Ludwig van Beethoven den

Bedingungen des subjektiven Ausdrucks zunehmend angepaßt und in

ihrem Sinne modifiziert wurde, hat sie Arnold Schönberg zu

Beginn des 20. Jahrhunderts schließlich im Namen eben seiner

354 Vgl. Carl Schmitt, Politische Theologie, S. 69: „Sobald Donoso Cortes erkannte,daß die Zeit der Monarchie zu Ende ist, weil es keine Könige mehr gibt und keiner den Mut haben würde, anders als durch den Willen des Volkes König zusein, führte er seinen Dezisionismus zu Ende, das heißt, er verlangte eine politische Diktatur. Schon in den zitierten Äußerungen […] lag eine Reduzierung des Staates auf das Moment der Entscheidung, konsequent auf eine reine, nicht raisonnierende und nicht diskutierende, sich nicht rechtfertigende, also aus dem Nichts geschaffene absolute Entscheidung. Dasist aber wesentlich Diktatur, nicht Legitimität.“ Scholems Strategie der symbolischen Verankerung des sabbatianischen Absolutheitsanspruchs im „Nichts“ Gottes gilt der Kritik eben einer solchen diktatorischen Dezision,wie sie immerhin gerade bei Jakob Frank und seinen Ideen zu einem militärischen Feldzug seiner mystischen Soldaten angelegt ist.

156

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

„eigenen Erfahrung“, also seines individuellen

Ausdrucksbedürfnisses suspendiert. Schönbergs Versuch, den

eigenen souveränen Akt der Suspension der tonalen Verfassung

durch einen Akt der souveränen Gesetzgebung zu kompensieren,

nämlich durch die Zwölftonmusik, ist durch die radikale

Freisetzung der ästhetischen Subjektivität von Anfang an zum

Scheitern verurteilt gewesen. Die nur durch die Autorität und

das Charisma des Komponisten Schönberg begründete Tradition

mußte an eben dem Prinzip der Subjektivität scheitern, das

Schönberg selbst für sich in Anspruch genommen hatte, als er

die tonale Verfassung suspendierte. Schönberg hat diese

Problematik der Autorität des Gesetzes bekanntlich in seiner

unvollendeten Oper Moses und Aron auf der religiösen Ebene

thematisiert, die seine „eigene Erfahrung“ in der Tat für die

Symboltheorie Scholems zu einem mehr als nur kommensurablen

Fall erhebt. Als Moses nämlich nach der Sünde des Volkes und

seines Bruders Arons mit dem goldenen Kalb, das als sinnliches

Zeichen für den unerkennbaren Gott fungiert, sich auf das

absolute Gesetz beruft, das von dem wahren Gott offenbart

worden ist, begnügt Aron sich mit dem lapidaren Hinweis, dieses

Gesetz sei „auch nur ein Bild“, woraufhin Moses ausruft: „So

zertrümmere ich diese Tafel und will Gott bitten, daß er mich

von diesem Amt abruft.“

Beide Ansprüche auf Absolutheit, der orthodoxe auf die

Objektivität des Gesetzes und der moderne auf die absolute

Subjektivität, sollen durch die Rückprojektion der

sabbatianischen Krise auf das Gesamt der Tradition

zurückgewiesen und relativiert werden. Dabei ist es zunächst

und zuerst durchaus die destruktive Macht, die der

157

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Sabbatianismus freigesetzt hat und um die es in Scholems

Reintegration dieser Revolution des Subjekts in die Tradition

tatsächlich geht. Scholems Rekonstruktion der Tradition aus der

Perspektive ihrer symbolischen Funktionsweise ist im Grunde

immer schon ganz auf „eine Schadensbegrenzung“ eben dieser

Katastrophe hin angelegt. „Man kann von drei Wegen sprechen,

auf denen die Tradition sich in der Geschichte entfaltet und

entwickelt“, faßt Scholem seine eigene Repräsentation der

Dynamik der Tradition an anderer Stelle zusammen.

Sie kann kontinuierlich fortgesetzt werden; sie kann sich ineinem natürlichen Prozeß verwandeln und neue Gestaltannehmen, und sie kann schließlich einem Bruch ausgesetztsein, der mit der Verwerfung der Tradition selber verbundenist. In unseren Tagen steht im Vordergrund der Aufmerksamkeitgerade der Bruch, die Aufgabe, ja die totale Negierung derTradition im Interesse eines Neuaufbaus.355

Scholems Überlegungen münden in die Frage, ob „der Bruch einer

Tradition wirklich ein Bruch“ sei. „Setzt sie sich nicht, auch

wenn die Metamorphose scheinbar abgelehnt wird, auch in anderen

Formen und Gestalten irgendwie fort?“356

Die messianische Autorität des Sabbatai Zwi, die Gesetz,

Symbol und Norm im Namen der Erlösung und messianischen

Befreiung zerstört, muß, da die Erlösung infolge der

antinomistischen Ekstasen nicht stattfindet, zerbrechen. Die

Katastrophe besteht so zunächst in der Möglichkeit einer

solchen messianischen Autorität überhaupt und dann, wenn diese

Autorität sich als Schein entlarvt, in der Destruktion von

Ordnung und religiöser Autorität als solchen. Scholem erkennt

im Sabbatianismus bekanntlich die für die jüdische Moderne

355 Scholem, „Die Krise der Tradition im jüdischen Messianismus“, S. 152.356 Ebd.

158

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

konstitutive Katastrophe, die nicht nur alle Lebensbereiche in

Mitleidenschaft zieht und deren zahlreiche Symptome er seiner

modernitätskritischen Diagnose unterstellt, sondern es geht ihm

um eine dialektische Rekonstruktion dieser Katastrophe im Sinne

einer Heilung und Restauration eben dieser Tradition. Damit ist

immer schon mit behauptet, daß eine einfache Rückkehr zur

Orthodoxie nach der messianischen Destruktion, zumindest für

den, der diese Destruktion mitvollzogen hat, unmöglich geworden

ist. Scholems dialektische Interpretation der sabbatianischen

Katastrophe verfährt dabei nach dem Telephos-Prinzip, indem sie

den Stachel, der den Leib tödlich verwundet, noch tiefer

treibt, um den Heilungsprozeß zu ermöglichen.

Scholem entwirft ansatzweise immer wieder eine Typologie der

postsabbatianischen Krisensymptome. Hierzu rechnet er zuerst

vor allem die jüdische Aufklärung des 18. und 19. Jahrhunderts

als ein Symptom der Entleerung jüdischer Vitalität. Aufklärung

als einseitige Betonung von Vernunft und Rationalität

bezeichnet für Scholem radikale Entfremdung vom Judentum, am

eindrücklichsten vielleicht im sechsten unhistorischen Satz

über die Kabbala:

Wie die Natur, kabbalistisch gesehen, nichts ist als derSchatten des göttlichen Namens, so kann man auch von einemSchatten des Gesetzes, den es immer länger und länger auf dieLebenshaltung des Juden wirft, sprechen. Aber die steinerneMauer des Gesetzes wird in der Kabbala allmählichtransparent, ein Schimmer der von ihm umschlossenen undindizierten Wirklichkeit bricht hindurch. Diese Alchimie desGesetzes, seine Transmutation ins Durchsichtige, ist einesder tiefsten Paradoxe der Kabbala, denn was im Grunde könnteundurchsichtiger sein als dieser Schimmer, diese Aura desSymbolischen, die nun erscheint. Aber im Maße der immersteigenden, wenn auch immer unbestimmter werdendenTransparenz des Gesetzes lösen sich auch die Schatten auf,

159

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

die es auf das jüdische Leben wirft. So mußte am Ende diesesProzesses logischerweise die jüdische „Reform“ stehen: dieschattenlose, unhintergründige, aber auch nicht mehrunvernünftige, rein abstrakte Humanität des Gesetzes als einRudiment seiner mystischen Zerstörung.357

Eben diese Transformation von Gesetz und Symbol in ein

abstraktes Gesetz der Humanität in der Aufklärung und jüdischen

Reform findet ihren eklatanten Ausdruck in der Adoption der

Philosophie Immanuel Kants durch den Frankisten und

Berufsrevolutionär Moses Dobruschka, dessen Karriere der Masken

und Verwandlungen zudem ein dramatisches Beispiel für den

postsabbatianischen Identitätsverlust liefert.358

Ein zweites Symptom der Krise findet Scholem dann in der

schon für Dobruschka typischen Identifikation der jüdischen

Intelligenz mit den verschiedenen Formen weltrevolutionärer

Aktivität, in denen die messianische Energie des Judentums sich

gleichsam verausgabt und leerläuft. Hier lebt die Hoffnung auf

Erlösung und Befreiung der Juden fort, ohne daß die eigentlich

jüdische Dimension überhaupt noch artikulierbar ist. In der

Mobilisierung für die Weltrevolution reproduziert der Jude

einen sabbatianischen Impetus, insofern er sich hier wie Zwi

oder Frank eine andere Identität zulegt, um die Welt zu

erlösen, nur ist er sich bei seinem Enthusiasmus für die

357 Gershom Scholem, „Zehn unhistorische Sätze über die Kabbala“, in: Judaica III, S. 269.358 Scholem, „Karrierra Schel Frankist: Mosche Dobruschka WeGilGulaw“, S. 194 ff. Scholem skizziert hier zunächst Dobruschkas politisch-theologischesCredo, das auf der Grundannahme beruht, daß „jede Regierung eine Art Religion“ sei, die ihre eigene Theologik habe, weswegen Dorbuschka die theologischen Grundzüge der Demokratie definieren wolle. Zuletzt habe Dobruschka nach einem Gesetz gesucht, das wahrhaft innerlich sei, und in diesem Kontext vor allem Kants Denken gelobt. Nirgends habe der frankistische Revolutionär so viel Wahrheit gefunden wie in den Reden des Sokrates, dem Evangelium und den Schriften des unsterblichen Kant.

160

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Revolution dieser auch im Jüdischen prinzipiell katastrophalen

messianischen Dimension nicht mehr wirklich bewußt.

Aber auch Assimilation und Zionismus besitzen eine mögliche

sabbatianische Dimension: die Assimilation, weil sie als

Adoption derjenigen Strategie postsabbatianischer Theologen

sich auffassen läßt, die aus messianischen Motiven einen

Übertritt ermöglicht, der zuletzt zu einem Verlust von jeder

jüdischen Identität führen muß; der Zionismus, weil er

potentiell in eine antinomistische politische Erlösungslehre

umschlagen kann und damit die Realpolitik, also den Staat

zerstört. „Die messianische Phraseologie des Zionismus“,

schreibt Scholem schon 1928, „besonders in entscheidenden

Momenten, ist nicht die geringste jener sabbatianischen

Verführungen, die die Erneuerung des Judentums, die

Stabilisierung seiner Welt aus ungebrochenem Sprachgeist, zum

Scheitern bringen können.“359

Diese durchaus nicht vollständige skizzenhafte Typologie der

postsabbatianischen Krisenformen ist Funktion eben jener

radikalen Mystik des Lebens, die zur Zerstörung der

traditionellen Lebensform aus dem Geist des halachischen

Gesetzes führt. Es ist das Symbol des Lebens, das sowohl die

exzessive Orgiastik als auch die anarchistische Freiheit der

Sabbatianer in ihrem messianischen Zerstörungswerk bestimmt

hat. Sowohl im dionysisch-vitalistischen als auch im

anarchisch-politischen Fall ist Leben Ausdruck einer reinen

Unmittelbarkeit und Intuition, die jede Form, jedes Gesetz und

Symbol transzendieren muß. Immer wieder weist Scholem auf die

Zentralität des Symbols des Lebens und auf den Zusammenhang 359 Gershom Scholem, „Die Theologie des Sabbatianismus im Lichte Abraham Cardosos“, in: Judaica I, S. 146.

161

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

zwischen diesem reinen Leben und der Gewalt hin, immer wieder

betont er den Zusammenhang von diesem unmittelbaren Leben und

der Gestaltlosigkeit der mystischen Erfahrung.

Die messianische Freiheit in der Erlösung und der Inhalt derErleuchtung, die das Wesen dieser Freiheit betrifft,kristallisieren sich um das Symbol des Lebens. Der Mystikerbegegnet in der mystischen Erfahrung dem Leben. Dies Lebenbedeutet aber hier nicht die harmonische Fülle des sich inseinen eigenen Gesetzen erfüllenden Zusammenhangs aller Dingemit Gott, also ein Bild des von einer Autorität herWohlgeordneten und sich ständig Aufbauenden, sondern etwasganz anderes. Es ist das von keinem Gesetz und keinerAutorität in Fesseln geschürte frei Wachsende und sichWandelnde, das hemmungslose Verströmen und die unaufhörlicheVernichtung aller aus ihm auftauchenden Gestalt, die diesenBegriff von Leben bestimmt.360

Die mystische Kategorie des Lebens ist nicht nur Ausdruck eben

der katastrophalen Unmittelbarkeit mystischer Erfahrung, die

nunmehr anarchisch-dionysisch die Formen, die Leben

ermöglichen, liquidiert. Sie erlaubt zugleich eine

überraschende Parallelisierung der gesamten Problematik des

mystischen Symbols und seiner Hermeneutik mit der für Scholems

formative Jahre sicher prägenden Lebensphilosophie und deren

späterer Integration in Georg Simmels Metaphysik der Existenz361

und Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Mit

anderen Worten: Die im Kontext der Lebensphilosophie

diskutierte Problematik und Krise der Kultur als eine

entfremdete Lebensform, dient Scholem offenbar als Modell für

die Thematisierung des jüdischen Lebens in der Moderne. 360 Scholem, „Religiöse Autorität und Mystik“, S. 45. Vgl. auch Scholem, „Die Krise der Tradition im jüdischen Messianismus“, S. 206.361 Simmel, Das individuelle Gesetz; ders., Der Krieg und die geistigen Entscheidungen, München 1917; ders., Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, München 1922. Vgl. Leck, Georg Simmel and Avantgarde Sociology. S. 180: „Existential illiberalismwas politically undecidable and was the elemental metaphysics of both left and right politics.“

162

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Zugleich kann man mit der Dialektik von Leben und Form eine

Reintegration des an sich destruktiven Lebens in die

Kontinuität von Geschichte und Tradition gewährleisten. Die für

die Epoche der 10er und 20er Jahre im Ganzen charakteristische

eschatologische Hoffnung auf eine symbolfreie Begegnung und

Selbstbegegnung des Lebens im Sinne einer Selbstpräsenz im

Absoluten bildet sozusagen die kulturelle Folie, den

potentiellen Ausnahmezustand der Kultur, auf den Scholems

Theorie des mystischen Symbols je schon reagiert. Von hier aus

interpretiert er die Problematik jüdischer Existenz in der

liberalen Kultur und deren Tiefendimension in der Krise des

sabbatianischen Antinomismus.

Von Henry Bergsons vitalistischer Metaphysik362 bis zu Georg

Simmels früher Mystik des Lebens, Max Schelers

lebensphilosophisch geprägter Phänomenologie363 oder etwa Ludwig

Klages’ Kritik des Logozentrismus364 wird das „Leben“ zu einer

Urkategorie erhoben, das sich selbst nur in einer unmittelbar

intuitiven Anschauung zugänglich wird. Um eben dieses reinen

und absoluten Zugangs des Lebens zu sich selbst willen, bedarf

es einer umfassenden Destruktion all der traditionellen Formen,

Symbole und Gesetze, in denen das Leben sich je schon

sedimentiert hat. Nicht zufällig wird gerade bei Simmel und

Scheler der Erste Weltkrieg zu einem eschatologisch-

apokalyptischen Showdown des ekstatischen und über sich

hinausgreifenden Lebens selbst.365 362 Henry Bergson, Einführung in die Metaphysik, Jena 1916.363 Max Scheler, „Versuch einer Philosophie des Lebens“, in: ders., Abhandlungen und Aufsätze II, Leipzig 1915, S. 169–228; ders., Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg, Bd. I.2, Leipzig 1915.364 Klages, Vom kosmogonischen Eros.365 Vgl. vor allem Scheler, Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg, ders., Der Krieg und die geistigen Entscheidungen, München 1917.

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Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Ein Absolutes [kann] nur in einer Intuition gegeben werden[…], während alles übrige von der Analyse abhängig ist.Intuition heißt jene Art von intellektueller Einfühlung,kraft deren man sich in das innere eines Gegenstandesversetzt, um auf das zu treffen, was er an Einzigem undUnausdrückbarem besitzt,

schreibt Bergson und schließt: „Metaphysik ist deswegen der

Bruch mit den Symbolen“366. Bei Ludwig Klages wird die Intuition

des dionysischen Lebens gegenüber seinen Formierungen dagegen

schon auf den Begriff von Hirn und Blut gebracht. „Nicht in dem

Hirn, dem Sitz des Bewußtseins, sondern im Blut quillt die

Rauschwoge auf.“367 Ob im Krieg oder in Kunst und Philosophie,

die Destruktion ist Präludium zu einer großen Befreiung des

anarchisch-dionysischen Lebens, das also eine messianisch-

eschatologische Dimension besitzt, die damit zugleich der

Destruktion der kulturellen Lebensformen eine politische

Dimension zuweist. Mit der Befreiung von den Symbolen und

Gesetzen ereignet sich die Enthüllung des Lebens im Sinne einer

„Ankunft des Reiches“, mit der sich die ursprüngliche

Gemeinschaft des Lebens national, kommunal, universal

restituieren soll. Von dieser eschatologischen Dimension her

bezeichnen die 20er Jahre also die Wiederkehr derjenigen

mystischen Hoffnung, die seit dem Mittelalter in den

verschiedensten Formen und Transformationen die europäische und

vor allem die deutsche Geschichte beherrscht hat und die jetzt

in ihrer vitalistischen Form das Ende der Geschichte als

Befreiung des ekstatischen Lebens verkündet. Es ist die

Hoffnung auf eine in der Geschichte sich ereignende Apokalypse

366 Bergson, Einführung in die Metaphysik, S. 49.367 Ludwig Klages, „Georges künstlerische Gesinnung“, in: ders., Der Georgekreis. Eine Auswahl aus seinen Schriften, hrsg. von Georg Peter Landmann, Stuttgart 1980, S. 492.

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Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

des Gottesreiches, wie sie in der Drei-Reiche-Lehre des Joachim

di Fiori so einflußreich geworden ist, deren Quintessenz die

reine Selbstpräsenz des Menschen ohne symbolisch-normative

Vermittlung ist.368 Ob als franziskanische Messianologie oder

Reichsmystik der Stauffenkaiser, als Hoffnung des Thomas Münzer

auf die Restauration eines himmlischen Jerusalems für die Armen

und Entrechteten369 oder als Gotthold Ephraim Lessings Utopie

von einem dritten Reich der Verwirklichung der praktischen

Vernunft370, als kommunistische Utopie des Moses Hess371 oder

Ernst Blochs oder als nationalistische Hoffnung auf die

konservative Revolution bei Moeller van den Bruck372, überall

richtet sich die eschatologische Phantasie auf eine reale

Präsenz in der Geschichte, in der die Bedeutung der Symbole

sich unmittelbar, also als lebendige Realität enthüllt. Von

daher kann man den metaphysischen Intuitionismus der

Lebensphilosophie als die allen diesen mystischen Utopien

eigene Quintessenz der Hoffnung auf ein erfülltes Leben

„jenseits des Gesetzes“ auffassen. Das zu sich findende

ekstatische Leben ist das Wesen messianisch-eschatologischer

Hoffnung, in der sich freilich stets das dionysische Moment

(Nietzsche) und das anarchische Moment (Bakunin) in einer

Synthese zusammenschließen, die dann auch jenseits aller

traditionellen Zurechnung nach links oder rechts schlechthin

destruktiv sich artikulieren muß.

368 Hierzu vor allem Ernst Benz, Ecclesia Spiritualis. Kirchenidee und Geschichtstheologie in der Franziskanischen Reformation, Stuttgart 1964 (1934). Zur Geschichte der Reichsidee siehe Taubes, Abendländische Eschatologie; Voegelin, New Science of Politics.369 Vgl. Ernst Bloch, Thomas Münzer als Theologe der Revolution, München 1921.370 Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, Paragraph 87 ff., S. 508 ff. 371 Moses Hess, Die europäische Triarchie, Leipzig 1841.372 Arthur Moeller van den Bruck, Das dritte Reich, Hamburg 1931.

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Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Bedenkt man nun, daß dieser radikale eschatologisch-

destruktive Vitalismus die prägnante Form eines gegen die

neukantianische Ethik der liberalen Kultur gerichteten

Antinomismus darstellt, daß das Leben sich ekstatisch von eben

der Kultur des Gesetzes als Kultur der Selbstbestimmung des

Subjekts zu emanzipieren sucht, das gerade jüdisch-national

denkende Juden wie Gershom Scholem, Jakob Klatzkin373 oder

Theodor Lessing374 als die ultimative Form ihrer eigenen

existentiellen jüdischen Entfremdung erkannten, so erschließt

sich auch ein erster positiver Horizont, eine Umwertung aller

Werte sozusagen, die in dem anarchisch-messianischen Leben, für

das Sabbatai Zwi und Jakob Frank einstehen, nunmehr eine neue

Grundlage für die kritische Reflexion über die Kultur

kennzeichnet. Der „Aufstand des Lebens gegen das Gesetz“, wie

er die epochale Atmosphäre der Kulturkritik der zwanziger Jahre

bestimmt, ist eine Wiederkehr des durch die aufklärerische

Vernunft des Gesetzes verdrängten Lebens und damit auch der

messianischen Lebensenergie, die gerade die jüdische Lebenswelt

definiert hat. Von hierher wird die vitalistische und

antinomistische Rebellion des Lebens gegen das Gesetz der

Kultur zu einem Spiegelbild eben der Transformation der

frankistischen Lebensenergie und Destruktion in die Aufklärung,

deren Wertesystem 1920 aus der Perspektive jüdisch-

existentieller Erfahrung nur noch als die Ideologie

wahrgenommen werden konnte, die das individuelle jüdische Leben

nur dann zu integrieren bereit ist, wenn es das Judentum und

damit seine spezifische Lebensqualität liquidiert.

373 Klatzkin, Probleme des modernen Judentums; ders., Schkiat HaChajim.374 Vgl. Lessing, Der jüdische Selbsthaß.

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Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Der Prozeß der Restauration der jüdischen Tradition setzt so

voraus, daß eben zuallererst die messianische Dimension des

Lebens in ihrer anarchisch-dionysischen und vor allem auch in

ihrer destruktiven Gewalt rehabilitiert wird, symbolisiert

diese doch die Möglichkeit einer Rückkehr zu dem epochalen

Augenblick, in dem das Leben und mit ihm die Stimme der

Offenbarung durch die aufklärerische Moderne verdrängt worden

sind. In diesem Sinn besteht Scholem bekanntlich auf der

Genealogie der Aufklärung als Verdrängung ihrer sabbatianischen

Ursprünge.

Unser Bild von der inneren Geschichte des Judentums amVorabend der Emanzipation ist nicht vollständig. DieGeschichte der Verwandlung eines ungeheuren positivenAuftriebs und messianischen Hoffens in eine halb oder ganznihilistische Geisteshaltung, die Einflüsse dieserGeisteshaltung auf sehr weite Schichten der Gelehrten undUngelehrten unter den Juden des 18. Jahrhunderts und dasschließliche Umschlagen solch mystischen Nihilismus in dieGeisteshaltung der Aufklärung ist schwerer zu schreiben alsjedes andere Kapitel unserer neueren Geschichte.375

Die lebensphilosophische Kritik des Gesetzes und des Symbols

als Grundlage für eine Kritik der jüdischen Selbstentfremdung

in der neukantianisch geprägten liberalen deutsch-jüdischen

Kultur erlaubt ein Wiederanknüpfen an die verschüttete

Dimension des jüdischen Lebens im Sinne eines Anfangs, der

dieses anarchisch-destruktive Leben allerdings in eine Theorie

des kabbalistischen Symbols integriert und so zuletzt

„kultiviert“. In mancher Hinsicht bezeichnet dieses Anknüpfen

an die messianische Tradition des Lebens den Beginn einer

national-zionistischen Rückbesinnung, die Scholem allerdings

nur als Ausgangspunkt gelten läßt, um sofort vehement vor der

375 Scholem, Zum Verständnis des Sabbatianismus, S. 2 f.167

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

destruktiven Gewalt des Messianischen im Kontext des

„Politischen“ zu warnen. Eine solche Reintegration des Lebens

zurück in die Tradition setzt also voraus, daß der in den

radikalen Lebensanschauungen vertretene Intuitionismus

dialektisch zu überwinden ist.

Eine solche dialektische Überwindung der Dichotomie von Leben

und Form, Leben und Gesetz oder Leben und Symbol findet sich

schon bei dem späten Georg Simmel, der damit den von ihm

anfangs so exzessiv inszenierten Krisencharakter der Kultur zu

beheben versucht. Simmel erinnert in seinem Essay

Lebensanschauung von 1918 zunächst an diese tragische Dimension

der Kultur.

Möglichst kurz und allgemein formuliert ist es dies: daß dasLeben auf der Stufe des Geistes, als seine unmittelbareÄußerung objektive Gebilde erzeugt, in denen es sichausdrückt und die wiederum, als seine Gefäße und Formen,seine Weiterströmungen in sich aufnehmen wollen, während ihreideelle und historische Festgelegtheit, Umgrenzung undStarrheit früher oder später in Gegensatz und Gegnerschaft zudem ewig variablen, grenzverwischenden, kontinuierlichenLeben treten.376

Kann das Leben so gegenüber seiner Entäußerung in den Formen

der Kultur sich selbst nur begrenzt repräsentieren, so bedeutet

dies für Simmel, daß eben an dieser Antithetik von Leben und

Form das zutiefst dialektische Wesen des Lebens im Sinne seiner

formalen Daseinsstruktur sich erfassen läßt. Das Wesen des

Lebens ist Transzendenz, das heißt, es ist, indem es dieses

Sein negieren kann. Leben ist Setzung und Überschreitung in

einem.

Dies ist das einzige, was uns der Verzweiflung über sie, überunsere Beschränktheit und Endlichkeit zu entheben vermag: daß

376 Simmel, Lebensanschauung, S. 160 f.168

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

wir nicht einfach in diesen Grenzen stehen, sondern weil wiruns ihrer bewußt sind, sie überflügelt haben. Daß wir unserWissen und Nichtwissen selbst wissen und auch diesesumgreifende Wissen wiederum wissen und so fort in daspotentziell Endlose – dies ist die eigentlich Unendlichkeitder Lebensbewegung auf der Stufe des Geistes. Hiermit istjede Schranke überschritten, aber freilich nur dadurch, daßsie gesetzt ist, daß also etwas zu überschreiten da ist. Mitdieser Bewegung in der Transzendenz seiner selbst erst zeigtsich der Geist als das schlechthin Lebendige.377

Die Leben-Form-Problematik kommt damit in der Struktur dessen,

was Simmel die formale Struktur des Daseins bezeichnet, zu

einer Lösung, die Leben und Form nunmehr im Sinne der

dialektischen Logik des Geistes bei Hegel für die Struktur des

individuellen Lebens reformuliert.

Die einfachste und grundlegendste Tatsachenform des hierGemeinten ist das Selbstbewußtsein, das zugleich dasUrphänomen des Geistes als eines unendlich-lebendigenüberhaupt ist. Indem das Ich nicht nur sich selbst sichgegenüberstellt, sich, als das wissende, zum Gegenstandseines eigenen Wissens macht, sondern auch sich wie einendritten beurteilt, sich achtet oder verachtet, und damit übersich selbst stellt, überschreitet es dauernd sich selbst undverbleibt doch in sich selbst, weil sein Subjekt und Objekthier identisch sind. Es legt diese Identität, da sie keinesubstanzialistische ist, in den geistigen Lernprozeß desSich-selbst-wissens auseinander.378

Damit behauptet Simmel eine notwendige und unauflösliche

Bezogenheit von Leben und Form, von Absolutem und Konkretem

aufeinander, die dann auf der Ebene der symbolischen Form bei

Scholem die Reintegration des mystischen Lebens ermöglicht, das

bei Sabbatai Zwi ungebrochen und unvermittelt alle symbolische

und gesetzliche Form vernichtet und in solcher Destruktion

gerade die unerläßliche Dialektik von Leben und Form sowie

377 Ebd., S. 7.378 Ebd., S. 14.

169

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Leben und Symbol einfordert. In beiden Fällen, der Katastrophe

des Lebens in der Kultur und der sabbatianischen Krise des

mystischen Lebens, führt die Katastrophe zu einer Rückbesinnung

auf die formale Grundstruktur von Leben und damit zu einer

Neubegründung von Leben und mystischer Subjektivität als

dialektischem Sein.

In diesem Kontext nun scheint vor allem Ernst Cassirers

Philosophie der symbolischen Formen für die Reformulierung der Leben-

Form-Problematik auf der Ebene des Symbols eine wichtige Rolle

für Scholems Kabbala der symbolischen Formen zu übernehmen.

Zumindest ist doch die Affinität zwischen beiden unübersehbar.

So formuliert Cassirer das Problem von Leben und Form für den

Zusammenhang von Leben und Symbol so, daß an ihm die

spezifische Symbolizität des Symbols in eben dem Sinn

transparent wird, den Scholem auf der Grundlage der

sabbatianischen Reduktion immer schon als Dialektik von

Gestaltlosigkeit und Gestalt behauptet.

Die reine Unmittelbarkeit des Lebens […] kann […] nur ganzoder gar nicht geschaut werden: sie tritt in die mittelbarenDarstellungen, die wir von ihr versuchen, nicht ein, sondernbleibt als ein prinzipiell anderes, ihnen Entgegengesetztesaußerhalb ihrer stehen. Nicht in irgendeiner Form derRepräsentation, sondern nur in der reinen Intuition läßt sich derursprüngliche Gehalt des Lebens erfassen. […] Es gilt dieEntscheidung, ob wir das Substantielle des Geistes in seinerreinen Ursprünglichkeit […] suchen – oder ob wir uns derFülle der Vielfaltigkeit eben dieser Vermittlungen hingebenwollen.379

Tatsächlich geht Cassirer also davon aus, daß die „Negation der

symbolischen Formen […], statt den Gehalt des Lebens zu

erfassen, vielmehr die geistige Form zerstören [würde], an

379 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, S. 49.170

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

welche dieser Gehalt sich für uns notwendig gebunden weiß“380.

Diese Grundannahme bestimmt Cassirers ganze Philosophie der

symbolischen Formen und hier insbesondere seine Theorie des

religiösen Symbols, die als Dialektik von Mythos und Religion

die fundamentale semiotische Differenz von Intuition und

faktischer Kapazität des Symbols in Bewegung setzt. Die

religiöse Symbolik, die Gottes „namenlose Nichtigkeit“

auszusprechen versuche, sei insofern der Versuch, die „Gestalt

der Gestaltlosigkeit“381 zu konstruieren. Damit ist „das

Symbolische […] nicht als der Gegensatz des Objektiven, Realen

zu denken, sondern es ist das Geheimnisvolle, Gottgewirkte, dem

das Natürliche gegenübersteht.“382

380 Ebd.381 Der Begriff der „Gestalt der Gestaltlosigkeit“ findet sich, so sehr er sich anhört, als stamme er aus Scholems Symboltheorie der Kabbala, in ErnstCassirers, Philosophie der symbolischen Formen (Bd. II, S. 307). Es lohnt sich, einmal das Kapitel „Die Dialektik des mythischen Bewußtseins“ zu lesen. Vgl. S. 306 f.: „Aber auch hier ist es die Mystik, die den Versuch unternimmt, den reinen Sinn der Religion als solchen, unabhängig von jeder Behaftung mit der ‚Andersheit‘ des empirisch-sinnlichen Daseins und der sinnlichen Bild- und Vorstellungswelt, zu gewinnen. In ihr wirkt sich die reine Dynamik des religiösen Gefühls aus, die alle starre und äußere Gegebenheit abzustreifen und aufzulösen bestrebt ist. [...] Demgemäß stößt die Mystik wie die mythischen, so auch die historischen Elemente des Glaubensinhalts von sich ab. [...] Um zur Erfassung des Göttlichen zu gelangen, müssen zuvor alle Bedingungen des endlichen und empirischen Seins, des ‚Wo‘, des ‚Wann‘ und des ‚Was‘ abgestreift werden. Gott hat – nach Eckhardt und Suso – kein Wo, er ist ‚ein zirkeliger Ring, des Ringes mittler Punkt allenthalben [...] und sein Umschwank nirgend‘, und ebenso ist jeder Unterschied und Gegensatz der Zeit, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in ihm ausgelöscht: seine Ewigkeit ist ein gegenwärtiges Jetzt,das nichts von der Zeit weiß. So bleibt ihm nur die ‚namenlose Nichtigkeit‘, die Gestalt der Gestaltlosigkeit. Immer droht auch für die christliche Mystik die Gefahr, daß diese Nichtigkeit und Gehaltlosigkeit wie das Sein, so auch das Ich ergreift.“ Paul Tillich hat die von Cassirer beschriebene Dialektik explizit zur Grundlage seiner Theorie des theologischen Symbols erhoben: „Das Göttliche ist erfaßt als das Unbedingte, Seins-Jenseitige, es geht nicht ein in Raum und Zeit. Aber es ist nur anschaubar in Symbolen, die raum-zeitlichen Charakter haben.“ Paul Tillich, Mythos und Mythologie, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 5, Berlin, 1964,S. 189.382 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, S. ?

171

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Wenn also die sabbatianische Destruktion für Scholem den

Stellenwert bezeichnet, den die destruktive Intuition in der

kritischen Lebensphilosophie einnimmt, so bedeutet das zunächst

nicht nur eine Reintegration eben der Kategorie des Lebens

gegen seine rationalistische Reduktion und Auflösung, sondern

die Reinterpretation dieses Lebens als unerreichbaren Grund

einer jeden Semiotik. Leben ist der Grund aller symbolischen

Form und als solches die Gestaltlosigkeit vor und in jeder

Gestalt.

Am Sabbatianismus geht dem Religionsphilosophen nicht nur das

problematische Wesen aller Eschatologie und Apokalypse auf,

sondern das Wesen des religiösen und theologischen Symbols,

insofern dieses die Lebensquelle bzw. das Leben selbst

symbolisiert und in solcher Symbolizität immer schon in der

Gefahr steht, eschatologisch oder apokalyptisch suspendiert zu

werden. Das Leben will sich selbst in der unverstellten und

unmittelbaren Transparenz seiner selbst „haben“. Im Symbol des

Lebens liegt damit immer schon die eschatologische Tendenz zu

seiner Selbstaufhebung. Das Leben drängt zu einer unmittelbaren

Intuition, mit der es den Prozeß der unendlichen Vermittlung

durch das Symbol durchbricht. Wenn Bergson Metaphysik bestimmt

als „den Bruch mit den Symbolen“, so formuliert er damit nicht

seine private metaphysische Ansicht, sondern das metaphysische

Wesen des Lebens selbst, das im Sabbatianismus sowohl seinen

spezifisch jüdischen als auch seinen spezifisch politisch-

theologischen Ausdruck erhält.

Scholem betont gerade diese Tendenz zur Selbstaufhebung des

Symbols im Sinne einer inhärenten eschatologisch-

apokalyptischen Tendenz, die auf die Aufhebung der symbolischen

172

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Distanz drängt. Er spricht geradezu von einer im religiösen

jüdischen Leben angelegten „Verführung“, die das von Halacha

und Philosophie errichtete Tabu gegen die messianische

Unmittelbarkeit, gegen einen aus solcher Unmittelbarkeit

folgenden Aktivismus zu durchbrechen sucht.383 Die spezifische

Qualität der Verführung rührt dabei auch von der Tatsache her,

daß das Messianische in der illusorischen Gestalt sich

gleichsam als Fata Morgana einer idealen Realisierung des

Lebens darstellt.

Dieser Projektion des Besten im Menschen auf seine Zukunft,wie sie gerade der jüdische Messianismus in seinen utopischenElementen so gewaltig herausstellte, wohnt die Verführung zurAktion, der Aufruf zum Vollzug inne.384

Die Deutung der sabbatianischen Krise des Lebens in ihrer

ganzen restaurativen Tiefendimension vornehmen, heißt so

zunächst, diese Tendenz des Symbols zur Selbstsuspension

ihrerseits symbolisch zu kodifizieren. Eine solche 383 Vgl. den Abdruck eines Briefes von Scholem an Salman Schocken von 1937: „Denn der Berg, das Korpus der Dinge, bedarf gar keines Schlüssels; nur dieNebelwand der Historie, die um ihn hängt, muß durchschritten werden. Sie zudurchschreiten – daran habe ich mich gemacht.“ (Biale, Gershom Scholem. S. 215) Scholem erklärt dem großen Verleger nicht nur seine Absicht, die „Metaphysik der Kabbala zu schreiben“, sondern inszeniert geradezu diese Metaphysik als Verführung zum Durchbruch. In diesem Sinne scheint mir Scholems „Schreiben“ nicht im Sinne einer postmodernen „écriture“ darstellbar, wie dies Daniel Weidner (Gershom Scholem: Politisches, esoterisches und historiographisches Schreiben, München 2003) vorschlägt, sondern eher wie ein Schreiben um dieses offene Problem der Gestalt der Gestaltlosigkeit herum, also als Akzeptanz der Unüberschreitbarkeit des Symbols und des Überschreitungsversuchs zugleich. Die metaphysische Problematik wird zu derdes Schreibens, das diese einzuholen versucht (ist).384 Scholem, „Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum“, S. 33 f. Zur Unterscheidung von Mystik und Messianismus bei Scholem vgl. Josef Dan, „Gershom Scholem and Jewish Mysticism“, in: Paul Mendes-Flohr (Hrsg.), Gershom Scholem. The Man and his Work, New York 1994, S. 74: „By treating each asan individual historical and cultural form, and by analysing their seperatehistorical development Scholem showed that each is an independent element of Jewish spiritual life.“ Die Pointe der Unterscheidung liegt freilich darin, zu zeigen, daß diese Differenz mit der lurianischen Kabbala und dannim Sabbatianismus aufgehoben wird (ebd., S. 77 ff.).

173

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Symbolisierung der spezifisch apokalyptischen Funktionsweise

des Symbols ortet Scholem immer wieder in der kabbalistischen

Symbolik selbst. So sei dieser Tatbestand vorbildlich etwa in

dem Symbol von den beiden paradiesischen Bäumen symbolisch

formuliert.

Diese Symbole sind der Baum des Lebens und der Baum derErkenntnis oder des Wissens von Gut und Böse, der, weil seineFrucht den Tod mit sich trägt, auch der Baum des Todes heißt.Diese Bäume beherrschen jeweilig den Stand der Welt, sei esder Schöpfung überhaupt, sei es der Tora als des siedurchwaltenden und bestimmenden göttlichen Gesetzes. ImZentrum des Paradieses stehend, höhere Ordnungenrepräsentierend, beherrschen sie dort vielmehr als dasparadiesische Dasein allein. Seit Adams Fall ist die Weltnicht mehr vom Baum des Lebens regiert, wie es ihreursprüngliche Bestimmung war, sondern vom Baum derErkenntnis. Der Baum des Lebens stellt die reine,ungebrochene Macht des Heiligen dar, die Ausbreitung desgöttlichen Lebens durch alle Welten und die Kommunikation, inder alles Lebendige mit seinem göttlichen Ursprung steht. Inihm gibt es keine Beimischung des Bösen, keine Schalen, diedas Lebendige eindämmen und ersticken, keinen Tod und keineBeschränkung. Seit Adams Fall aber […] ist die Welt vomMysterium des zweiten Baumes beherrscht, in dem Gut und Böseihre Stelle haben. Daher gibt es unter der Herrschaft diesesBaumes in der Welt geschiedene Sphären, die des Heiligen unddes Profanen, des Reinen und des Unreinen, des Erlaubten unddes Verbotenen, des Lebendigen und des Toten, des Göttlichenund des Dämonischen. […] In der messianischen Erlösung aberbricht der volle Glanz des Utopischen wieder hervor […]. Ineiner Welt, in der die Macht des Bösen gebrochen ist,verschwinden auch all jene Scheidungen, die sich aus seinerNatur herschreiben. In einer Welt, in der nur noch das reineLeben waltet, haben die Verfestigungen des Lebensstromes,seine Verkürzungen im Äußerlichen und in Schalen keineGeltung und keinen Sinn mehr.385

Unübersehbar ist zunächst auch hier die Parallele zwischen der

Rhetorik der Lebensphilosophie und der der kabbalistischen

385 Ebd., S. 149 f.174

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Mystik, wie sie Scholem hier in der Begrifflichkeit des Lebens

rekonstruiert. Der Satz: „In einer Welt, in der nur noch das

reine Leben waltet, haben die Verfestigungen im Äußerlichen und

in Schalen keine Geltung und keinen Sinn mehr“ könnte so

jedenfalls in der Tat in einem lebensphilosophischen Traktat

von Georg Simmel stehen. Man könnte noch andere von den

sabbatianischen Mystikern messianisch eingesetzte, klassisch

kabbalistische Symbole zitieren. In all diesen Symbolen geht es

um die Kodifizierung der utopischen Tendenz des Symbols, sich

selbst aufzuheben. Der Sinn all dieser „Metasymbole“ liegt

damit sowohl in der Bezeichnung der dem Symbol inhärenten

utopischen Tendenz zur Selbstsuspension, als auch in der

Warnung vor dieser dem Symbol innewohnenden Tendenz, mit der

die mystische Kompetenz absolut und destruktiv überschritten

wird.

IV Von der Gnosis zur Ethik des Symbols

Enthält die utopische Grammatik des Symbols aber einen

spezifischen symbolischen Code der Auflösung des Symbols, so

ist diese Struktur des Symbols, zumal des Symbols des Lebens,

ontologisch in der Seinsweise Gottes, und das heißt

religionsgeschichtlich, in der mystischen Gnosis des Judentums

verankert, die Gott in der Doppelform von Wesen und Existenz,

vom Grund aller Symbolizität und seiner realen, symbolisch

artikulierten Erscheinung beschreibt. Ist aber diese mystische

Gnosis der eigentliche Grund für die Katastrophe des mystischen

Lebens im Sabbatianismus, so wird sie potentiell, also aus der

175

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

postsabbatianischen Perspektive zu der Bedingung der

Möglichkeit nicht nur aller Symbolizität, sondern, insofern das

Symbol an sich nicht überschreitbar ist (ohne destruktiv sich

zu entladen), zu der durchaus positiven Bedingung eines

symbolischen Pluralismus, dessen fundamentaler Sinn ein

ethischer ist. Die gnostische Verdopplung Gottes in Wesen und

Erscheinung als ontologischer Grund der semiotischen Differenz

zwischen Zeichen und Bezeichnetem ist damit die permanente

reelle Gefahr, die zugleich immer schon die Möglichkeit einer

Rettung enthält. Scholems Kabbala der symbolischen Formen

setzt, indem sie die historischen, strukturellen, ontologischen

und semiotischen Bedingungen der Katastrophe und Destruktion

jüdischer Lebensordnung über die Analyse des Sabbatianismus

freilegt, zu einer positiven Reinterpretation dieser Krise an,

die die Destruktion selbst positiv messianisch wenden wird.

Gnosis bedeutet aus der Perspektive des kritischen Bewußtseins

von der Funktionsweise des Symbols, daß erstens, insofern jedes

Symbol Gottes Wesen zugleich ent- und verhüllt, jedes Symbol

prinzipiell legitim ist und daß es zweitens, insofern jede

Autorität prinzipiell eine Autorität ist, die auf Deutung

beruht, keine Autorität im klassischen Sinne mehr gibt, daß

also jede symbolische Autorität prinzipiell legitim ist. Damit

aber läßt sich die Gnosis hier als Voraussetzung für eine

radikale pluralistische Ethik auffassen, die die orthodoxe

Lebensform mit all den jüdischen Lebensformen vom konservativen

und Reformjudentum bis zum jüdischen Säkularismus im Sinne

eines Ensembles legitimer Lebensformen nebeneinanderstellt,

ohne deren Differenzen zu leugnen und ohne daß einer dieser

176

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Deutungen ein dominanter Status zukommen könnte.386 Wenn so die

sabbatianische Katastrophe die symbolische Dimension aller

Mystik und Theologie unverrückbar zu Bewußtsein bringt und

damit die gnostische Grundlage der jüdischen Mystik freilegt,

so können beide – Gnosis und Symboltheorie – zu einer positiven

Grundlage der jüdischen Moderne im Sinne einer Rettung jener

Werte der Aufklärung werden, die als Instrument bürgerlicher

Herrschaft und vor allem als Politik, die die jüdische

Individualität durch das universale Gesetz zu vernichten droht,

durch die Rückbindung an die verborgene Dimension des Lebens

zunächst negiert werden sollten. Der Protest des jüdischen

Lebens war als „Aufstand gegen das Gesetz“ zunächst gerade

gegen die Gesetzeslehre der Aufklärung und der liberalen Kultur

gerichtet und lieferte den anarchisch-destruktiven Impetus für

die jüdisch-nationale Selbstbesinnung. Aber dieser Impetus

sollte nicht nur destruktiv wirksam werden, er bedurfte wie die

radikale Lebensphilosophie einer Reintegration des verdrängten

und verborgenen Lebens in die Form – durch eben die Form, das

Gesetz und vor allem das Symbol –, von der her der „Aufstand

gegen das Gesetz“ zu einer dialektischen Aufhebung des Lebens

im Gesetz führen konnte, die dem Leben nunmehr seine

spezifische Gesetzlichkeit im Ensemble der anderen Lebensformen

und Lebensgesetze einräumt und zuweist. Voraussetzung für diese

Reformulierung des Gesetzes als individuelles Gesetz ist

386 Es wäre zu überlegen, inwieweit Scholems Deutung der kabbalistischen Gnosis nicht auch als eine Position in der Diskussion über die Legitimität der Neuzeit sich auffassen läßt, wie sie in Blumenbergs Die Legitimität der Neuzeit gegen Voegelins Gnosisverdacht (The New Science of Politics) formuliert wird. Vgl. Taubes, Gnosis und Politik. In jedem Fall läuft Scholems Theorie der jüdischen Gnosis auf eine mögliche Rettung der Gnosis für die Moderne hinaus, die also nicht zu überwinden, sondern nur anders zu interpretieren wäre.

177

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

allerdings die Zerstörung der absoluten Autorität, sei sie

halachisch (Moses) oder messianisch (Zwi).

Die Kabbala der symbolischen Formen als eine jüdische

Fortsetzung der Aufklärung auf der Grundlage der Dialektik von

Leben und Form ist in ihrem Kern eine durch das Symbol

begründete Ethik, die sowohl die Idee einer Vollendung von

Geist und Kultur in der Geschichte, wie sie Hegel denkt, wie

auch die absolute Liquidation von Geist und Kultur radikal

verwirft. In dieser Zwischenstellung zwischen einer

Verabsolutierung der Form und des Geistes einerseits und der

Verabsolutierung des Lebens andererseits erinnert Scholems

Kabbala der symbolischen Formen auch hier an die spezifische

Symbolethik, wie sie für Ernst Cassirers Denken

charakteristisch ist und wie sie sich für den Philosophen des

Symbols in einmaliger Weise in der rationalen Mystik des

Nikolaus Cusanus kristallisiert hat – als die dem Leben eigene

notwendige Selbstbegrenzung und Offenheit für die andere

Lebensform.

Der Glaubensinhalt selbst ist, soweit er immer und notwendigmenschlicher Vorstellungsinhalt ist, zur „conjectura“geworden: er untersteht der Bedingung, das Eine Sein und dieEine Wahrheit nur in der Form der „Andersheit“ aussprechen zukönnen. Dieser Andersheit, die in der Art und im Wesen dermenschlichen Erkenntnis selbst begründet ist, kann sich keineeinzelne Glaubensform entziehen. Jetzt tritt also nicht mehreiner allgemein-gültigen und einer allgemein-verbindlichen„Orthodoxie“ eine Fülle bloßer „Heterodoxien“ gegenüber;sondern die Andersheit, das heteron ist als das Grundmomentder doxa selbst erkannt. Die Wahrheit, die in ihrem An sichunangreifbar und unfaßbar bleibt, kann nur in ihrerAndersheit gewußt werden. […] Von dieser Grundansicht ausergibt sich für Cusanus eine wahrhaft großartige „Toleranz“,die aber alles andere als Indifferenz ist. Denn die Mehrheitder Glaubensformen wird jetzt nicht als ein bloßes

178

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

empirisches Nebeneinander geduldet, sondern sie wirdspekulativ gefordert und erkenntnistheoretisch begründet. Indem Dialog „De pace fidei“ erhebt einer der Abgesandten derVölker, ein Tartare, gegen die geplante Glaubensvereinigungden Einwand, daß sie angesichts des radikalen Unterschiedsnicht nur der theoretischen Grundanschauungen, sondern auchder Gebräuche und Sitten unvollziehbar sei. Kann es einengrößeren Gegensatz geben, als daß die eine Religion dieVielweiberei erlaubt, ja gebietet, die andere sie zumVerbrechen macht, – daß im christlichen Meßopfer der Leib unddas Blut Christi genossen wird, während eben dies jedemNicht-Christen, als Verschlingen und Verzehren desHeiligsten, fluchwürdig und abscheulich erscheinen muß? „Sobegreife ich nicht, wie in all diesem, was nach Ort und Zeitwechselt, sich je eine Einigung ergeben sollte: und, solangedies nicht geschieht, wird auch die Verfolgung kein Endenehmen. Denn die Verschiedenheit erzeugt Trennung undFeindschaften, Haß und Krieg.“ Aber gegen diesen Einwurf wirdnun von dem göttlichen Wort Paulus zur Entscheidungangerufen. Es muß gezeigt werden – so fällt er dieseEntscheidung – daß die Erlösung der Seele nicht nach ihrenWerken, sondern nach ihrem Glauben dargeboten wird; dennAbraham, der Vater aller Gläubigen, mögen sie nun Christenoder Araber oder Juden sein, glaubte an Gott und dies dientezu seiner Rechtfertigung. Hier fällt also jede äußereSchranke: anima justi haereditabit vitam aeternam. Nimmt mandies an, so bildet auch jene Verschiedenheit der Riten keinHemmnis mehr: denn alle Einrichtungen und Gebräuche sind nursinnliche Zeichen für die Wahrheit des Glaubens und nur dieseZeichen, nicht das Bezeichnete, unterliegt dem Wechsel undder Veränderung. […] Man sieht, wie der Kosmos der Religionenfür Cusanus dieselbe Nähe und Ferne zu Gott, dieselbeunverbrüchliche Identität und dieselbe unaufheblicheAndersheit, dieselbe Einheit und dieselbe Besonderungaufweist […].387

Auch für Scholem gilt dieses Prinzip symbolischer Einschränkung

und Offenheit für Andersheit. Doch ist das mystische Leben bei

Scholem auch und zuerst jüdisches Leben und ist damit im

Judentum zentriert, hat also eine primär nationale Dimension,

387 Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, S. 31 f. 179

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

die aus der Perspektive der Liquidierung eben dieser nationalen

und individuellen Dimension in der liberalen Kultur den

Ausgangspunkt bilden muß. Aber indem die messianische Dimension

des Lebens durch das Symbol „aufgehoben“, also sowohl bewahrt,

erhöht und überwunden wird, kann das im Symbol transformierte

Leben hier zur Grundlage zunächst einer nationalen Ethik

werden, die sich allerdings zugleich radikal offen für die

(nationale und religiöse) Andersheit hält. Damit aber ergibt

sich hier keine Ethik auf der Grundlage des jüdischen

Messianismus wie etwa bei Hermann Cohen oder Martin Buber,

sondern Scholem begründet seine Ethik aus der Neutralisierung

des Messianischen. Diese Neutralisierung ermöglicht zunächst

einen radikalen Pluralismus auf der nationalen Ebene, also

einen Pluralismus jüdischer Lebensformen, setzt aber diese

nationale Ebene ihrerseits als eine symbolische Deutungsebene,

die damit an sich selbst wieder eine Einschränkung darstellt,

die der Andersheit bedarf. Scholem unterscheidet so

folgerichtig zwischen einer jüdischen Binnenethik und einer

Ethik, die die jüdische Symbolsprache in das Ensemble der

anderen, potentiell einander widersprechenden religiösen

Symbolsprachen integriert. Zwischen beiden, innen und außen,

verläuft eine Grenze, deren Sinn zunächst in der unbedingten

Bejahung jüdisch-nationaler Existenz liegt. Diese bildet aber

in der Bejahung keinen Widerspruch zur universalen

Gesetzlichkeit der praktischen Vernunft, sondern deren

individuelle Ergänzung und Erfüllung. Die „Gestaltlosigkeit der

ursprünglichen Erfahrung“ ermöglicht also nicht nur die

Koexistenz des Divergenten im Binnenraum der jüdischen Kultur,

sondern interpretiert diesen Binnenraum der jüdischen Kultur

180

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

als eine religiöse Symbolform unter anderen, die auf Grund

ihrer eigenen Beschränkung die anderen Symbolformen, wie

Cassirer für Cusanus feststellt, einfordert. „Warum sieht

eigentlich ein christlicher Mystiker immer wieder christliche

Visionen und nicht die eines Buddhisten?“ fragt Scholem,

warum sieht ein Buddhist die Gestalten seines eigenenPantheons und nicht etwa Jesus oder die Madonna? Warum trifftein Kabbalist auf seinem Wege der Erleuchtung den ProphetenElias und keine Figur aus einer ihm fremden Welt? Die Antwortist natürlich, daß der Ausdruck ihrer Erfahrungen sich sofortin traditionelle Symbole aus ihrer eigenen Welt umsetzt, auchwenn die Objekte dieser Erfahrung im Grunde dieselben sindund nicht etwa […] wirklich im Grunde ganz verschiedene.388

Wenn aber in letzter Instanz die Symbole konvergieren, sich in

einer coincidentia oppositorum aufheben, so bedeutet das gerade

nicht, daß sie obsolet werden und durch eine Metasprache der

Vernunft ersetzt werden könnten, sondern sie stehen für den

besonderen Status traditioneller Lebensformen, die sich

allerdings als Deutungen „desselben“ wissen und einander in

offen kritischer Kommunikation begegnen können.

V Sabbatai Zwi als der Messias der jüdischen Moderne

Der Sabbatianismus öffnet sich aus der historischen

Perspektive, wie sie Gershom Scholem Schritt für Schritt

entwickelt, einer möglichen positiven Deutung, die nicht nur

die durch Sabbatai Zwi bewirkte Destruktion im Sinne einer

Restauration zu überwinden hofft; Sabbatai Zwi erweist sich

nicht nur als ein mögliches Indiz für den positiven Charakter 388 Scholem, „Religiöse Autorität und Mystik“, S. 26 f. Vgl. mein Buch Der häretische Imperativ, S. 150.

181

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

der Gnosis für die Moderne, sondern – dies wäre dann die

radikale Konsequenz aus den bisherigen Überlegungen zu Scholems

Kabbala der symbolischen Formen – er muß im Rahmen dieser

Rekonstruktion durchaus als der Messias der jüdischen Moderne

begriffen werden. Er ist allerdings, um mit dem Benjamin des

„Theologisch-politischen Fragments“ zu sprechen, der Messias,

der das (moderne) Judentum gerade von dem Messianischen befreit

und ihm damit eine neue Beziehung (auf der Grundlage der

symbolischen Theorie) zu diesem ermöglicht.389 In der Tat:

Bedenkt man, daß und wie oft Scholem darauf hinweist, daß das

Absolute an sich, das reine Leben, die messianische Vitalität

etc. in der konkreten Realität von Geschichte und Politik nur

destruktiv wirken kann, daß das Messianische zwar die

Verführung des Lebens schlechthin ist, zugleich sich aber nur

in der Zerstörung darstellen kann, dann allerdings ist das

Erlösungs- als Zerstörungswerk des Sabbatai Zwi nicht nur

exemplarisch für die Aporie des messianischen Lebens. Gerade

weil Sabbatai Zwi, anders als die sogenannten Pseudo-Messiasse

vor ihm – Bar Kochba, David Alroy und andere – keine rein

politisch-theologische Befreiungstat beging, sondern das

metaphysisch-theologische Wesen aller messianischen Befreiung

inszeniert hat, kann sich an ihm sozusagen ein für allemal

erhellen, daß das Messianische keine reale Möglichkeit

jüdischer Existenz und Politik darstellt. Im Gegensatz zu

Scholems vehementem Insistieren, daß das Messianische im

Judentum anders als im Christentum eben ein öffentliches und

389 Benjamin, „Politisch-theologisches Fragment“, S. 203. Damit hätte BaruchKurzweil, BaMaavak al Arkenu HaJehudiim, Jerusalem 1969, recht, wenn er Scholem für einen Sabbatianer hält, der selber die Konjunktion von Sabbatianismus und Zionismus vertritt, nur eben in dem negativen Sinn, daß Sabbatai Zwi die Erlösung vom Messianischen bezeichnet.

182

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

historisches Ereignis sei, ist die ganze restaurative Energie

seiner Forschungsarbeit auf die Gegenthese hin angelegt, daß

das Messianische als öffentlich-politisches Ereignis die

Katastrophe kat exochen bedeutet.390 Das Zerstörungswerk des

Sabbatai Zwi erhält aus der Perspektive der symbolisch-

metaphysischen Restauration damit allerdings den positiven Sinn

einer notwendigen, im Wesen der mystischen Theologie angelegten

Zerstörung, die aus der Perspektive rückblickender Erinnerung

zugleich als „Heilung“ von aller messianischen Politik zu

begreifen ist. Sabbatai Zwi wird in Gershom Scholems Theorie

der Kabbala, die alle Formen sabbatianischer Theologie von

Nathan von Gaza bis Abraham Cardoso kennt, zum Messias, dessen

Funktion aber in der Befreiung von dem Messianischen liegt. Es

ist gleichsam die List der symbolischen Vernunft der Kabbala,

die dieses Zerstörungswerk in ein solches – vom Messias aus

gesehen – unbewußtes Werk der Heilung zu transformieren vermag.

Damit aber soll die Zerstörungstat in ihrem fundamentalen

Scheitern zum Zeichen und Symbol der Unmöglichkeit des

Messianischen in der realen Geschichte werden. Sie wird zum

zweiten Ereignis einer Zerstörung des Tempels, nämlich des

Tempels der Moderne, die in dem politischen Messianismus

beziehungsweise der politischen Theologie der Realisierung des

Gottesreiches ihr eigenes Wesen behaupten will und es doch in

der Zerstörung immer wieder widerlegt. Da also, wo die

halachische Ordnung beziehungsweise das durch die jüdische

Philosophie des Mittelalters errichtete Tabu gegen jeden

Messianismus in Gefahr gerät, da, wo jene exilarische

390 Vgl. Gershom Scholem, „Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum“. Hierzu Taubes, „Der Preis des Messianismus“, in: ders., Vom Kult zur Kultur.

183

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Lebensordnung nach der Zerstörung des Tempels durch einen

mystischen Geist des Messianismus bedroht ist, da gilt es nun

nach der sabbatianischen Destruktion, eine neue Ordnung zu

schaffen, die nicht nur, wie die symbolische Lebensform, eine

eigene moderne Tragfähigkeit besitzt, sondern es gilt, im Drama

des Sabbatai Zwi die Zerstörung des Messianismus als Symbol zu

kommemorieren, das somit – wie der zerstörte Tempel von 70 nach

Christus – als unmißverständliches Warnzeichen die Restauration

des Lebens kodifiziert.391 Die neue symbolische Lebensordnung,

die die halachische Lebensordnung ersetzt, bedarf ihres eigenen

Gründungssymbols, das diese Ordnung vor ihrer Zerstörung

schützen soll.

Damit steht Gershom Scholems „Kabbala der symbolischen

Formen“ für eine nachmoderne politische Theologie des

Judentums, die im Symbol dieses ultimativen Scheiterns aller

messianischen Aktion diejenige politische Theologie der Moderne

verabschiedet, die auf der Theorie und Praxis einer historisch

aktiven Transformation des Gottesreiches auf Erden beruht. Mit

dem sabbatianischen Symbol der Zerstörung, das im Prinzip

symbolisch errichtet wird, um den Kosmos der Symbole

funktionsfähig zu machen, das heißt für eine symbolische Ethik

zu öffnen, wird Scholems Theorie selbst zu einer Theologie des

391 Vgl. Nahum Norbert Glatzer, Geschichte der talmudischen Zeit, Berlin 1937, S. 31: „Der messianische Glaube an die Errichtung des Gottesstaates verhieß nicht eine Erhebung des Menschen über sein irdisches Werk, und hob die Pflicht des Menschen, den Boden zu bearbeiten, nicht auf. Das Haupt der Lehre in Jawne, R. Jochanan Ben Sakkai, lehrte: ‚Wenn du deinen Setzling inder Hand hältst und man sagt dir, der Messias sei gekommen, so pflanze zuerst den Setzling ein und gehe dann, den Messias zu empfangen.‘“ Glatzer zeigt an diesem und vielen anderen Beispielen den Zusammenhang zwischen demScheitern der politischen und messianischen Erhebungen gegen Rom und der Entwicklung des Lehrhauses.

184

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Sabbatianismus, und das heißt zum Ausgangspunkt einer radikalen

Kritik des politischen Messianismus der (jüdischen) Moderne.

Im Unterschied zur halachischen Kultur und vor allem zur

mittelalterlichen Philosophie, etwa des Maimonides, die den

Messianismus so weit wie möglich zurückzudrängen suchten, sei

es eben das Charakteristikum der jüdischen Moderne und vor

allem der modernen jüdischen Philosophie, diesen politischen

Messianismus nicht nur nicht zu neutralisieren, sondern ihn

utopisch zu radikalisieren.

Diese [Maimonidessche] rationale Einschränkung desMessianischen auf die restaurativen Momente an ihm liegt nun,wie zu betonen ist, keineswegs im Wesen der rationalistischenTendenzen im Judentum überhaupt. Sie findet vielmehr nur inderen mittelalterlichen Formen statt, und es besteht hier eintiefer Unterschied zwischen dem mittelalterlichen und demneuzeitlichen Rationalismus, der gegenüber naheliegendenVerwischungstendenzen festgehalten werden muß. Denn gerade indem Maß, in dem der Rationalismus der jüdischen undeuropäischen Aufklärung die messianische Idee einer immerfortschreitenden Säkularisierung unterwarf, befreit er sichvon dem restaurativen Element. Im Gegenteil, er betont dasutopische Element, wenn auch auf eine ganz neue, demMittelalter fremde Weise. Der Messianismus geht dieVerbindung mit der Idee des ewigen Fortschritts und derunendlichen Aufgabe einer sich vollendenden Menschheit ein.Dabei wird im Begriff des Fortschritts selber ein nicht-restauratives Element ins Zentrum der rationalen Utopiegerückt. Je stärker die nationalen und historischen Elementeder messianischen Idee dabei einer rein universalistischgerichteten Interpretation gegenüber in den Hintergrundtreten, verlieren auch die restaurativen Momente ihr Gewicht.Hermann Cohen, gewiß ein so vornehmer Repräsentant liberal-rationalistischer Umdeutung der messianischen Idee imJudentum, wie man ihn nur denken kann, ist zugleich, und zwaraus den eigenen Antrieben seiner Religion der Vernunft her,

185

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

ein echter und ungehemmter Utopist, der das Restaurativevöllig liquidieren möchte.392

Die jüdische Moderne ist hier nur ein exemplarischer Fall der

europäisch-christlichen Moderne, deren Spezifikum in der

Konstruktion einer innerweltlichen Eschatologie, eines

politischen Messianismus liegt, der „hier auf Erden schon das

Himmelreich errichten“ will. Es ist die vor allem seit der

Aufklärung, also seit Gotthold Ephraim Lessing spezifische

Modernität der Moderne, daß sie „das Theologische“ ins

„Politische“ (zurück-)projiziert und damit die apokalyptische

Phantasie vom Reich Gottes politisch-theologisch

rationalisiert. Die apokalyptische Vorstellung des Joachim di

Fiori von einem dritten Reich des heiligen Geistes, mit dem die

Geschichte sich vollendet, wird im Zuge häretischer Deutungen

im Christentum zu einem dritten Reich in der Geschichte, in dem

der symbolische Gehalt der Verheißung in der Realität erfüllt

und damit das Symbol suspendiert wird. Die Moderne als

mystische Häresie erscheint in beiden Kontexten der Moderne –

jüdisch und christlich – als Säkularisierung ihrer

apokalyptischen Utopie im Sinne einer innergeschichtlichen

politischen Theologie. Scholem selbst weist auf die Parallele

zwischen der jüdischen antinomistischen Mystik des Raja Mehemna

und dem Encharidion in Apocalypsim des Joachim di Fiori hin, um die

häretische Adoption beider Texte in ihrer Bedeutung für die

Moderne hervorzuheben, namentlich bei den spirituellen

Franziskanern und den Sabbatianern.

Was sich in dem großen Ausbruch des spiritualistischenMessianismus abspielte, in dem sich der radikale Flügel der

392 Scholem, „Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum“, S. 153 f.Vgl. Dan, „Gershom Scholem and Jewish Mysticism“.

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Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

sabbatianischen Bewegung erging, weist auffallende Parallelenzu der Weiterentwicklung der Lehren des Joachim di Fiori auf,als die radikalen Spiritualen des Franziskanerordens sie inder Mitte des 13. Jahrhunderts übernahmen. Was Joachim unterdem „Ewigen Evangelium“ verstand, fällt im wesentlichen mitdem zusammen, was bei den Kabbalisten Tora de Aziluth hieß.Joachim meinte, daß in diesem Evangelium Aeternum dermystische Sinn der Schrift in einem neuen Zeitalter desGeistes offenbart werden würde und an die Stelle desWortsinns des Evangeliums zu treten bestimmt sei. Genau dasist es, was für die Kabbalisten vor der sabbatianischenBewegung mutatis mutandis der Begriff der Tora de Aziluthdarstellte.393

Scholem erkennt also in beiden Grundtexten der antinomistischen

Mystik die theologische Voraussetzung für deren messianische

Adoption durch eine Moderne, die die radikale apokalyptische

Diskontinuität und Differenz von realer Geschichte und

Erlösung, von Politik und Religion, wie sie für das Mittelalter

noch typisch war, im Sinne einer Kontinuität und Identität

aufhebt.

Es ist ja gerade die Übergangslosigkeit zwischen der Historieund der Erlösung, die bei den Propheten und Apokalyptikernstets betont wird. Die Bibel und die Apokalyptiker kennenkeinen Fortschritt in der Geschichte zur Erlösung hin. DieErlösung ist kein Ereignis innerweltlicher Entwicklungen, wieetwa in den modernen abendländischen Umdeutungen desMessianismus seit der Aufklärung, wo noch in seinerSäkularisierung im Fortschrittsglauben der Messianismus seineungebrochene und ungeheure Macht beweist. Sie ist vielmehrein Einbruch der Transzendenz in die Geschichte, einEinbruch, in dem die Geschichte zugrunde geht, in diesemUntergang sich freilich wandelnd, weil von einem Lichtbetroffen, das von ganz woanders her in sie strahlt.394

In der Identifizierung von Gottesreich und Kultur, von

Theologie und Politik liegt nicht nur das Wesen der Moderne und

393 Gershom Scholem, „Der Sinn der Tora in der jüdischen Mystik“, in: ders., Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Zürich 1960, S. 113.394 Scholem, „Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum“, S. 133.

187

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

ihrer politischen Theologie, in ihr bestimmt sich auch für

Scholem nun ihrerseits das durch die Moderne vorläufig nicht

und noch nicht durchschaute katastrophale Wesen ihrer

Utopie(n). Die Lebensphilosophie der zwanziger Jahre, ob sie

nun mit Nietzsche die dionysische Dimension oder mit Bakunin

die anarchische Dimension hervorhebt, ist gerade, weil sie sich

der Notwendigkeit einer radikalen Destruktion bewußt zu werden

beginnt, die Artikulation des verborgenen Wesens der

politischen Theologie der Moderne und damit in der Tat und für

das reflexive Bewußtsein der Umschlag des realpolitischen

Messianismus in eine realhistorische Apokalypse im Sinne von

Katastrophe und Destruktion. Ist es Zufall, daß Scholem gerade

im Kontext seiner Überlegungen zum Verführungscharakter

messianischen Handelns die Legende von Rabbi Josef de la Reyna

in Erinnerung ruft? In dieser Legende ist

die Erlösung nur noch auf das Durchstoßen eines letztenHindernisses konzentriert, das von Magie bewältigt werdensoll und eben darin scheitern muß. Die Legende von dem großenMagier und Kabbalisten, der Sammael, den Teufel fesselt unddamit die Erlösung bringen könnte, wenn er ihm dabei nichtselbst verfallen wäre, ist eine großartige Allegorie auf allesolche „Bedrängung des Endes“. An solchen Josef de la Reynashat es in der jüdischen Wirklichkeit nie gefehlt, gleich obsie nun anonym geblieben sind, in irgendeinem Winkel desExils versteckt, oder unter Preisgabe ihrer Identität undÜbersteigerung ihrer eigenen Magie in die Weltgeschichtegesprungen sind. Dieser messianische Aktivismus liegtübrigens in jener merkwürdigen Doppellinie der gegenseitigenBeeinflussung von Judentum und Christentum, die mit innerenEntwicklungstendenzen beider Religionen Hand in Hand geht.Der politische und chiliastische Messianismus bedeutenderreligiöser Bewegungen innerhalb des Christentums erscheintoft als eine Widerspiegelung eines eigentlich jüdischenMessianismus.395

395 Ebd., S. 140.188

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Die Legende von Josef de la Reyna ist offenbar eine

allegorische Version der politisch-theologischen Phantasie der

Moderne, die die Gründung des Gottesreiches an die Überwindung

des Bösen knüpft, mit deren Scheitern sich denn auch die

Gründung des Gottesreiches notwendig in die Herstellung der

politischen Hölle verkehrt. Lessings großer Entwurf der

modernen politischen Theologie des dritten Reiches, das das

nunmehr vernünftige Subjekt in der Geschichte begründen soll,

ist an eben diese Überwindung der Sünde und des Bösen

gebunden.396 Apokalyptisch gesprochen kann das Himmelreich erst

dann auf Erden errichtet werden, wenn die Macht des Bösen, wenn

der Teufel für tausend Jahre in Fesseln gelegt werden kann. Das

Ereignis, das im 21. Kapitel der Johannesapokalypse berichtet

wird – „Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott

her aus dem Himmel herabkommen“ –, bedarf in der Apokalypse

bekanntlich des Akts, den das 20. Kapitel als Fesselung des

Teufels beschreibt:

Dann sah ich einen Engel vom Himmel herabsteigen; auf seinerHand trug er den Schlüssel zum Abgrund und eine schwereKette. Er überwältigte den Drachen, die alte Schlange – dasist der Teufel oder der Satan – und er fesselte ihn fürtausend Jahre.

Negativ gewendet heißt das, daß die moderne politische

Theologie, die in ihrem Wesen die Apokalypse säkularisiert, an

der Macht der Sünde scheitern muß, die den kontinuierlichen Weg

von der Geschichte zur Erlösung, von der Politik zur Theologie

verstellt. Realgeschichtlich äußert sich diese Macht des Bösen

in der Destruktivität des Messianischen und bestätigt so immer 396 Vgl. hierzu die Bemerkungen von Jürgen Moltmann, Gott im Projekt der modernen Welt. Beiträge zur öffentlichen Relevanz der Theologie, Gütersloh 1997, S. 20; aber auch Löwith, Weltgeschichte als Heilsgeschehen; Voegelin, The New Science of Politics; Taubes, Abendländische Eschatologie; Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit.

189

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

wieder seine Unüberwindlichkeit und damit die Schranke zwischen

Geschichte und Erlösung, Theologie und Politik und damit die

Unmöglichkeit der modernen politischen Theologie im Ganzen.

Scholems Theorie des Symbols erscheint von hier aus als der

gezielte Versuch, durch die Tiefendimension dieser

messianischen Katastrophe hindurch die Moderne, das heißt vor

allem die jüdische Moderne, in ihrem messianischen Utopismus so

zu überwinden, daß das Symbol an die Stelle einer jeden

politisch-theologischen Unmittelbarkeit und Präsenz rückt. Das

Symbol steht damit immer schon für den Aufschub dieser

politisch-theologischen Präsenz. Es ist in seiner

Funktionsweise als Symbol eben immer schon auch Symbol für die

Nichtpräsenz des Absoluten. Indem es sich auf Präsenz bezieht

und diese verschiebt, ermöglicht es aber die ethisch-

pluralistische Ordnung der Vielfalt der Symbolordnungen, die an

die Stelle der halachischen Lebenswelt tritt. Scholems Theorie

des kabbalistischen Symbols verständigt sich so nicht nur mit

Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, sondern

vor allem mit derjenigen nach-modernen christlichen Theologie,

die wie etwa bei Karl Barth und Erik Peterson die Krise der

Moderne in eben diesem innergeschichtlichen politischen

Messianismus erkennt und entgegen dieser modernen Intention die

theologisch-politische Präsenz auf jene klassische

Gründungsfigur christlicher Theologie zurückführt, die für den

Aufschub des Endes steht. Gemeint ist der „Katechon“, jene

rätselhafte Figur des Aufhalters, der im zweiten Brief des

Paulus an die Thessaloniker (Kap. 2,2 ff.) erwähnt und

spätestens seit Augustinus zu dem Prinzip erhoben wird, das,

weil es für den Aufschub des Endes steht, Staat und Kirche in

190

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

ihrer real existierenden Form als konservierende Kräfte

legitimiert. Scholems implizite Theologie des kabbalistischen

Symbols ist in diesem Sinne „katechontisch“, auch wenn Scholem

nicht nur in jeder messianischen Politik, sondern gerade auch

in der Politik des Aufschubs des messianischen Handelns, wie

sie die Galut bestimmt hat, eine radikale Problematik entdeckt.

Ich will zum Abschluß dieser Erörterungen noch ein Wort übereinen Punkt sagen, der bei Diskussionen über die messianischeIdee […] entschieden zu kurz gekommen ist. Ich meine damitden Preis des Messianismus, den Preis, den das jüdische Volkfür diese Idee, die es der Welt geschenkt hat, aus seinerSubstanz hat bezahlen müssen. Die Größe der messianischenIdee entspricht der unendlichen Schwäche der jüdischenGeschichte, die im Exil zum Einsatz auf der geschichtlichenEbene nicht bereit war. Sie hat die Schwäche des Vorläufigen,des Provisorischen, das sich nicht ausgibt. Denn diemessianische Idee ist nicht nur Trost und Hoffnung. In jedemVersuch ihres Vollzugs brechen die Abgründe auf, die jedeihrer Gestalten ad absurdum führen. In der Hoffnung leben istetwas Großes, aber es ist auch etwas tief Unwirkliches. Esentwertet das Eigengewicht der Person, die sich nie erfüllenkann, weil das Unvollendete an ihren Unternehmungen geradedas entwertet, was ihren zentralen Wert betrifft. So hat diemessianische Idee im Judentum das Leben im Aufschub[Hervorhebung C. S.] erzwungen, in welchem nichts inendgültiger Weise getan und vollzogen werden kann. Diemessianische Idee ist die eigentliche anti-existentialistische Idee. Es gibt, genau verstanden, jenesKonkrete gar nicht, das von nichterlösten Wesen vollzogenwerden könnte. Das macht die Größe des Messianismus aus, aberauch seine konstitutionelle Schwäche. Die jüdische sogenannteExistenz hat das Gespannte, niemals sich wahrhaft Entladende,das nicht Ausgebrannte an sich, das, wo es sich in unsererGeschichte entlädt, mit einem törichten Wort dann als Pseudo-Messianismus verschrien, oder sollte man sagen, entlarvtwird. Die […] brennende Landschaft der Erlösung hat denhistorischen Blick des Judentums wie in einem Brennpunkt aufsich gesammelt. Es ist kein Wunder, daß die Bereitschaft zumunwiderruflichen Einsatz aufs Konkrete, das sich nicht mehrvertrösten lassen will, eine aus Grauen und Untergang

191

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

geborene Bereitschaft, die die jüdische Geschichte erst inunserer Generation gefunden hat, als sie den utopischenRückzug auf Zion antrat, von Obertönen des Messianismusbegleitet ist, ohne doch – der Geschichte selber und nichteiner Metageschichte verschworen – sich ihm verschreiben zukönnen. Ob sie diesen Einsatz aushält, ohne in der Krise desmessianischen Anspruchs, den sie damit mindestens virtuellheraufbeschwört, unterzugehen – das ist die Frage, die ausder großen und gefährlichen Vergangenheit heraus der Jude anseine Gegenwart und seine Zukunft hat.397

Während alle Indizien darauf hinweisen, daß Scholem auch hier,

wo er den Messianismus würdigt, die „Schwäche des Vorläufigen,

des Provisorischen, das sich nicht ausgibt“, der „Größe der

messianischen Idee“ in jedem Fall vorzieht, ja auch hier

feststellt, daß „es jenes Konkrete gar nicht gibt, das von

nichterlösten Wesen vollzogen werden könnte“, so bezieht sich

diese Ambivalenz hier offenbar auf die Einsicht in die

messianische, das heißt politisch-theologische Dimension des

Zionismus. Wenn dieser ohne jeden messianischen Anstoß kaum

hätte wirksam werden können, so steht er damit immer schon

unter dem Zeichen derselben politischen Theologie der Moderne,

die, sobald sie ihren Messianismus zu realisieren beansprucht,

die Katastrophe herbeiführt.

Scholems Ambivalenz gegenüber dem Messianischen ist hier also

Funktion der am Zionismus sich bewährenden Einsicht, daß dieser

selbst noch ganz der Moderne zuzurechnen ist, ja ihr sich

verdankt. Ihr hält er das Symbol von Sabbatai Zwi entgegen398, 397 Scholem, „Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum“, S. 166 f.398 Schon Theodor Herzl, Altneuland, Berlin 1902, S. 106 beschwört das Vorbilddes Messias Sabbatai Zwi, der, hätte er über das technisch-strategische Know-how verfügt, schon die politische Erlösung herbeigeführt hätte. Hugo Bergman, Jawne und Jerusalem, Berlin 1919, S. 47: „Während die Bewegung Sabbatai Zwi revolutionär und mutig genug war, die Verbote aufzuheben, Festtage in Freudentage zu verwandeln, am 9. Ab zu tanzen, drapierte der Zionismus nur die alten religiösen Symbole in nationale um. So hat nach Ansicht Bertoldis der Rabbinismus den Gedanken eines irdischen Judentums

192

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

als Warnung und Hoffnung zugleich, daß der Zionismus nicht an

seiner messianischen Dimension scheitern möge, sondern eben

diesen modernen Ursprung überwinde in einer nachmodernen

Ordnung des Aufschubs und der Nichtpräsenz. Nur wenn sich der

Zionismus in die Welt der Galut integriert, die er messianisch

beseitigen wollte, kann er dann wirklich den Weg in die

Geschichte finden. Als Erlöser vom Messianischen soll Sabbatai

Zwi den Weg in die reale Geschichte eröffnen, der durch seine

ungebrochen messianische Interpretation immer wieder verstellt

wird.

VI Zwischen Paulus und Sabbatai Zwi

Scholems Theorie des kabbalistischen Symbols stößt bei diesem

Versuch eines utopisch-symbolischen Rückzugs in die eigene

Tradition stets auf einen Grenzfall, der als der radikalste Typ

jüdisch-mystischer Souveränität, zugleich aber als die

Metonymie für die Überschreitung der national definierten

Legalität und Legitimität auftritt. In jedem Text, der das

Problem Sabbatai Zwi verhandelt, beschwört Scholem bekanntlich

unmittelbar daneben die mystische Autorität des Paulus. Um nur

ein Beispiel von vielen zu zitieren, heißt es etwa in dem Essay

über „Religiöse Autorität und Mystik“:

Ganz anders verhält es sich mit Paulus, dem hervorragendstenBeispiel eines revolutionären jüdischen Mystikers, das wirkennen. Paulus hat eine mystische Erfahrung, deren Deutungbei ihm zu einer völligen Sprengung des Rahmens der

verschlungen.“ Bergmann gibt hier die Meinung eines radikalen Zionisten wider, der den Sabbatianismus zum Modell für den Zionismus erheben will, keineswegs seine eigene Meinung.

193

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

überlieferten Autorität führt. Er ist nicht imstande, sie zubewahren; da er aber zugleich auf den Autoritätscharakter derHeiligen Schrift als solcher nicht verzichten will, muß ersie als zeitlich begrenzt und dadurch abrogierbar erklären.Eine rein mystische Exegese der alten Worte tritt an dieStelle des ursprünglichen Rahmens und begründet nun die neueAutorität, die aufzurichten er sich berufen fühlt. DerZusammenstoß des Mystikers mit der religiösen Autoritätvollzieht sich bei ihm mit voller Schärfe. Die unglaublicheGewaltsamkeit, mit der Paulus das alte Testament, wenn man sosagen dürfte, „gegen den Strich“ liest, zeigt nicht nur, wieunvereinbar seine Erfahrung mit der des Sinnes der altenTexte war, sondern auch, mit welcher konsequentenEntschlossenheit er darauf beharrte, sich, und sei es auchnur in rein mystischen Exegesen, die Rückbeziehung auf denheiligen Text nicht zu verbauen. Der Preis ist jenes Paradoxdes restlos aufgesprengten heiligen Textes, das den Leser derPaulinischen Briefe immer wieder erstaunt. Die neueAutorität, die aufgerichtet wird und der die PaulinischenBriefe selber nun zum Text dienen, ist revolutionärer Natur.Sie bricht von der im Judentum konstituierten fort, weil sieeine neue Quelle gefunden hat, aber sie investiert sich auchweiterhin mit einem Teil der Bilderwelt der nun ins reinSpirituelle aufgelösten alten Autorität.399

Paulus ist das „hervorragendste“ Beispiel eines revolutionären

jüdischen Mystikers einerseits, aber er „bricht von der im

Judentum konstituierten [Autorität] fort“. Der Vergleich mit

Sabbatai Zwi betrifft dessen mystische Autorität und verkehrt

sich in ein Mißverständnis, sobald der Messias und der Apostel

miteinander identifiziert werden. Paulus entspricht auf dieser

Ebene dem Nathan von Gaza, der das Auftreten des Sabbatai Zwi

messianisch interpretiert. Die Parallelisierung von Sabbatai

Zwi und Paulus in der Kabbala der symbolischen Formen erhält

dabei den Charakter einer Weichenstellung:

1) Sie hält an der Konfiguration von Moses und Sabbatai Zwi

fest, um das Problem der symbolischen Konstitution im Rahmen 399 Scholem, „Religiöse Autorität und Mystik“, S. 25.

194

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

einer wie weit auch immer definierten jüdischen Legitimität zu

verhandeln.

2) Die Konfiguration von Moses und Sabbatai Zwi dient bei

Scholem damit implizit dem Versuch, das Problem Paulus, besser:

die Herausforderung Paulus für das moderne Judentum, zu lösen.

Paulus, der Kritiker des halachischen Gesetzes, steht für

dessen messianische wie auch kosmopolitisch-universale

Aufhebung und symbolisiert damit gerade für das modern-säkulare

Judentum eine reale politisch-kulturelle Existenzform, die

allerdings „von der im Judentum konstituierten Autorität

fortbricht.“ Sabbatai Zwi steht dagegen für den Aspekt bei

Paulus, der sozusagen genuin jüdisch ist, aber er erlaubt eine

Integrationsstrategie, die Gesetzeskritik und Kosmopolitismus

in den jüdischen Kontext zurückbringt.

3) Mit der sabbatianischen Ausgrenzung des Paulus wird gerade

dessen Christologie verworfen. Zugleich aber wird diese

Strategie durch die Anerkennung des Sabbatai Zwi als Messias so

kompensiert, daß dieser mit der Destruktion das Judentum vom

Messianismus „erlöst“.

4) Damit aber rückt Scholem vom Historiker, der Gründe,

Wirklichkeit und Folgen der sabbatianischen Katastrophe

beschreibt, immer schon potentiell in die Rolle des Theologen

auf, der nun selber das messianische Ereignis Sabbatai Zwi

deutet und, indem er es historiographisch einordnen und

integrieren will, ihm die messianische Rolle der Heilung

zuspricht, allerdings in der Weise, daß der Sinn dem Messias

selbst verschlossen blieb. Die interpretatorische Figur, die

Scholem hier ins Spiel bringt, attestiert dem Messianischen

eine List der theologischen Vernunft, die das Gegenteil von dem

195

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

bewirkt, was sie bewirken will. Indem sie aber dieses Gegenteil

bewirkt, bestätigt sich die originäre Intention auf Heilung.

Sabbatai Zwi wird damit zur Inkarnation derjenigen nachmodernen

politischen Theologie, die Walter Benjamin in dem berühmten

Fragment als Akt beschreibt, der die Geschichte vom

Messianischen „erlöst“.

5) Sabbatai Zwi soll also das moderne Judentum nicht nur vom

Messianischen erlösen, sondern zugleich von der Paulinischen

Theologie und deren „Verführung“. Er befreit das moderne

Judentum zu seiner eigenen Säkularisation, zu einem Judentum,

das allerdings im Leiden – zumal nach den Grauen von Auschwitz

– keine Heilsperspektive entdecken kann. Damit wird auch die

Transposition des Kreuzestodes auf das kollektive Schicksal des

jüdischen Volkes, wie sie etwa Hermann Cohen vollzieht400,

absolut undenkbar.

6) Zuletzt bezeichnet der Name Paulus eine reale politisch-

theologische Gefahr, zumal Paulus in einer langen christlichen

Tradition, die aufgrund seiner Kritik des halachischen Gesetzes

beziehungsweise von deren Aufhebung durch die christliche Liebe

einen Antijudaismus lehrte und praktizierte, der oft die Grenze

hin zur Gnosis überschritt und das Judentum dämonisch

verzerrte. Paulus ist allerdings im Rahmen der Kulturkrise und

-tragödie, wie sie in der Lebensphilosophie der 1910 und 1920er

Jahre virulent wird, der Name für die große theologische

Revolution, die nicht nur das Problem von Gesetz und Leben zu

beantworten sucht, sondern potentiell in einen neuen

Antijudaismus umzuschlagen droht. Paulus als der Kritiker des

Gesetzes wird in diesen Jahren geradezu zur Metonymie der

400 Vgl. Cohen, Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, S. 311 ff.196

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

epochalen Krise des Lebens, das durch Gesetz und Form sich von

sich selbst entfremdet und gegen das Gesetz rebelliert, für das

dann ebenso metonymisch gerade die jüdische Kultur einstehen

muß. Mit anderen Worten: Paulus ist das politisch-theologische

Symbol für eine mögliche radikale Krise in den jüdisch-

christlichen Beziehungen, die potentiell in einer neuen

gnostischen Eruption sich zu entladen droht.401 Gegen diese

potentielle, in der traditionellen Auslegung von Paulus

angelegte Gefahr, für die Adolph von Harnacks Rekurs auf

Marcion signalhaft einsteht402, bedarf es einer Gegenstrategie,

die den Antinomismus zurück ins Judentum selbst integriert und

als jüdische Abwehrstrategie gegen die paulinisch-gnostische

Gefahr einsetzt. Vergegenwärtigt man sich aus dieser

Perspektive noch einmal die Rolle, die die Gnosis, der

Antinomismus, die Symbollehre, die moderne Lebensphilosophie in

der Rekonstruktion des sabbatianischen Ereignisses bei Scholem

spielen, so erhält der Name Paulus Schlüsselcharakter für diese

Rekonstruktion, setzt er doch fast dieselben

geistesgeschichtlichen Momente voraus.

401 Vgl. hierzu mein Buch Der häretische Imperativ; ferner vor allem Taubes, Die politische Theologie des Paulus; ders. (Hrsg.), Gnosis und Politik.402 Adolph von Harnack, Marcion – das Evangelium vom fremden Gott, Leipzig 1921. Vgl. auch Christian Nottmeier, Adolph von Harnack und die deutsche Politik 1890–1930. Eine biographische Studie zum Verhältnis von Protestantismus, Wissenschaft und Politik, Tübingen2004.

197

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Die theopolitische StundeMartin Bubers Begriff der Theopolitik, seine prophetischen

Ursprünge, seine

Aktualität und Bedeutung für die Definition zionistischer

Politik

I Vorwort

Bubers Begriff der Theopolitik403, wie schon die Umstellung

innerhalb des Begriffes zeigt, ist als eine „Erlesigung“ der

politischen Theologie von Macht und Souveränität gemeint.404

Eine solche Theopolitik orientiert sich biblisch an der

antimonarchistischen Politik von Gideon, Samuel und den

Propheten, um an ihnen ein Modell für einen theologisch

begründeten Anarchismus individueller und kollektiver Freiheit

zu gewinnen. Bubers Einsetzung des Begriffs der Theopolitik,

der sich gegen jede Instrumentalisierung der Theologie für eine

Theorie des autoritären Staates wendet, versteht sich dabei

immer schon als Reaktion auf die aktuellen politischen 403 Buber, Königtum Gottes. Es ist interessant, daß Erik Peterson in den zwanziger Jahren den Begriff der Theopolitik in einem ähnlichen Kontext gegen Carl Schmitts politische Theologie wendet, allerdings ganz aus der Theologie des Römerbriefs von Paulus entfaltet. Vgl. hierzu Erik Peterson, „Paulus – Der Brief an die Römer“, S. 15. Vgl. auch die ausgezeichnete Darstellung von Barbara Nichtweiß, Erik Peterson. Neue Sicht auf Leben und Werk.404 Carl Schmitt, Politische Theologie; ders., Politische Theologie II stellt im Untertitel das Anliegen der Schrift klar: „Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie“. Es geht bekanntlich um Erik Peterson, Monotheismus als politisches Problem. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Theologie im Imperium Romanum, Leipzig 1935, auf das Schmitt sich bezieht: „Auf den letzten Textseiten (S. 99/100) wird die Erledigung jeder politischen Theologie in aller Schärfe als Schlußthese behauptet.“ (S. 13) Nach wie vorscheint Peter Koslowski, „Politischer Monotheismus oder Trinitätslehre“, in: Taubes, Der Fürst dieser Welt, S. 26–44 eine der besten kritischen Diskussionen sowohl von Schmitts als auch von Petersons Position zu sein.

177

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Kontexte, in deren Zusammenhang der Begriff entstanden ist,

nämlich einerseits die totale Krise der modernen säkularen

Kultur in der politischen Theologie des Dritten Reiches und

andererseits der entstehende zionistische Staat als möglicher

Horizont einer utopischen Verwirklichung seiner Theopolitik.

Im folgenden soll Bubers Verständnis der neuen politischen

Situation in Deutschland nach 1933 in seiner Auseinandersetzung

mit Carl Schmitt und Friedrich Gogarten in Die Frage nach dem

Einzelnen405 rekonstruiert werden, in deren politischer Theologie

er eine radikale Verkehrung dessen wahrnimmt, was er den

theopolitischen Auftrag nennt. 1) Die neue politische Situation

in Palästina enthält, entgegen der realpolitischen Tendenz, für

Buber die Möglichkeit einer Theopolitik, die zu einem

binationalen arabisch-jüdischen Staat führen kann. 2) Aus der

Perspektive dieser aktuell-politischen Genese des Begriffs der

Theopolitik läßt sich dann zeigen, daß Bubers Begriff der

Theopolitik eine komplexe temporale Struktur entfaltet, die

derart die biblische Urgeschichte zum Modell des Verständnisses

der Gegenwart erhebt, daß diese in jedem Augenblick in ihrer

eigensten messianischen Zukunftsmöglichkeit ergriffen werden

kann. 3) Am Beispiel der Verweigerung der Königskrone durch den

Richter Gideon, die Buber in Königtum Gottes zur Grundlage einer

jeden Theopolitik erhebt, und am Beispiel der

Auseinandersetzung des Propheten Jesaja mit König Ahas von

Judäa, die er in Der Glaube der Propheten406 entfaltet, soll dann 405 Zu Bubers Werk im allgemeinen vgl. Paul Mendes-Flohr: Von der Mystik zum Dialog. Martin Bubers geistige Entwicklung bis hin zu ‚Ich und Du‘, Königsstein 1979; Dan Avnon, Martin Buber – The hidden dialogue, New York/Oxford 1998. Paul Mendes-Flohr (Hrsg.), Martin Buber: A Contemporary Perspective. 406 Buber, Der Glaube der Propheten. Zum Kontext der Abfassung vgl. das Vorwort zum Buch, S. 9 ff. Teile des Textes erschienen noch 1940 in Holland, das Buch wurde dann 1942 zuerst in Hebräisch und dann 1950 erst in Deutsch

178

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

der Sinn der Theopolitik als Dialektik der Macht und ihrer

Kritik bei Buber zusammenfassend erläutert werden. 4) Das

Kapitel über Jesaja und Ahas ist „Theopolitische Stunde“

überschrieben und tatsächlich 1938, im Jahre von Bubers

Emigration von Deutschland nach Palästina, abgefaßt worden,

steht also auch biographisch ganz unter dem Eindruck der

aktuell-politischen Situation zwischen beiden Kontexten.407

II Die politische Stunde

Martin Buber versucht in Die Frage an den Einzelnen von 1936, die

aktuell-politische Situation in Deutschland nach 1933 am

Beispiel der Konstellation Carl Schmitt und Friedrich Gogarten

sozusagen als Bericht zur „geisteswissenschaftlichen Lage nach

der Verabschiedung des Parlamentarismus“ auf den Begriff zu

bringen. Er stellt diese eher skizzenhafte Auseinandersetzung

mit den beiden politischen Theologen des souveränen Staates in

den Kontext der nachhegelianischen Philosophie, spezifisch der

philosophischen Besinnung auf den Einzelnen und die

Individualität bei Sören Kierkegaard und Max Stirner. Bubers

publiziert. 407 „Im Sommer 1938, bald nachdem ich das Lehramt für Sozialphilosophie an der Universität Jerusalem angetreten hatte, erhielt ich von Prof. Gerardus van der Leeuw in Groningen die Aufforderung, für ein von ihm geplantes holländisches Sammelwerk ‚Die Religionen der Welt‘ die Religionsgeschichte Israels zu bearbeiten. [...] So ging ich an die Arbeit, die ich [...] der Glaube Israels benannte, und schrieb sie in verhältnismäßig kurzer Zeit nieder, mußte aber, am Schlusse angelangt, merken, daß sie für ihren Zweck viel zu umfangreich geworden war. Ein Freund unternahm es, sie zu kürzen, und der so entstandene Text wurde abschnittweise nach Amsterdam gesandt, woer übersetzt werden sollte. Den letzten Abschnitt, der das Leidensmysteriumbehandelt, erhielt ich von der Post als unbestellbar zurück: inzwischen warHolland von den Heeren Hitlers besetzt worden.“

179

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Frage an den Einzelnen ordnet sich damit selber einerseits in

diesen existentialistischen Kontext ein, um andererseits am

Beispiel Schmitts und Gogartens die falschen politischen

Konsequenzen dieser Orientierungen am Einzelnen zu

kennzeichnen.

Man kann die durch Buber zum Verständnis der aktuellen

politischen Situation in Deutschland ins Spiel gebrachten

denkerischen Positionen zunächst in eine Art

geistesgeschichtliches Parallelogramm eintragen. Die Namen

Stirner und Schmitt bezeichnen die anthropologische, die Namen

Kierkegaard und Gogarten die theologische Achse, wobei der

jeweils erste Name (Stirner, Kierkegaard) die Orientierung am

einzelnen, der jeweils zweite Name (Schmitt, Gogarten) die

Projektion dieser Auffassung vom einzelnen in die politische

Sphäre repräsentiert.

Das Parallelogramm Stirner und Schmitt, Kierkegaard und

Gogarten steht nun bei Buber offenbar für eine Reihe von

fundamentalen Disjunktionen: des Individuums von der

Gesellschaft, der Macht von der Gerechtigkeit, des Politischen

vom Theologischen und, implizit am Rande auch, des Christlichen

vom Jüdischen. Die Diagnose Bubers betont zunächst die Trennung

von Politik und Theologie: „Das moderne Abendland steht auf der

sanktionierten Entzweiung von Politik und Religion. Die Politik

ist unverklärt, aber mächtig, die Religion ist […]

unverbindlich.“408 Während das Christentum sich vom Politischen

grundsätzlich zu distanzieren versuche, stehe das Judentum in

einer permanenten politisch-theologischen Spannung, weil „die

Propheten Israels […] dem König in Jerusalem, als dem

408 Buber, Die Frage an den Einzelnen, S. 121.180

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Schutzherrn des Unrechts im Lande“ mit ihrem

„religionspolitischen Wort“ 409 entgegentreten mußten.

Kierkegaard und Stirner repräsentieren für Buber zunächst die

notwendige existentialistische Abwendung vom Idealismus des

reinen, sich selbst erzeugenden souveränen Subjekts und Geistes

und damit die Wende zur konkret-geschichtlichen Existenz des

Individuums.

Wenige Jahre, ehe Kierkegaard unter dem Titel ‚DerGesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller‘seinen „Rapport an die Geschichte“ entwarf, in dessenBeilagen die Kategorie des Einzelnen ihre zureichendeFormulierung fand, verfaßte Max Stirner sein Buch über denEinzigen. Auch dies ist ein Randbegriff wie der Einzelne,aber einer vom anderen Ende.410

Beide Individuen stehen nämlich für eine Konstellation der

radikalen Polarisierung von Theologie und Politik. Kierkegaard

bezeichnet die Wiederentdeckung des Theologischen unter

Abwendung von der Politik, Stirners praktischer Solipsismus

dagegen die restlose Säkularisation des Politischen: den

reinen, rücksichtslosen Egoismus als äußerste Konsequenz einer

von jedem religiösen bzw. moralischen Vorbehalt emanzipierten

Politik.

Man pflegt dieses Randbild eines deutschen Protagoras[Stirner] zu unterschätzen: die unsere Stunde kennzeichnendeEntwirklichung der Verantwortung und der Wahrheit hat hier,wenn auch nicht ihren geistigen Ursprung, so doch ihre exaktebegriffliche Ansage. „Der Eigene […] ist ursprünglich frei,weil er nichts als sich anerkennt“ und „Wahr ist, was Meinist“ sind Vorformeln einer von Stirner in all seinerrednerischen Sicherheit ungeahnten Vereisung der Seelen.411

409 Ebd., S. 127.410 Ebd., S. 12.411 Ebd., S. 13.

181

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Zunächst bricht die Hegelianische Dialektik, die vom Sein zur

Idee, vom blutigen Kampf zwischen Herr und Knecht zu einer

Gesellschaft der gegenseitigen Anerkennung führen soll, infolge

der radikalen Kritik Stirners und Kierkegaards an der

Metaphysik der Identität und Totalität von Theologie und

Politik vollends ab, doch die epochale Antithese zwischen

Kierkegaard und Stirner demonstriert zugleich den Preis für die

notwendige Emanzipation dieser Typen von Individualität von der

metaphysisch-theologischen Zwangsveranstaltung der

verwirklichten Identität von Sein und Idee, Theologie und

Politik. In dieser Auseinanderdividierung beider wird nämlich

gerade wieder ein Einvernehmen zwischen beiden im Sinne einer

real-praktikablen Synthese bzw. eines gegenseitigen

Nichteinmischungspaktes zwischen Theologie und Politik möglich.

Die hemmungslose Machtentfaltung des souveränen Egoisten

(Stirner) hat von dem theologischen Existentialisten

(Kierkegaard) nichts zu befürchten, da dieser sich von jeder

Politik fernhält und sie doch damit immer schon legitimiert.

Umgekehrt hat der theologische Existentialist in seinen

privaten Abenteuern des Glaubens nichts von der absoluten Macht

zu befürchten. Der Individualismus Stirners stellt sich als die

logische Konsequenz der sich säkularisierenden Politik dar,

insofern mit der radikalen Aufhebung aller theologischen und

ethischen Restbestände das Politische nur noch auf den reinen

Willen zur Macht, den reinen Egoismus reduziert werden muß,

der, durch keine moralische Schranke gehindert, sich

unbeschränkt entfesseln kann. Der Rückzug von Kierkegaards

Einzelnem aus der Politik bezeichnet deren Pendant, insofern

der Einzelne hier rein theologisch definiert, die

182

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

gesellschaftlich-politische Dimension sich selbst überlassen

wird. Die Hegelianische Totalität von Sein und Idee als

Identität von Gott und Staat wird also durch die Extreme der

politischen und theologischen Individualität gesprengt, nur um

die Totalität des Politischen auf einer individualistischen

Ebene zu reproduzieren.

Buber selbst wird dagegen versuchen, den Einzelnen und

Existentialisten wieder in den gesellschaftlichen Zusammenhang

einzusetzen, so, daß er weder als Herr über der Gesellschaft

(Schmitt, Gogarten) noch als reine Funktion des Allgemeinen und

Gesellschaftlichen (Hegel), sondern als der Einzelne auftritt,

der für die Gesellschaft und in ihr kritische Verantwortung

übernimmt. Die Negation der Hegelianischen Metaphysik soll das

jeweilige Dasein eben nicht absolut setzen, sondern muß dessen

kritische (Re-)Integration in die Gesellschaft auf der Basis

individueller Verantwortung vorbereiten. Buber sucht nach einer

Form existentialistischer Individualität, die sich an der Idee

einer wahren, an-archischen Gemeinschaft orientiert und von

dieser aus kritische Verantwortung in der realen, von konkreten

Machtstrukturen bestimmten Gesellschaft übernimmt.

Seine dialektische Kritik der Extreme setzt dabei bei dem Typ

eines theologischen Existentialismus an, der ihm selbst am

nächsten steht, bei Kierkegaard. Zwar sei das „Ich-sagen-

Können“, so Buber, die Bedingung der Möglichkeit für das

Theologische, aber biblisch gesehen sei doch immer das Volk im

Ganzen der Partner der Gottheit, indem es allerdings immer

durch namentragende Einzelne vertreten wird. Buber findet wie

Kierkegaard das Urmodell für den Einzelnen in Abraham412, dessen

412 Ebd., S. 18.183

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Singularität erst eigentlich durch die Offenbarung Gottes

zutage tritt, also in jener doppelten Aufforderung, „sich

aufzumachen“ (hebr.: Lech Lecha), nämlich einmal aus der

Heimatstadt Ur und einmal, um den Sohn zu opfern. Der biblische

Narrativ berichtet zunächst über Abrahams radikale Loslösung

von allen sozialen Bindungen, von der Welt der Väter und Söhne,

aber diese Loslösung von der Gesellschaft ist ohne die ihr

vorhergehende Ansprache durch Gott nicht denkbar, die ja

immerhin die Gründung einer neuen Gemeinschaft verspricht, in

der sich die dialogisch-ethische, und das heißt politische

Dimension der Existenz erst ganz verwirklichen kann.

Buber wirft Kierkegaard vor, eben diese gesellschaftlich-

politische Dimension der theologischen Urbeziehung der Existenz

und mit dieser die Schöpfung im ganzen zu überspringen, womit

er eine Art theologischen Egoismus praktiziere, in dem der

Einzelne Gott sozusagen für sich allein beanspruche. Es spielt

hier für den Kontext keine Rolle, daß Buber Kierkegaard viel zu

schnell auf seine Oberflächenrhetorik vereidigt und damit etwa

dessen Begriff einer gegen das bürgerliche Christentum

„streitenden Kirche“, die in der Idee des Wahrheitszeugen

gipfelt, gar nicht in den Blick bekommt.413 Für Buber ist

413 Vgl. Sören Kierkegaard, Furcht und Zittern, Hamburg 1992, S. 51: „Der Glaube ist eben dieses Paradox, daß der Einzelne größer ist als das Allgemeine, daß er diesem berechtigt gegenübersteht, nicht subordiniert, sondern übergeordnet, doch wohlgemerkt so, daß der Einzelne […] nur durch das Allgemeine der Einzelne wird, der als der Einzelne übergeordnet ist; daß der Einzelne als der Einzelne in einem absoluten Verhältnis zum Absoluten steht.“ Vgl. auch Sören Kierkegaard, Einübung im Christentum, in: ders., Gesammelte Werke, Abteilung 26, Düsseldorf 1951, S. 202 f.: „Sobald das Reich Christi mit dieser Welt einen Vergleich schließt und ein Reich von dieser Welt wird, ist das Christentum abgeschafft. Wenn hingegen das Christentum die Wahrheit ist, ist es freilich ein Reich in dieser Welt, jedoch nicht von dieser Welt, das heißt es steht im Streite. […] Die Kirche kann in dieser Welt in Wahrheit nur bestehen, indem sie streitet, das heißt jeden Augenblick darum kämpft, daß sie bestehe.“ Vgl. Gillian Rose, „Reply from

184

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Kierkegaards persönliches Verhältnis zur Ehe symptomatisch für

das, was er als dessen Sprung über Schöpfung und Gemeinschaft

hinaus bestimmt. „Um zum Lieben zu kommen“, zitiert ihn Buber

über seine Loslösung von Regine Olsen, „mußte ich den

Gegendstand der Liebe entfernen“. Das heißt aber, kommentiert

Buber, „Gott auf die subtilste Weise mißverstehen. Die

Schöpfung ist kein Hindernis auf der Bahn zu Gott, sie ist

diese Bahn selbst.“414 Wenn also Ehe und Politik bei Kierkegaard

die ausgeblendete Dimension der Schöpfung repräsentieren

sollen, so stehen sie bei Buber für dasselbe ethische Problem

der Alterität. Was immer man vom Modell der Ehe halten mag, so

ist es doch plausibel, wenn Buber, indem er sie zum Urmodell

dialogischer Beziehung erhebt, an ihr neben dem Moment der

Intersubjektivität gerade das Moment der alltäglichen und

intensiven Auseinandersetzung mit dem anderen betonen will. Der

Gottesbezug wird nur im Bezug zum Nächsten, dieser aber in

einer realen Lebensform aktuell, in der Menschen alltäglich mit

der Denkweise, Haltung, Lebensform des anderen umgehen und

diese anerkennen lernen.

Von diesen skizzenhaften Anmerkungen zur Konstellation von

Stirner und Kierkegaard geht Buber zu der zweiten, nicht

weniger skizzenhaft entworfenen Konstellation über, um die

aktuell-politische Situation zu kennzeichnen. Carl Schmitts Der

Begriff des Politischen ist die Fortsetzung von Stirners absolutem

Individualismus der Macht „jenseits der Moral“; Friedrich

‚The Single One‘“, in: Mendes-Flohr (Hrsg.), Martin Buber, S. 162: „Buber hasconfused Kierkegaard and his personal life, Kierkegaard and his authorship,Kierkegaard and his pseudonyms, Kierkegaard and the Stages of Life's Way. To suspend the ethical is not to renounce relationships for an exclusive devotion to God.“414 Buber, Die Frage an den Einzelnen, S. 34.

185

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Gogartens politische Ethik, die die theologische Legitimation

für den souveränen Staat nachliefert, versteht Buber offenbar

als Fortsetzung von Kierkegaards theologischem

Existentialismus.

Zunächst geht es um Schmitts Buch Der Begriff des Politischen, der

Stirners Idee einer Selbsterzeugung des Ichs „aus seinem

eigenen Nichts“ auf die politische Sphäre projiziert.

Unausgesprochen liegt diesem Bezug das Argument zugrunde, daß

Schmitts Politische Theologie von 1922 den Souverän schon nicht mehr

theologisch, sondern, wie Schmitt schon damals fordert, als

„reine aus dem Nichts geschaffene Entscheidung“415 definiert.

Konsequent heißt es in Der Begriff des Politischen dann explizit, daß

der Begriff des Souveräns keiner theologischen Begründung

bedürfe, insofern ihm mit einer richtig verstandenen

Anthropologie von der gefährlichen Natur des Menschen besser

gedient sei, die genüge, um die Auseinandersetzung mit dem

Feind zu begründen.416

In diesem Sinne wird ja nicht nur in jener berühmten Fußnote

aus Der Begriff des Politischen die christliche Feindesliebe auf die

private Domäne beschränkt und damit

„das Theologische“ vollends entpolitisiert, sondern in

Schmitts Staat, Bewegung, Volk417 wird dann der Führer als Souverän

jenseits aller theologischen, philosophischen und politischen 415 Schmitt, Politische Theologie, S. 69: „Schon in den zitierten Äußerungen von de Maistre lag eine Reduzierung des Staates auf das Moment der Entscheidung, konsequent auf eine reine, nicht raisonnierende, also aus demNichts geschaffene absolute Entscheidung.“ 416 Schmitt, Der Begriff des Politischen: „Der methodische Zusammenhang theologischer und politischer Denkvoraussetzungen ist also klar. Aber die theologische Unterstützung verwirrt öfters die Begriffe, weil sie die Unterscheidung gewöhnlich ins Moraltheologische verschiebt oder wenigstens damit vermengt […]“ Von daher empfehle es sich eben, „alle Staatstheorien und politische Ideen auf ihre Anthropologie“ zu prüfen. (S. 59).417 Carl Schmitt, Staat, Bewegung, Volk, Hamburg 1933,

186

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Traditionen als die „unmittelbare Gegenwart und Präsenz“

definiert, vor der überhaupt „jeder Begriff und jedes Bild“418

versagen. Der Souverän Schmitts als „ästhetisch-begrifflose

Erscheinung“ reiner Präsenz ist das Mensch gewordene Ereignis

des avantgardistischen Logos der Ausnahme, den Max Stirner mit

seinem einzelnen „jenseits von Moral und Gesetz“ in der Figur

des skrupellosen und kriminellen Einzelgängers vorgedacht hat.

Bubers Interesse gilt vor allem Schmitts Definition des

„rein“ Politischen als „Unterscheidung von Freund und Feind“,

die im Ernstfall die Möglichkeit physischer Tötung mit

einschließt. Einem solchen Begriff politischer Feindschaft

entspreche die Auffassung des Politischen als Duell. „Diese

Situation liegt dann vor, wenn zwei Menschen einen zwischen

ihnen bestehenden Konflikt als einen unbedingten empfinden, der

also nur in der Vernichtung des einen durch den anderen seine

Lösung finden könne.“419 Bubers Lesung, die zunächst auf nicht

argumentierte Feststellungen und Entgegenstellungen

hinausläuft, zielt im wesentlichen darauf, dort, wo Schmitt

Situationen global setzt, zu differenzieren, das heißt

seinerseits Unterscheidungen vorzunehmen.

So akzeptiert Buber zwar die anthropologische Voraussetzung

von der bösen Natur des Menschen, insofern das Böse soviel

bedeute wie „keineswegs unproblematisch und gefährlich“420, aber

er hält die Radikalisierung dieser bösen Natur im Sinne einer

absoluten Sündhaftigkeit ihrerseits für gefährlich, ohne dies

zunächst weiter auszuführen. Vor allem aber gelte es innerhalb

des Feindbegriffes zwischen Feind und Feind zu unterscheiden,

418 Ebd., S. 41 ff.419 Buber, Die Frage an den Einzelnen, S. 79.420 Ebd., S. 83.

187

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

nämlich zwischen dem äußeren und dem inneren Feind. Während

nämlich der äußere Feind „kein Interesse an der Erhaltung des

Staates“ habe, sei der innere Feind – Buber nennt ihn den

Empörer – durchaus an dem Fortbestand des Staates

interessiert.421 Er wolle den Staat nur verändern. Somit sei der

äußere Feind kein eigentlich politisches Problem, womit also

erst der innere Feind, wenn er die existierende Ordnung in

Frage stellt, tatsächlich „das Politische“ meint. Buber

konstatiert, indem er Schmitts Rhetorik aufnimmt:

Die Höhepunkte der konkreten Politik sind nicht, wie Schmittmeint, zugleich die Augenblicke, in denen der Feind inkonkreter Deutlichkeit als Feind erblickt wird, sondern essind die Augenblicke, in denen eine Ordnung vor derernstesten Verantwortung des sich mit ihr konfrontierendenEinzelnen die Rechtmäßigkeit ihrer Statik, ihren wenn auchnotwendigerweise nur relativen Erfüllungscharaktererweist.“422

Was Buber mit diesen Unterscheidungen anzeigen will, ist

offenbar folgendes:

Wenn mit dem Begriff des Politischen gerade die Theologie

entmächtigt, das heißt ins Private abgedrängt werden soll, so

gelingt diese Entmächtigung nur um den Preis einer

Dämonisierung des Menschen, die in letzter Instanz eben doch

wieder theologisch begründet ist. Die Idee von der absoluten

Sündhaftigkeit ist damit für Buber zugleich die Bedingung der

Möglichkeit wie eben die Verhinderung des rein Politischen. Auf

der einen Seite soll mit ihr die Politik von jedem

innerweltlichen Messianismus befreit werden, auf der anderen

Seite aber muß diese Politik, weil jede Kritik schon als

421 Ebd., S. 80.422 Ebd., S. 82.

188

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Extremfall von Rebellion gegen die Ordnung an sich begriffen

wird, in einer absoluten Statik gefrieren.

Den verborgenen theologischen Untergrund von Schmitts Begriff

des Politischen analysiert Buber am Beispiel des Schmitt

nahestehenden dialektischen Theologen Friedrich Gogarten423.

Wenn Schmitt Stirners Lehre vom Ich politisch aktualisiert, so

vollstreckt Gogarten – im Sinne des geisteswissenschaftlichen

Parallelogramms Bubers – die politischen Konsequenzen der rein

theologischen Begründung des Individuums bei Kierkegaard. Beide

Versuche nun begegnen sich auf der Grundlage der Lehre von der

absoluten Sündhaftigkeit des Menschen, von der her die

existentialistischen Positionen Stirners und Kierkegaards sich

als ein Nichteinmischungsprinzip auf der politischen Ebene

darstellen, das auf einem positiven und vollen Einvernehmen

beruht.

Die in der Ich-Du-Beziehung zwischen Mensch und Gott424 sich

offenbarende böse Natur des Menschen, die in der Einsicht des

Römerbriefes sich ausspricht: Das Gute, das ich will, tue ich

nicht, und das Böse, das ich nicht will, tue ich (Röm. 7,19),

führt bei Gogarten zu der entscheidenden Rechtfertigung des

Politischen als notwendige Beherrschung der in sich bösen

423 Vgl. Gogarten, Politische Ethik. In der Vorbemerkung zur zweiten Ausgabe seines Buches Politische Theologie, S. 8, schreibt Schmitt: „Von protestantischenTheologen haben besonders Heinrich Forsthoff und Friedrich Gogarten gezeigt, daß ohne den Begriff einer Säkularisation ein Verständnis der letzten Jahrhunderte unserer Geschichte überhaupt unmöglich ist. Freilich stellt in der protestantischen Theologie eine andere, angeblich unpolitische Lehre Gott in derselben Weise als das ‚Ganz Andere‘ hin, wie für den ihr zugehörigen politischen Liberalismus Staat und Politik das ‚Ganz Andere‘ sind.“ Schmitt hat zumindest Gogartens intensive Auseinandersetzung mit seiner Politischen Theologie offenbar nicht wahrgenommen, vgl. etwa Politische Ethik, S. 135424 Gogarten bezieht sich in seiner Theologie tatsächlich positiv auf MartinBuber, Ich und Du, Leipzig 1923, um das unmittelbare Verhältnis Mensch/Gott zubeschreiben, s. Gogarten, Politische Ethik, S. 127

189

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Freiheit des Menschen. Mit Römer 13 rechtfertigt Gogarten die

strenge Obrigkeit, die gegen „den Haß und das Gegeneinandersein

der Menschen Schranken“ errichtet, „so daß es nicht zum

Schlimmsten kommt und die Menschen sich gegenseitig zerstören

und verzehren“425. Betrifft der Glaube und die Rechtfertigung

durch den Glauben dabei immer nur die Dimension der

individuellen Beziehung des Menschen zu Gott, so hat sich

dieser Mensch, was den Staat angeht, dessen Macht zu

unterstellen, weil sie aus dem Glauben an die von Gott

eingesetzte Macht gegen die Sünde legitimiert ist.

Indem nun Gogarten die Lehre Schmitts vom Feind explizit

theologisch begründet, nämlich aus der Erbsünde, zeigt sich für

Buber nicht nur das erwähnte Einvernehmen zwischen autoritärer

Politik und individualistischer Theologie im Sinne eines

Nichteinmischungspaktes bei gegenseitigem vollem Einvernehmen,

sondern es zeigt sich vor allem der ganze Widerspruch beider –

der politischen Theologie Schmitts und der dialektischen

Theologie Gogartens. Zunächst nämlich ergebe sich schon aus der

Paulinischen Lehre, die den Menschen als erlöst und unerlöst

zugleich auffaßt, das Problem, wie Gogarten „aus der

dialektischen Verbundenheit beider Momente die Unerlöstheit

herausbrechen und gesondert verwenden kann. Im Angesicht von

Menschenordnungen kann der Mensch nicht rechtmäßig als

schlechthin sündhaft bezeichnet werden, weil die Distanz fehlt,

die allein die Unbedingtheit zu begründen vermag.“426 Damit aber

sagt Buber im Grunde, daß der Politiker für sich selbst diese

425 Ebd., S. 107. Gogarten verweist in diesem Zusammenhang auf Gal. 5,15: „Wenn ihr einander beißt und verschlingt, dann gebt darauf acht, daß ihr euch nicht gegenseitig umbringt.“426 Buber, Die Frage an den Einzelnen, S. 85 f.

190

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Distanz in Anspruch nehmen muß und sich selbst zu der Instanz

verabsolutiert, die dem Bösen selbst enthoben sein muß. Besteht

die eigentliche politisch-theologische Ironie darin, daß

Gogarten die Beziehung des Ich zu Gott ausgerechnet über Bubers

dialogische Lehre von „Ich und Du“427 zu begründen versucht, um

von dort aus Schmitts politische Theologie mit Paulus’

Verständnis von Sünde und Obrigkeit zu legitimieren, so zeigt

Buber nun, daß die Autorität des Staates, indem sie zwar durch

das Böse gerechtfertigt werden und im Sinne Gogartens als

Souveränität und Autorität schon das „Eingesetzte“ und die

„Vollmacht“ sein soll, selbst eigentlich schon das vom Bösen

Erlöste sein muß.428

Die Theologie des autoritären Polizeistaates erlaubt es nicht

nur, die latenten Widersprüche von Schmitts Theorie des

Politischen aus dem Begriff des Feindes in ein klares Licht zu

stellen, sondern sie demonstriert ihre eigenen Widersprüche,

die sich aus der dem rein Politischen gemeinsamen Definition

der absolut bösen Natur des Menschen ergeben. Wenn Schmitt und

Gogarten nämlich den Kern der Sünde des Menschen – und die

Moderne mit ihrer Politik der Emanzipation ist für beide der

Inbegriff der Sünde bzw. des Bösen – im Mißbrauch der Freiheit

als Autonomie und Individualismus erkennen, die darauf

hinauslaufen, den Menschen von dem Bösen zu befreien und somit

selbst als Gott einzusetzen, dann widerlegen sich beide

Theorien des Politischen in dem Augenblick, wo sie die

politische Macht an sich schon als göttliche Vollmacht

definieren, die dem Kreis der Schöpfung und damit der

Anfälligkeit zum Bösen enthoben sein soll. Beide reproduzieren 427 Buber, Ich und Du, vgl. Anm. 22.428 Buber, Die Frage an den Einzelnen, S. 89.

191

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

damit nur die Problematik, die sie an der emanzipatorischen

Moderne kritisiert haben, auf der Ebene der souveränen Macht.

In diesem Kontext einer aus den Grundlagen des Denkens

deduzierten radikalen Krise von Humanität, Ethik und Politik

entwickelt Buber nun seine eigene Konzeption des dialektischen

Verhältnisses von Individuum, Gesellschaft und Politik aus der

biblischen Auffassung der „Vollmacht“ als dem von Gott

eingesetzten Amt: „Das Alte Testament weiß in Geschichten von

Königen Israels und in Geschichten von Fremdherrschern von der

Abartung der Rechtmäßigkeit in Unrechtmäßigkeit und der

Vollmacht in Widermacht zu berichten.“429 Mit der göttlichen

Beauftragung ist zunächst immer schon die Möglichkeit gegeben,

daß der beauftragte einzelne gegen Gottes Auftrag handelt und

den Auftrag verrät. Dieses Zuwiderhandeln ist für Buber nichts

anderes als die Umdeutung des für eine bestimmte, zeitlich

begrenzte Aufgabe definierten Gottesauftrages in eine

Dauerlizenz. Statt den Auftrag im Sinne einer durch Gott

aufgetragenen Verantwortung für die Gesellschaft „ins Werk zu

setzen“, dient er in diesem Fall zu einer souveränen

Selbstermächtigung durch den Beauftragten.

Mit Gogarten also besteht Buber auf der Idee einer im Dialog

zwischen Gott und dem einzelnen erfolgten „Einsetzung“ der

Vollmacht. Gegen Gogarten aber erkennt er diesen Auftrag nicht

als eine Einsetzung über die Gesellschaft, sondern für die

Gesellschaft, also nicht im Sinne einer Legitimation souveräner

Herrschaft, sondern im Sinne der Herstellung einer mit der

dialogischen Beziehung zu Gott gleichsam schon mitdefinierten

dialogischen Verfaßtheit der Gesellschaft, d. h. einer auch im

429 Ebd.192

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Dissens herrschaftsfreien Kommunikation der Gesellschaft. Der

von Gott Berufene soll an den dialogischen Auftrag erinnern,

sofern er in Vergessenheit geraten ist. Im Sinne eines von

vornherein temporal begrenzten Auftrages für die Gesellschaft

muß der mit einer besonderen Verantwortung beauftragte einzelne

immer auch von seinem Auftrag zurücktreten, sobald er erfüllt

ist.

Wenn Buber den Auftrag mit Max Webers Begriff des Charismas

tatsächlich als Charis, nämlich als „Gabe" definiert, in der

sich Gott dem einzelnen mitteilt und ihm den göttlichen Auftrag

erteilt430, dann besteht die eigentlich „politische“ Verkehrung

dieses Auftrages darin, sich diese Gabe als Besitz anzueignen

und sich durch diese Aneignung eine besondere Autorität

zuzusprechen, die sich über die Gesellschaft stellen will.431

Diese Verkehrung des Auftrags ist Funktion der grundsätzlich

bösen und gefährlichen Natur des Menschen. Gegen eine solche

Verdinglichung und Aneignung der Gabe als des göttlichen

Geistes bedarf es allerdings, sobald sich aus ihr eine Macht

konsolidiert, der rebellischen Gegeninstanz eines Einzelnen,

der an den ursprünglichen Auftrag erinnert und im Namen derer,

die unter der verfestigten Machthierarchie leiden, dessen

unmittelbare Umsetzung einklagt. Dieser einzelne ist der

„innere“ Feind, in dem Buber den wahren politischen Feind

erkennt und der in der Notsituation der Aufkündigung des 430 Buber, Königtum Gottes, S. 144. Dort stellt Buber fest, daß „die soziologische Utopie einer Gemeinschaft aus Freiwilligkeit nichts anderes als die Immanenzseite der unmittelbaren Theokratie“ sei. Nicht unwahrscheinlich ist, daß Buber den eigenen Entwurf des Königtums Gottes inBegriffe etwa der Soziologie Karl Mannheims (Ideologie und Utopie, Frankfurt a. M. 1952 [1929]) übersetzen will. Zu Bubers Utopiebegriff vgl. Martin Buber,Pfade in Utopia, Heidelberg 1985 (1950); ders., Der utopische Sozialismus, Köln 1967.431 Buber, Königtum Gottes,

193

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

göttlichen Auftrags, dem Staatswesen gegenübertritt. Buber

erkennt den Archetypen dieses Rebellen in der biblischen

Instanz des Propheten.

III Die Aporie des jüdischen Begriffs des Politischen

Buber ist zuerst und vor allem engagierter Zionist.432 Mit Herzl

erkennt er im politischen Zionismus die Möglichkeit einer

radikalen und gerechteren Einrichtung der jüdischen

Gesellschaft. Gegen den politischen Zionismus macht Buber

allerdings schon früh geltend, daß diese Gerechtigkeit für das

jüdische Volk nicht die Ungerechtigkeit gegen das arabische

Volk in Palästina rechtfertigen darf.433 Der Zionismus ist so

für Buber immer schon in der Gefahr, den eigenen

theopolitischen Auftrag zu verraten, d. h. nun seinerseits die

Autonomie des Politischen gegen das Theologische zu behaupten

und im Sinne von Herrschaft und Macht zu instrumentalisieren.434

Die Trennung von Theologie und Politik gehört zum Wesen der

exilischen Tradition selbst, die zwei Jahrtausende lang durch

die rabbinische Theologie bestimmt ist, gegen die der Zionismus

432 Martin Buber, Kampf um Israel – Reden und Schriften 1921–1932, Berlin 1933; Michael Walzer, „Martin Buber’s Search for Zion“, in: ders., The Company of Critics. Social Criticism and Political Commitment in the Twentieth Century, London 1988, S.64–79kann zwar mit Bubers dialogischer Philosophie nichts anfangen, sieht allerdings auch nicht die enge Verbindung von Bubers Idee der Theopolitik und seinem politischen Engagement, aber seine Rekonstruktion von Bubers Stellung zu Zionismus und zum arabisch-jüdischen Problem gibt vor allem denpragmatischen Sinn von Bubers Haltung wider. 433 Buber, Kampf um Israel ,S.427 ff434 Dan Avnon, „Limmud and Limmudim: Guiding Words of Buber's Prophetic Teaching“, in: Mendes-Flohr, Martin Buber, S.108: „The goal of Zionism shouldbe commensurate with and a continuation of the mission of Israel: to establish a social form of life that will enable the spirit of Elohim to bepresent in the single person and in the community.“

194

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

mit seinem Programm, das Exil zu beenden, zwar aufbegehrt, um

nun allerdings die Trennung von der politischen Seite her nur

zu reproduzieren. Seit der Zerstörung des Tempels 70 n. Chr.

und dem endgültigen Ende der politischen Souveränität Israels

existiert das jüdische Volk als eine Theokratie, die allerdings

politisch einem nichtjüdischen Souverän untersteht. Dina de

Malchuta Dina lautet der rabbinische Grundsatz435, der die

nichtjüdische Obrigkeit als politische Macht anerkennt, solange

die religionsgesetzliche Autonomie der jüdischen Theokratie

unangetastet bleibt. Die Idee einer jüdischen Staatlichkeit ist

prinzipiell an das Erscheinen des Messias gebunden, der mit der

Restauration des jüdischen Staates den Weltfrieden stiftet.

Steht also die politische Souveränität Israels grundsätzlich

unter einem messianischen Tabu, so ist das Exiljudentum

Ausdruck einer fundamentalen Trennung von Theologie und

Politik. In diesem Sinne etwa definiert der neo-orthodoxe

Rabbiner und Rechtsgelehrte Isaak Breuer 1918 das jüdische Volk

als die „messianische Nation, der der Zug zur Souveränität

abgeht, nämlich das Streben nach politischer Macht“436.

Wenn man nun von einem Begriff des Politischen vor dem

Zionismus sprechen möchte, so beruht dieser auf einer radikalen

Trennung von Religion und Politik, also der jüdischen

Theokratie vom Staat. Der Zionismus, in den Worten eines ihrer

radikalsten Vorkämpfer, Jakob Klatzkin, die Säkularisation

435 Yosef Hayim Yerushalmi, Diener von Königen und nicht von Dienern; Glatzer, Geschichte der talmudischen Zeit, hat die Haltung der Rabbiner gegenüber dem eigenen Staat und dem Staat der Nichtjuden nach der Tempelzerstörung und dem Scheitern des Bar-Kochba-Aufstandes systematisch dargestellt.436 Breuer, Programm oder Testament, S. 79. Aber auch weniger orthodoxe Theologen wie Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums oder Leo Baeck, Die Pharisäer. Ein Kapitel jüdischer Geschichte, Berlin 1934 erkennen in der Staatenlosigkeit, der Nichtsouveränität das theologische Wesen Israels.

195

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Israels und die Negation des Exils437, wäre also zunächst nichts

anderes als die Transformation der Theokratie in den Staat und

somit die Suspension der im Exil ausgebildeten

religionsgesetzlichen Verfassung. Indem der Zionismus das

messianische Tabu bricht, vollstreckt aber die Rückkehr zur

jüdischen Souveränität prinzipiell nur die umgekehrte Trennung

von Religion und Politik.438

Wenn aber der Zionismus tatsächlich die Negation des Exils

sein soll, dann bedeutet das natürlich für Buber, daß es sich

hier nicht nur um eine geopolitische Suspension handeln darf,

sondern um einen theologischen Auftrag, der die Trennung von

Politik und Theologie aufhebt und den Zionismus unter den

theopolitischen Auftrag stellt. Buber vollzieht einen so

einfachen wie genialen Schritt, wenn er zu den vorexilischen,

biblischen Ursprüngen des Judentums zurückkehren will und damit

im Grunde die gesamte exilische Geschichte, die gleichsam nur

Spiegelbild der christlichen Trennung von Religion und Politik

ist, als Symptom von Krise und Trennung überspringt. Er

definiert damit die Forderung nach einer radikalen Umwertung

aller rabbinisch-exilischen und aller zionistischen Werte, die

die Wiederherstellung der politischen Souveränität durchaus

auch aus dem biblischen Reich Israels abzuleiten versuchten.

Bubers Theopolitik wendet sich also sowohl gegen die

rabbinische Theokratie als auch gegen die biblisch begründete

zionistische Idee politischer Souveränität. Die Umwertung aller

Werte Bubers zielt nicht auf einen biblisch begründeten Willen

437 Klatzkin, Probleme des modernen Judentums, S. 35.438 Mathias Acher, Die jüdische Moderne, Leipzig 1896, S. 35 definiert die jüdische Moderne geradezu als Rückkehr zur Souveränität.

196

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

zur Macht439, sondern auf einen theopolitischen Auftrag zur

Gerechtigkeit.

Diesen Auftrag zur Gerechtigkeit vertritt Buber, der auf den

zionistischen Kongressen sozusagen selber als Charismatiker in

der Notsituation auftritt und einen Zionismus predigt, der auf

jede Heiligung des nationalen Egoismus verzichten muß.440 Von

hier aus entwickelt Buber seine unbedingte Forderung nach einer

Verständigung mit dem arabischen Volk in Palästina und die Idee

vom binationalen Staat. Buber will die biblische Theopolitik,

und das heißt die Idee eines absoluten Königtums Gottes, für

den Zionismus aktualisieren.441

IV Das Königtum Gottes

Buber entwirft den Begriff der Theopolitik als des Königtums

Gottes in dem gleichnamigen Buch von 1932 (1936) am Beispiel

des sogenannten Gideonspruches (Richter 8,21), also Gideons

Ablehnung der ihm durch das israelitische Volk angebotenen

Königskrone.

Sein Nein, aus der Situation geboren, will für alle Zeitenund Geschichtszeiten als ein unbedingtes gelten. Denn esleitet zu einem unbedingten Ja hin, dem einerKönigsproklamierung in aeternum. Ich, Gideon, werde nichtüber euch walten, mein Sohn wird nicht über euch walten.Darin ist beschlossen: kein Mensch soll über euch walten,

439 Klatzkin, Schkiat HaChaijim; Micha Josef Berdyczewski, Nachgelassene Schriften, Berlin 1926. Zu Bubers Verhältnis zu Nietzsche vgl. Paul Mendes-Flohr, „Zarathustras Apostel – Martin Buber und die jüdische Renaissance“, in: Jakob Golomb (Hrsg.), Nietzsche und die jüdische Kultur, Wien 1998.440 Buber, Kampf um Israel, S. 426.441 Ebd., S. 423.

197

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

denn es folgt: JHWH der Gott selber und er allein ist es, derüber euch walten soll.442

Am Beispiel Gideons konstruiert Buber innerhalb der

eigentlichen biblischen Geschichte eine ihrerseits absolut

ursprüngliche Urschicht der Theopolitik, die noch vor der

Entstehung des israelitischen Königtums liegt. Ob Konstrukt

oder historische Rekonstruktion,443 es ist die Epoche der

absoluten Einheit des theologisch-politischen Auftrags, der

sich allein aus dem Charisma, der göttlichen Charis, der Gabe,

begreift und aus diesem keinen andauernden, geschweige denn

erblichen Besitzanspruch ableitet. Diese reine Theokratie ist

unmittelbares Königtum Gottes, dessen Sinn eben darin besteht,

daß kein Mensch über den anderen Menschen herrschen soll, d. h.

positiv: daß jeder Mensch ohne Aufsicht eines anderen seine

individuelle Freiheit im Rahmen der Gemeinschaft entfalten

kann. „Es gibt“, schreibt Buber, „im vorköniglichen Israel kein

An-sich der Herrschaft, denn es gibt keine politische Sphäre

außer der theopolitischen“444.

Bildet nun diese Urzeit für Buber keine unhistorische

Idealkonstruktion, sondern das Stadium eines „geschichtlich

lokalisierbaren Willens“, so ergibt sich aus der Ablehnung der

Krone schon im Ansatz eine innere dialektischen Spannung, das

heißt die mögliche Dissoziation des Politischen vom

Theologischen, deren Echo Buber am Beispiel der beiden im

Richterbuch erkennbaren Reduktionstendenzen nachzuweisen sucht:442 Buber, Königtum Gottes, S. 3.443 Vgl. Karl-Johan Illman, „Buber and the Bible“, in: Mendes-Flohr, Martin Buber, S. 99: „We may conclude that the basis of Buber's theopolitical principle is very weak indeed. It could not carry the burden of his hypothetical assumptions about an early primitive monotheism that demanded direct theocracy […] Far more than the dialogical principle, the theopolitical principle stands and falls with its historical accuracy.“ 444 Buber, Königtum Gottes, S. 140.

198

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

die eine, auf Gideons Linie, antimonarchistisch, die andere

monarchistisch. Diese monarchistische Tendenz nun tritt gegen

die reine Theokratie mit dem Argument an, daß „das, was sie für

Theokratie ausgebe, doch nur Anarchie sei“445. Sehr anschaulich

wird diese monarchistische Gegentendenz zu Gideon in der

kleinen biblischen Erzählung von dem Mann Micha, der ein

eigenes Gotteshaus sich einrichtet, um dort seinen Heimgötzen

zu installieren und anzubeten. Der biblische Text erläutert den

Vorfall so: „Zu dieser Zeit war kein König in Israel und jeder

tat, was ihm recht dünkte.“ (Richter 17,6) Die Theokratie wird

also als chaotische Anarchie denunzierbar, in der der Mensch

seiner gefährlichen, bösen Natur freien Lauf lassen kann. Die

theopolitische Freiheit soll als sündige Freiheit zum Götzen

entlarvt werden. Damit steht bereits die Urphase des Königtums

Gottes in der Gefahr, zur Grundlage einer zentralistischen

Verfassung zu werden, die aus dieser als sündig verstandenen

Freiheit des Menschen die Notwendigkeit einer irdischen Macht

und Autorität ableitet.

Buber rechnet der Antimonarchie mit dem Charisma

Ursprünglichkeit, Unmittelbarkeit, Mündlichkeit, der

monarchischen Tendenz die geordnete Verfassung, Mittelbarkeit

und Schriftlichkeit zu. Dies wären also die Indizien für eine

präsentische Metaphysik.446 Wie auch immer man Bubers 445 Ebd.446 Seit Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a. M. 1976, und ders., Grammatologie, Frankfurt a. M. 1983 setzt sich jeder Diskurs der dekonstruktiven Kritik als „präsentisch“ aus. Derridas Essay über Levinas, „Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken Emanuel Levinas“, in: Die Schriftund die Differenz ist in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung, weil er zu zeigen versucht, daß die Kritik der Gewalt im Sinne Levinas der Gewalt nicht entkommen kann. Die Diskussion zwischen Marion und Derrida über die Möglichkeit der Gabe ist dabei nicht weniger von Bedeutung, insofern sie unmittelbare Konsequenzen für Bubers Theorie der Charis hat. Vgl. Robyn Horner, Rethinking God as Gift. Marion, Derrida and the Limits of Phenomenology, Fordham

199

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Charakterisierung der beiden Tendenzen im einzelnen beurteilen

will, so geht es in der mit Gideon sich meldenden Dialektik im

Grunde immer nur um eine Frage: wem das Prädikat König zustehen

soll. In dem Augenblick, wo der von Gott berufene, in Israel

für sein Volk handelnde Richter über seinen Auftrag hinaus die

eigene Position zu konsolidieren und zu institutionalisieren

sucht, beginnt sich die ursprüngliche Gesellschaft, die Buber

als eine „vollkommene Gemeinschaft aus Freiwilligkeit“447

bezeichnet, in eine durch Gesetz und Verfassung geregelte

Ordnung zu verwandeln. Damit ist für Buber schon der Anfang des

Unrechts gesetzt, insofern die Verfassung notwendig auf die

Mitglieder der Gemeinschaft beschränkt ist und es mit der

Ausgrenzung des anderen der Macht bedarf, die das Gesetz

durchsetzt. Diese Konsolidierung birgt in sich damit auch schon

die Gefahr, dem theologischen Auftrag innerhalb dieser Ordnung

eine spezifische Rolle, einen Ort, Tempel und Kult zuzuweisen,

so daß „das Königtum Gottes“ immer mehr nur noch der

Legitimation des sich etablierenden irdischen Königtums dient.

Indem sie den Auftrag verrät, verwandelt sich die Theopolitik

in politische Theologie.

2001. Der Dekonstruktivist wird eine jede Lehre der unmittelbaren, reinen und ethischen Beziehung zum Absoluten ablehnen müssen, während von einem theologisch-dialogischen Standpunkt aus immerhin das Gegenargument ernstzunehmen ist, daß die negative Theologie immer schon die Alternative von positiver und negativer Aussage, von Präsenz und Absenz, in der hymnischen Anrede durchbricht und erst in eine tatsächlich ethische Beziehung transformiert. Von daher erscheint Rose, „Reply from the Single One“, S. 162 im Geiste Derridas gegen Buber zu argumentieren: „The Single One, forced into this holy immediacy, is left to the mercy of his inner terror and of outer violence.“ Aber in Marions Sinne einer „Phänomenologie der Gabe“ ließe sich auch für Buber ein anderes phänomenologisches Profil konstruieren, das die Gabe als den Akt jenseits aller Metaphysik der Präsenz legitimieren könnte. Vgl. v.a. Jean Luc Marion, „In the Name. How to Avoid Speaking of ‚Negative Theologie‘“, in: John Caputo/Michael J. Scanlon, God, the Gift, and Postmodernism, Bloomington 1999, S. 20–42. 447 Buber, Königtum Gottes, S. ?.

200

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Aber diese von Buber gesetzte fundamentale Alternative

zwischen Gottes und des Menschen Königtum ist im Prinzip schon

Ausdruck einer in der Idee der Theopolitik angelegten

Problematik, die den Verdacht einer einfachen präsentischen

Metaphysik einigermaßen entschärft. Gott steht hier für die

absolute Forderung nach Gerechtigkeit. Das heißt immer, daß

jede mögliche Verwirklichung dieser Gerechtigkeit dem absoluten

Anspruch nicht genügen kann und erweitert werden muß. Gott ist

die permanente Differenz zwischen An- und Abwesenheit, von

Absolutem und Realem, so wie der Mensch selbst zum Doppelwesen

wird, das in der jeweiligen Situation verantwortungsvoll

handeln und zugleich das eigene endliche Handeln in Frage

stellen muß. Noch bevor es eine theopolitische Dissoziation

gibt, steht jeder einzelne, insofern er in diesen Dialog

eintritt, in einer Doppelrolle: vor der Aufgabe und der

Unmöglichkeit zugleich, Ordnung zu schaffen.

Buber erklärt das, was man versuchsweise die „theopolitische

Differenz“ nennen kann, anhand des soziologischen Begriffs des

Charismas448, den er im Zusammenhang mit dem theologischen

Begriff der Selbstoffenbarung Gottes als EHJE ASCHER EHJE (Ich

werde sein, der ich sein werde) erläutert.

Das Charisma hängt hier an der Charis und an nichts anderem;es gibt hier kein ruhendes Charisma, nur ein schwebendes,keinen Geistesbesitz, nur ein Geistern, ein Kommen und Gehender Ruach [des Geistes]; keine Machtsicherheit, nur die

448 Vgl. Max Weber, „Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft“, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Johannes Winckelmann Tübingen 1973. Buber füllt die rein formal – soziologische Dimension des Charisma mit der Theologie der Charis, die heute in der neuen theologisch orientierten Phänomenologie Marions systematisch gedacht wird. Marion, The Idol and Distance. Bubers Verdienst besteht in der Verbindung von Theologie undSoziologie, in dem Versuch, die Theologie der Charis sozial – politisch relevant zu machen.

201

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Ströme seiner Vollmacht, die sich schenkt und entzieht. DasCharisma hängt hier an der Charis eines Gottes, der jenesEHJE ASCHER EHJE dem Mose offenbart.449

Damit steht die Charis, wie Buber erklärt, „über allem Gesetz“,

aber nicht im Sinne von Webers reiner Irrationalität oder Carl

Schmitts Nichts der souveränen Entscheidung, sondern im Sinne

einer begrifflich und gesetzlich nicht definierbaren absoluten

Forderung nach Gerechtigkeit. Die Charis über dem Gesetz ist

sozusagen das reine Gesetz vor allem Gesetz, der reine Ruf nach

Verantwortung.

In diesem Sinn deutet Buber die Antwort Gottes auf die Frage

des Moses, wer er denn eigentlich sei, das EHJE ASCHER EHJE,

zuerst als Konjugation der ersten Person dessen, was im Namen

Gottes JHWH in der dritten Person ausgesagt sei. Das HAWA,

HAJA, das in der philosophischen Tradition als „Sein“ übersetzt

wird und zu der Auffassung Gottes als des Wesens, der Einheit

und der Identität hindrängt – Hegels Metaphysik des Geistes ist

die Vollendung dieses Seins- und Identitätsdenkens –, bedeutet

eigentlich vielmehr ein „Geschehen und Ereignis“ Gottes, das

völlig unverfügbar allgegenwärtig sei, das zugleich aber nur im

Zusammenhang mit dem vorher fallenden Gotteswort EHIE IMCHA

(Ich bin bei dir), also der Selbsthingabe Gottes in der Charis

zu verstehen ist.450

Die ursprüngliche Theopolitik gerät dann in ihre eigentliche

radikale Krise mit der an den Propheten gestellten erneuten

Forderung des Volkes, er möge „nun einen König über sie

einsetzen“, einen König, „wie ihn alle Völker haben“ (1. Samuel

8). Diese Forderung führt zu der Einrichtung der Monarchie in

449 Ebd., S. 146. 450 Buber, Königtum Gottes, S. 84.

202

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Israel und damit zu der komplexen Dialektik von König und

Prophet, von Macht und Gerechtigkeitsforderung, die nunmehr die

israelitische Geschichte bestimmen wird. Jetzt verteilen sich

die beiden Aspekte des göttlichen Auftrags, der Verwirklichung

und der Infragestellung, auf zwei verschiedene politische

Instanzen. Den Akt der Usurpation des Königstitels durch den

Menschen nennt Buber „theopolitische Reduktion“. Im Ansatz

zeigt sie sich schon in der Übertragung der Führung von Moses

auf Josua, dann bei Abimelech, dem ersten jüdischen König, und

in voller Ausprägung schließlich bei König Salomon.451

V Die theopolitische Stunde

Buber hat in der Auseinandersetzung mit Carl Schmitt dessen

Redewendung von „den Höhepunkten der konkreten Politik“

übernommen, um die theopolitische Intervention gegen Schmitts

Begriff des Politischen abzuheben. In dem auf der Flucht aus

Deutschland verfaßten Buch Der Glaube der Propheten definiert Buber

einen solchen Höhepunkt konkreter Politik als theopolitische

Stunde. Es geht hier um Jesajas Auftreten gegen den König Ahas.

An diesem Beispiel konkreter Theopolitik läßt sich dieser

Begriff spezifisch als ein messianisches Handeln ausweisen.

Ich übergehe die faszinierenden Ausführungen zum Kontext der

Berufung Jesajas im Todesjahr des Königs Usija, dem König des

Südreiches Judäa, im Jahre 736 v. Chr. und komme sofort zur

historisch-politischen Situation zur Zeit von König Ahas, der

von 736 bis 725 v. Chr. regiert. Das Nordreich – Israel – hat

451 Buber, Der Glaube der Propheten, S. 114.203

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

sich mit Syrien zu einem Angriff auf das Südreich Judäa

verbündet. König Ahas von Judäa will nun mit Assyrien eine

Koalition herstellen, um sich gegen den bevorstehenden Angriff

des nördlichen Feindes zu schützen. „Angesichts der wachsenden

Gefahr (2 Könige 16,3) führt er (Jesaja 3,27) seinen Sohn

durchs Feuer, worunter entweder das wirkliche Opfer des

Erstgeborenen oder dessen Ersatz durch eine Symbolhandlung […]

verstanden werden kann.“452 Dieses kultische Opfer ist schon

ganz Zeichen für seinen politischen Machtanspruch.

JHWH nun sendet Jesaja zu Ahas, und zwar mit dessen Sohn, dem

der Prophet den eigentümlichen Namen „Schaar Jaschuv“ gegeben

hat, was so viel wie „Rest kehrt um“ bedeutet. „An der Hand des

Vaters stellt der Knabe leibhaft den göttlichen Protest gegen

das Erstgeborenenopfer und zugleich die göttliche Mahnung dar:

jetzt beginnt es sich zu entscheiden, wer dem Rest angehört,

der zu mir umkehrt und den ich bewahre.“453 Mit dem Rest ist

hier jene Gefolgschaft der Getreuen Gottes gemeint, die auch in

Krisenzeiten nicht vom Königtum Gottes abfallen. Naturgemäß

handelt es sich bei diesen Getreuen um eine Minderheit, eben

einen Rest.

Was aber soll Ahas tun? Nichts anderes als „den Bündnisplan

aufgeben“. Mit dieser Sendung beginnt Jesajas Kampf gegen die

Bündnispolitik – erst die mit Assyrien (gegen das Nordreich)

und später die mit Ägypten (gegen die mittlerweile gefährlich

gewordenen Assyrer). Die Bündnispolitik ist in den Augen JHWHs

und seines Sprechers nichts anderes als eine gezielte Abkehr

von ihm. So haarsträubend die Idee zunächst erscheinen muß, im

Falle eines militärischen Angriffs sich nicht durch eine 452 Ebd., S. 172.453 Ebd., S. 171 f.

204

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Koalition abzusichern, so besitzt die von Jesaja propagierte

Theopolitik immerhin den real-politischen Aspekt, daß Judäa in

dem Versuch, sich in das Spiel der Großmächte einzumischen,

sicher seine politische Unabhängigkeit einbüßen muß. Jesajas

Politik aber versteht sich freilich, wie Buber meint, als „eine

Politik besonderer Art“454.

Es geht ihr nicht um eine alternative, aus dem Geist des

Friedens geschaffene Bündnispolitik, sondern um ein noch

Grundlegenderes: „In Umkehr und Ruhe werdet ihr befreit werden,

in Stille und Gelassenheit wird eure Macht sein.“ (30,15) Wenn

Buber nun kommentiert, daß „seit Samuels Zeit […] immer wieder

der ungetreue Statthalter Gottes und der unbeauftragte Anwalt

der Gottesherrschaft einander gegenübergestanden“ hätten, es

aber hier ganz unmittelbar um das Eigentliche: „um das Reich“455

gehe, dann kennzeichnet er diese Auseinandersetzung als ein

absolutes „Entweder-oder“ der Entscheidung – als die

theopolitische Stunde, in der die Gelassenheit gegen ein

überstürztes politisches Handeln sich erst auf die wahre

theopolitische Aufgabe besinnt.456

König Ahas nun geht auf Jesajas Rede mit dem Einwurf nicht

ein, denn er „wolle JHWH nicht versuchen“. Das heißt, wie Buber

454 Ebd.455 Ebd., S. 173 f.456 Martin Bubers Denken des theopolitischen Ereignisses im Akt der Gelassenheit erinnert in jeder Hinsicht an Martin Heideggers Lehre vom Ereignis, das sich in der Gelassenheit als Akt des Nichtwollens einstellen kann, vgl. Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie. Vom Ereignis, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 65, Frankfurt a. M. 1989; ders., Gelassenheit, Pfullingen 1959. Die Analogie ist beeindruckend, die Differenz liegt hier freilich im Problembereich der Onto-theologie. Heidegger denkt das Ereignis für die Physis jenseits der Metaphysik, während Buber dieses als Ereignis Gottes denkt, das freilich auch die Bedingungen des metaphysischen Substanzdenkenshinter sich gelassen zu haben scheint, ohne daß Buber tatsächlich die denkerische Arbeit geleistet hätte, derer es hier bedarf.

205

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

meint: „Er will der Religion ihr Recht geben, von dem Bezirk

der Politik, dem der realen Entscheidungen, hat sie sich

fernzuhalten.“457 Diese Weigerung führt zu der berühmten

Prophezeiung von der bevorstehenden Geburt eines Kindes – dem

Gegenkönig Immanuel (8,3). Diese Geburt ist zunächst Ausdruck

des Scheiterns von Jesajas Auftrag und bildet somit gleichsam

das Fleisch gewordene Eschaton.

1) Die Ankündigung von dem „Kind, das uns geboren ist“ und „die

Herrschaft auf seiner Schulter trägt“, ist also für Buber

zuallererst kein Hinweis auf einen geistlichen Gegenkönig wie

im Christentum, sondern auf ein messianisches Königtum als

„wirkliches, politisches, nur eben theopolitisches“ und ein

„mit politischer Macht zur politischen Verwirklichung des

Gottes Willens für Volk und Völker ausgerüstetes Königtum“458.

2) Als so begriffene messianisch-politische Figur ist der

Immanuel, deutsch: „Gott mit uns“, das sich realisierende

Versprechen des JHWH, der sich selbst als EHJE ASCHER EHJE (Ich

werde sein, der ich sein werde) im Sinne des EHJE IMCHA (Ich

werde bei/mit dir sein) offenbart hat. Als solcher ist der

Immanuel also Fürst des Friedens, der von der Urgemeinde des

Rests aus die Politik der Gelassenheit beginnen wird.

3) Es ist entscheidend, dass Immanuel Funktion des verfehlten

königlichen Auftrags und so aus der Spannung von Auftrag und

Infragestellung, also aus der theopolitischen Differenz

„geboren“ ist. Insofern ist er eschatologisch, aber dies in

einem unmittelbaren existentiell-politischen Sinn. Trotz der

utopischen Bildsubstanz, die sich um die Friedensvision

angesammelt hat, liegt das Spezifische der messianischen 457 Buber, Der Glaube der Propheten, S. 178.458 Ebd.

206

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Hoffnung darin, daß sie „die ewig wechselnde Mitte der

erfahrenen Stunde und ihrer Möglichkeit“ benennt.459

4) Daraus folgt, daß es, wie Buber sagt, „den Messias“ als

besondere Kategorie überhaupt nicht gibt: „der Erwartete […]

ist der Gesalbte, der seinen Auftrag erfüllt. Mehr ist nicht

Not.“460

5) Das Warten, auf das Jesaja Ahas zu verpflichten versucht,

ist als Erwartung nicht auf einen einstigen Zeitpunkt

gerichtet, sondern auf die in diesem Augenblick bereits

anwesende Möglichkeit, die – unter der Routine einer auf die

Macht ausgerichteten Politik – als das Unerhörte, Gefährliche

und Böse denunziert wird.

6) Der Immanuel als der Messias – als ein „in der Zeit

charismatisch Waltender“ – muß also aus der historischen

Situation „geboren“ werden.

Bubers Theopolitik, konzipiert aus den biblischen Ursprüngen

der Weltgeschichte, erfüllt sich messianisch, und das heißt,

sie erfüllt sich potentiell in dem Augenblick, in dem der

einzelne in jeder Gegenwart die Möglichkeit zur Herstellung des

Gottesreiches ergreift. Dieser einzelne kann jeder Mensch sein,

dieser Kairos kann schon mit jedem Augenblick begonnen haben.

459 Ebd., S. 180.460 Ebd.

207

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

VerwechslungenAbwege und Abgründe einer jüdischen politischen Theologie

jenseits von Orthodoxie und Liberalismus

I Einleitung

Die Krise des modernen Judentums – so lautet der Befund des

jüdischen Theologen und Religionsphilosophen Hans-Joachim

Schoeps – ist Funktion einer fundamentalen Verwechslung,

nämlich zwischen der jüdischen Religionsverfassung – der

Halacha – und der modernen Ethik der Autonomie.461 Da Schoeps

diese Verwechslung von theonomer Halacha und autonomer Ethik im

Sinne einer umfassenden Kritik an der jüdischen Moderne auf die

politische Revolution zurückführt, die durch die „declaration

des droits des hommes“ in Bewegung gekommen ist, handelt es

sich bei dieser Krise um eine Verwechslung politisch-

theologischer Natur.462

461 Vgl. Hans-Joachim Schoeps, Jüdischer Glaube in dieser Zeit. Prolegomena zur Grundlegung einer systematischen Theologie des Judentums, Berlin 1932. Es geht in meinem Essay vor allem um die politisch-theologische Problematik dieser kritischen Jahre, und ganz und gar nicht um ein Urteil über Schoeps’ umfangreiches und bedeutungsvolles Werk, das das Judenchristentum und besonders die Theologie des Paulus eingehend erforscht hat. Vgl. ders., Urgemeinde, Judenchristentum, Gnosis, Tübingen 1956; ders., Theologie und Geschichte des Judenchristentums, Tübingen 1949; ders., Paulus – Die Theologie des Apostels im Lichte der jüdischen Religionsgeschichte, Tübingen 1959. Diese kleine Untersuchung gehört in eine Reihe von Texten, in denen ich jüdische Reaktionen auf das politisch-theologische Problem vor und während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft zu analysieren versuche. (Vgl. Anm. 2) Der absolute Ausnahmefall, den Schoeps mit seiner „Wende“ zum Faschismus repräsentiert, begründet das Interesse dieser Untersuchung. 462 Den Begriff der politischen Theologie übernimmt Schoeps, ohne dies eigens zu vermerken, offenbar von Carl Schmitt, Politische Theologie. Dabei ist diese oft unausdrückliche Präsenz der Thesen von Schmitts politischer Theologie bis hinein zu Überlegungen zur jüdischen Theologie in keiner Weise überraschend. Jenseits von Walter Benjamins berühmtem dreifachen

197

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Diese vortreffliche Verwechslung aber bestimmt den ganzenbisherigen Verlauf der neuzeitlichen jüdischenReligionsgeschichte und ist um ein leichtes aus demSchrifttum des 19. Jahrhunderts [...] zu verifizieren. Dienähere Erläuterung der hier bestehenden Zusammenhänge, die inden Fragenkreis der „politischen Theologie“ hineingehören,würde auf alle die Probleme führen, deren grundsätzlicheLösung für die Zukunft des Judentums Entscheidungscharakterhaben.“463

Das Gesetz Gottes wird zum Gesetz der Selbstbestimmung, das

sich der Mensch in der Polis selbst gibt. Wenn es sich also um

eine Verwechslung, d.h. um eine nicht legitime Gleichsetzung,

handeln soll, so bedarf es einer Dissoziation dieser beiden

vermeintlich identischen Verfassungen und der diese

Verfassungen tragenden metaphysischen Entitäten von Gott und

Mensch. „Gott ist Gott, und Mensch ist Mensch“464, resümiert

Schoeps den ersten Sinn dessen, was er in Anlehung an die

dialektische Theologie des Protestantismus als „Besinnung“

vollziehen will.

Nun meint Schoeps aber, daß eine Rückkehr zur orthodoxen

Verfassung des Judentums unter den Bedingungen dieser

Zitat der politischen Theologie im Trauerspielbuch (in: Gesammelte Schriften, Bd. II.1, S. 412 f.) bestimmt die politisch-theologische Problematik v. a.:Hans Kelsen, „Gott und Staat“, in: Logos – Zeitschrift für Philosophie der Kultur, XI, 1923, S. 261–284, Breuer, Programm oder Testamen, Ignaz Maybaum, „Der Jude unddie Politik der Zeit“ (Jüdische Rundschau vom 4. VIII. 1931), ders., „Theologie und Politik“ (Der Morgen, VII, 1932). Martin Bubers Begriff der Theopolitik, der in seiner Untersuchung Königtum Gottes, Berlin 1932, eine zentrale Rolle übernimmt, entstammt, folgt man Bubers Die Frage an den Einzelnen,tatsächlich aus einer kritischen Auseinandersetzung mit Carl Schmitt und dem ihm politisch folgenden Friedrich Gogarten. Ich habe in meinem Buch Der Häretische Imperativ zu zeigen versucht, wie selbst die Wiederentdeckung der Kabbala durch Gershom Scholem sich als Reflex auf die politisch-theologische Problematik im Deutschland der zwanziger und dreißiger Jahre auffassen läßt. Vgl. auch meinen Essay, „Wa Taschlech Emet Arza – Und er warf die Wahrheit zu Boden. (Daniel 8:12) – Apokalypse, politische Theologie und Historiographie der Kultur in Elias Bickermanns Der Gott der Makkabäer, Berlin 1937“, in: Brokoff/Jacob, Apokalypse und Erinnerung. 463 Schoeps, Jüdischer Glaube, S. 4.464 Ebd.

198

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

existenziell-theologischen Notlage genauso unmöglich sei wie

die vorbehaltlose Liberalisierung der Theologie. Es gelte,

genauso „dem liberalen Irrwahn entgegenzutreten“, wie man die

„Ungeschichtlichkeit des orthodoxen Anspruchs“ abwehren müsse,

die glaubt, im „Versenken in die Streitigkeiten der

halachischen Gesetzeskommentierung“ könnte der „konkreten

Notlage der allgemeinen Glaubenslosigkeit“465 begegnet werden.

Die Trennung der inkommensurablen Verfassungen – der

religiösen und der politischen Verfassung – zielt auf ein

„prinzipielles Jenseits von Orthodoxie und Liberalismus“,

dessen existenziell-theologisches Fundament Schoeps vor allem

in den „Prolegomena zur Grundlegung einer systematischen

Theologie des Judentums“ von 1932 darlegt, dessen praktisch-

politische Implikationen er dann 1934 im Rahmen des populären

Pamphlets „Wir deutschen Juden“ formuliert,466 das sich an die

deutschen Juden als politische Öffentlichkeit wendet. Hier wird

das existenziell-theologische Jenseits wieder politisch

diesseitig, d.h. es kommt zuletzt, gegen die explizite

Intention, zu einer neuen Verwechslung zwischen Theologie und

Politik, diesmal zwischen der Theologie der Offenbarung und dem

Führerstaat. Dabei gilt es allerdings noch einmal entschieden

zu differenzieren zwischen der Rolle der Politik im deutschen

465 Ebd.466 Hans-Joachim Schoeps, Wir deutschen Juden, Berlin 1934. Diesen Text veröffentlicht Schoeps zugleich mit seiner Fortführung der in Jüdischer Glaube in dieser Zeit formulierten Prolegomena in Berlin. Im Vorwort meint Schoeps immerhin, seine Leser vor einer nur politischen Lesung dieses Textes warnenzu müssen: „Ich darf betonen, daß dieses Werk im Unterschied zu einem Teil meiner Arbeiten streng wissenschaftlich orientiert ist und mithin den Aspruch erhebt, entsprechend beurteilt zu werden. Demzufolge möchte ich auch an meine jüdischen Kritiker die leider nötig gewordene Mahnung zu intellektueller Redlichkeit richten, nicht die eigenen Haßgefühle sachlich zu drapieren, sondern lieber zu schweigen, als unangemessen zu urteilen.“ (S. ?)

199

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

und im genuin jüdischen Kontext, die Schoeps in der Tat nach

1933 in einer schizophrenen Form noch einmal zusammenzudenken

versucht.

Ziel der folgenden Untersuchung ist es, Schoeps’ Theologie

als esoterisch-exoterische Doppelstrategie darzustellen, d.h.

als Versuch, die esoterische Erkenntnis von der Krise der

modernen jüdischen Theologie in eine öffentlich-praktische

Strategie zu übersetzen. Erst über diese Übersetzung des

theologischen Textes in die populär-politische Sphäre können

die genannte schizophrene Form seiner deutsch-jüdischen

politischen Theologie, aber auch der fundamentale performative

Widerspruch von Schoeps Theologie, die eigene

politisch/theologische Verwechslung also, ganz offenbar werden.

II Grundriß einer neuen jüdischen Theologie

Das Programm der Disjunktion von jüdischem Religionsgesetz und

bürgerlichem Liberalismus enthält implizit und notwendig das

Programm einer Emanzipation von dem Modell der protestantischen

Theologie des 19. Jahrhunderts mit ihrer Fusion von Theologie

und Ethik bzw. Protestantismus und Kultur. Diese Loslösung aber

von dem protestantischen Modell will Schoeps nun gerade in

Anlehung an die neue protestantische Theologie, also der

dialektischen Theologie Karl Barths467 vollziehen. Die in dieser467 Vor allem Karl Barth, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, München 1924, spielt eine zentrale Rolle in der von Schoeps intendierten Neubegründung jüdischer Theologie jenseits des Liberalismus. Aber die Aufkündigung einer jeden Symbiose zwischen Glauben und (liberaler) Kultur gehört natürlich schon zum Pathos von Karl Barth, Der Römerbrief, München 1923. Solche Sätze wie: „Keine Vermählung und Verschmelzung zwischen Gott und Mensch findet hier statt. Kein Aufschwung des Menschen ins Göttliche und keine Ergießung

200

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

neuen Theologie vollzogene Disjunktion von Theologie und

liberaler Kultur, von Glauben und bürgerlichem Gesetz wird

damit nicht nur zum Modell für eine innerjüdische Disjunktion

von Religionsgesetz und Staatsgesetz, sondern zugleich für eine

neue Bestimmung des Verhältnisses von Judentum und Christentum.

Zunächst also stellt Schoeps das beiden Theologien gemeinsame

Interesse in den Vordergrund: „Die Synagoge hat, genauso wie

die Kirche, den Auftrag, in ihrer Predigt an die Welt zur

Geltung zu bringen, daß Gott der Herr ist, und daß die Welt,

die sich seinem Herrschaftsanspruch entzieht, dem Gericht

verfällt.“ 468 Schoeps bezieht sich in dieser Forderung nach

einer Emanzipation Gottes vom autonomen Herrschaftsanspruch des

Menschen vor allem auf Karl Barth, und das heißt hier auch auf

die Einsicht Barths, daß das Wort des souveränen Gottes nur in

der stets unzulänglichen menschlichen Sprache sich darstellen

läßt. „Keine Theologie wird jemals etwas anderes als

menschliche Besinnung [...] auf das Wort Gottes und

menschliches Sprechen über es sein, nie und nimmer aber das

Wort Gottes selber, das sich keinem Menschen [...] zur

Verfügung stellt.“469

Eben diese hermeneutische Voraussetzung der dialektischen

Theologie ermöglicht zugleich einen neuen Zugang zum Text des

Alten Testaments, der in der protestantischen Wissenschaft vom

Gottes ins menschliche Wesen.“ (S. 6) So heißt es bei Barth auch einmal: „Wir VERWECHSELN die Zeit mit der Ewigkeit.“ (S. 20) oder an anderer Stelle: „Jene VERTAUSCHUNG rächt sich, sie wird ihre eigene Strafe.“ (S. 26) Die Liste ließe sich unendlich fortsetzen. Im Unterschied jedoch zu Schoeps zielt Karl Barths radikale Kulturkritik aber nicht auf eine Abkehr von der modernen Idee politischer und sozialer Emanzipation und Freiheit, sondern trennt diese Idee nur von jeder messianisch inspirierten Theopolitik.468 Schoeps, Jüdischer Glaube, S. 3.469 Ebd., S. 5.

201

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Alten Testament im 19. Jahrhundert nur unter dem Aspekt des

christologischen Hinweises und dann im Zuge der Säkularisation

der theologischen Wissenschaft als ein Objekt philologischer,

historischer und soziologischer Analyse gelesen werden konnte,

und von hier aus ermöglicht sie den Ansatz zu der geforderten

Abgrenzung zwischen Judentum und Christentum. Mit anderen

Worten: Der von der dialektischen Theologie gesetzte

hermeneutische Zugang, der auch das wissenschaftliche Denken

unter den Primat des „existenziell – revolutionären Glaubens“

stellen soll, ermöglicht erst ein rechtes Verständnis dessen,

was das Wort Gottes im Alten Testament bedeutet. Dieses

alttestamentliche Wort aber ist das verkündete Gesetz.

Auch hier noch verständigt sich Schoeps mit einer Einsicht

der dialektischen Theologie470, nämlich der, daß „auch der

oberflächliche Beobachter nicht umhin kann, die Rolle des

göttlichen Gesetzes als ein spezifisches zu bewerten“, und daß

das „rechte Verständnis des alttestamentlichen Heilsgesetzes

[...] durch die fatale Identifikation des alttestamentlichen

mit dem Vernunftgesetz verdunkelt worden ist“ 471. Statt daß

also der Theologe mithilfe seiner philologisch-

wissenschaftlichen Methodik souverän über das Objekt des Textes

verfügt, soll – das ist der hermeneutische Sinn der Insistenz

auf dem unendlichen qualitativen Unterschied zwischen Gott und

Mensch – das Wort des souveränen Gottes über den Menschen

verfügen, und das heißt für den jüdischen Kontext, daß das

göttliche Gesetz über den Menschen und nicht der Mensch über

den Inhalt des göttlichen Gesetzes verfügen soll.

470 Vgl. Emil Brunner, „Die Bedeutung des Alten Testaments für unseren Glauben“, in: Zwischen den Zeiten 1, 1930.471 Schoeps, Jüdischer Glaube, S. 23.

202

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Schoeps’ Rekapitulation der Geschichte der Wissenschaft vom

Alten Testament von Lorenz Bauer über Gustav Friedrich Oehlers

„Prolegomena zur Theologie des alten Testaments“472 bis zu Max

Webers „Religionssoziologie“473 dokumentiert nicht nur den

christlichen Primat dieser Wissenschaft, sondern vor allem

ihren Zerfallsprozeß, in dem „zuletzt alles geschichtlich und

wissenschaftlich begriffen“ wurde, aber ohne „einen lebendigen

Gott“. Auch wenn die dialektische Theologie diesen

Zerfallsprozeß dann radikal überwinde, indem sie, wie bei

Walther Eichrodt, wieder davon ausgehe, daß „es des Glaubens

bedürfe, der als das Erkenntnisorgan für die pneumatische Welt

wirklich die Welt der Bibel aufschließen könne“474, so gelte in

letzter Instanz, daß ein Christ eben nicht zugeben könne, „daß

das alte Testament für sich ausreichende Offenbarung und

alleiniger Glaubensgegenstand sein und das Gesetz auch ohne

Christus Heilscharakter“475 haben könne. So liefert also die

dialektische Theologie die Bedingungen für eine Umkehr

theologischen Denkens, die auch für die jüdische Theologie

maßgebend werden muß, aber es bedarf doch eines letzten

radikalen Rückzugs in die eigentliche jüdische Tradition, „denn

bis auf den heutigen Tag hängt die Decke Mosis über dem

Verständnis des Alten Testaments (2. Kor. 3,14)“476. Genau hier

also scheint sozusagen der Ansatzpunkt bezeichnet zu sein, wo

der jüdische Theologe sich vom Paradigma der protestantischen

Theologie unbedingt zu trennen hat: in der Forderung nach einem

472 Gustav Friedrich Oehler, Prologomena zur Theologie des alten Testaments, Stuttgart,1845.473 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen 1920.474 Schoeps, Jüdischer Glaube, S. 20.475 Ebd., S. 24.476 Ebd.

203

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

adäquaten theologischen Verständnis des Heilscharakters des

Gesetzes (nach dessen fataler Verwechslung mit dem Gesetz der

praktischen Vernunft der Autonomie bzw. den Menschenrechten).

Aber genau hier nun, wo der Ansatzpunkt für eine „autonome“

Konzeption des Judentums gegeben wäre, zeigt sich auch, daß es

Schoeps gar nicht primär um das Gesetz, sondern wie den

dialektischen Theologen doch um den Glauben geht. Wenn die

„Ungeschichtlichkeit des orthodoxen Anspruchs“, durch ein

„ernsthaftes Versenken in die Streitigkeiten der halachischen

Gesetzeskommentierung“ zurück zu den Wurzeln des Judentums zu

gelangen, „unserer konkreten Notlage der allgemeinen

Glaubenslosigkeit“ tatsächlich nicht gerecht werden könne477, so

gelte es „vor der Übernahme des Gesetzes erst einmal die

Daseinshaltung zu übernehmen, auf die hin das Gesetz gegeben

ist und in der es im Heilssinne überhaupt erst wirksam wird“478.

Es gehe „um das GESETZ VOR DEN GESETZEN, das deswegen niemals

als Verpflichtung kodifiziert [...] zu werden brauchte, weil es

selbstverständlich war als die unausdrückliche Voraussetzung

gesetzlichen Lebens: die Jirat Adonai, die Gottesfurcht.“479

Mit der dialektischen Theologie will Schoeps Gottes Wort aus

der Verfügungsgewalt des autonomen Subjekts befreien, so daß

das Wort Gottes über das Subjekt verfügt, aber damit Gottes

Wort im jüdischen Sinn als Gesetz über das Subjekt verfügen

kann, muß das Subjekt überhaupt fähig sein, an Gott zu glauben.

Der Glaube als Bedingung der Möglichkeit des Gesetzesgehorsams

ist so das Gesetz vor dem Gesetz, das in der Moderne

verlorengegangen ist.

477 Ebd., S. 4.478 Ebd., S. 44.479 Ebd.

204

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Die Halacha ist nicht mit dem Gesetz der Autonomie zu

verwechseln. Dies war der erste Akt dessen, was Schoeps

„Besinnung“ nennt und auf eine radikale Disjunktion beider

Verfassungen abzielt. Die Halacha kann aber nicht so

praktiziert werden, wie es die Orthodoxie verlangt, nämlich als

schlechthin und selbstverständlich zu befolgendes Gesetz. Es

bedarf einer Instanz, die vor der Gesetzesannahme an den

Gesetzgeber überhaupt glaubt. Damit wäre der zweite Aspekt der

Besinnung bezeichnet, die Schoeps in Bewegung bringen will. Es

geht ihm damit in seiner Auseinandersetzung mit der jüdischen

Theologie seit Mendelssohn zuletzt also um eine Restitution des

Glaubens, mittels der Rehabilitation des von dieser Theologie

verworfenen Dogmas. Wenn also Mendelssohn mit seiner Frage, „ob

denn das Judentum überhaupt spezifische Glaubenswahrheiten –

etwa im Sinne der christlichen Dogmen – als seine

Existenzbedingung erkenne“480, eben das Dogma radikal in Frage

stellt und das Judentum als Paradigma einer Vernunftreligion

allein aus dem Gesetz konstruiert, so sucht Schoeps das Dogma

als die Wahrheit des Glaubens zu erneuern, um von ihm aus das

Gesetz neu zu begründen.

Es ist mithin Mendelssohns Reduktion des Judentums auf die

natürliche Religion bzw.die Religion der Vernunft, die für

Schoeps immer schon die beiden, die ganze jüdische Moderne

bestimmenden gefährlichen Konsequenzen enthält: 1) die

Gleichsetzung von Gott und Gesetz und 2) die Möglichkeit einer

über die Einsicht in den vernünftigen Charakter des Gesetzes

vollziehbaren Gleichsetzung von göttlichem und menschlichem

Gesetz.

480 Ebd., S. 33.205

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Die politisch-theologische Verwechslung wäre also in letzter

Instanz durch die Gleichsetzung von Gott und Gesetz bedingt, so

daß hier Schoeps’ Verdacht gegen einen einfachen Rückgang auf

das Gesetz seine letzte Begründung aus der Problematik der

Vernunftreligion erhält. Es bedarf zunächst und vor allem der

Instanz des Gesetzgebers jenseits des Gesetzes, die durch keine

Vernunft mehr zu begründen ist, sondern nur durch die im

Glauben enthüllte Wahrheit des Dogmas.

Nicht nur findet Schoeps bekanntlich in dem jüdischen

Theologen Salomon Ludwig Steinheim den idealen Verbündeten bei

dieser intendierten Rückkehr zu Glauben, Offenbarung und Dogma,

sondern Steinheims Diagnose zur Geschichte der jüdischen

Theologie nach Mendelssohn entspricht Schoeps’ eigener Analyse

der Folgen der primären Gleichsetzung von Gott und Gesetz: „Wer

den Gott aus dieser Gesetzgebung verbannt hat, hätte nichts

eiligeres und besseres zu tun als das autoritätslose Gesetz ihm

noch nachzusenden: das ist Konsequenz.“481 Offenbarung erst

ermöglicht die Konstitution des Gesetzgebers des Gesetzes und

damit die Autorität vor jeder Vernunft.

Die große objektive Bedeutung, die seinem [Steinheims]Vorgehen zukommt, ist diese, daß er schlechthin als einzigerim modernen Judentum versucht hat, konsequent von dersupranaturalen Offenbarung aus zu denken und diese als dasausschließliche Lehrthema der jüdischen Theologie von allerspekulativen, rationalistischen und idealistischenPhilosophie zu distanzieren.482

Mit Steinheims Theologie der Offenbarung versucht Schoeps also

die Rückversicherung des Glaubens im dogmatischen Fundament zu

begründen.

481 Ebd., S. 38.482 Ebd., S. 45.

206

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Wenn Schoeps also, wie die dialektische Theologie des

Protestantismus, zuletzt doch wieder den Glauben ins Zentrum

seiner Theologie rückt und ihn unter dem Zeichen der Krise

sogar noch vor und über das Gesetz stellt, so erhebt sich

allerdings die Frage, wie denn dieser Glaube bzw. die

Entscheidung für den Glauben zustande kommen soll – befindet

sich doch das moderne Subjekt gerade in einer radikalen Notlage

der Glaubenslosigkeit. Ja, es ist eben diese Glaubenslosigkeit,

die den Schritt zurück in den orthodoxen Gesetzesgehorsam

verhindert.

Mit dem Glauben ist zunächst nur der gleichsam post-moderne

Ort der Neubegründung der jüdischen Theologie als ein

„Jenseits“ von Orthodoxie und Liberalismus bezeichnet. Darüber

hinaus muß dann der Glaube als Haltung, die Notlage und Krise

des Judentums überwinden soll, Glaube des einzelnen Menschen

sein. Der Glaube ist – auch hier bewegt sich Schoeps ganz in

der Sprache der dialektischen Theologie – eine existenzielle

Entscheidung. Aber diese existenzielle Situation, aus der die

Entscheidung gewonnen werden soll, ist eben durch den „Verlust

der Möglichkeit eines theonomen Daseinsverständnisses“

überhaupt gekennzeichnet, so daß „das dem Heilsgesetz

entfremdete, von Surrogatbeziehungen durchwirkte Leben immer

drohender in den Abgrund der Sinnlosigkeit zu stürzen Gefahr

läuft“483. Symptomatisch für diesen „Verlust eines theonomen

Daseinsverständnisses überhaupt“ sei nun Martin Heideggers

Fundamentalontologie des Daeins als die „unser Zeitalter

repräsentierende Daseinsverfassung des Unglaubens“484.

483 Ebd., S. 84.484 Ebd., S. 87.

207

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Wenn Schoeps die existentialontologische Rhetorik hier

einsetzt, so zum einen, um den positiven Horizont zu

skizzieren, von dem aus „unter den existenziellen Möglichkeiten

des Gegenwartsmenschen diejenige Möglichkeit, sein In-der-Welt-

sein zu begreifen“ erkennbar wird, die einen „Bezug auf das

Daseinsverständnis des alttestamentlichen Menschen hat“ 485, zum

anderen, um den von Heidegger selbst entworfenen Seinshorizont

des Daseins als „Inbegriff der Vergeltung“ , d.h. als

Strafgericht Gottes in den Blick zu bekommen. Der eigentliche

Sinn der theologischen Besinnung liegt in dem Verstehen des

Sinns vom Sein des Daseins als Gottesverlassenheit und

Gottesgericht über das Dasein,

das in eigener Mächtigkeit sich aus sich selber verstehenwill und daher auf seine Ungesichertheit stößt, die Angst desIn-der-Welt-seins erfährt, [...] die Leiden in quälenderSinnlosigkeit über sein Dasein kommen sieht, weil es sienicht als Schickung des in Gerechtigkeit strafenden Gottesverstehen kann.486

Soll die mögliche Umkehr des glaubenslosen zum glaubenden

Dasein durch die Einsicht in den kausalmoralischen Zusammenhang

vom Sein des Daseins und vom Gottesgericht möglich werden, so

steht dieses glaubenslose Dasein allerdings auch schon selbst

in der Sphäre „jenseits von Orthodoxie und Liberalismus“.

Seinsmächtigkeit und Entschlossenheit, die ontologische

Möglichkeit, vor der Bedrohung durch den Tod und das Nichts zu

bestehen, sind bei Heidegger bekanntlich Ausdruck einer

radikalen Freiheit, in der sich das Dasein wohl selbst

bestimmt, aber sich potentiell eben über die Allgemeinheit, das

485 Ebd., S. 4.486 Ebd., S. 79.

208

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

berühmte „Man“, auch schon erhebt.487 Das Dasein, auf sich

selbst zurückgeworfen, wird so zu einer Art Freiheit vor der

Freiheit; es ist, indem es ihm um sein „jemeiniges Dasein“

geht, nämlich offenbar frei, sich dem die Gemeinde

verpflichtenden Gesetz der Autonomie zu unterwerfen oder nicht.

So enthält die ontologische Daseinsbestimmung immerhin schon

die Möglichkeit der Überwindung der liberal-autonomen

Verfassung der politischen Gemeinde, allerdings noch nicht die

gesuchte Neubegründung der theologischen Gemeinde. Diese soll

erst durch die Besinnung auf das im Seinsverständnis verborgene

Gottesgericht möglich werden. Schoeps Rekurs auf Heideggers

Existentialontologie verbirgt aber so zuletzt mehr, als daß sie

das Problem des Glaubens zu erhellen vermag. So scheint die

Entscheidung des Glaubens bzw. die Entscheidung für den Glauben

in letzter Instanz eine absolute Seinsmächtigkeit des Daseins

vorauszusetzen, die vor und gleichsam über jeder göttlichen

Gesetzlichkeit steht. Sie bezeichnet eine Art Super-Autonomie

und Souveränität, die allerdings im Akt der Entscheidung gerade

zurückgenommen werden soll.

Zugleich bleibt mit dem theologischen Problem des Glaubens

die eigentlich politisch-theologische Problematik ohne weitere

Klärung. Zwar hat Schoeps betont, daß die für die jüdische

Moderne typische Verwechslung von theologischem und politischem

487 Solche Sätze wie der folgende aus Martin Heidegger, Sein und Zeit,Tübingen 1984, S. 306 sind sozusagen notorisch bekannt: „Entschlossen übernimmt das Dasein eigentlich in seiner Existenz, daß es der nichtige Grund seiner Nichtigkeit ist. Den Tod begriffen wir existential als die charakterisierteMöglichkeit der Unmöglichkeit der Existenz [...].“ Über den politischen Sinn dieser Entschlossenheit ist von Christian von Krockow, Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger, Stuttgart 1958 bis zu Victor Farias, Heidegger und der Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1989 und Richard Wolin, The Heidegger Controversy, New York 1991, das Nötige gesagt worden.

209

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Gesetz in den Fragenkreis der politischen Theologie

hineingehöre und so auf die Probleme führe, deren

grundsätzliche Lösung für die Zukunft des Judentums

„Entscheidungscharakter“488 habe , aber der theologische Traktat

gelangt über eine Kritik an der modernen politischen Theologie

des Judentums nicht eigentlich hinaus, auch wenn er das

„Jenseits von Orthodoxie und Liberalismus“ existentiell durch

den Glauben zu skizzieren unternimmt. Die politische Dimension

läßt sich zunächst nur durch die existentiell-analytische

Spekulation über das Glaubensproblem hindurch erahnen, nämlich

als Funktion jener ontologischen Souveränität, die in eigener

Seinsmächtigkeit Gesetz und Verfassung der Polis zu

suspendieren wagt. Den eigentlich politischen Sinn dieser neuen

jüdischen Theologie wird Schoeps in dem populären Pamphlet „Wir

deutschen Juden“ von 1934 erläutern.

III Schoeps’ „Begriff des Politischen“

Auch das Pamphlet „Wir deutschen Juden“, das Schoeps 1934 in

Berlin veröffentlicht, deutet die Krisensituation des modernen

Judentums als Folge der tragischen Verwechslung von Halacha und

liberalem Gesetz, die sich in der programmatischen Erklärung

der französischen Nationalversammlung „La declaration des

droits des hommes et la recomplicement de la loi mosaique“

ausspricht. Durch die nationalsozialistische Machtergreifung

ist aber nun gleichsam der faktisch-politische Nachweis für die

theologische Krisenbehauptung erfolgt. „Erst heute zeigt es

488 Schoeps, Jüdischer Glaube, S. 4.210

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

sich, mit wirklich zweifelsfreier Deutlichkeit, daß die

Emanzipationsära noch nicht die messianische Zeit gewesen ist,

daß die Menschenrechte von 1789 und das Sinai-Ereignis zu

Unrecht in Eins gesetzt worden sind.“ 489 Der Text von 1934

wiederholt im Wesentlichen die Thesen der theologischen

Prolegomena, nur konkretisiert er jetzt deren politischen Sinn,

in dem Bewußtsein, daß die „Fehlentwicklung eines langen

Zeitraums so rasch nicht korrigiert wird, eines Zeitraums, in

dem wir religiös an den Abgrund gekommen und demzufolge auch

politisch in die Katastrophe getrieben sind“490 .

Schoeps spricht vom „Ausgangspunkt“, auf den die jüdische

Geschichte nunmehr zurückgeworfen sei, oder von dem

„Trümmerhaufen“, vor dem das deutsche Judentum heute stehe.

Wenn es nun auch hier das theologische Gesetz vom liberalen

Gesetz zu trennen gilt, so bedeutet das zunächst, daß das

Judentum sich auf seinen wahren theologischen Ursprung zu

besinnen und somit von seiner Identifikation mit jeder

liberalen Politik Abstand zu nehmen habe. Diese Abstandnahme

von der liberalen Politik eröffnet allerdings die Perspektive

auf das, was immer schon – vor dem Zeitalter der Verwechslung –

als Wesen jüdischer Politik gegolten hat, oder wie Schoeps

jetzt auch im Sinne des Jargons der neuen Machthaber

feststellt, jenseits der „Gleichschaltung von Halacha und

Liberalismus“491 Für die Epoche nach der Tempelzerstörung durch

die Römer – ihr entspricht der aktuelle historische Augenblick

einer metaphorischen „Tempelzerstörung“ der liberalen Theologie

– gilt, daß „der König dieses Volkes durch ein sichtbares

489 Ebd., S. 23.490 Ebd., S. 26.491 Ebd., S. 22.

211

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Zeichen der Geschichte gesprochen hat und daß somit das von ihm

für sein Volk in Stellvertretung befristet zugelassene

Menschenkönigtum Davids bis auf weiteres suspendiert worden

ist“492.493

Die Dissoziation zwischen Religions- und Staatsgesetz

geschieht damit im Sinne einer fundamental antisouveränen

Haltung des jüdischen Religionsgesetzes gegenüber der Idee

eines jüdischen Staates bzw. einer jüdischen souveränen Politik

überhaupt. An die Stelle der politischen Verfassung tritt die

Religionsverfassung, die Halacha, die die Suspension der

jüdischen Machtpolitik bezeichnet.

Die Halacha ist die Suspension jüdischer Machtpolitik im

Namen von Orthodoxie und Orthopraxie des Gesetzes, das nur Gott

als König anerkennt. Damit besteht immer schon eine

fundamentale Differenz zwischen dem innerjüdischen „Begriff des

Politischen“ und dessen Begriff im nichtjüdischen Kontext.

Das Zeugnis der Geschichte lehrt, daß ein Volk nur Volk wirddurch seinen König, und solange Volk bleibt, als königlicheGewalt vorhanden ist, welcher Satz auch für republikanischeGeschichtszeiten Geltung hat, in denen die potestas regis nureine andere Wirkgestalt annimmt. Erlischt die königlicheGewalt eines Volkes, so gerät es in Knechtschaft, geht esseines Bodens und seiner Lebenskraft verlustig, hört es aufVolk zu sein.494

Tritt also im Judentum an die Stelle der königlichen die

göttliche Souveränität und die göttliche Verfassung, so ist 492 Ebd., S. 16493 Diesen Zusammenhang hat zuletzt Yerushalmi, Diener von Königen und nicht von Dienern, S. 19 etwa, wieder klar herausgestellt: „Aus dem frühen dritten Jahrhundert kennen wir das berühmte Dictum des babylonischen Gelehrten Mar Samuel – Dina de Malchuta Dina, das Staatsgesetz ist Gesetz – will sagen, daß das jüdische Gesetz die Autorität der Gesetzgebung des Staates für alleseine Einwohner verbindlich anerkannte.“ Hierzu v.a. auch Glatzer, Geschichte der talmudischen Zeit. 494 Schoeps, Wir deutschen Juden, S. 16.

212

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

damit nicht nur die wie auch immer leidensvolle Existenz des

jüdischen Volkes gewährleistet, sondern diese besondere

metapolitische Existenz wird möglich nur dadurch, daß die

jüdische Religionsgemeinde unter der realen Herrschaft eines

nichtjüdischen Souveräns sich stellt, der die spezifische

Religionsverfassung der Juden anerkennen soll. Schoeps beruft

sich auf eine talmudische Aussage, die diesen Zusammenhang für

die Zeit nach der Tempelzerstörung prägnant auf den Begriff

bringt. Nach Rabbi Jose ben Rabbi Chanina (Ketubot IIIa) sollen

folgende von Gott auferlegten Eidesschwüre eingehalten werden:

daß die Israeliten nie die Wiederherstellung ihres Staates aus

eigener Macht versuchen sollen, daß sie nie dem Staat, in dem

sie leben, untreu werden, daß die Staaten – so beschwor der

Ewige die Weltvölker – diese nicht unmäßig drücken sollen. 495

Das bedeutet also, daß die Juden dem nichtjüdischen Staat

Gehorsam zu leisten haben, solange freilich dieser ihnen nicht

das Recht der Religionsausübung verwehrt. Nun aber wird mit der

nationalsozialistischen Machtergreifung nicht nur die liberale

Verfassungsordnung, die Schoeps für die politisch-theologische

Krise des Judentums verantwortlich macht, suspendiert, sondern

dieser neue antiliberale Staat suspendiert damit auch die

politisch-rechtliche Gleichberechtigung der Juden, die nunmehr

als eben die Repräsentanten des Liberalismus den

nationalsozialistischen Begriff vom politischen Feind

bestimmen. „Am 31. Januar 1850 wurde in dem Erlaß der

preußischen Verfassungsurkunde die volle Gleichberechtigung der

preußischen Juden ausgesprochen, am Tage der

Nichtariergesetzgebung, dem 7. April 1933 ist sie zu Ende

495 Ebd., S. 17.213

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

gegangen.“496 Nun wäre angesichts dieser Situation, die Schoeps

als Katastrophe kennzeichnet, zu erwarten gewesen, daß er die

eigene antiliberale Haltung kritisch überdenkt und die

Möglichkeiten von Auswanderung, Exil und zionistischer

Alternative erwägt. Stattdessen geht er zunächst zu einer

Legitimation der nationalsozialistischen Revolution über, die

den theologischen Antliliberalismus auf der politischen Ebene

praktiziert. „Im Zeitalter des liberalen Bürgertums sind alle

urtümlichen Bindungen und Arteigenheiten [...] mißachtet,

aufgelockert und an den Rand der Auflösung gebracht worden,

zugunsten eines farblosen und abstrakten Menschheitsideals.“497

Da diese Destruktion nicht durch den Nationalsozialismus,

sondern eben durch die modernen Mächte von „Internationalismus

und Pazifismus, Sozialismus und Liberalismus“ bewirkt worden

sei, „mußte die nationalsozialistische Revolution passieren,

weil sie in der Substanz bereits passiert war. Passiert als

Liquidationsprozeß, der alle Mächte, Kräfte und Schichten, die

diesem Ausbruch entgegenstanden und ihn noch hätten hemmen

können, bereits verzehrt hatte.“498 Nicht nur verirrt sich

Schoeps’ Diskurs in die Abwege der nationalsozialistischen

Rhetorik, sondern was als Katastrophe zunächst beschrieben

wird, entspricht einer historischen Notwendigkeit, die dann

umgehend noch einen explizit positiven Sinn erhält. Die

nationalsozialistische Revolution entspricht nämlich „einer

ursprünglichen deutschen Möglichkeit“ 499, ja Schoeps ist sogar

willens, die rassische Ideologie prinzipiell zu legitimieren.

496 Ebd., S. 23.497 Ebd., S. 24.498 Ebd., S. 33.499 Ebd., S. 34.

214

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

„Um der Wahrung des Volkskörpers willen mußte daher das

biologische Thema angeschlagen“ 500 werden.

Mit anderen Worten, derselbe Schoeps, der als Jude aus

traditionell-theologischen Gründen eine Haltung metapolitischer

Abstinenz im Namen des halachischen Gesetzes fordert,

legitimiert als Deutscher tatsächlich den Führerstaat, der die

liberale Verfassung nicht nur der politischen Öffentlichkeit

suspendiert, sondern die Juden aus dieser Öffentlichkeit schon

ausgrenzt! Er treibt also die Beziehung zwischen jüdischer

Theologie und deutscher Politik bis zu ihrer äußersten

Antithetik und Widersprüchlichkeit, ja Schizophrenie. Nicht nur

kollidiert die jüdische Metalogik, die das Königtum Gottes

vertritt, und als solches das Königtum des Menschen radikal in

Frage stellt, auf der grundsätzlichen Ebene mit dem neuen

politischen Regime, auch die traditionell legitime Möglichkeit,

daß das Gotteskönigtum der jüdischen Gemeinde unter einem

nichtjüdischen Souverän gegründet werden muß, ist durch die

nationalsozialistische Judenpolitik praktisch ausgeschlossen.

Schoeps verlangt trotz alledem hier noch „Besinnung“, er

verlangt, „durch alles Leid und Ressentiment hindurchzustoßen,

um eine positive Stellung zu finden, zum Deutschland, wie es

heute ist“501.

Diese Besinnung verwirft nun in einem ersten Akt virtuoser

Verwechslung ihrerseits den jüdischen Staat aus denselben

Gründen, aus denen er den Führerstaat begrüßt.

Gegen die Anerkenntnis der objektiven Werte und die Geltungder geschichtlichen Objekte richtet sich seit NietzschesAppell zum Sturmlauf gegen einen abstrakt und damit

500 Ebd.501 Ebd., S. 33.

215

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

unwirklich gewordenen „Geist“ der moderne Vitalaufstand fürBlut und Seele, der heute an den verschiedensten Stellen,aber aus demselben Impuls ausbricht, so daß tatsächlich derNationalsozialist Ludwig Klages und der Zionist Joachim Prinzaus demselben Lebensgefühl heraus existieren undargumentieren.502

Aber eben deshalb ist die zionistische Option für Schoeps noch

weniger diskutabel, weil sie nur eine Verlängerung der

liberalen politischen Theologie auf der nationaljüdischen Ebene

und als solche wieder eine Verwechslung von Politik und

Theologie bezeichne. „Weil der politische Zionismus Israel als

Volk zum Wettbewerb mit anderen Völkern ertüchtigen und damit

die Judenfrage zur Lösung bringen will, die nach dem Zeugnis

der Geschichte und dem Wissen der Jahrhunderte nur durch die

Erlösung metapolitisch zu beendigen ist“503, erkennt Schoeps im

Zionismus den neben der liberalen Theologie radikalsten Versuch

eines „Frontalangriff(s) auf die jüdische Substanz“504.

Schoeps beharrt also lieber auf seiner Position der

politisch-theologischen Schizophrenie, die einerseits den

Führerstaat politisch legitimiert, andererseits aber – für den

Juden – einen metapolitischen Standpunkt vertritt, der

allerdings im Ernstfall auf das Martyrium hinauslaufen muß. In

der Tat scheint Schoeps aus der Situation, die er selbst als

„verlorenen Posten“ beschreibt, die Möglichkeit des Martyriums

ableiten zu wollen. „Es könnte ja sein, daß der deutsche Jude

dieser Zeit in die echte Hiobs-Nachfolge gezwungen wird, daß

ihm durch das Schicksal tragische Größe zugeworfen wurde, daß

an seiner Gestalt einer verflachenden Welt die Möglichkeit

502 Ebd., S. 37.503 Ebd., S. 20.504 Ebd., S. 13.

216

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

menschlicher Tiefe aufbrechen soll.“505 Der antiliberalen

Politik als „ureigenster“ deutscher Möglichkeit – hier gerät

Schoeps wieder auf das rhetorische Gleis der existentiellen

Ontologie Heideggers – entspricht auf der Ebene der

antiliberalen Theologie die ureigenste jüdische

Daseinsmöglichkeit des Martyriums, dem Schoeps auch noch in

dieser Situation eine missionarische Dimension zusprechen

möchte: „Haben wir nicht immer so etwas wie einen jüdischen

Missionsberuf empfunden, daß das Leidensmartyrium für die

Wahrheit unsere größte Möglichkeit ist, daß wir hier als Juden

am echtesten sind.“506

Schoeps vollzieht hier einen ähnlichen Gedankengang, wie auf

der existentiell theologischen Ebene, in der die

Gottverlassenheit des jemeinigen Daseins als Strafgericht

erkennbar werden soll. Jetzt – aus der Perspektive der

nationalsozialistischen Machtergreifung – wird die Politik im

Ganzen zum Strafgericht über die jüdisch-liberale politische

Theologie. Dieses Strafgericht nun muß vom Standpunkt der

theologischen Besinnung aus zur Einsicht in die politische

Schuld führen. „Aber die tragischen Verwechslungen, die sich

dann ereigneten, sind voll und ganz verständlich, aber ganz und

gar unentschuldbar, gemessen an dem, was der Herr der Juden als

Gesetz, als Gut und Böse, als Schuld und Sühne aufgestellt

hat.“507 Die politisch-theologische Schuld muß im Sinne der

prophetischen Ethik, Schoeps zitiert aus Jeremias’ Klageliedern

3,39 ff., zunächst anerkannt und dann gesühnt werden. „Was

murren denn die Leute über das Leben. Wir, wir haben gesündigt

505 Ebd., S. 10.506 Ebd., S. 10.507 Ebd., S. 23.

217

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

und sind ungehorsam gewesen; darum hast Du uns billig nicht

verschont. Lasset uns suchen und erforschen unsere Sünde.“508

Mit anderen Worten: Schoeps ist jetzt bereit, den frontalen

Angriff auf das Judentum, in dem die Juden als „Träger eines

zersetzenden Geistes“ und „Zerstörer der deutschen

Volkssubstanz“ etc. von den Nationalsozialisten denunziert

werden, als Anlaß für eine letzte „Besinnung“ über eine

vermeintliche jüdische Schuld zu verstehen. Es gilt jetzt in

der Tat „an dem Unrecht des Antisemitismus ein Verschulden der

Juden“ zu erkennen. „Wenn das Jahr 1933 über die deutschen

Juden ein schweres Schicksal verhängt hat, so heißt jüdisch

reagieren nach der Schuld fragen, die wir bewußt oder unbewußt

auf uns geladen haben.“509

Konkret besteht diese „Schuld“ in eben der politisch-

theologischen Verwechslung zwischen Religionsgesetz und Gesetz

der politischen Selbstbestimmung, in der Tatsache also, daß die

Juden als Avantgarde von Liberalismus und Emanzipation ihre

eigene theologische Identität aufgegeben haben. Der

Nationalsozialismus wird hier als „Strafgericht“ eingesetzt,

d.h. als ein von Gott eingesetztes Instrument gegen die Sünde

seines Volkes, weil der „Liberalismus“ eine „religiöse Schuld“

bezeichnen soll, so wie die biblische Prophetik jede politische

Bedrängung des jüdischen Volkes als Gottes Strafe für den

Abfall vom Gesetz begreift. Aber nur weil Schoeps also im

Grunde an der politisch-theologischen Verwechslung festhält,

und also seiner eigenen theologischen Einsicht untreu wird, daß

es zwischen beiden zu trennen gilt, kann der

Nationalsozialismus noch zum theologischen Gericht werden.508 Ebd.509 Ebd., S. 28.

218

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Die eigentliche Pointe nun dieser Theorie besteht natürlich

für Schoeps darin, daß die liberalen „Werke der Zerstörung, für

die die Gesamtheit heute die Strafe trifft, [...] gar nicht

Folgen des Judentums, sondern Folgen der Loslösung vom Judentum

sind“510. Im Klartext: Den antiliberalen jüdischen Theologen

trifft zuletzt nicht nur gar keine Schuld, sondern hier

offenbart sich der verborgene Sinn der dialektischen Theologie

von Hans Joachim Schoeps. Es geht ihm gar nicht wirklich um die

Dissoziation von Politik und Theologie, sondern nur um die

Dissoziation von liberaler Politik und liberaler Theologie. Das

eigentliche Ziel ist eine alternative – faschistische – Fusion

von Politik und Theologie. Es sei das Gebot der Stunde, „sich

von jüdischen Linksrevolutionären und zionistischen also doch

wohl nach eigenem Zeugnis nicht deutschgesinnten

Ministerialräten zu distanzieren“511. Wenn die

Nationalsozialisten „Eisner, Toller und Tucholsky“ als

Repräsentanten ihres jüdischen Feindbildes dämonisieren, dann

meint Schoeps hierzu nur achselzuckend: „Wer Fehler macht, muß

büßen, wer Schuld begeht, muß sühnen.“512

Die Besinnung muß die nationalsozialistische Machtergreifung

als ein politisch-theologisches Strafgericht verstehen lernen,

d.h. als ein „gerechtes“ Gericht über den jüdischen

Liberalismus, den es jetzt endgültig zu überwinden gelte, damit

der antiliberale „Rest“ Israels nicht nur das neue Regime

überlebt, sondern einen eigenen faschistischen „Vortrupp“

formt, der sich in dieses Regime eingliedert. „So wie Deutsche

sich durch Biologie abgrenzen, so müssen Juden innerlich den

510 Ebd., S. 28.511 Ebd., S. 32.512 Ebd.

219

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Liberalismus überwinden und die jüdische Wurzel unserer

Existenz, die verschüttet wurde, freilegen [...]513“ So nur

könne die Hoffnung auf eine Neueingliederung der Juden „als

stolze und artbewußte Juden“ in das Reich, das Schoeps mit

Moeller van den Brucks „Drittem Reich“ nunmehr doch noch als

„unser deutsches Geheimnis“ beschwören möchte:

Wehe dem Volk, das kein Geheimnis ist. Ein Tag, ein Jahr, einKriegsende, ein Friedenssschluß kann es auslöschen, als seies nie gewesen. Unser deutsches Geheimnis ist, daß wir einaltes Volk sind, beladen mit einer grauen und steinernenGeschichte, unter deren Wechselfällen jede andere Nationlängst verblaßt und verwittert wäre.514

Zwischen der geforderten Dissoziation von liberaler Politik und

liberaler Theologie einerseits und der erhofften Konjunktion

von antiliberaler Politik und antiliberaler Theologie liegt die

Zeit der tragischen Bewährung, die Zwischenzeit, für die

Schoeps hofft, daß das Judentum sich in ihr erhalten wird,

„wenn es sich bei aller Willigkeit und Bereitschaft für

Deutschland als Judentum erhält“515. „Die Hoffnung ist, daß

unsere Menschen an ihrem Teil das Judentum so repräsentieren,

daß das durch Affekte des Abscheus und des Hasses so sehr

entstellte und verzerrte Bild des deutschen Judentums einstmals

neue Farbe und neuen Glanz erhält.“516 Der Augenblick der Genese

des jüdischen, vom nationalsozialistischen Deutschland

anerkannten Faschismus bezeichnet für Schoeps den „Augenblick

einer neuen Emanzipation“517 – also die Emanzipation von der

Emanzipation des 18. Jahrhunderts, der Tradition Mendelssohns.

513 Ebd., S. ?514 Ebd., S. 41.515 Ebd., S. 43.516 Ebd., S. 48–49.517 Ebd., S. 43.

220

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Erst aus der Perspektive der exoterischen Schrift zur

politischen Situation der Juden in Deuschland läßt sich also

zeigen, welchen politischen Sinn die Adoption der dialektischen

Theologie durch die esoterische jüdische Theologie für das

Judentum haben soll. Dabei aber zeigte sich nicht nur der

fundamental schizophrene Charakter der politischen Theologie

von Hans-Jaochim Schoeps, sondern viel wesentlicher: daß er das

eigene Programm gar nicht zu Ende denkt, sondern eben genau den

Fehler der Verwechslung begeht, den er der Theologie des 19.

Jahrunderts vorwirft. Die Konjunktion von Halacha und

Menschenrechten wird nämlich nur durch die faschistische

Konjunktion von göttlicher und politischer Souveränität

ersetzt. Der Rekurs vom Gesetz auf den Gesetzgeber, mit dem

Schoeps die Tradition von Mendelssohn bis Lazarus destruieren

will, soll über den Glauben eine andere politische Form von

Gemeinschaft unter dem Führer herstellen.

Nicht nur widerlegt Schoeps sich selbst, wenn er die

dialektische Theologie in seinem Pamphlet „Wir deutschen Juden“

zu einer neuen politisch-theologischen Verwechslung einsetzt,

sondern er gibt über rhetorische Hinweise zu verstehen, an

welchem protestantischen Modell der politisch-theologischen

Verwechslung er sich hier tatsächlich orientiert. Sätze wie

„Der Mensch aber, der nicht mehr Gott hörig war, konnte auch

auf seinen Nächsten nicht mehr hören.“518 oder: „.[...] daß in

dieser Welt Dämonien toben und Zerstörungskräfte am Werk sind,

die nur gebändigt werden, wenn es gelingt, die Ordnungen der

Schöpfung und des Anfangs auch durch das Chaos

durchzutragen.“519 bzw.: „Der Jude, der nicht er selbst sein 518 Ebd., S. 24.519 Ebd., S. 31.

221

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

will“,520 lassen den dialektischen Theologen Friedrich Gogarten

sehr deutlich als Vorbild erkennen. In dessen Politischer Ethik von

1932 wird eben die liberale Konjunktion von Theologie und

Politik destruiert, um mit Carl Schmitts politischer Theologie

die Fusion von Theologie und autoritärem Staat auf der

Grundlage der dialektischen Theologie zu begründen, womit es

freilich schon bei Gogarten zu demselben performativen

Widerspruch kommt, den Schoeps dann noch einmal für den

jüdischen Kontext nachvollzieht. Schoeps’ Idee des „deutschen

Juden“ muß dabei offenbar in Analogie zu dem protestantischen

Modell des „deutschen Christen“ gelesen werden, der – so wie

Gogarten nach 1933 – sich politisch-theologisch mit den neuen

Machthabern verständigt.521

Wird an Schoeps’ Versuch einer Neubegründung jüdischer

Theologie das Phänomen der absoluten Krise deutsch-jüdischer

Kultur in ihrer innersten Schizophrenie offenbar, so zeigt sich

an diesem Versuch, das absolut Inkommensurable noch einmal als

koinzident zu konstruieren, nicht nur das ganze Ausmaß der

520 Vgl. Gogarten, Politische Ethik, fast wörtlich finden sich die zitierten Sätze hier. So heißt es bei Gogarten etwa von dem Selbst, das Gott „hörig“ ist, in Kierkegaardscher Fasson: „Er muß der sein, der er selbst ist.“ (S. 8) Zu Chaos, Dämonie, Zerstörung etc. siehe folgendes Zitat: „Die Polis undder Staat ist diejenige Ordnung, mit der sich der Mensch zu sichern sucht, gegenüber dem Chaos und gegenüber den zerstörenden Gewalten, von denen seine Existenz in der Welt bedroht ist, und zwar gegen die Gewalten und dieZerstörung, die aus seinem eigenen Wesen entspringen.“ (S. 58) Zum notorischen Hörigsein bei Gogarten sei nur folgende Stelle zitiert (S. 70):„Indem mir Gott meine Existenz gibt, indem er mich ich selbst sein läßt, fordert er, daß ich meine Existenz in ihm, d.h. in meinem Hörigsein ihm gegenüber habe [...]“521 Friedrich Gogarten, Einheit von Evangelium und Volkstum?, Hamburg 1933 oder: ders., Gericht oder Skepsis – Eine Streitschrift gegen Karl Barth, Jena 1937, in der sich Gogarten politisch gegen Karl Barths radikale Kritik einer jeden Fusion derKirche mit dem nationalsozialistischen Staat verteidigt. Barth hatte schon in: Karl Barth, Theologische Existenz heute, München 1933, seine radikale Kritik an der nationalsozialistischen Politik und Ideologie klar und unmißverständlich zum Ausdruck gebracht.

222

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Katastrophe, sondern die Tragödie einer Identifikation mit dem

Aggressor, die eben diesen Aggressor nicht im Geringsten zu

beeindrucken vermochte.522 Schoeps blieb das Schicksal von

Verfolgung und Exil nicht erspart. Wie auch immer man seine

logisch-psychologische und moralische Fehlleistung beurteilen

mag, es ist dabei durchaus bezeichnend, daß ihm ausgerechnet im

Deutschland der zahllosen unbehelligten Opportunisten von

damals auch dies nicht erspart blieb, daß man ihm diese von

vornherein hoffnungslose Filiation mit dem Nationalsozialismus

ständig vorrechnete.

522 Vgl. etwa den Versuch von Schoeps, mit dem politisch-theologischen Antisemiten Hans Blüher, der in: ders., Die Erhebung Israels gegen die christlichen Güter, Hamburg 1931, und vorher schon in: ders., Secessio Judaica. Philosophische Grundlegung der historischen Situation des Judentums und der antisemitischen Bewegung, Berlin1922, seine Position unmißverständlich zum Ausdruck brachte, ein „Jüdisch-Christliches Gespräch“ zu initiieren, das in: ders., Streit um Israel. Ein jüdisch-christliches Gespräch, Hamburg 1933 veröffentlicht wurde. Auch die Apologetik Schoeps in: Bereit für Deutschland. Der Patriotismus deutscher Juden und der Nationalsozialismus, Berlin 1970, obzwar es ihr gelingt, ihm verwandte Positionen bei bedeutenden Rabbinern zu orten, bestätigt nur den Eindruck von dem zutiefst kompromittierenden und doch tragischen Irrtum. Auch wenn Leo Baeck 1933 meint, „ein Jude, der zum Bolschewismus übertritt, sei ein Abtrünniger. Die Erneuerung Deutschlands ist ein Ideal und eine Sehnsucht innerhalb der deutschen Juden“, so ist dieser Satz offenbar im Kontext einer vorsichtig abtastenden Rhetorik zu verstehen, nicht als substantiell ideologische Befürwortung des nationalsozialistischen Staates. Gerade da, wo Schoeps also eine so bedeutende Stimme wie die des Rabbiners Baeck für seine eigene Rechtfertigung in Anspruch nehmen zu können meint, erweist sich diese Vereinnahmung als fatale Verwechslung von Rhetorik und Ideologie.

223

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Zeit und SpielGeistergespräch zwischen Walter Benjamin und Carl Schmitt

über Ästhetik und Politik

I Zur Situierung des Gespräches zwischen Benjamin und Schmitt

Ein Gespenst geht um in den Texten Carl Schmitts. Es ist das

Gespenst des Juden, der immer wieder als ein unheimlicher Gast

und Geist die Faktur ihrer Rhetorik bestimmt und ihnen das

anzüglich/anrüchige Flair der Apokalypse verleiht. Fast immer

anwesend, tritt dieser jüdische Geist nur selten in seine volle

Erscheinung. Wie der Geist von Hamlets Vater ist er eine

dramatis persona, über deren ontologischen Status man kaum eine

Aussage zu machen wagt. Realität, Erscheinung oder Erfindung

der Psyche? Ein Wahnbild? In eben dem Traktat Carl Schmitts

über die Tragödie des Hamlet – Hamlet oder Hekuba523 – Der Einbruch der

Zeit ins Spiel (1956) – geht es nicht nur zentral um den Status von

Geistern, sondern hinter der Kulisse des Textes spricht hier

ein jüdischer Geist zum Autoren Schmitt: Es ist die Stimme des

1940 von den Nationalsozialisten in den Tod getriebenen Walter

Benjamin, auf die Schmitt hier reagiert. Schon in der

Einleitung erwähnt er Benjamins Buch über das barocke

523 Carl Schmitt, Hamlet oder Hekuba – Der Einbruch der Zeit ins Spiel, Stuttgart 1985 (1956). So weit ich sehen kann, spielt dieser Text in der Schmitt-Rezeptionkaum eine Rolle. Es handelt sich bei diesem Text ähnlich wie bei Carl Schmitt, Politische Theologie II, die mit 40-jähriger Verspätung auf Erik Petersons, Monotheismus als politisches Problem. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Theologie im Imperium Romanum, Leipzig 1935 reagiert, um eine ebenso verspätete Abrechnung mit einer für Schmitt zentralen kritischen Position. Aber auch in der Benjamin-Rezeption spielt dieser Text kaum eine Rolle.

214

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Trauerspiel524 und gibt am Ende durch einen Exkurs über dieses

Buch zu erkennen, daß es ihn beschäftigt hat.

Rekapitulieren wir kurz die Stationen des Gespräches, das

Schmitt hier 1956 mit dem Geist des toten Benjamin aufnimmt.

Walter Benjamin hatte in seinem Buch die Idee des Trauerspiels

aus dem souveränen Königtum abgeleitet, wobei er bekanntlich

Carl Schmitts Definition der Souveränität in dessen Buch

Politische Theologie von 1922 zugrundegelegt hat. „Souverän ist, wer

über den Ausnahmezustand entscheidet“ – heißt es bei Carl

Schmitt, und Walter Benjamin paraphrasiert: „Wenn der moderne

Souveränitätsbegriff auf eine höchste, fürstliche

Exekutivgewalt hinausläuft, entwickelt der barocke sich aus

einer Diskussion des Ausnahmezustands und macht zur wichtigsten

Funktion des Fürsten, den auszuschließen.“525 Während Schmitt in

Politische Theologie eine Instanz der souveränen Entscheidung zu

etablieren sucht, mit der die parlamentarische Diskussion, das

unendliche Gespräch und das ästhetische Spiel sich immer neu

eröffnender und entziehender Sinnschichten – als Grundlage für

das unendliche Gespräch – zu Ende kommen sollen, ist es nun

gerade die Pointe bei Walter Benjamin, daß der souveräne Fürst

im Trauerspiel eben seine dezisionistische Vollmacht gar nicht

524 Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt a. M. 1982 (1928). Die Literatur zu Benjamins Trauerspielbuch ist längst ins Unermeßliche gestiegen. Vgl. Bettine Menke: Sprachfiguren: Namen, Allegorie, Bild nach Walter Benjamin, München 1991; Stéphane Mosès, Der Engel der Geschichte. Franz Rosenzweig, Walter Benjamin, Gershom Scholem, Frankfurt a.M. 1994, vor allem das Kapitel über das „ästhetische Modell“ S. 112–133; Max Pensky, Melancholy Dialectics. Walter Benjamin and the Play of Modernity, Arnherst 1993; Beatrice Hanssen: „Portrait of Melancholy (Benjamin, Warburg, Panofsky)“, in: Gerhard Richter(Hrsg.): Benjamin’s Ghosts. Interventions in Contemporary Literary and Cultural Theory, Stanford 2002, S. 169–188. Rainer Nägele: „Body Politics: Benjamin’s dialectical materialism between Brecht and the Frankfurt School“, in: DavidS. Ferris (Ed.) The Cambridge Companion to Walter Benjamin, Cambridge 2004.525 Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 47.

215

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

auszunutzen versteht – kurz: daß er sich im entscheidenden

Augenblick gar nicht entscheiden kann.

Die Antithese zwischen Herrschermacht und Herrschervermögenhat für das Trauerspiel zu einem eigenen [...] Zug geführt,dessen Beleuchtung sich einzig auf dem Grunde der Lehre vonder Souveränität abhebt. Der Fürst, bei dem die Entscheidungüber den Ausnahmenzustand ruht, erweist in der erstbestenSituation, daß ein Entschluß ihm fast unmöglich ist.526

Illustriert Benjamin diesen Umschlag von Entscheidungsmacht in

Entscheidungsunfähigkeit am Paradefall Hamlet, so muß Schmitt,

der „seine“ politische Theologie527 nach dem Krieg gerne gegen

ihre verschiedenen Kritiker und Gegner verteidigt, die

politisch-theologische Situation erklären, die Hamlets Dezision

verhindert. Mit anderen Worten: Geht es Schmitt in seiner

politischen Theologie um die Emanzipation der Politik vom

ästhetischen Spiel bzw. von einem ästhetisch fundierten Denken,

das die unendlich vielen Sinnschichten einer Sache auszuloten

sucht, um sich absolut zu vergewissern, und so einer jeden

Entscheidung notwendig aus dem Wege geht, so zeigt Benjamin,

daß die erwünschte Entscheidung sich nur von neuem in ein Spiel

– nämlich das Trauerspiel der Macht – verstrickt, ohne eine

wesentliche Veränderung der Verhältnisse herbeiführen zu

können.

526 Ebd. S. 53.527 Schmitt, Politische Theologie II, verteidigt sich gegen Peterson, Monotheismus als politisches Problem, und im Nachwort auch gegen Hans Blumenbergs Legitimität der Neuzeit. Hier spricht Schmitt in der Tat von „seiner“ politischen Theologie.

216

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Bezeichnet das Spiel bei Kant und Schiller528 die Möglichkeit

eines gewaltlosen Handelns, in dem anarchische Naturmacht und

gesetzliche Freiheit harmonisch zusammenstimmen sollen, so

verwirft Schmitt die Möglichkeit einer harmonischen Synthese,

wie sie durch Kants Ästhetik vorausgesehen ist, und setzt mit

Hobbes gegen die Anarchie des Naturzustands die diktatorische

Entscheidung des Souveräns, der die Machtverhältnisse klar

definiert. Benjamins Adoption des Souveränitätsbegriffs zeigt

dabei weit über das unmittelbare Interesse an der barocken

Dramaturgie hinaus, daß der Herrscher eben der anarchischen

Naturmacht bzw. dem kreatürlichen Naturzustand verfallen muß,

dem er durch seine Herrschaft ein Ende zu setzen hoffte. Auch

die souveräne Macht ist noch Naturmacht. So verwandelt sich die

Politik wieder in ein Spiel: nämlich das Trauerspiel, das das

528 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, § 9, S. 90: „Die Erkenntniskräfte, die durch diese (schöne) Vorstellung ins Spiel gesetzt werden, sind dabei in einem freien Spiele, weil kein bestimmter Begriff sie auf eine besondereErkenntnisregel einschränkt.“ Kant geht es bekanntlich um den Nachweis der zugemuteten Allgemeinheit des ästhetischen Urteils, die er aus dem Spiel zwischen Verstand und Einbildungskraft ableitet. „Dieser Zustand eines freien Spiels des Erkenntnisvermögens bei einer Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben wird, muß sich allgemein mitteilen lassen: weil Erkenntnis als Bestimmung des Objekts [...] die einzige Vorstellungsart ist, die für jedermann gilt.“ Diese Allgemeinheit liegt aber schon in der ersten Bestimmung des ästhetischen Urteils, der Interesselosigkeit, die immerhin eine Loslösung von dem subjektiven Interesse und damit von der Macht der Natur voraussetzt. Vgl. Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, v.a. der berühmte 15. Brief, S. 478 ff. Vgl.: Andrew Benjamin, „The Absolute as Translatability. Working through Walter Benjamin on Language“, in: Beatrice Hanssen/Andrew Benjamin (Hrsg.), Walter Benjamin and Romanticism, New York 2002, betont den Zusammenhang von Sprache und ästhetischer Idee bei Kant, um den Effekt der semantischen Unbestimmtheit zu bestimmen, der noch für Benjamins Auffassung der Trauer und Melancholie zentral wird. „It is possible to refer to Kant’s conception of the aesthetic idea or even his formulation, also in the Critique of Judgement, of the indeterminate concept, to see howit is possible to retain a productive sense of universality without holdingto a determinate, thus causal relation between universal and particular.“ (S. 111)

217

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

barocke Theater der kreatürlichen Vergeblichkeit und

Vergänglichkeit so wunderbar allegorisiert hat.

Schmitts Essay über Hamlet ist ein Versuch, dieser

Herausforderung entgegenzutreten. Die Deutung übernimmt dabei

eine Doppelfunktion, wobei die eine intendiert und die andere

versteckt ist. Sie soll 1) die Theorie der Souveränität vor Re-

ästhetisierung und Rückfall ins Spiel retten und 2) noch einmal

den Feind beschwören, um eine Politik in Bewegung zu bringen.

Bedarf es nämlich bei Schmitt des ultimativen Feindes, der die

souveräne Politik in Frage stellt, damit souveräne Politik

wirklich sei, so muß der tote jüdische Feind als Inbegriff

dieser Infragestellung zum Leben erweckt werden, damit das

Spiel noch einmal beendet werden kann. Nichts entspricht der

apokalyptischen Intertextualität der Texte Schmitts also mehr

als die Beschwörung von Geistern. Daß der lebendige Feind zum

dämonischen Geist entstellt und vernichtet werden muß, bedeutet

auch, daß der getötete Feind wieder zum Leben erweckt werden

muß, um die politische Situation erneut zu inszenieren. Wenn

also der Feind zugleich getötet und zum Leben erweckt werden

muß, so enthüllt Benjamin vielleicht die zutiefst allegorische

Wahrheit von Schmitts politischer Theologie: daß sie – wie ihr

Autor – gar keine Entscheidung fällen kann, die nicht

widerrufen werden müßte.

Die folgenden Überlegungen zum Geistergespräch zwischen

Benjamin und Schmitt erhalten ihren aktuellen Bezug aus dem

Versuch der „alternden Postmoderne“, ihr in der Metapher vom

Spiel ästhetisch fundiertes Denken529 durch solche Kategorien

529 Vgl. etwa Jacques Derrida, „Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen“, in: ders., Die Schrift und die Differenz,S. 422 ff.; Michael Foucault, Der Gebrauch der Lüste (Sexualität und Wahrheit

218

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

wie Zeit, Verantwortung und Entscheidung, wenn nicht durch eine

Theologie530 zu überwinden. Hier liegt vielleicht die

Herausforderung des Untertitels von Schmitts Traktat Hamlet oder

Hekuba, der die Tendenzwende auf den Begriff bringt: als

Ereignis des erneuten „Einbruchs der Zeit ins Spiel“.

II Trauerspiel oder Tragödie

Wenn es Walter Benjamin zunächst um die Rettung des barocken

Trauerspiels, seiner allegorischen Sprache und Ästhetik der

Trauer geht, so bedarf es nicht nur einer Emanzipation des

ästhetischen Kategorienapparates vom klassi(zisti)schen Code:

Symbol, Harmonie, Schönheit etc., sondern einer Historisierung

des ästhetischen Kategoriensystems im allgemeinen und

spezifisch der Kategorie der Tragödie. Die Tragödie

historisieren heißt für Benjamin dabei vor allem: sie für die

Geschichte zu öffnen. Im Unterschied nämlich zur antiken II), Frankfurt a. M. 1989, S. 9–20; Jean François Lyotard/Jean-Loup Thebaud, Just Gaming, Minneapolis 1985. Die Frage, inwieweit Benjamin selbst eine Praxis der Dekonstruktion betreibe und vorwegnehme, ist vor allem am Beispiel seines Textes „Zur Kritik der Gewalt“ diskutiert worden. Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der mystische Grund der Autorität, Frankfurt a. M. 1991, lieferte den Anstoß zu einer umfangreichen Diskussion, die in Anselm Haverkamp (Hrsg.): Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida, Benjamin, Frankfurt a. M. 1994, zusammengestellt ist. In seinem Aufsatz in diesem Sammelband scheint Rudolphe Gasche, „Über Kritik, Hyperkritik und Dekonstruktion.“ S. 214, dasWesentliche gesagt zu haben: „Von Dekonstruktion muß die Kritik der Gewalt somit gründlich unterschieden werden. Als Kritik beruht letztere auf der Sicherheit und der Zuversicht, der Drohung der Kontamination standhalten zukönnen.“ 530 Um nur einige Titel zu nennen, vgl. Emmanuel Lévinas, Wenn Gott ins Denken einfällt, Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, Freiburg/München 1985; Jacques Derrida, Politiques de l‘amitié, Paris 1994; ders., Points: Interviews 1974–1994, Stanford 1995; ders., The Gift of Death, Chicago 1995; Marion, God without Being; ders., Reduction and Givenness; ders., The Idol and Distance. Vgl. aber auch: Jegstrup, The New Kierkegaard, wo das Verhältnis von Dekonstruktion und ästhetischer Ironie vor allem thematisiert wird.

219

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Tragödie, die sich aus der vorgeschichtlichen Zeit in Mythos

und Sage herschreibt, liegt die Historizität des Trauerspiels

eben darin, daß die Geschichte in ihr zum Thema wird. Benjamin

bedient sich der Unterscheidung zwischen antiker und moderner

Tragödie aus Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung und, um die

spezifische Modernität des Trauerspiels herauszustellen, der

Definition der Souveränität bei Schmitt, die in diesem

Zusammenhang zum Insignum der Geschichte wird. „Der Souverän

als erster Exponent der Geschichte ist nahe daran, für ihre

Verkörperung zu gelten [...]. Der Souverän repräsentiert die

Geschichte. Er hält das historische Geschehen in der Hand wie

ein Szepter.“531 Wird aber die moderne Tragödie qua Trauerspiel

durch die Geschichte des Souveräns repräsentiert, so liegt

dessen Tragik gerade in der Entschlußunfähigkeit. Auf diese

Weise verbinden sich in der Figur für Benjamin das Moment der

Tyrannei – Herrschaft und Diktatur – und auf der anderen Seite

das Moment des Märtyrertums: Weil der Souverän sich nicht

entscheiden kann, bleibt ihm nur übrig, den eigenen Fall

stoisch zu ertragen. Diese Stellung zwischen herrschaftlicher

Initiative und dem eigenen Leiden an der Herrschaft erweist den

Souverän für Benjamin potentiell sogar als Typus des Heiligen,

in dem Rosenzweig seinerseits schon das Spezifikum der modernen

(gegenüber der antiken) Tragödie erkennen wollte: „Das

Trauerspiel ist als Form der Heiligentragödie durch das

Märtyrerdrama beglaubigt.“532

Worin liegt nun die spezifische Tragik des Souveräns, wie

wird dessen eigentliches Märtyrertum näher bestimmt? Wie kommt

es zu dem unbegreiflichen Umschlag von Entscheidungsmacht in 531 Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 45.532 Ebd., S. 94.

220

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Entschlußunfähigkeit? Selbst wenn der Souverän sich entscheide,

so meint Benjamin, müsse er zunächst die „jähe Willkür eines

jederzeit umschlagenden Affektensturms“533 beherrschen können,

der ständig auszubrechen droht. Mit anderen Worten: die

Herrschaft über die Untertanen, die der Anarchie des

Naturzustandes bzw. dem Bürgerkrieg ein Ende setzen soll, setzt

immer schon eine Herrschaft über die eigene Natur, also

Selbstbeherrschung, voraus. Extrem formuliert setzt der Begriff

des Souveräns vor dem Vermögen, den politischen Ausnahmezustand

zu beschließen, das Vermögen voraus, diesen über die eigene

„innere“ Natur zu verhängen. Die politische Ordnung, die sich

immerhin konsolidieren mag, steht damit allerdings ständig in

der Gefahr, durch den inneren Naturzustand des Königs gefährdet

zu werden. Aufruhr, Stasis, droht dem König zunächst und vor

allem von ihm selbst. Benjamins Theorie des barocken

Trauerspiels der Geschichte gründet damit, das wird bei

Benjamin vorausgesetzt, in einer Theorie kreatürlicher Natur,

die unter dem universalen Prinzip der Herrschaft steht und so

ständig Leiden produziert.

Die Ebene des Schöpfungsstandes, der Boden, auf dem dasTrauerspiel sich abrollt, bestimmt ganz unverkennbar auch denSouverän. So hoch er über Untertan und Staat thront, seinRang ist […] in der Schöpfungswelt beschlossen. Er ist derHerr der Kreaturen, aber er bleibt Kreatur.534

Es ist die Kreatürlichkeit als Prinzip der Herrschaft und des

anarchischen bellum onmium contra omnes, aus der die Einsetzung

des souveränen Herrschers hervorgeht, der seinerseits aber

immer schon derselben Naturgesetzlichkeit unterliegt. Die

Geschichte als geschaffene Natur ist so die ewige und trostlose533 Ebd., S. 53.534 Ebd., S. 66.

221

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Wiederkehr von Aufstieg und Fall, Herrschaft und Leiden, die

ewige Wiederkehr des gleichen Machtspiels, von dem der Souverän

glauben mochte, daß er es beherrscht, während er ihm schon

unterliegt. Der souveräne Spieler muß sich damit potentiell

immer wieder als ohnmächtige Funktion des naturhaften

Kräftespiels der Geschichte erkennen. Das ist das Trauerspiel.

Der Stand des kreatürlichen Menschen [ist] selber der Grunddes Untergangs. Diesen typischen Untergang, der soverschieden von dem außerordentlichen des tragischen Heldenist, haben die Dichter im Auge gehabt, wenn sie [...] einWerk als Trauerspiel bezeichnet haben.535

Der souveräne Herrscher, mit dem Schmitt dem entscheidungslosen

ästhetischen Spiel in Kunst, Staat und Politik ein Ende zu

setzen hofft, tritt bei Benjamin in seiner vollen Ohnmacht auf.

Er, dessen Macht sich aus dem kreatürlichen Naturzustand

ableitet, vermag angesichts der Einsicht in die trostlose

Verflochtenheit von Natur und Macht selbst nicht mehr zu

handeln. Der Umschlag vom souveränen Subjekt in die ohnmächtige

Kreatur verwandelt den einstigen Tyrann in einen Melancholiker

und zuletzt Märtyrer. „Der Fürst ist das Paradigma des

Melancholikers, nichts lehrt so drastisch die Gebrochenheit der

Kreatur, als daß selbst er ihr unterworfen ist.“536 Hier erst

bewährt sich offenbar der Bezug zu Franz Rosenzweigs Theorie

der Tragödie in ihrer ganzen Bedeutung: Die spezifische

Modernität der Tragödie hatte der jüdische Theologe in der

Krise des absoluten Bewußtseins, also im absoluten Idealismus

erkannt, der bei Fichte und Hegel ein souveränes Subjekt setzt,

das meint, dadurch Herr über die Natur werden zu können, daß es

sie erzeugt.535 Ebd., S. 70.536 Ebd., S. 103.

222

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Und so treibt die neuere Tragödie nach einem Ziel, das derantiken ganz fremd ist, nach der Tragödie des absolutenMenschen in seinem Verhältnis zum absoluten Gegenstand. [...]Das kaum gewußte Ziel ist dies: an die Stelle derunübersetzbaren Vielheit der Charaktere den einen absolutenCharakter zu setzen, einen modernen Helden, der ebenso eineiner und immergleicher ist wie der antike. DieserKonvergenzpunkt [...] dieser absolute Mensch ist kein andererals der Heilige.537

Bei Rosenzweig und Benjamin muß das souveräne Subjekt der

eigenen Natürlichkeit genau dann erliegen, wenn es vermeint,

über diese Natur tatsächlich vollkommen Herr geworden zu sein.

Die Natur als „Wille zur Macht“ erweist also gerade da sich als

ungebrochene Urmacht, wo sie das Denken bzw. das Handeln

angeblich schon überwunden hat.

Verwandelt sich die naturhafte Geschichte in einem „Vorgang

unaufhaltsamen Verfalls“, so wird das entschlossene Subjekt der

Herrschaft zum melancholischen Grübler, für den sich das Sein

nunmehr in seiner Allegorizität offenbart. Wenn die

Natur(geschichte) nämlich eine Szene des Verfalls ist, d.h. der

Umkehrung aller Intentionen auf Glück und Erfüllung, dann muss

alles in der Natur seine Bedeutung verlieren.

„Jede Person, jedwedes Ding, jedes Verhältnis, kann einbeliebiges bedeuten. Diese Möglichkeit spricht der profanenWelt ein vernichtendes, doch gerechtes Urteil: sie wirdgekennzeichnet als eine Welt, in der es aufs Detail nichtankommt.“538

Das Alles oder Nichts der souveränen Entscheidung verwandelt

sich für den Melancholiker, der dieser naturhaften Logik des

Verfalls inne wird, in die Gleichgültigkeit gegenüber „Allem“,

das sich tatsächlich als „Nichts“ erweist. Erweitert sich die

537 Ebd., S. 268 f.538 Ebd., S. 152.

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Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Melancholie vom Schmerz über den eigenen Machtverlust zur

Trauer über die Kreatürlichkeit und ihren Verfallscharakter, so

liegt der letzte Grund für die melancholische Gleichgültigkeit

und Interesselosigkeit in der Temporalität allen physischen

Seins. Ein jedes Sein enthält in sich schon die Nichtigkeit,

die sich durch den Eingriff der Zeit enthüllen wird. Versehrt

die Zeit im allegorischen Bewußtsein die Physis, so

transformiert sie damit immer schon das in Begriff und

Intention beherrschte Sein in einen trostlosen Abgrund. „Saturn

macht apathisch, unentschlossen, langsam. An der Trägkeit des

Herzens geht der Tyrann zugrunde.“539 Nur ein wahrhafter und

absoluter Ausnahmezustand vermag den verheerenden „Einbruch der

Zeit“ in das Trauerspiel der physischen Geschichte aufzuhalten.

Gerade diesen aber kann der Souverän als Kreatur nicht

herstellen. Als Kreatur ist er der Zeit unterworfen, die ihn

gestern zum Herrscher über das Sein erhob und ihn heute in den

Abgrund der Machtlosigkeit stürzt.

Die Kronosvorstellung ist nicht nur dualistisch in bezug aufsein eigenes, gleichsam persönliches Schicksal, so daß manden Kronos geradezu als einen Gott der Extreme bezeichnenkonnte. Auf der einen Seite ist er der Herrscher des goldenenZeitalters [...], auf der anderen Seite ist er der traurige,entthronte und geschändete Gott.540

539 Ebd., S. 135. Menke, Sprachfiguren, S. 169 weist zurecht auf Theodor W. Adornos frühen Aufsatz „Idee der Naturgeschichte“ hin, der den Zusammenhangvon Geschichte und Natur so auffaßt, daß „Geschichte, wo sie am geschichtlichsten ist, als Zeichen für Natur“ erscheine. Pensky, Melancholy Dialectics. S. 79: „[…] melancholy indicisiveness is taken as a cipher for the absence of a truly moral state of character, and this in turn can be expressed as a sort of spiritual and physical paralysis.“ Pensky hat vor allem auf den Zusammenhang von Benjamins Theorie der Melancholie und Kierkegaard hingewiesen (vgl. S.140–148). Hanssen stellt in „Portrait of Melancholy“, S. 178–181, die Melancholie als Temperamentslehre und moderne Stimmung dar. 540 Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 129 f.

224

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Gerade aber in diesem Umschlag, der allegorischen Metamorphose

des Kronos, der Temporalität der Herrschaft zeichnet sich für

Benjamin der absolute und theologische Horizont des

Trauerspiels ab: In der Transformation des Souveräns zur

Kreatur, im Verfall der quasi-göttlichen Macht in die Ohnmacht

des Sünders, in der Verwandlung des Seins in Nichts also zeigt

sich negativ die Macht, die das Nichts ursprünglich in Sein

verwandelt – die Macht Gottes als creatio ex nihilo.

Denn gerade in Visionen des Vernichtungsrausches, in welchenalles Irdische zum Trümmerfeld zusammenstürzt, enthüllt sichweniger das Ideal der allegorischen Versenkung denn ihreGrenze. Die trostlose Verworrenheit der Schädelstätte, wiesie als Schema allegorischer Figuren aus tausend Kupfern undBeschreibungen der Zeit herauszulesen ist, ist nicht alleindas Sinnbild von der Öde aller Menschenexistenz.Vergänglichkeit ist in ihr nicht sowohl bedeutet, allegorischdargestellt, denn, selbst bedeutend, dargeboten alsAllegorie. Als die Allegorie der Auferstehung [...] Denn auchdiese Zeit der Hölle wird im Raum säkularisiert und jeneWelt, die sich dem tiefen Geist des Satan preisgab undverriet, ist Gottes. In Gottes Welt erwacht derAllegoriker.541

Hamlet ist der eigentliche Repräsentant und die wahrhafte

Metonymie für diese allegorische Selbstverwandlung des

souveränen Subjekts, das das Sein von Geschichte und Natur

nunmehr als „Schädelstätte“ – also im Lichte der ihnen

verfallenden Herrschaft erblickt. Hamlet wird zum Paradigma des

unentschlossenen Souveräns und der Melancholie, die Benjamin

zuletzt mit der lutheranischen Theologie in Verbindung bringt.

Schon bei Luther selbst, dessen letzte zwei Lebensjahrzehntevon steigender Seelenbeladenheit erfüllt sind, meldet sichein Rückschlag auf den Sturm gegen das Werk. Ihn freilichtrug noch der Glaube darüber hin, aber der verhinderte nicht,

541 Ebd., S. 207 f.225

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

daß das Leben schal ward. „Was ist der Mensch. Wenn seinerZeit Gewinn, sein höchstes Gut / Nur Schlaf und Essen ist?Ein Vieh, nichts weiter. / Gewiß, der uns mit solcherDenkkraft schuf, voraus zu schauen und rückwärts, gab unsnicht, / Die Fähigkeit und göttliche Vernunft / Umungebraucht in uns zu schimmeln“ – dies Hamlets Wort istwittenbergische Philosophie und ist Aufruhr dagegen.542

Eben diesem Hamlet entzieht die Zeit den Sinn des souverän

beherrschten Seins,543 um doch am Horizont ihres Endes eine

Ahnung vom wirklichen Heil und dem wirklichen Souverän

aufscheinen zu lassen.

Einmal zumindest ist dem Zeitalter gelungen, die menschlicheGestalt zu beschwören, die dem Zwiespalt neuantikerBeleuchtung entsprach, in welchem das Barock denMelancholiker gesehen hat. Aber nicht Deutschland hat dasvermocht. Es ist der Hamlet. Das Geheimnis seiner Person istbeschlossen im spielerischen eben dadurch aber gemessenenDurchgang durch alle Stationen dieses intentionalen Raums,wie das Geheimnis beschlossen ist in einem Geschehen, dasdiesem seinem Blick ganz homogen ist. Hamlet allein ist fürdas Trauerspiel Zuschauer von Gottes Gnaden, aber nicht wassie ihm spielen, sondern einzig und allein sein eigenesSchicksal kann ihm genügen. Sein Leben, als vorbildlichseiner Trauer dargeliehener Gegenstand, weist vor demErlöschen auf die christliche Vorsehung, in deren Schoß seinetraurigen Bilder sich in seliges Dasein verkehren.544

Carl Schmitts Hamlet oder Hekuba nimmt die Provokation Benjamins

auf, obzwar mit bedeutender Verspätung. Er muß sie aufnehmen,

542 Ebd., S. 119.543 Ein interessanter Hinweis findet sich bei Hanssen, „Portrait of Melancholy“, S. 179, wo von der Melancholie als einer „Stimmung“ die Rede ist, die allerdings, trotz des Hinweises auf Martin Heideggers Sein und Zeit ananderer Stelle, nicht auf Heidegger bezogen wird. Doch eben der Zusammenhang von Sein und Zeit, wie er sich zumal in dem Existential der „Befindlichkeit“ offenbart, scheint mir vielversprechend zu sein. Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1984, § 29, S. 134 ff.: „Die existenziale Konstitution des Da. Das Dasein als Befindlichkeit“. Marion, God without Being, versucht in diesem Sinne eine Überwindung des Seinsdenkens mithilfe der Stimmungen von Langeweile und Melancholie. 544 Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 136 f.

226

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

weil sie ähnlich wie der Angriff Erik Petersons von 1935545, die

Theologie der Souveränität im Kern getroffen zu haben scheint.

Carl Schmitts Strategie läuft dabei zunächst darauf hinaus, die

Forderung Benjamins ernst zu nehmen und den tragischen Fall

Hamlet vor dem historischen Hintergrund zu begreifen. Hatte

Benjamin zwar die Geschichte zum Kennzeichen der modernen

Tragödie, also des Trauerspiels erhoben, so deutete er die

Geschichte zuletzt unhistorisch-metaphysisch als kreatürliche

Zeitlichkeit. Schmitt geht hingegen auf die realen historischen

Begleitumstände ein, aus denen Hamlets Drama sich erschließen

lassen soll. Damit enttheologisiert er Benjamins

Geschichtsbegriff, und das heißt zunächst, daß er die

Geschichte als Wirklichkeit jener Religionskriege nachweist, in

denen die Geschichte sich von der Vorherrschaft der Theologie

gerade zu emanzipieren versucht. Schmitt schreibt zu Benjamins

Buch:

Die Hauptstelle über Hamlet findet sich am Schluß desAbschnitts „Trauerspiel und Tragödie“. Auch diese Stellenimmt auf den Schluß des Hamlet [...] Bezug. Walter Benjaminglaubt in ihr etwas im besonderen Sinne Christliches zuerkennen, weil Hamlet kurz vor dem Tode von der christlichenVorsehung spricht, in deren Schoß seine traurigen Bilder sichin seliges Dasein verkehren.546

Die Metaphysik von der allegorischen Geschichte will Schmitt

hier zunächst durch die realpolitische Situation ersetzen.

Shakespeares Drama ist nicht christlich. Es ist aber auchnicht auf dem Wege zu dem souveränen Staat des europäischenKontinents, der religiös und konfessionell neutral seinmußte, weil er aus der Überwindung des konfessionellenBürgerkriegs hervorgegangen war.547

545 Vgl. Anm. 1.546 Schmitt, Hamlet oder Hekuba, S. 63.547 Ebd., S. 63 f.

227

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Die Rettung der Souveränität vor dem Angriff Benjamins läuft

für Schmitt darauf hinaus, Shakespeares Werk im Ganzen in die

historische Epoche der religiösen Bürgerkriege zu stellen, in

der der Begriff der souveränen Staatlichkeit nicht entwickelt

war, da er sich erst als Konsequenz aus diesen Religionskriegen

ergeben hat.548 Hamlets Unentschlossenheit wird nicht mehr aus

einem Kontrast zur Souveränität, sondern aus der spezifisch

historischen Situation der Religionskriege in England

transparent. Schmitt leitet damit aus dieser historischen

Situation die für seine Begriffe auffallende Unspezifität des

Christlichen des Dramas her, d.h. die Unmöglichkeit, Hamlet aus

dem protestantischen oder katholischen Kontext her zu

begreifen. Mit anderen Worten: Daß Hamlet sich nicht

entscheiden kann, hat für Schmitt nichts mit dem

Souveränitätsbegriff zu tun – dieser ist, wie gesagt, erst

Resultat der Religionskriege – sondern mit der spezifischen

Stellung Shakespeares/Hamlets zwischen dem katholischen und dem

protestantischen Lager im englischen Bürgerkrieg. Damit aber

möchte er zugleich den Nachweis erbringen, daß das ästhetische

Spiel das Paradigma der allegorischen Unentschlossenheit der

Säkularisation darstellt, die sich in Hamlets

Unentschlossenheit zwischen Protestantismus und Katholizismus

gleichsam zum ersten Mal „dramatisch“ meldet und dokumentiert.

Shakespeares Drama fällt in das erste Stadium der englischenRevolution, wenn man diese – wie es möglich und sinnvoll ist– mit der Vernichtung der Armada 1588 beginnen und mit derVertreibung der Stuarts 1688 enden läßt. In diesen hundertJahren entwickelte sich auf dem europäischen Kontinent aus

548 Vgl. Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum; ders., Theorie des Partisanen: Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 1995 (1963).

228

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

der Neutralisierung des konfessionellen Bürgerkriegs eineneue politische Ordnung, der souveräne Staat, ein imperiumrationes wie Hobbes ihn nennt [...] Der hundert Jahre langeBürgerkrieg zwischen Katholiken und Protestanten konnte durcheine Entthronung der Theologen überwunden werden.549

In zwei Schritten rekonstruiert Schmitt die historische Szene

des Trauerspiels, um Hamlets Unentschlossenheit aus dem

Religionskrieg abzuleiten:

1) aus dem sogenannten „Tabu der Mutter“ und

2) der „Figur des Rächers“.

1) Gegenüber den mythischen Vorbildern, in denen „der Sohn

[...] entweder den Mörder (des Vaters) und also die eigene

Mutter tötet (Orest) oder sich mit der Mutter verbündet, um mit

ihr gemeinsam den Mörder des Vaters zu töten“550 bleibe die

Rolle der Mutter im Hamlet in ein eigentümliches Tabu gehüllt,

das durch die Mahnung des Geistes des ermordeten Vaters an

Hamlet gesteigert wird: „Dein Gemüt ersinne nichts gegen Deine

Mutter.“ Mit einigem Stolz verkündet Schmitt, er könne „dieses

ganz konkrete Tabu“ nennen. Es betrifft die Königin Maria

Stuart von Schottland. „Ihr Gatte, Henry Lord Darnley, der

Vater Jakobs, wurde im Februar 1566 auf eine scheußliche Weise

von dem Grafen Bothwell ermordet. Im Mai desselben Jahres 1566

heiratete Maria Stuart eben diesen Grafen Bothwell, den Mörder

ihres Gatten.“551 Schmitt macht hier Ernst mit dem von Benjamin

suggerierten Einbruch der Geschichte in die Tragödie und deutet

von hier aus nun Hamlets Unentschlossenheit,wie fragwürdig auch

immer der Versuch erscheinen muß, die ästhetische durch eine

historische Wirklichkeit zu erklären

549 Schmitt, Hamlet oder Hekuba, S. 64 f.550 Ebd., S. 14.551 Ebd., S. 18 f.

229

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Maria versicherte ihre volle Schuldlosigkeit und ihreFreunde, insbesondere die Katholiken, glaubten ihr das. IhreFeinde, vor allem das protestantische Schottland und England,waren überzeugt, daß Maria sogar die eigentliche Anstifterindes Mordes war.552

Von hier aus nun zieht Schmitt seine Schlüsse für die Situation

des Hamlet. In den Jahren seiner Abfassung (1600–1603) habe

nämlich die Frage nach der Thronfolge Elisabeths I.

offengestanden.

Shakespeare gehörte mit seiner Truppe zur Klientel des GrafenSouthhampton und Essex. Diese Gruppe setzte auf Jakob, denSohn der Maria Stuart, als den kommenden Thronfolger [...]Mit Rücksicht auf Jakob [...], den erwarteten Thronfolger,war es unmöglich, eine Schuld der Mutter an der Ermordung desVaters zu unterstellen [...]. Mit Rücksicht auf dasprotestantische Publikum war es unmöglich, dieSchuldlosigkeit der Mutter zu unterstellen.553

Am Tabu der Mutter erkennt Schmitt mithin den Einbruch „einer

furchtbaren geschichtlichen Wirklichkeit“ in das Bühnenspiel,

durch die „die Handlung des Dramas [...] unklar und gehemmt

wurde.“554

2) Von dieser politischen Realität der Religionsspaltung aus

verfolgt Schmitt das Phänomen, das er ganz wie Benjamin als

„die Abbiegung der Figur des Rächers zu einem durch Reflexionen

gehemmten Melancholiker“555 bezeichnet. Es ist die Figur jenes

Jakobs, des Sohnes der Maria Stuart, in dem Schmitt das Vorbild

für den unschlüssigen Hamlet rekonstruiert. „In dem

philosophierenden und theologisierenden König Jakob verkörpert

sich nämlich der ganze Zwiespalt seines Zeitalters, das ein

Jahrhundert der Glaubensspaltung und des konfessionellen

552 Ebd., S. 19.553 Ebd., S. 20 f.554 Ebd., S. 21.555 Ebd.

230

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Bürgerkrieges war.“556 Hamlet ist unspezifisch christlich – das

heißt jetzt vor allem: er ist typisch für eine Biographie der

Glaubensspaltung557:

Die eigentliche Hamletisierung des Rächers findet erst hierihre adäquate Erklärung. Hier tritt der Zusammenhang vonzeitgeschichtlicher Gegenwart und Tragödie zu Tage. Dasunglückliche Geschlecht der Stuarts, dem Jakob entstammte,war tiefer als andere in das Schicksal der europäischenGlaubensspaltung verstrickt. Jakobs Vater wurde ermordet,seine Mutter heiratete den Mörder; die Mutter ihrerseitswurde hingerichtet; der Sohn Jakobs, Karl I. starb ebenfallsauf dem Schaffott; der Enkel wurde des Thrones entsetzt undstarb im Exil. Zwei Stuarts also starben auf dem Schaffott;nur acht von siebzehn Herrschern des Namens Stuart erreichtendas 50. Lebensjahr. Jakob ist einer von diesen und einer derwenigen Stuarts, die im Besitz der Krone eines natürlichenTodes gestorben sind. Aber sein Leben war trotzdem zerrissenund gefährdet genug. Als Kind von anderthalb Jahren wurde erzum König gekrönt. Alle Parteien suchten sich seiner Personzu bemächtigen. Er wurde geraubt, entführt, verhaftet,gefangengesetzt und mit dem Tode bedroht. Oft hatte er alsKnabe und Jüngling Nächte hindurch in Kleidern gewacht, umsofort fliehen zu können. Er war katholisch getauft, wurdeaber der Mutter weggenommen und von den Feinden seiner Mutterprotestantisch erzogen. Seine Mutter, Maria Stuart, ist alsBekennerin ihres römisch-katholischen Glaubens gestorben. DerSohn mußte, um den Thron von Schottland nicht zu verlieren,mit den Protestanten sich verbinden. Er mußte sich mit derTodfeindin seiner Mutter, der Königin Elisabeth gut stellen,um den Thron von England zu gewinnen. So war er buchstäblichvom Mutterleibe an in die Spaltung seines Zeitaltershineingeworfen.558

Mit anderen Worten: Die Unentschlossenheit des Hamlet ist

nunmehr Funktion des Religionsschismas im England des 17.

Jahrhunderts und nicht eines metaphysisch begründeten

Unvermögens, das an die Idee der Souveränität gebunden ist. Der

556 Ebd., S. 28.557 Ebd., S. 29.558 Ebd.

231

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

allegorische Zustand, in dem Benjamin das Sein von Natur und

Geschichte bzw. Geschichte qua Natur enthüllt, wird von Schmitt

durch die Analyse der politisch/theologischen Krise konkret

historisiert, mit deren Aufhebung im modernen Staat der Begriff

der Souveränität erst entsteht, den Benjamin allerdings, im

Sinne seiner Kritik, für seine Metaphysik schon voraussetzt.

Hamlet gehört in die Zwischenzeit, in der die Religion

gespalten, und der Staat sich noch nicht unabhängig von deren

Ansprüchen gemacht hat. Die Unentschlossenheit des Hamlet

erschließt sich für Schmitt aus der historischen Situation, die

die für ein ästhetisches Verstehen typische Unentschlossenheit

im Grunde schon vorwegnimmt. Der Einbruch der Zeit ins Spiel

selbst kann nur in Anspielungen und Tabuisierungen zur Sprache

kommen, weil hier eine reale und keine mythische fürstliche

Genalogie die dramatisch-politische Situation bestimmt. Hier

liegt für Schmitt, der Benjamins Forderung nach Historisierung

gleichsam wörtlich nimmt, um sie gegen sich selbst zu wenden,

gerade die verdrängte mythische Dimension von Hamlets Tragödie.

„Mythisch“ meint hier jetzt die verborgene politische Dimension

des Dramas. Damit aber ist Hamlet für Schmitt eben nicht mehr

nur „Spiel“. „Die Tragik hört auf, wo das Spiel beginnt, auch

wenn dieses Spiel ein Spiel zum Weinen ist, ein trauriges Spiel

für traurige Zuschauer und ein tiefergreifendes Trauerspiel.“559

Schmitts Reduktion des Trauerspiels auf die historische

Situation zielt zuletzt auf eine Kritik der Ästhetik vom

autonomen Spiel als einem Werk der geschichtslosen

Subjektivität des genialen Dichters, wie ihn der deutsche Sturm

559 Ebd., S. 42.232

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

und Drang vor allem im Anschluß an Shakespeare560 konzipiert und

wie er dann modifiziert in Kants Kritik der Urteilskraft561 als

unbewußter Ursprung des nach eigenen Gesetzen funktionierenden

Spiels auftritt. Die vermeintliche Freiheit des Genies

Shakespeare gegenüber der literarischen Quelle sei „nur die

Kehrseite einer um so festeren Bindung an sein konkret

vorhandenes Londoner Auditorium und dessen Wissen um

gegenwärtig gegebene Möglichkeiten“562. Mit anderen Worten: Die

Metapher vom ästhetischen Spiel als unendlich sich entfaltender

und entgleitender Sinn von Kunst, der als niemals eindeutiger

stets zu neuen Diskussionen Anlaß gibt, diese Metapher vom

Spiel bezeichnet für Schmitt das Ende von Ernst, Entscheidung,

von Politik. Die Unentschlossenheit Hamlets ist damit also auch

Symbol für eine moderne Politik, die sich in der

parlamentarischen Diskussion erschöpft, ohne – im Sinne des

Absolutisten Schmitts – eine Entscheidung herbeiführen zu

wollen. Sie ist Symbol für die säkulare Politik der

Entpolitisierung. Eine „richtige“ Lesart der Tragödie erlaube

es jedoch, den Ursprung der Moderne als Politik der

Säkularisation, Neutralisierung, Ästhetisierung und des Spiels

in der tragischen Situation des Religionskrieges zu erkennen.

Damit fungiert die Auseinandersetzung über Hamlet zunächst

als historische Einschätzung des Verhältnisses vom Trauerspiel

560 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Zum Shakespeare-Tag, in: ders., Werke XII,Hamburger Ausgabe.561 Kant, Kritik der Urteilskraft, § S. 46–50. Zum Problem des Genies vgl.: Edgar Zilsel, Die Entstehung des Geniegedankens, Ein Beitrag zur Ideengeschichte der Antike und des Frühkapitalismus, Tübingen 1926; Jochen Schmidt, Die Geschichte des Geniegedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik, 1750–1945, Darmstadt 1988. Auch meinen Aufsatz „Die Endzeit des Genies – Zur Problematik des ästhetischen Subjektsin der Postmoderne“. Ebenso zur heutigen Situation vgl. Donald Kuspit, The Cult of the Avantgarde Artist, New York/Cambridge 1993.562 Schmitt, Hamlet oder Hekuba, S. 38.

233

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

der Unentschlossenheit zur Souveränitätsidee, aber dann auch

als impliziter Versuch, das aktuelle „Trauerspiel“ der

parlamentarischen Diskussion durch eine souveräne Entscheidung

zu beenden – wie Schmitt dies in der politischen Theologie

gefordert hatte, auf die Benjamin mit einer historischen

Analyse Hamlets reagiert hat. Die historische Krise (von

Bürgerkrieg und Unentschlossenheit) kommt für Schmitt in der

Konzeption des modernen Souveränitätsgedankens bei Hobbes zu

ihrem Ende. Hier ist der Souverän der Fürst, der mit seiner

Entscheidungsgewalt den Ausnahmezustand des religiösen

Bürgerkriegs als eines aktualisierten Naturzustandes gleichsam

beendet.

Für die Situation der Moderne konstruiert Schmitt einen

Prozeß der Umkehr, in dem die souveräne Macht der Ausnahme

zusehends durch die politische Regel der Vernunft und Autonomie

ersetzt wird, die keine Ausnahme, kein Ausnahmerecht und damit

keine souveräne Entscheidung mehr ermöglicht. Die Idee eines

autonomen ästhetischen Spiels bezeichnet für Schmitt den

Höhepunkt einer Selbstverirrung des modernen Subjekts, das sich

vom Ernstfall der Entscheidung immer mehr auf die Diskussion

eines im ästhetischen Spiel sich potenzierenden Sinns verlegt.

Die politische Theologie von 1922 war der Versuch, das, was

Schmitt am modernen Parlamentarismus als ästhetisches Spiel nur

ansieht, zu beenden.563 Der Essay über Hamlet ist damit nicht

nur eine Korrektur der historischen Verhältnisse und als eine

Rettung der aktuellen Politik der Souveränität zu verstehen,

sondern zuletzt als Versuch, den ästhetischen Bereich wieder

zurück in die politische Sphäre zu verlegen, von der er sich

563 Schmitt, Politische Theologie, S. 59.234

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

angeblich emanzipiert hat. Es geht Schmitt um eine Kunst, die

in die aktuelle politische Situation eingebunden ist, und damit

um die Rücknahme ihrer Autonomie. Im Gegensatz zu Goethe und

Schiller habe Shakespeare „seine Stücke nicht für die Nachwelt,

sondern für ein sehr konkret vorhandenes Publikum“ geschrieben:

„Er verfaßte sie im Hinblick auf sehr konkrete Adressaten.“564

„Ein Verfasser von Theaterstücken […] steht nämlich mit diesem

Publikum nicht nur in psychologischer und soziologischer

Wechselbeziehung, sondern in einer gemeinsamen

Öffentlichkeit.“565 Eben diese Rückbindung des ästhetischen

Spiels in die politische Realität und Öffentlichkeit soll

bewirken, daß „die Bühnenfigur des Hamlet zu einem echten

Mythos“566 werden kann. So handelt es sich beim Hamlet – hier

spricht Schmitt vollends diametral gegen Benjamin – um eine

Tragödie und nicht um ein Trauerspiel, eben weil die

geschichtliche Realität bei Shakespeare zum Mythos sich

konzentrieren konnte.

Bekanntlich hat der europäische Geist sich seit derRenaissance entmythisiert und entmythologisiert. Trotzdem hatdie europäische Dichtung drei große symbolhafte Figurengeschaffen: Don Quixote, Hamlet und Faust. Von ihnen istjedenfalls einer, Hamlet, bereits zum Mythos geworden. Alledrei sind merkwürdigerweise Bücherleser und insofernIntellektuelle, wenn man so sagen will. Alle drei sind vomGeist aus der Bahn geworfen. Achten wir nun einmal auf ihrenUrsprung und ihre Herkunft: Don Quixote ist Spanier undkatholisch. Faust ist Deutscher und Protestant. Hamlet stehtzwischen beiden mitten in der Spaltung, die das SchicksalEuropas bestimmt hat. […] Dadurch eröffnet sich ein Horizont,in dem es sinnvoll erscheint, an eine Quelle tiefster Tragikzu erinnern, an die geschichtliche Wirklichkeit der Maria

564 Schmitt, Hamlet oder Hekuba, S. 36.565 Ebd., S. 37.566 Ebd., S. 46.

235

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Stuart und ihres Sohnes Jakob. Maria Stuart ist uns immernoch etwas anderes und mehr als Hekuba. Auch das Schicksalder Atriden steht uns nicht so nahe wie das der unglücklichenStuarts. Dieses Königsgeschlecht ist von dem Schicksal dereuropäischen Glaubensspaltung zerschmettert worden. In seinerGeschichte ist der Keim des tragischen Hamlet-Mythoserwachsen.567

Es ist hier freilich nicht der Ort, die Frage zu erörtern, ob

nicht diese vermeintlich mythische Macht des Namens Stuart, der

im Hamlet ja gar nicht vorkommt, viel mehr der von Schmitt

verachteten Ästhetik Friedrich Schillers zuzuordnen ist.

III Intertextuelles Nachspiel

„Die unumgängliche Wirklichkeit ist der stumme Felsen, an dem

das Spiel sich bricht und die Brandung der echten Tragik

aufschäumt.“568 Was immer man von Schmitts historischer

Reduktion halten mag, es gelingt ihm immerhin zunächst, die

Provokation Benjamins abzuwehren. Darüber hinaus zielt seine

Antwort auf eine überraschende Rekonstruktion der für die

autonome Ästhetik so zentralen Metapher vom (Trauer)spiel der

Entscheidungslosigkeit aus der theologischen Krise des 17.

Jahrhunderts und damit auf eine Kritik, die das Ästhetische

auch hier als Ausdruck politischer Konflikte auszuweisen sucht.

Angesichts einer Postmoderne, die Sein, Wahrheit und Sprache

zunächst als Spiel begriff, in dem das Subjekt sich verliert,

und heute versucht, das Spiel durch den Ernstfall der Praxis

und Politik (wenn nicht gar in einem theologisch fundierten

Denken, von dessen politischer Dimension wir freilich noch 567 Ebd., S. 54 f.568 Ebd., S. 47.

236

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

keinen Begriff haben) zu überwinden, ist Schmitts

Rekonstruktion, trotz ihrer eigenen Tendenz, erstaunlich

aktuell und „postmodern“.

Hinter der mit dieser späten Wende des postmodernen Denkens

korrespondierenden Intention Schmitts verbirgt sich nicht nur

die textuelle Wirklichkeit von Benjamins Buch, sondern auch

eine komplexe politische Situation, die Schmitt hier nur

andeutet, die aber – wie ich meine – den letzten und

eigentlichen Tiefensinn dieses eigentümlichen Geistergesprächs

erhellt, in dem die politische Theologie naturgemäß das letzte

Wort und damit zugleich ihre tatsächliche mythische, um nicht

zu sagen dämonische Dimension erhalten soll. Es ist die

„unumstößliche Wirklichkeit“, die Schmitt mit dem „Begriff des

Politischen“ benennt, der sich im Begriff der Souveränität,

bzw. der souveränen Entscheidung erfüllt. Die Notwendigkeit

einer souveränen Entscheidung ergibt sich ja für Schmitt immer

nur im „Augenblick der Gefahr“ äußerer oder innerer Bedrohung

durch einen Feind. Von daher definiert Schmitt Politik als das

Vermögen, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden.569

Hamlet erscheint aus dieser Perspektive als die mythische

Figur des unentschlossenen Prinzen, der den Feind vielleicht

noch erkennen will, aber nicht wirklich gegen ihn vorzugehen

vermag. Hamlet als Mythos eines protoästhetischen Bewußtseins

und des Spiels ohne substantielle Handlung ist damit für

Schmitt schon der Mythos von der Krise von Politik. „Gemessen

an dem zivilisatorischen Fortschritt, den das allerdings erst

im 18. Jahrhundert realisierte Ideal der kontinentalen

Staatlichkeit bedeutet, erscheint das England Shakespeares noch

569 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 7.237

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

als barbarisch, d.h. hier vorstaatlich.“570 „Barbarisch“

bezeichnet hier bei Schmitt v.a. den „polemischen [...] Sinn

eines Gegensatzes gegen das Wort ‚politisch’“571. Wenn Benjamin

Hamlets Trauerspiel einmal „elementarisch“ nennt, so übersetzt

Schmitt dies mit dem Begriff „barbarisch“, greift diese

Bestimmung also auf und deutet sie als Gegenbegriff zum

Politischen. Mit der mythischen Kodifizierung des Hamlet als

Mythos der Krise des Politischen kennzeichnet Schmitt immer

auch zugleich den Gegenmythos: Das Politische, in dem die

Entscheidungslosigkeit – hier bedingt durch die

Glaubensspaltung – zu Ende kommt.

Schmitt erwähnt hier den höchst konkreten Gegenmythos nur am

Rande, nämlich Thomas Hobbes’ Leviathan. Die politische

Entscheidung verhält sich zum ästhetischen Spiel, wie der

Mythos vom Leviathan zum Mythos vom Hamlet. Im Kommentar zu

Hobbes’ Leviathan (1938) beschreibt Schmitt die Geburtsstunde

des Politischen nach der Glaubensspaltung folgendermaßen:

Ausgangspunkt der Staatskonstruktion des Hobbes ist die Angstdes Naturzustandes, Ziel und Endpunkt die Sicherheit deszivilen, staatlichen Zustandes. [...] Der Schrecken desNaturzustandes treibt die angsterfüllten Individuen zusammen,ihre Angst steigert sich aufs äußerste, ein Lichtfunke derratio blitzt auf und plötzlich steht vor uns der neueGott.“572

Der neue, allerdings durchaus sterbliche Gott Leviathan setzt

den Souverän als Schöpfer eines irdischen Friedens ein, seine

Aufgabe ist es, „Ruhe, Sicherheit und Ordnung zu schaffen“573,

d.h. den Schrecken des Naturzustandes bzw. den religiösen

570 Schmitt, Hamlet oder Hekuba, S. 67.571 Ebd. S. 65.572 Schmitt, Der Leviathan, S. 47 f.573 Ebd., S. 65.

238

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Bürgerkrieg zu beenden. Diese neue politische Ordnung wird

bekanntlich dadurch aufrechterhalten, daß sie den Glauben bzw.

das religiöse Gewissen, das einst seine blutigen politischen

Opfer gefordert hat, nunmehr in die Privatsphäre, den Innenraum

des Staates, abdrängt und damit nun den Bürger in zwei Hälften

spaltet, den inneren und den äußeren Menschen. An die Stelle

der Glaubensspaltung tritt also eine neue politisch bedingte

Spaltung zwischen innen und außen.

Für Schmitt bezeichnet der Innenraum der Privatsphäre aber

auch schon einen neuen Todeskeim für die Politik, der den

„mächtigen Leviathan von innen her zerstören und den

sterblichen Gott zur Strecke“574 bringen wird. Schmitts

Rekonstruktion entfaltet hier bekanntlich eine Logik der

Verschwörung und Zerstörung, die von diesem Innenraum ausgeht

und diesen gleichsam nach außen stülpt.

Schon wenige Jahre nach dem Erscheinen des Leviathan fiel derBlick des ersten liberalen Juden auf die kaum sichtbareBruchstelle. Er erkannte in ihr sofort die großeEinbruchstelle des modernen Liberalismus, von der aus dasganze, von Hobbes aufgestellte Verhältnis von äußerlich undinnerlich, öffentlich und privat in sein Gegenteil verkehrtwerden konnte.575

Von der Konstruktion des Mythos vom Leviathan, des Staates und

der Politik geht Schmitt dazu über, dessen Zerstörung durch die

„von außen“ eindringenden Juden nachzuzeichnen. Die „kleine

umschaltende Gedankenwendung aus der jüdischen Existenz

heraus“576 führt in dieser dämonologischen Rekonstruktion

Schmitts zu der Aufklärung, die den souveränen Fürsten zu

stürzen sucht.574 Ebd., S. 86.575 Ebd.576 Ebd., S. 88 f.

239

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Die staatliche Entwicklung des 18. Jahrhunderts vollendeteden Gedanken der fürstlichen Souveränität […] Das geht abernur in der Weise vor sich, daß die absolute staatliche Macht,die souverän repräsentative Person, die den ständischen undden kirchlichen Gegner besiegt hat, zwar den augenfälligenSchauplatz des öffentlichen Geschehens und den Vordergrundder politisch-geschichtlichen Bühne beherrscht, daßgleichzeitig aber unsichtbare Unterscheidungen von Außen undInnen, Öffentlich und Privat nach allen Richtungen hin zueiner immer schärferen Trennung und Antithese weitergetriebenwerden […] Im 18. Jahrhundert ist es Moses Mendelssohn, derin seiner Schrift „Jerusalem, oder über religiöse Macht undJudentum“ (1783) die Trennung von Innerlich und Äußerlich,Sittlichkeit und Recht, innerer Gesinnung und äußerer Haltungzielsicher geltend macht und vom Staat Gewissensfreiheitverlangt.577

Staat, Souveränität und Politik werden in Schmitts bösartiger

Darstellung Opfer einer Verschwörung aus dem Innenraum des

Staates, nämlich der sittlichen Vernunft, wie sie in Wolffs,

Mendelssohns und Kants Philosophie konzipiert wird, und die

eine für alle Bürger gleichermaßen und ausnahmslos geltende

Ethik anstelle der Politik der Ausnahme zu setzen bestrebt ist.

Vom Standpunkt der reinen Sittlichkeit ist der Staat in der Tat

eine nur noch äußere Macht und deswegen prinzipiell, wenn die

Sittlichkeit sich ganz durchgesetzt hat, überflüssig. Im

Innenraum des Staates wird also für Schmitt ein antipolitischer

Mythos mobilisiert, der im Leviathan nur noch ein bösartiges

Ungeheuer erblickt. „Die jüdischen Deutungen des Leviathan und

der Behemoth sind wesentlich anderer Art.“578 Schmitt vollendet

seine Dämonologie der unsichtbaren antipolitischen Kräfte,

indem er kabbalistische Mythen zitiert, die sich auf den

messianischen Frieden beziehen und also das Ende aller Gewalt

und Herrschaft vorsehen.577 Ebd., S. 92.578 Ebd., S. 16.

240

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Es ist zwar im Allgemeinen bekannt, daß beide Tiere zuSymbolen der den Juden feindlichen heidnischen Weltmächtegeworden sind und auf das babylonische, das assyrische, dasägyptische und andere heidnische Reiche bezogen werdenkönnen.579

Wenn der Leviathan für Hobbes und Schmitt den souveränen Staat

und also eine entschlossene Politik symbolisiert, so bezeichnet

er für „die Kabbalisten“ den den Juden feindlichen Machtstaat

bzw. die Weltbühne der einander bekämpfenden Machtstaaten.

Nach solchen jüdisch-kabbalistischen Deutungen stellt derLeviathan „das Vieh auf den tausend Bergen“580, nämlich dieheidnischen Völker dar. Die Weltgeschichte erscheint als einKampf der heidnischen Völker untereinander [...] Die Judenaber stehen daneben und sehen zu, wie die Völker der Erdesich gegenseitig töten, für sie ist dieses gegenseitigeSchächten und Schlachten gesetzmäßig und „koscher“. Daheressen sie das Fleisch der getöteten Völker und leben davon.581

Schmitt zitiert hier eine kabbalistische Aggada, die in die

Liturgie als Schlußgebet des Laubhüttenfestes eingegangen ist,

derzufolge die Juden in den Zeiten des Messias das Fleisch des

Leviathan verzehren. Die jüdische Mythologie, die auf die

messianische Neutralisierung des Machtstaates und des mit dem

Naturzustand gegebenen Herrschaftsprinzips setzt, bezeichnet

also in Schmitts Dämonologie das Gegenprinzip zu aller Macht

und damit zum Mythos des Politischen. Der Mythos vom

messianischen Mahl ist damit das eigentliche Feindprinzip aller

Politik, gegen das sich der mythische Inhaber der souveränen

Gewalt zurüstet. Der Leviathan der Juden gegen den Leviathan

von Hobbes. Wenn die Politik eben die Sphäre der Unterscheidung

zwischen Freund und Feind ist, dann ist der gefährlichste Feind

immer derjenige, der die Unterscheidung selbst und damit den 579 Ebd. 580 Ps. 50,10581 Schmitt, Der Leviathan, S. 17 f.

241

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Begriff des Feindes und der Politik aufheben will. Dieser Feind

aller Feindschaft und damit der Feind aller Feinde ist in

Schmitts apokalyptischer Logik „der Jude“ mit seiner

Messianologie von der befreiten Menschheit.

Es ist eben diese Konzeption des Politischen und der

Souveränität bei Schmitt, die zur Zerstörung der Weimarer

Verfassung und zuletzt zum Massenmord an dem jüdischen „Feind“

wesentlich beigetragen hat, zumal hier an die Stelle des von

den Juden ermordeten Messias/Christus nunmehr der Mythos von

der Zerstörung des „mortall God“, des sterblichen Gottes

Leviathan durch dessen jüdische Subversion tritt. Mit dieser

subkutanen Essentialisierung des Feindes als jüdischer Feind

verliert der Begriff des Politischen zuletzt jeden

realpolitischen Sinn: ohne Feind keine Politik, ohne Politik

keine Entscheidung. Wird der Jude zum Feind schlechthin, so muß

er nämlich zum dämonischen Geist entstellt werden, der hinter

den Kulissen der Politik seine Verschwörungen schmiedet. Alle

Politik gilt eigentlich nur diesem Feind der Feindschaft, der

nur durch einen Vernichtungszug aus dem Felde geräumt werden

kann. Doch die Vernichtung des jüdischen Feindes muß, um des

Politischen willen, permanent vollzogen werden. Es bedarf also

einer Wiederbelebung des Toten, um den Kampf erneut gegen ihn

aufzunehmen. Das Politische enthüllt sich als Ritual einer

Geisterbeschwörung, in dem der Geist des ermordeten Juden, nach

dessen Tode noch als Feind auftreten, gegen den ein letzter

Kampf gekämpft werden muß. Benjamins Geist hatte die

Wirklichkeit und Effektivität des politischen Machtprinzips der

Aufklärung als Fortsetzung des Naturzustandes begriffen und

damit die Geschichte als einen ewigen mythischen Weltkrieg der

242

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Mächte gekennzeichnet, an dem sowohl die Untertanen wie der

Souverän selbst leiden und zugrundegehen müssen. Walter

Benjamin erzeugt so einen Antimythos des Politischen und der

Herrschaft, den er im Hamlet zur Allegorie der totalen Krise

von (Macht)politik überhaupt – ihrer totalen Sinnlosigkeit und

Überflüssigkeit erhebt. Die Entmythologisierung des

Trauerspiels dient bei Benjamin eben jenem Kampf gegen den

Mythos von Leviathan und seiner souveränen Macht, womit

Benjamin als Feind der Feindschaft sich zu erkennen gibt, gegen

den sich – laut Schmitt – die Politik richten muß. Der Geist

Benjamins, der hier dem politischen Theologen Schmitt posthum

erscheint, wird zu Schmitts mythologischem Zuschauer, der

daneben steht und zuschaut, „wie die Völker sich gegenseitig

töten, [...] um das Fleisch der getöteten Völker zu essen und

davon zu leben“582

Hier, d.h. in der Beschwörung des vermeintlichen Feindes als

Geist perpetuiert sich eben das Politische, das mit der Setzung

des Feindes immer schon zu Ende kommen muß und nie zu Ende

kommen darf. Der Feind wird hier zur Allegorie des Politischen

bzw. der politischen Theologie in ihrer essentialisierten Form:

Lebendig muß er getötet werden, tot muß er wieder auferstehen.

Es ist dieser allegorische Charakter der Feindschaft, der

zuletzt die politische Theologie so dämonisch beherrscht, daß

er sie tatsächlich zerstört: Steht und fällt Politik und

politische Theologie auf ihrer mythologischen Ebene mit dem

Feind aller Feindschaft, dann kann die von ihr gesuchte

souveräne Entscheidung tatsächlich nie zustande kommen. Der

Souverän der politischen Begrifflichkeit, Schmitt, ist zuletzt

582 Siehe Anm. 63.243

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

selber der Held der Unentschlossenheit schlechthin: Er ist der

Hamlet, der das Leben des Feindes nicht wirklich nehmen und den

toten Feind nie wirklich zum Leben erwecken kann. Doch dieser

Hamlet muß keinen Mörder ausfindig machen. Der, dem hier der

ermordete Geist seines Opfers erscheint, ist selber der Mörder,

der, damit er noch einmal und immer wieder zum Mörder werden

kann, den Geist beschwört. Das ist Schmitts dämonischer Mythos

des Politischen hinter den Kulissen seines Begriffs des

Politischen. Dessen zyklische Zeit muß immer wieder ins Spiel

einbrechen.

244

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Es gibt Vernichtung.Anmerkungen zu Jakob Taubes Die politische Theologie des Paulus

I Vorwort

„Es gibt Vernichtung“583, faßt Taubes das traumatische Apriori

seiner Exegese zusammen, um von ihm aus eine Art

hermeneutischen Schock zu inszenieren: Die Theologie des

Paulus werde nämlich – wie schon bei dem Begründer der

israelitischen Verfassung, Moses selbst – von nichts anderem

als der Schreckensvision einer möglichen Vernichtung des

jüdischen Volkes beherrscht, vollzogen allerdings durch Gott

selbst. Dieser würde sein Volk für die Gottesleugnung zu

bestrafen suchen, wobei Paulus wie sein Modell Moses eben

583 Taubes, Die politische Theologie des Paulus, S. 47: „Der ganze Text macht nur Sinn vor der Erfahrung, daß es Vernichtung gibt. Und Paulus spricht ja von nichts anderem, wenn man es einmal zusammenfaßt, als von Versöhnung.“Das Buch nimmt offenbar Tendenzen auf, die zunächst von Erik Peterson ausgehen, der seit seiner Vorlesung über den Römerbrief in den zwanziger Jahren Paulus als Theopolitiker gegen die politische Theologie Schmitts ausspielt,vgl. Erik Peterson, Paulus – Der Brief an die Römer. Auch Petersons Auslegung von Römer 9–11, ders., Die Kirche aus Juden und Heiden, Salzburg 1933,bzw. seine Exegese zum Philipperbrief (Apostel und Zeuge Christi, Auslegung des Philipperbriefes, Freiburg 1940) haben sicher auf Taubes’ Interpretation von Paulus Einfluß gehabt. Da Taubes von den jüdischen Versuchen, Paulus aus dem Judentum zu interpretieren, eigentlich alle verwirft, also Leo Baeck,„Paulus, die Pharisäer und das Neue Testament“, in: Karl Heinrich Rengstorf, Das Paulusbild in der neueren deutschen Forschung, Darmstadt 1969, JosephKlausner, Von Jesus zu Paulus, Königsstein 1980, Martin Buber, Zwei Glaubensweisen, Zürich 1950, Schoeps, Paulus, außer Gershom Scholems sabbatianischem Ansatz, vgl. ders., Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt a.M. 1980, S. 315–355, und ders., Sabbatai Zwi. scheint Petersons Paulus, der das theopolitische Moment mit dem genuin jüdischen zusammendenkt, tatsächlich das Modell für Taubes gewesen zu sein. Paulus als politischer Theologe ist dabei mittlerweile zum Thema sowohl der Theologen als auch der politischen Theologen geworden. Vgl. Richard A. Horsley, Paul and the Roman Imperial Order, Harrisburg 2004, oder Agamben, Le Temps qui Reste.

233

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

seine Aufgabe in der Abwendung dieser Vernichtungsandrohung,

d.h. in der Versöhnung sieht.

Die folgenden Überlegungen stellen den Versuch dar, die zum

Teil nur kryptischen Ausführungen von Taubes aus dieser

offenbar zentralen Schockperspektive in ihrem systematischen

Zusammenhang zu rekonstruieren. Vom grellen Licht des

historisch-traumatischen Aprioris von der Judenvernichtung

angestrahlt, erhalten die zum Teil nur skizzenhaft

hingeworfenen Ideen allerdings eine überraschende Kohärenz.

1) Zunächst soll der Zusammenhang zwischen dem

traumatischen Apriori und der Exegese zur biblischen

Vernichtungsproblematik bei Moses und Paulus am Beispiel des

von Taubes hier zur Hilfe gezogenen Traktats Brachot aus dem

babylonischen Talmud erörtert werden. 2) Dann soll am

Beispiel der philologischen Erläuterung von Röm. 11,28 der

Gesamtrahmen der politisch-theologischen Diskussion vis à vis

Carl Schmitts Philologie von Math. 5,44 (Bergpredigt) erläutert

werden; in beiden Philologien geht es jeweils um die für den

„Begriff des Politischen“ zentrale Lehre vom Feind. 3) In

einem dritten Schritt soll der Zusammenhang von Theologie und

Politik am Beispiel der paulinischen Polemik gegen die

römische Reichstheologie rekonstruiert werden, 4) um im

letzten Teil die für Taubes’ gesamte Exegese zentrale Frage

nach dem Verhältnis von Gnosis und Moderne herauszustellen.

Wenn die Moderne wegen der Judenvernichtung, deren

ideologische Ursprünge im Rückfall in gnostische Denkmuster

zu suchen seien, prinzipiell immer schon in Frage gestellt

ist, dann läßt sich das politisch-theologische Interesse, das

Taubes über die Paulus-Exegese verfolgt, in kritischer

234

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Anlehnung an Hans Blumenbergs584 These von der Moderne als der

zweiten – gelungenen – Überwindung der Gnosis durch

Selbstbehauptung formulieren. Taubes geht es wie Blumenberg

zunächst um die Überwindung von Gnosis, anders als Blumenberg

jedoch erkennt er ein Fortbestehen gnostischer Denkbestände

und Ideologien in der Moderne, deren stärkstes Indiz die

Judenvernichtung ist. Wenn Taubes andernorts auch auf eine

positive Bedeutung der gnostischen Konstruktion des Heils

verweist, rückt in den Überlegungen über Paulus vor allem die

destruktive, antisemitische Dimension der Gnosis in den

Mittelpunkt. Der Wille, Vernichtung abzuwenden wird so

identisch mit dem Willen, die Gnosis endgültig zu überwinden.

Damit erkennt Taubes in der Moderne in der Tat ein

„unvollendetes Projekt“, das durch die Exegese des Paulus an

ihre Ursprünge erinnert werden soll, um einen weiteren,

letzten (?) Versuch zur Überwindung der Gnosis, allerdings

aus dem Geiste der paulinischen Politik der Liebe – und gegen

alle Formen der Selbstbehauptung – zu versuchen.585

II Vernichtung abwenden – Paulus und der Monotheismus als

politisches Problem

584 Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, reagiert bekanntlich auf Voegelin, The New Science of Politics,. In Taubes, Gnosis und Politik, geht es vor allem auch um die Debatte um Blumenberg und Voegelin, aber nicht minder um deren politisch-theologisches Umfeld.585 Hier spielt Taubes’ Buch eine wichtige Rolle für die kritische Kontinuität der politischen Theologie, wie sie dann von Agamben vor allemin: Le Temps qui reste. wieder aktuell wird, der allerdings auch kritische Denkansätze der französischen Philosophie weiterdenkt, v.a. Badiou, St. Paul.

235

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

„Es gibt Vernichtung“586, so beschreibt Taubes lapidar das

traumatische Apriori seiner Exegese des Römerbriefes. Von der

Erfahrung des Traumas der Judenvernichtung aus, das

zwangsläufig ein jedes Nachdenken über Moderne und Aufklärung

beherrscht, inszeniert Taubes einen schockhaften

Szenenwechsel, in die seiner Meinung nach zentrale

Problematik der paulinischen Theologie, die allerdings das

Denken von Moderne und Aufklärung wesentlich mitbestimmt hat.

Paulus sei wie sein Vorbild Moses von dem Willen umgetrieben,

das göttliche Gericht und also die Vernichtung als Strafe für

die Sünde des Volkes abzuwenden. Indem das Trauma in die

Geschichte des Geistes zurückprojiziert wird, stellt sie die

schockierende Assoziation mit der gerade auch noch für Paulus

entscheidenden biblischen Urszene her, in der Moses nach der

Szene mit dem goldenen Kalb Gott von seinem Willen

abzubringen versucht, sein Volk für diesen Akt der

Gottesleugnung zu vernichten. Hier die Textstelle aus Exodus

32,–11:

Der Herr sprach zu Moses: Geh,steig hinab; dein Volk, das du ausÄgyptenland geführt hast, hat schändlichgehandelt.

Sie sind schnell von dem Wege gewichen,den ich ihnen geboten habe. Sie haben sich ein gegossenes Kalb gemachtund haben`s angebetet und ihm geopfertund gesagt: Das ist dein Gott, Israel, derdich aus Ägyptenland geführt hat.

Und der Herr sprach zu Mose: Ichsehe, daß es ein halsstarriges Volk ist.und nun laß mich, daß mein Zorn über

586 Taubes, Die politische Theologie des Paulus, S. 47.236

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

sie entbrenne und sie vertilge: dafür willich dich zum großen Volk machen.

Moses aber flehte vor dem Herrn, sei-nem Gott, und sprach: Ach Herr, warumwill dein Zorn entbrennen über dein Volk,das du mit großer Kraft und starker Handaus Ägyptenland geführt hast?

Bei dieser Assoziation von nationalsozialistischer und

biblischer Vernichtung geht es zunächst gerade nicht um einen

– ohnehin wahnsinnigen – Vergleich, sondern um die Frage nach

dem Wesen von politischer Theologie. Diese steht – nach der

Judenvernichtung – vor einer so einfachen, wie erschreckenden

Alternative: will sie das „nihilistische“ Wesen der

Geschichte fortsetzen, das in der mythischen Zyklizität von

Herrschaft und Unterdrückung bzw. Vernichtung des Feindes

sich wiederholt und das in der Judenvernichtung ihren bislang

grauenvollsten Ausdruck erhalten hat, oder wird sie unter dem

Eindruck der Katastrophe versuchen, nach Möglichkeiten des

Denkens und Handelns zu suchen, die den Kreislauf von

Herrschaft/Vernichtung zu durchbrechen vermögen. Die

Ausgangsposition trifft aus der Perspektive dieser

Alternative mitten ins Herz der politisch-theologischen

Grundfrage des Paulus, der wie sein Vorbild, nach der zweiten

Gottesleugnung, nämlich der Leugnung des Messias, jetzt

nichts anderes will, als ebenso die Androhung Gottes, sein

Volk zu vernichten, abzuwenden. Taubes will nicht nur zeigen,

wie Paulus aus dieser Situation die Konsequenz ableitet, die

das Judentum hin zu den Nichtjuden öffnet – also das

Christentum erst begründet, sondern er rekonstruiert mit

Paulus diese Öffnung als einen Akt, mit dem sich die Juden

der göttlichen Gnade entziehen, um die Völker für die 237

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

göttliche Gnade und Liebe zu befreien – also als einen Akt

der ultimativen (Selbst)Hingabe und Versöhnung.

Unausgesprochen enthält die schockierende Rückprojektion

eine bohrende Frage: Wie konnte es kommen, daß eben die

Theologie, deren Sinn in einer solchen Öffnung der Liebe für

alle liegt, zum Fundament eines Denkens wurde, das Politik

ultimativ als Vernichtungszug gegen den Feind denkt und

diesen Feind potentiell immer schon im Juden erkennt. Die

Analogie, die die Assoziation stiftet, verkehrt sich in den

absoluten Gegensatz, dessen Genese eben die Problematik

blitzhaft erhellt, die Taubes an der Säkularisation

wahrnimmt, d.h. die Transformation der traditionell

theologischen Begrifflichkeit in die politische

Handlungssphäre. Ohne daß Taubes dies alles hier in

irgendeiner Weise systematisch argumentativ ausführen würde,

so leiten seine kryptisch-aphoristischen Überlegungen doch

folgerichtig zu einer philologischen Lesung von Röm. 11,28, an

der sich diese Fragen – wie konzentriert gebündelt – in eben

der Frage nach dem Umgang mit dem (zu liebenden oder zu

vernichtenden) Feind erörtern lassen.

1) Zunächst also beruht die Paulus-Exegese auf dem von Taubes

zentral behaupteten Selbstvergleich des Paulus mit Moses:

„Meine These ist, daß sich Paulus als Überbieter des Moses

versteht.“587

2) Diese Voraussetzung aber wird durch die messianische

Situation, in der Paulus sich dem eigenen Selbstverständnis

zufolge befindet, wesentlich modifiziert, insofern eben die

587 Ebd., S. 57238

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Rettung des jüdischen Volkes vor der Vernichtung durch Gott

eine gegenläufige Strategie begründet.

Ad 1) Taubes erkennt in der Szene mit dem goldenen Kalb,

genauer in der Fürbitte des Moses bei Gott, doch von seiner

Straf- und Vernichtungsabsicht abzusehen, die Urszene, von

der her das Programm des Paulus sich erst in seiner ganzen

existentiell-jüdischen Dimension wie in seiner politischen

Tragweite erhellt. Zur Erläuterung dieser These greift Taubes

auf die Explikation dieser Szene im babylonischen Talmud

Brachot 32 a/b zurück. Hier wird detailliert ausgeführt, wie

Moses versucht, Gott von dem Schwur abzubringen, Israel für

die Sünde mit dem goldenen Kalb zu vernichten.

Der Midrasch zu Moses’ Versuch, Gott umzustimmen, beginnt

mit der Deutung zu Gottes Befehl an Moses: „Geh, steig hinab“

und entfaltet das Geschehen zwischen Gott und Moses, dadurch

daß die einzelnen Bestandteile des biblischen Textes

auseinander gelegt und, wie so oft im Kommentar, in einer

komplexen dialogischen Situation dramatisiert werden.

Zunächst reagiert Moses auf Gottes Androhung, das Volk zu

vernichten „Laß ab von mir, damit ich sie vertilge.“ (5. Moses

9,14) Er beginnt zu beten und zu flehen, bis Gott seine

Forderung wiederholt, Moses solle von ihm ablassen (2. Moses

32,10), wobei jetzt das Angebot hinzugefügt wird, daß Gott

Moses zum Stammvater eines eigenen Volkes erheben will (was

schon in der vorigen Textstelle von 5. Moses 9,14 angeboten

wird): „Und nun laß mich, daß mein Zorn über sie entbrenne

und sie vertilge; dafür will ich dich zum großen Volk

machen.“ Moses lehnt dieses Angebot mit ausdrücklichem

239

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Hinweis auf seine Loyalität zu seinem Volk und den drei

Patriarchen des Volkes ab:

Folgendes sprach Mosche vor dem Heiligen, gebenedeit seier: Herr der Welt, wenn ein Stuhl mit drei Füßen in derStunde deines Zorns vor dir nicht bestehen kann, d.h. die sichberufen können auf die Väter, Abraham, Isaak und Jakob, um wievielweniger ein Stuhl mit einem Fuß! Was Du aus mir machen möchtest.Und nicht nur das, ich müßte mich ja vor meinen Väternschämen, sie würden sagen: Sehet den Verwalter, den er übersie gesetzt hat, er sucht Größe für sich, nicht aber suchteer Erbarmen für sie.588

Moses, der an anderer Stelle von sich aussagt, er habe das

Volk geboren, würde das Volk, also seine Erzeugung, auf

keinen Fall im Stich lassen. Gottes Zorn über die Abkehr des

Volkes, dessen verheerende Konsequenzen Moses hier noch

einmal abwenden kann, wird zum Grundmodell einer Logik von

Fluch und Segen, die Moses bekanntlich in seinem

Abschiedslied kodifiziert:

Sie haben mich gereizt durch einen nicht-Gott, durch ihre Abgötterei habensie mich erzürnt. Ich aber will sie wiederreizen durch ein Nicht-Volk, durch eingottloses Volk will ich sie erzürnen. (5. Moses 32,21)

Wenn Israel sich von Gott abwendet, d.h. ihm seine Liebe

entzieht und sich einem anderen Gott und Götzen zuwendet,

wird der eifersüchtige Gott ein anderes Objekt für seine

Liebe erwählen: Ein Volk, das bisher im Sinne der exklusiven

Liebesbeziehung zwischen Gott und Israel nicht in Frage

gekommen ist, das also ein Nicht-Volk darstellt. Mit der

Metaphorik von Liebe – Untreue – Eifersucht wird die

Strafandrohung für den Bundesbruch nicht nur abgemildert,

sondern eben die Option festgehalten, die Moses für sich 588 Ebd., S. 44.

240

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

freilich aus Loyalitätsgründen ablehnt: nämlich den Bund

Gottes auf ein anderes Volk zu übertragen.

Taubes deutet nun den für das Judentum absolut häretisch-

revolutionären Schritt über das Judentum hinaus zu den

Heiden, aus dieser genuin jüdischen Logik heraus, als

Versuch, den Zorn Gottes abzuwenden und Israel vor dem Zorn

Gottes zu retten. Das bedeutet aber, sagt Taubes, daß Paulus

die Öffnung zu den Nichtjuden nicht nur mit großem Schmerz

und tiefer Trauer vollstreckt, sondern im Grunde immer auch

aus einer genuinen Besorgnis um das eigene Volk. Damit aber

sei die Illoyalität prinzipiell als Akt einer ultimativen

Loyalität zu verstehen.

Ad 2) Zum Verständnis dieser dialektischen Figur, in der die

Illoyalität sich als Forderung wahrer Loyalität darstellt,

beruft sich Taubes auf die von Gerschom Scholem

herausgearbeitete Logik der sabbatianischen Messianologie,

die in ihrer Grundstruktur der des Paulus entspreche.589 Die

Pointe dieser jüdischen Strategie liegt darin, daß die unter

den veränderten messianischen Bedingungen erzwungene

Illoyalität sich gerade unter diesen Bedingungen auch als die

wahre Loyalität erweisen wird, so nämlich, daß die Öffnung

hin zu den Heiden als der wahre Liebesdienst am eigenen Volk

evident wird. Sabbatai Zwis Übertritt zum Islam wird zum Akt

der von den eigenen Glaubensbrüdern natürlich verkannten

Leidensmission, mit der die Funken aus den Schalen des Bösen

befreit und die kosmische Erlösung für alle Menschen, also

auch die Juden, in die Wege geleitet wird. Paulus’ Hinwendung

589 Ebd., S. 18 ff.241

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

zu den Nichtjuden erscheint aus dieser Perspektive als eine

messianisch bedingte Leidensmission, die von seinem Volk

gerade verkannt, dessen Rettung zum Ziel hat.

Das ist für ihn [Paulus] ungeheuer notwendig, denn er willja mit den Mitteln der heiligen Schrift beweisen, daß jetztder Augenblick gekommen ist der Eröffnung zu den Heiden.Der Juden zu den Heiden, des heiligen Gottesvolkes. Unddieses heilige Gottesvolk wird transfiguriert, das heißt,daß das alte in eine Verundeutlichung gerät. Das hätteMoses nicht getan, und das weiß der Paulus ganz genau, daßer eine Aufgabe übernimmt, die erstmalig und einmalig ist.Ich lese das nicht rhetorisch, was Paulus hier sagt, amAnfang von [Röm.] 9, daß er mit großer Traurigkeit undSchmerz beladen ist, und weil er alles verabschiedet: dieSohnschaft, der Bund, die Väter, der Gottesdienst, dieVerheißungen, der Messias – es gibt ja nichts, was nichtauf diesem Volk ruht.590

Taubes rekonstruiert diesen durch die neue Lage entstandenen

messianischen Umweg am Leitfaden der prophetischen Zitate,

mit denen Paulus die neue, durch das Ereignis von Kreuzigung

und Auferstehung für Israel entstandene Notlage erläutert.591

Von Hoseas Weiterführung des mosaischen Eifersuchtsspruches –

„Ich werde mein Nicht-Volk mein Volk nennen und die

Nichtgeliebte die Geliebte“ (Hos. 2,25) – bis zu Jesajas

Feststellung

590 Ebd. S. 58 f.591 Interessant wäre der Vergleich von Taubes’ Ausführungen mit Peterson,Paulus – Der Brief an die Römer, S. 269–330. Dieser enthält nicht nur den Text,der zur Grundlage von Petersons Essay Die Kirche aus Juden und Heiden wurde undin Erik Peterson, Theologische Traktate, München 1951 wiederveröffentlichtwurde. Hier erläutert Peterson das Verhältnis Juden/Heiden in einerWeise, die eine ganze Reihe von Aussagen Taubes’ zu bestimmen scheinen.Peterson entfaltet den Römerbrief als Ganzes im Sinne einer gegen dasRömische Reich gerichteten Theopolitik und nimmt damit wesentliche Thesenvon Taubes vorweg. Eines der missing links zwischen Peterson und Taubesdürfte der in Taubes, Der Fürst dieser Welt, (wieder-)veröffentlichte EssayErik Petersons, „Kaiser Augustus im Urteil des antiken Christentums. EinBeitrag zur politischen Theologie“ (S. 174 ff.), sein.

242

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Ich ließ mich finden von denen, die mich nicht suchten,offenbaren denen, die nicht nach mir fragten. Zu Israelaber sagte er: den ganzen Tag breite ich meine Hände ausnach deinem Volk, das ungehorsam ist und im Widerspruchlebt (Jes. 65,1/2)

– konstruiere Paulus den für die Juden eschatologischen

Notfall einer Erweiterung der Offenbarung, um diesen

eschatologischen Notfall, d.h. die „Verstockung“ der Juden

als ein Ereignis zu deuten, das aus der Perspektive der

Vorsehung notwendigen Charakter besitzt und also die

endgültige Rettung und Erlösung der Juden herbeiführen wird.

Und das ist das Mysterium (11,25): Eine Teilverhärtung istüber Israel gekommen, bis daß die Vollzahl der Heideneingegangen ist, und so wird das – und nun kommt derentscheidende Begriff – pas israel, das ganze Israel,gerettet werden, wie es heißt bei den Propheten: Kommenwird aus Zion der Retter und wird den Frevel von Jakobabwenden. Und dies ist mein Testament für sie, wenn ichihre Sünden von ihnen fortnehme. So endet übrigens jedejüdische Predigt bei den Frommen.592

Das Christusereignis ist aus dieser Sicht das Ereignis der

notwendigen Eröffnung der Offenbarung für die Heiden, und als

solches das Ereignis der Begründung der universalen Gemeinde

und „Kosmopolis“, die auf der Grundlage des neuen

eschatologischen Liebesverständnisses, das alle Gebote und

Gesetze transzendiert, erst dann vollendet werden kann, wenn

„alle“, Heiden und Juden in dieser Kosmospolis auf der

Grundlage der neuen eschatologischen Verfassung der Agape

integriert werden können. Dies sei der Sinn der griechischen

Partikel „pas“ = alle, die den paulinischen Begriff der

Erlösung zentral beherrsche, daß sie wirklich „alle“ Menschen

mit einbeziehe. Eben dadurch, daß die Offenbarungsgeschichte

592 Taubes, Die politische Theologie des Paulus, S. 72.243

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

zunächst immer eine Trennung erzeugt, zwischen denen, die sie

annehmen und denen, die sie verweigern, denkt Paulus im Sinne

einer universalen Gerechtigkeit eine spiegelbildliche Umkehr

dieser Trennung: An die Stelle der einst gehorsamen Juden

treten jetzt die gehorsamen Heiden, an die Stelle der

ungehorsamen Heiden von einst treten jetzt die ungehorsamen

Juden, allerdings nur, um die Offenbarung zu einem Ereignis

ohne Trennung – also in letzter Instanz für „alle“ – zu

erheben.

Denn wie ihr zuvor Gott ungehorsamgewesen seid, nun aber Barmherzigkeiterlangt habt wegen ihres Ungehorsams, so sind auch jene jetzt ungehorsamgeworden wegen der Barmherzigkeit, dieeuch widerfahren ist, damit auch sie jetztBarmherzigkeit erlangen.Denn Gott hat alle eingeschlossen inden Ungehorsam, damit er sich allererbarme. (Röm. 11, 30–32)

Die Überlegungen zu den jüdischen Voraussetzungen der

paulinischen Theologie zeigen nicht nur die für den

hermeneutischen Horizont so zentrale Ausgangsposition, die

Taubes als einzigen Versuch beschreibt, „Vernichtung

abzuwenden“, und das heisst konkret: Versöhnung zu stiften:

„Der ganze Text macht nur Sinn vor der Erfahrung, daß es

Vernichtung gibt. Und Paulus spricht ja von nichts anderem

als von Versöhung.“593 Diese Exegese, gestiftet durch das

traumatische Apriori der realen Judenvernichtung, stellt

darüber hinaus gerade den Kontrast zwischen beiden Szenen –

der realen Judenvernichtung und der von Gott angedrohten und

von Paulus abgewendeten – in ein überscharfes Licht. Paulus,

593 Ebd., S. 47.244

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

der Gründungsvater des christlich geprägten politisch-

theologischen Denkens, wendet aus der jüdischen

Erfahrungsperspektive heraus die Androhung der Vernichtung

dadurch ab, daß er die Völker der Welt ungeachtet ihrer

nationalen, religiösen, sozialen und politischen Stellung als

Adressaten der Offenbarung von Liebe und Versöhnung

umschließen will. Dies tut er, indem er auf eine Politik der

Liebe zielt, die den Zirkel von Herrschaft, Feindschaft und

Vernichtung durchbrechen soll. Paulus‘ Politik der Liebe wird

innerhalb der eigentlich christlichen Tradition oft zu der

ideologischen Grundlage eines Antijudaismus, der dann in den

modernen Theorien politischer Theologie sich gerade unter den

Bedingungen der Säkularisation zu einer reinen Theorie des

Politischen verschärfen wird. Deren Quintessenz liegt in der

im Ausnahmezustand zu vollstreckenden Vernichtung des

Feindes, zumal des jüdischen Feindes. Carl Schmitts

politische Theologie594 steht in diesem Kontext nicht nur für

die antijudaistische Tradition eines christlich geprägten

politischen Denkens, sondern vor allem für diese

säkularistische Konsequenz.

Wenn die Exegese zum jüdischen Paulus in der Philologie von

Röm. 11,28 gipfelt – „Im Blick auf das Evangelium sind sie

[die Juden] zwar Feinde um euretwillen, aber im Blick auf die

Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen“ – und diese 594 Schmitt, Politische Theologie, ders., Der Begriff des Politischen. Der virulente Antijudaismus schlägt dann vor allem mit ders. Staat, Bewegung, Volk nach außen. In Schmitts Der Leviathan wird die jüdische Symbolik vom Leviathan, dessen Fleisch in den messianischen Zeiten verspeist wird, zum Ausdruck eben des Fehlschlags des Symbols. Taubes, Der Fürst dieser Welt, bezeichnet schon den Höhepunkt von Taubes’ Auseinandersetzung mit Schmitt, die er inDie politische Theologie des Paulus, Kap. 2: „Die Zeloten des Absoluten und der Entscheidung: Carl Schmitt und Karl Barth“, S. 86–97 dann noch einmal resümiert.

245

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

in einer mit Carl Schmitt geführten Auseinandersetzung

analysiert, dann wird, wie immer kryptisch, aber wie ich

meine: folgerichtig, der Bogen vom traumatischen Apriori zu

Paulus zurückgeschlagen, nämlich zu der Frage nach der

Grundlage der politischen Theologie nach der Vernichtung.

III Philologie und Dekonstruktion des Feindbegriffs

Der Hinweis auf Röm. 11,28 zielt im Sinne von Taubes’

Argumentation auf den hier verwendeten Feindbegriff, der, da

hier vom Feind des Evangeliums die Rede ist, als öffentlicher

Feind zu verstehen ist. Dieser philologische Hinweis erhält

seine polemische Sprengkraft natürlich vor allem durch den

Kontext der politischen Theologie von Carl Schmitt, in den

Taubes diesen Hinweis gestellt wissen will. Taubes Philologie

von Röm. 11,28 reagiert also auf Carl Schmitts philologischen

Hinweis auf Math. 5,44 in Der Begriff des Politischen, in dem er die

christliche Feindesliebe aufgrund des dort verwendeten

Begriffs „inimicus“, der sich nur auf den privaten Feind

beziehe, auf die private Feindesliebe einschränkt. Für die

öffentlich-politische Sphäre, in der man im Lateinischen den

Begriff des „hostis“ verwende, könne der Begriff nicht

gelten.595 Beide Philologien stehen hier, weit über eine 595 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 29. Derrida, Politik der Freundschaft, S. 158–230 enthält sicher eine der schärfsten Analysen von Schmitts Begriff des Politischen, aber, indem er die Freund-Feind Dichothomie dekonstruiert, endet er mit dem erstaunlichen Ergebnis, daß der Feind Schmitts am Ende „der Bruder“ ist. Derrida läßt sich sogar noch auf Schmitts Ex Captivitate Salus ein, das in der amerikanischen Kriegsgefangenschaft verfaßt worden ist, um dieses virtuose Stück Dekonstruktion zu bestätigen. (Vgl. S. 224 ff) Auf jeden Fall bedarf es nach der Dekonstruktion offenbar keiner Theopolitik der Agape mehr.

246

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Definition des Feindbegriffs hinaus, für zwei einander

antithetisch gegenüberstehende politische Theologien.

Wenn Schmitt die Feindesliebe aus dem öffentlich-

politischen Bereich ausschließt, geht es ihm um nichts

weniger als die Konsolidierung seines Begriffs des

Politischen, der bekanntlich auf dem Unterscheidungsvermögen

von Freund und Feind gründet:

Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sichdie politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen,ist die Unterscheidung von Freund und Feind [...] Derpolitische Feind braucht nicht moralisch böse, er brauchtnicht ästhetisch hässlich zu sein, er muss nicht alswirtschaftlicher Konkurrent auftreten, und es kannvielleicht sogar vorteilhaft scheinen, mit ihm Geschäfte zumachen. Er ist eben der andere, der Fremde, und das genügtzu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensiven Sinneexistenziell etwas anderes und Fremdes ist, so daß imextremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind.596

Der Feindbegriff, den Schmitt hier seiner Definition des

Politischen zugrundelegt, entspricht also dem lateinischen

„hostis“ (gegenüber dem privaten Feind: „inimicus“). Insofern

der Feind die politisch-rechtliche Ordnung des Staates zu

zerstören sucht, bedarf es einer souveränen Einsicht, die

diese Absicht klar erkennt und daraus die Entscheidung zu den

Ausnahmeregelungen ableitet, die die Abwehr, Bekämpfung und

Vernichtung dieses Feindes ermöglichen. Mit anderen Worten,

Schmitts Feindbegriff, – über den Freund hat er bekanntlich

nichts zu sagen – begründet korrelativ den Begriff der

Souveränität, der mit der Entscheidung darüber, wer der Feind

ist, die entsprechenden Maßnahmen zu dessen Bekämpfung

einleiten soll.

596 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 26 f.247

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Es handelt sich immerhin um ein eigentümliches

Korrelationsverhältnis, insofern Subjekt und Objekt der

Korrelation sich hier einander nur konstituieren, um sich zu

destruieren, einen Tatbestand, der für die Souveränität den

eigentümlich aporetischen Effekt hat, daß sie, um zu

bestehen, eben des Feindes bedarf, den sie doch vernichten

soll.

Hier sind nun zwei Momente zu beachten:

1) Wenn Schmitts Begriff der Politik aus der

Ausnahmesituation sich herschreibt, die sich der Feindschaft

„verdankt“, gegen die souverän entschieden wird, und diese

Entscheidung im Ernstfall die Bekämpfung bzw. die Vernichtung

des Feindes vorsieht, dann hat der Hinweis auf den privaten

Status der Feindesliebe den Sinn, diese Politik der

Ausnahmeregelungen eben ausnahmslos gelten zu lassen.

Gegenüber dem Feind gibt es nur die eine Haltung des Krieges,

in dem der Souverän von den „Angehörigen des eigenen Volkes

Todesbereitschaft und Tötungsbereitschaft [...] verlangen“597

darf. Der Feind wird bekämpft bzw. getötet, d.h. das

„Politische“ läßt vorübergehende Taktiken gegenüber dem Feind

zu, aber das Wesen des Politischen erfüllt sich in der

Erkenntnis und Bekämpfung des Feindes:

Feind ist also nicht der Konkurrent oder der Gegner imallgemeinen. Feind ist auch nicht der private Gegner, denman unter Antipathiegefühlen haßt. Feind ist nur einewenigstens eventuell, d.h. der realen Möglichkeit nachkämpfende Gesamtheit von Menschen, die einer ebensolchenGesamtheit gegenübersteht. Feind ist nur der öffentlicheFeind.598

597 Ebd., S. 48.598 Ebd., S. 29.

248

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Gegenüber diesem Feind gibt es nur ein Verhalten: Konflikt,

Kampf, Überwindung, Tötung. Schmitts Philologie zur

christlichen Feindesliebe stellt klar, daß dieses

Feindverhalten, das jede politische Ausnahme begründet,

selbst keine Ausnahme zuläßt, etwa ein durch die Feindesliebe

motiviertes Martyrium. Für Schmitt gilt die Ausnahme nur in

dieser Dimension des kämpferischen Konfliktes. Wenn

überhaupt, so denkt Schmitt die Ausnahme innerhalb dieser

agonistischen Dimension weiter, so etwa in seinem Buch Theorie

des Partisanen599, in der er den Kriegszustand als geregelten

Ausnahmefall noch einmal durch den ungeregelten Kampf des

Partisanen überboten sieht.

2) Mit dem Hinweis auf den privaten Charakter der

Feindesliebe signalisiert Carl Schmitt die eigentliche

Tendenz seiner politisch-theologischen Strategie einer

Emanzipation des Politischen von allen theologischen

Hindernissen, d.h. es geht ihm gegenüber einer Moderne, die

„das Politische“ – man denke etwa an Lessing, Hegel und Ernst

Bloch – als Realisierungsraum des Gottesreiches in der

Geschichte begreift, um eine radikale Trennung beider Sphären

im Sinne einer Emanzipation des Politischen von allen

theologisch motivierten Utopien. Gegenüber der Synonymität

und Identität des Politischen und Theologischen, von

Gottesreich und Staat im Diskurs der emanzipatorischen

Moderne, zielt Schmitts politisch-theologischer Diskurs

599 Im Vorwort wiederholt Schmitt, daß die „vorliegende Abhandlung [...] eine wenn auch nur skizzenhafte, selbständige Arbeit [ist], deren Thema unvermeidlich in das Problem der Unterscheidung von Freund und Feind einmündet.“

249

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

gerade auf Analogie und Differenz dieser beiden Sphären.

Diese Tendenz zu einer Emanzipation des Politischen von allen

theologischen Residuen zeigt sich an der Entwicklung, die

sein Denken zwischen der eigentlichen politischen Theologie

von 1922 und Der Begriff des Politischen von 1927 bestimmt. Wenn

Schmitt in der Politischen Theologie den politischen

Ausnahmezustand aus dem theologischen Begriff des

Offenbarungswunders entwickelt, mit und in dem Gott den

regelmäßigen Ablauf des Naturgeschehens kraft seiner

Schöpfermacht jederzeit aufhebt, so bedarf der analoge

politische Fall einer Aufhebung der politischen Verfassung

durch den Souverän in Der Begriff des Politischen keiner

theologischen Analogie mehr, vielmehr geht es nunmehr um

einen „reinen Begriff des Politischen“, für den gilt, daß die

theologische Unterstuetzung [...] die politischen Begriffe[eher] verwirrt, weil sie die Unterscheidung gewöhnlich insMoraltheologische verschiebt oder wenigstens damit vermengtund dann meistens ein normativistischer Fiktionalismus odergar ein pädagogisch-praktischer Optimismus die Erkenntnisexistenzieller Gegensätzlichkeiten trübt.600

Wenn die Kirche selbst dieser Konstruktion zufolge

„politisch“ handelt, dann muß sie ihre politischen

Entscheidungen aus derselben Unterscheidung von Freund und

Feind ableiten. Damit aber erübrigt sich für Schmitt jede

theologische Legitimation des Politischen. Die Einsicht in

die richtige Anthropologie soll ausreichen, um über die Lehre

von dem von Natur aus bösen Menschen den Begriff des Feindes

zu etablieren.

Im Sinne der von Taubes eingesetzten hermeneutischen

Strategie des Schocks, der den politischen Begriff des (zu 600 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 64.

250

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

vernichtenden) Feindes auf die theologische Tradition

zurückprojiziert, erhellt Schmitts „Tendenz“, ohne daß Taubes

dies im einzelnen ausführt, den polemischen Sinn dieser

Projektion. Schmitts Tendenz der Enttheologisierung der

politischen Begriffe zeigt, daß der „reine Begriff“ des

Politischen, der Souveränität und Ausnahmezustand

konstituieren soll, an die Stelle der analogen Gottheit den

Feindesbegriff setzt. Dieser erfüllt – innerweltlich – die

Bedingungen des Begriffs des Politischen, nämlich die

begriffliche Konstruktion des Ausnahmezustands und seiner

souveränen Beendigung. Der Feind erscheint so als der

Begriff, von dem aus die Trennung des Politischen vom

Theologischen, also die Säkularisation eines im Gegenzug zur

theologisch utopisierten Begrifflichkeit der

emanzipatorischen Moderne formulierten Begriffs des

Politischen, möglich wird. Beide Momente, die Ersetzung

Gottes durch den Begriff des Feindes als ausreichende

Bedingung der Möglichkeit des Politischen, wie die Definition

des Politischen als eine ausnahmslose Ausnahme entsprechen

und ergänzen einander und definieren die neuen, säkularen

Bedingungen von dem, was sich in der Politik – laut Schmitt –

tatsächlich abspielen soll, wenn man sich nicht von den

liberalen Theorien über eine reine Gesetzesverfassung des

Staates „jenseits der Souveränität“ über diesen wahren

politischen Tatbestand hinwegtäuschen lassen will.

Taubes’ Philologie von Röm. 11,28 ist, ohne dies auch nur

über den Ansatz hinaus auszuführen, gegen Schmitts Philologie

der Feindesliebe und deren gesamte politisch-theologische

Tendenz gerichtet. Dabei geht es Taubes offenbar um eine

251

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

dialektische Kritik. Diese sieht einerseits Schmitts Begriff

des Politischen als einen den realen Verhältnissen

angemessenen Begriff an, ja die Definition des Politischen

als der Ausnahmesituation – ähnlich wie Walter Benjamin601 –

als die politische Regel anerkennt, die gegen die

Unterdrückten immer wieder eingesetzt wird. Andererseits aber

soll eben dieser reelle Begriff des Politischen, wofür

Benjamin auch hier Modell steht, im Rekurs auf die politische

Theologie des Paulus radikal, also eschatologisch,

dekonstruiert werden. Es geht Taubes um eine „Umkehrung aller

Werte“ dieses Begriffs des Politischen, die anstelle von

Macht und Souveränität eine Politik der Liebe setzt und die,

wie eben die paulinische Umkehrung aller imperialen Werte des

römischen Reiches zeigt, den Cäsar entthront und an seine

Stelle den Christus auf den Thron setzt.602 Wenn also Taubes 601 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften I.2, S. 697: „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustandes vor Augen stehen, und dadurch wird unsere Position im Kampf gegen den Faschismus sich verbessern.“602 Dieses Programm dürfte wohl exemplarisch von Peterson, Paulus – Der Brief an die Römer, ausgeführt worden sein. Vgl. S. 14: „Wenn wirklich Christus den Thron bestiegen hat und ein neuer Äon begonnen hat, dann fordert das auch eine öffentliche Ankündigung, und der durch den diese öffentliche Ankündigung zu erfolgen hat, das ist nun der Apostel. Er hat als Herold nicht den Glauben einer obskuren Sekte zu verkündigen, sondern er hat denHeiden zu sagen, daß Jupiter nicht mehr im Himmel thront, er hat den Juden zu sagen, daß Christus neben Jahwe auf dem Thron sitzt und mit ihm zusammen regiert [...].“ In Taubes Der Fürst dieser Welt. ließ er immerhin Petersons Text Kaiser Augustus im Urteil des antiken Christentums als Dossier abdrucken, in dem diese Zusammenhänge in der Tat schon deutlich werden. Zur Beziehung Walter Benjamin und Erik Peterson vgl. Kurt Anglet, Messianität und Geschichte. Walter Benjamins Konstruktion der historischen Dialektik und deren Aufhebung ins Eschatologische durch Erik Peterson, Berlin 1995. Obwohl Anglet viele Texte Petersons noch nicht kennen konnte, da sie zum großen Teil erst nach 1995 veröffentlicht wurden, hat er den Sinn dieses Vergleiches im Sinne der programmatischen Überschrift entschieden. Da, wo Benjamin letzten Endes im Nihilismus endet, setzt Peterson das Martyrium als eindeutige theopolitische Antwort.

252

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

die Themen seiner Exegese in Röm. 11,28 gleichsam wie in einer

Fuge engführt, dann geht es ihm in dieser Passage nicht

zufällig um die implizite Definition des Feindes, von der her

sich der systematische Sinn eines jeden Begriffs des

Politischen erweist.

„Secundum evangelium quidem inimici propter vos; secundum

electionem autem carissimi propter patres“ heißt es in der

lateinischen Übersetzung des Römerbriefes. Wie schon

ausgeführt, verwendet der Römerbrief eben den Begriff

„inimicus“, den Schmitt als privaten Feind übersetzt und von

dem Begriff „hostis“ als dem öffentlichen Feind

unterscheidet. Nur muß unter den im Text angegebenen

Bedingungen der Begriff „inimicus“ allerdings als

öffentlicher Feind aufgefasst werden.

Und nun kam dieser gewaltige Satz, über den ich mich mitCarl Schmitt auseinandergesetzt habe [...] Feinde Gottes!Feinde ist kein Privatbegriff. Feind ist hostis, nichtinimicus, das ist nicht mein Feind. Wenn es heißt: Liebeteure Feinde – ja vielleicht, da bin ich mir nicht sicher,was das in der Bergpredigt heißt.603

Mit anderen Worten: worüber Taubes hier gleichsam laut

nachdenkt, ist nicht nur der Zusammenhang der beiden

Abschnitte des Verses, also von Feindschaft und Liebe

gegenüber den Juden, sondern er erwägt die Möglichkeit, ob

hier eine der Bergpredigt analoge Anleitung zur Feindesliebe

vorliegt. Damit wäre aber dann die Bergpredigt, von der aus

Schmitt den privaten Charakter der Feindesliebe behauptet, um

so eindeutiger als Gebot öffentlicher Feindesliebe zu lesen.

Damit hat Taubes sozusagen den philologischen Hebel

angesetzt, mit dem das Begriffssystem Schmitts in seinen 603 Taubes, Die politische Theologie des Paulus, S. 72.

253

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Grundlagen erschüttert werden kann, denn wenn die

Feindesliebe es mit dem öffentlichen Feind zu tun hat, so

erhält sie eine politisch-theologische Bedeutung, die zu

einer erneuten Reflexion über den Ausnahmecharakter des

Politischen zwingt. Die Feindesliebe ist nichts weniger als

die Ausnahme, die die Ausnahme des Politischen (im Sinne

Schmitts) transzendiert. Sie steht damit für die Ausnahme der

Ausnahme. Sie wird zu der politischen Verhaltung, mit der die

Regel der Geschichte, der permanente Ausnahmezustand, den die

Macht gegen die Ohnmächtigen verhängt, also jene ewige

Wiederkehr der gleichen Herrschaft und Unterdrückung,

durchbrochen wird.

Taubes setzt mit Paulus der realen Geschichte von

Herrschaft, Feindschaft und Vernichtung die schon im Jetzt

wirksame Gegengeschichte der Befreiung in der Liebe entgegen.

Nicht nur wird so eine in der Geschichte des Willens zur

Macht gegenläufige Politik der Liebe konzipiert, die die

Umkehrung aller Werte eben der Geschichte des Willens zur

Macht bezeichnet. Im Rekurs auf die paulinische Theologie

wird Schmitts Genealogie von Gott zum Feind radikal

dekonstruiert, d.h., sie wird auf ihren textuellen Grund

zurückgeführt. Gott ist bei Schmitt die Schöpfermacht, die

das Modell politischer, d.h. dezisionistischer und

suspensorischer Macht darstellt, während der zum Feind wird,

der innerweltlich dieser Modellfunktion genügt. Die

Quintessenz der Lösung besteht darin, daß Gottes Macht die

andere Macht des Erbarmens und der Liebe ist, die selbst noch

eine verdiente Schuld (Gottesleugnung) begnadigen kann. Seine

Macht besteht gerade darin, eben das eigene Gericht und

254

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Urteil über die Welt aufheben zu können. Theologisch ist die

Geschichte der Abfolge der Weltreiche nichts anderes als

Gottes Gericht über die Welt. Der Gott, der Modell für die

politische Theologie des Paulus steht, ist nicht nur der

reine Wille vor dem Logos, sondern ein Wille, der gegen die

eigene Vernunft und Gesetzmäßigkeit, eben diese

Gesetzmäßigkeit aufheben kann, um das Gericht über die Welt

zu revidieren. Die Logik des Ausnahmezustands, zu Ende

gedacht, enthüllt also eben nicht den Gott der nackten und

physischen Herrschaft und des permanenten Gerichts, sondern

den Gott, der Gericht und Macht, Weltvernunft und Weltgeist,

widerrufen und zunichte machen kann.

Indem Taubes mit Paulus von der Klärung des Feindbegriffs

aus zu einer Klärung des metaphysischen Begriffs bzw. des

obersten Prinzips politischer Theologie gelangt, zeigt sich

die fundamentale Differenz zwischen beiden Typen des

politischen Denkens. Wohl enthält das Prinzip von Macht und

Herrschaft die Möglichkeit von Suspension, nämlich der

jeweils schwächeren Ordnung durch die stärkere, aber das

Prinzip selbst als Absolutes unterliegt keiner Suspension,

sondern wiederholt sich in der Abfolge der Katastrophen der

Weltgeschichte ausnahmslos und bestätigt damit gerade seine

Ohnmacht. Das Absolute tatsächlich als Macht denken, heißt

aber im Grunde immer schon, daß es die eigene Macht, d.h.

sich selbst noch aufheben kann. Die Konsequenz der am

Beispiel von Moses und Paulus gewonnenen theologischen

Überlegungen ist, daß die Idee der Ausnahme sich dem Akt der

Aufhebung von Macht, der Widerrufung der eigenen Macht im Akt

der Gnade und Liebe verdankt. Wenn in der von Taubes

255

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

angeführten Diskussion zwischen Moses und Gott im Talmud, dem

Traktat Brachot, Moses Gott um Vergebung für das Vergehen des

Volkes bittet, dann geht es – Taubes entfaltet gerade diesen

Punkt – zentral um eben die Frage, wie nun Gott den eigenen

Schwur und Machtspruch (das Volk zu vernichten) aufheben

könne. Der Jom Kippur sei, so Taubes, eigentlich nichts

anderes als eine Liturgie, die diesen Bruch Gottes mit seinem

eigenen Schwur, um der Abwendung von Vernichtung willen,

großartig inszeniere. Taubes deutet das „Kol Nidrei“ in eben

diesem Kontext als Aufhebung des Vernichtungsschwurs Gottes:

Alle Gelöbnisse, Verzichtungen, Schwüre, Bannformeln oderVersagungen, Büßungen oder als solche geltende Ausdrücke,durch die wir uns etwas geloben, bekräftigen, unsverpflichten oder uns versagen, von diesem bis zum nächstenzum Guten und eingehenden Versöhnungstage, – die Sfardensagen hier: vom letzten bis zu diesem, – bereuen wirhierdurch, daß sie alle aufgelöst, erlassen und vergebenseien, null und nichtig, ohne Geltung und Bestand. UnsereGelöbnisse sind keine Gelöbnisse, unsere Versagungen sindkeine Versagungen, und unsere Schwüre sind keine Schwüre.Man kann die Aufregung nicht verstehen, aller jüdischenGemeinden von überall an diesem Gebet, das gar kein Gebetist. [...] aber was folgt jetzt? Wiederum nicht Gebet,sondern Formeln, und zwar aus der zweiten Stelle, dieVernichtungsdrohung aus dem Buch Numeri, aus dem Buche "Inder Wüste" (BaMidbar). Sie erinnern sich, da gibt es dreiSätze: „Schlagen will ich dieses Volk mit der Pest, ichwill es enterben, dich aber mache ich zu einem großenStamm, größer und mächtiger als es.“ In der Liturgie heißtes weiter: „Verziehen sei der ganzen Gemeinde der KinderIsrael und dem Fremdlinge, der weilt in ihrer Mitte, dennes ist dem ganzen Volke nur aus Versehen begegnet.“604

Die Christologie des Paulus ist aus dieser Perspektive eine

messianische Verdichtung dieser Zusammenhänge und zielt auf

nichts anderes als die radikale Abwendung des Gerichts – der 604 Ebd., S. 49 f.

256

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Vernichtung. Daß Christus am Kreuz stirbt, bzw. unter und an

dem Gesetz stirbt, ist die paulinische Formel für die

göttliche Möglichkeit, in der Liebe den Kreislauf des

Gerichts, den Kreislauf irdischer Gewalt, die schon alle

Insignien eines göttlichen Gerichts trägt, zu durchbrechen.

Im neuen Geist der Liebe soll der Gott dieser Welt, der

Weltgeist, überwunden werden. Das Pneuma dieser Umkehrung und

Überwindung, schreibt Taubes, sei „eine Kraft, die ein Volk

verwandelt und die den Text verwandelt“605, nämlich als die

Kraft, die das Verständnis von Gott, Selbst und Welt

transfiguriert und – von Gott aus – umkehrt.

Nicht zufällig gerät Taubes bei seinen assoziativen

Erläuterungen zu diesem Verwandlungsprozess von einer an der

Welt orientierten Vernunft zu einer Vernunft der Umkehrung

aller Werte dieser Weltvernunft in Überlegungen über Hegels

Begriff des Weltgeistes:

Aber Weltgeist gibt es [bei Hegel] als einen polemischenBegriff gegen Paulus. Denn Paulus unterscheidet imKorintherbrief im zweiten Kapitel die pneuma tou kosmon, dasPneuma dieser Welt, oder dieses Äons als negativen Begriffvom pneuma tou theon, Gottes Geist.606

Der kryptische Hinweis auf die Philologie des Geistes bei

Paulus und Hegel zeigt nicht nur, daß Hegel den Weltgeist

gerade als Gegenbegriff zu dem paulinischen Begriff des

Pneuma verstanden hat, nämlich als Geist, der sich unter den

Bedingungen des realen Staates verwirklichen soll, sondern

der Hinweis zielt auf den wahrhaft revolutionären Kern der

Politik der Liebe, insofern sich deren Geist weder durch eine

reelle politische Macht noch eine philosophische Vernunft 605 Ebd., S. 64.606 Ebd., S. 61 f.

257

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

usurpieren läßt, die sich selbst im Staat zu realisieren

meint. Das Pneuma aber bleibt der Welt nicht einfach

transzendent, denn damit würde die paulinische Theologie die

traditionelle Abstinenz von Macht und Politik im Sinne ihrer

Legitimation reproduzieren. Es wird vielmehr in dieser Welt

und in dieser Geschichte als die Liebe wirksam, die, da sie

den politischen Feind noch in sich einbezieht, sich

potentiell, d.h. in dem von der Politik vorgesehenen

Ausnahmezustand, als Martyrium realisiert, als Tod für den

anderen. Die Liebe, die im Jetzt des Weltlaufs schon dessen

Logik aufbrechen soll, wird eben deswegen die theologische

Tugend schlechthin, weil sie das Ende der politischen,

ökonomischen und sozialen Souveränität des Ichs betreibe.

Der Witz ist bei Paulus, daß ich auch in der Perfektionkein ich bin, sondern wir ein wir sind. Das heißt, dieBedürftigkeit ist in der Perfektion selber. So wie es imzweiten Korintherbrief heißt, deine Kraft vollendet sich indeiner Schwäche.607

Die politische Theologie der Souveränität gründet

metaphysisch in dem höchsten Prinzip der Macht, und muß so

Politik als Dramaturgie der Macht verstehen, die sich je von

neuem gegen eine andere Macht (des Feindes) selbst behauptet.

Dementsprechend kann der Mensch nur als Souverän gedacht

werden, der sich – gemäß der Logik von Herr und Knecht –

stets gegen den anderen nur behaupten kann, den er beherrscht

und dessen Gehorsam er erzwingt, bis der andere, in einem

Augenblick der Schwäche, das Spiel der Macht umkehrt, indem

er es doch nur wiederholt. Gegenüber dieser Welt der sich

reproduzierenden Souveränität entwirft Taubes mit Paulus eine

607 Ebd., S. 78.258

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

politische Theologie, die von der theologischen Möglichkeit

der Widerrufung des göttlichen Gerichts eine Politik der

Versöhnung denkt, in der der Mensch nicht als Souverän,

sondern als Glied eines politischen Körpers existiert, der

nach dem Vorbild des Leibes in Christo funktionieren soll.

Ein Leib in Christo, denn alle Glieder sind gleich, auchwenn sie verschiedene Funktionen haben. Und dann schilderter die Lebensformen der christlichen Gemeinde in dieserAgape, das Leben der Christen aus dem Pneuma und in derAgape untereinander. Soziologisch heißt das: eine neue ArtVerbindung, eine neue Intimität wird geschaffen.608

Für die eigentümliche messianische Umkehrung der Werte der

politischen Weltvernunft, die Taubes hier ständig mit

Andeutungen aus der metaphysischen und metaphysikkritischen

Geschichte der Philosophie – also vor allem mit Hegel und

Nietzsche – untermauert, gilt also zentral, daß in ihr das

„Politische“ und das „Theologische“, sich wie bei Schmitt

voneinander trennen. Die Geschichte ist nicht mehr die Bühne

der Realisierung des Gottesreiches, nur wird diese Trennung

nicht im Sinne einer Neutralisierung des Theologischen

zugunsten eines „reinen Begriffs“ des Politischen

konstruiert, sondern im Gegenteil: Es geht um die

Neukonzeption des Theologischen als polemische Kraft

gegenüber den politischen Machtverhältnissen. Das heißt aber,

daß Taubes wie Schmitt im Prinzip eine Dissoziation der

Zeiten voraussetzen, die die politische Theologie der Moderne

von Lessing über Hegel bis Ernst Bloch als eine Zeit und

Teleologie gedacht haben, in der sich das Gottesreich

innerweltlich aktualisieren würde. Wenn Kirche und Staat sich

nicht mehr als Institutionen konstruieren lassen, die am Ende608 Ebd., S. 73.

259

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

der vom Subjekt aktiv gestalteten Geschichte in einer

Institution konvergieren, dann repräsentieren diese beiden

Institutionen von nun an zumindest potentiell zwei

miteinander streitende Zeiten, die reale Geschichte der

ewigen Wiederkehr des gleichen Machtspiels und die

messianische Zeitdimension, die in der Liebe diese Wiederkehr

durchbricht. Mit anderen Worten: Nicht ein einmaliges

Ereignis der Erlösung am Ende der Zeiten kennzeichnet das

eigentümliche Wesen der paulinischen Theologie in ihrem

Verhältnis zu Welt und Weltgeist, sondern die Idee der

Umkehrung aller Werte hier und jetzt setzt ein spezifisches

In- und Gegeneinander der Zeitdimensionen, nämlich mit der

Konstruktion des Leibs Christi unter den Bedingungen dieser

Welt. Für diese eigentümliche messianische Umkehrung der

Werte der politischen Weltvernunft im Jetzt steht die

paulinische Formel des „Als ob nicht“ aus 1. Kor. 7,29 ff.609,

die Taubes als Erläuterung zu Röm. 13 ff. heranzieht, um die

spezifisch polemische Haltung des Paulus gegenüber dem Staat

aufzuzeigen, die weder die existierenden Herrschaftsformen

legitimiert, noch sie durch eine gewaltsame Revolution

stürzt, um damit die Geschichte der Gewalt zu perpetuieren.

Paulus setze, indem er den Satz von Röm. 13,1 über den von

Gott geforderten Gehorsam gegenüber der Obrigkeit durch seine

Theologie der Liebe eingerahmt habe, im Grunde immer schon

das Ende des Römischen Reiches voraus.

609 „Das sage ich aber, liebe Brüder: Die Zeit ist kurz. Fortan sollen auch die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine; und die weinen, als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen, als behielten sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als gebrauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht.“

260

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Der Tag ist nahe, darum lasset uns ablegen die Werke derFinsternis und anlegen die Waffen des Lichts, laßt unsehrenhaft leben wie am Tag ohne maßloses Essen und Trinken,– ich bin ja sehr für diese konkreten Worte, in denen ersagt, was er meint – Unzucht, Ausschweifung, ohne Streit, –daß diese Agapen, diese Mahle nicht ausarten [...] – legtein neues Gewandt den Herrn Jesus Christus an und sorgtnicht für euren Leib, daß die Begierden erwachen. – Ichlese das, und jetzt sprechen wir von 13:11 ff, so wie dasfolgende im 1. Korintherbrief, ich meine, die nihilistischeStelle des hos mä zu haben, als ob man nicht hat. – DieZeit ist kurz, – so beginnt der Text – Damit fortan auchdie, welche Frauen haben, so seien, als hätten sie keine[...] und die Weinenden, als weinten sie nicht, und dieFröhlichen, als freuten sie sich nicht, und die Kaufenden,als behielten sie es nicht, und die die Dinge der Weltbenützen, als nützten sie nicht aus. Denn die Gestalt, diemorphä, dieser Welt, tou kosmou, vergeht. Ich will aber,daß ihr ohne Sorge seid. –Das heißt: unter diesem Zeitdruck, wenn morgen das ganzePalaver, der ganze Schwindel vorbei ist – da lohnt sichdoch keine Revolution! Vollkommen richtig, würd ich auchraten. Der staatlichen Gewalt Gehorsam erweisen, Steuernzahlen, nichts Böses tun, nicht in Konflikt geraten.610

Damit aber stehe die politische Theologie unter einem

apokalyptischen Vorzeichen, dessen Spezificum für das Jetzt

schon ein In- und Gegeneinander der Zeiten voraussetzt, in

dem sich die neue Weltordnung vorbereitet. Leben unter den

messianischen Bedingungen bedeutet, daß alles so bleibt, wie

es ist, aber doch schon ganz anders erfahren wird: Erst aus

der Perspektive einer anderen Verfassung von Natur erscheint

nun die Geschichte als Szene einer ewigen Wiederkehr, in der,

was gestern Gesetz der Macht war, heute durch das Gesetz

einer anderen Macht ersetzt wird, die also in solcher

Wiederkehr des Gleichen das Verschwinden der „Gestalt dieser

Welt“ jedes Mal von Neuem dokumentiert. Die hermeneutische 610 Taubes, Die politische Theologie des Paulus, S. 75.

261

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Figur des „Als ob nicht“ enthält so die Formel für ein

solches Bewußtsein von der imminenten Umkehr der

Seinsordnung, für die messianische Möglichkeit einer

endgültigen Umkehr aller Werte.611

Die kritische politische Theologie, die Taubes hier gegen

Carl Schmitt formuliert und für die er sich explizit auf Karl

Barth und Walter Benjamin, implizit sicher auch auf Erik

Peterson bezieht, besitzt also einen fundamental

apokalyptischen Charakter. Sie deutet die Realgeschichte der

Politik – aus der Perspektive von Schmitt – als zirkelhafte

Sukzession der souveränen Weltreiche, die, wie in der Daniel-

Apokalypse, am Ende der Geschichte durch das Königtum Gottes

aufgehoben wird. Sie verschärft jedoch diese apokalyptische

Perspektive durch die spezifische Konstruktion der

Gleichzeitigkeit der gegeneinander verlaufenden

Zeitdimensionen des Politischen und des Messianischen, wie

sie in der spezifischen Lebensform der von der Liebe

bestimmten Haltung des „Als ob nicht“ zum Ausdruck kommt. Es

setzt einen neuen Anfang im realen Verlauf der Geschichte, in

dem diese aber schon als aufgehobene, etwa in der synagogalen

oder kirchlichen Gemeinde praktiziert wird.

Jeder Augenblick der realen Geschichte, die der Logik der

Macht unterworfen ist, kann zum Augenblick des Ereignisses

werden, in dem sich die Theokratie, von den schon im Geiste

der Agape existierenden Gemeinden ausgehend, konstituiert.

611 Vgl. Marion, God without Being, Kapitel 4, 4. Abschnitt: „As if“, S. 126–132, in dem Marion eine solche Umkehrung der Werte aus phänomenologischerPerspektive durchführt, d.h. vom Sein zur Liebe, von der Ontologie zur „Erotologie“. Den politischen Kontext dieser Stelle interpretiert Agamben, Le Temps qui Reste. S. 43 ff., im Sinne eines Ineinanders der Zeiten bzw. des Einbruchs der messianischen in die reale Zeit.

262

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

IV Feindschaft, Judentum und Gesetz

Die Philologie zu Röm. 11,28 enthält allerdings noch ein

weiteres, implizites Argument, das den Feindbegriff in seiner

spezifischen Relevanz für die Judenvernichtung betrifft.

Nicht zufällig wird also die Politik dem Feind gegenüber – in

dem Gespräch zwischen Taubes und Carl Schmitt – am Beispiel

der Juden diskutiert, spielt doch das Judentum die

spezifische Rolle des negativen Gegenprinzips bzw. des

Feindprinzips zumindest in den späteren Formationen von

Schmitts politisch-theologischem Diskurs.612 Taubes weist mit

seinem Zitat aus Röm. 11,28 nicht nur auf die spezifische

Problematik von Schmitts politisch-theologischem Denken,

sondern auf ein Problem europäischer Politik im Ganzen hin,

die er über die philologische Engführung hier nicht nur

benennt, sondern die den Schlüssel zu der Erweiterung der

paulinischen Gesetzeskritik enthält.

Zunächst also tritt für Taubes in Schmitts Begrifflichkeit,

zuerst verborgen, dann aber immer offener, ein Phänomen

hervor, das real- und geistesgeschichlich auch immer schon

die europäische Politik mitgeprägt hat. Dies zeigt sich, ohne

daß Taubes hier im einzelnen die Zusammenhänge erläutern

612 Vgl. Schmitt, Staat, Bewegung, Volk; und vor allem Schmitt, Der Leviathan S. 17 f. entwirft den kabbalistisch-mythischen Hintergrund eines politisch-theologisch motivierten Antijudaismus. Vgl. hierzu meinen Aufsatz „Der häretische Imperativ. Gerschom Scholems Kabbala als politische Theologie“, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 50, Heft 1 (1998), S. 61–83. Ebenso Raphael Gross, „Carl Schmitts Nomos und die Juden“, in: Merkur, Heft 5 (Mai 1993), S. 410 ff.

263

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

würde, an der spezifischen Ambivalenz, die dem Begriff

„Feind“ bei Schmitt weit über die Differenz zwischen privatem

und öffentlichem Feind anhaftet.

1) Der Begriff benennt eben den faktischen öffentlichen

Feind, der aus eigenen Machtinteressen heraus einen

souveränen Staat von innen oder von außen angreift, und so

die Herstellung des Ausnahmezustands provoziert, der der

Bekämpfung des Feindes dienen soll. Dieser Feind stellt aber

mit seiner Feindschaft nicht die Spielregeln des Politischen

an sich, wie es Schmitt definiert, in Frage. Vielmehr

bestätigt er diese Spielregeln mit seinem eigenen souveränen

Verhalten.

2) Gegenüber diesem „ontischen“ Feind läßt sich bei Schmitt

ein Typ von Feind unterscheiden, der das Prinzip des

Politischen qua Souveränität als solches in Frage stellt.

Dieser Feind tritt zunächst als der juristische Theoretiker

des allgemeinen und ausnahmslos geltenden Verfassungsgesetzes

in Schmitts Diskurs in Erscheinung und repräsentiert die

aufklärerische Auffassung von der universalen

Vernunftgesetzlichkeit aller Ordnung. Dieser Feind ist immer

schon der „ontologische“ Feind, weil er das Prinzip der

Souveränität im ganzen im Sinne seiner Idee des reinen

Gesetzesstaates verabschieden will. Der Prototyp für diesen

Verfassungsrechtler ist bei Schmitt bekanntlich Hans

Kelsen613, bei dem die biographische Tatsache seines

Judentums, eine zunehmend nicht minder prototypische

Bedeutung im politisch-theologischen Begriffssystem Schmitts

613 Vgl. Schmitt, Politische Theologie, S. 29: „Kelsen löst das Problem des Souveränitätsbegriffs dadurch, daß er es negiert. Der Schluß seiner Deduktionen ist ‚Der Souveränitätsbegriff muß radikal verdrängt werden.’“

264

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

erhält. Die Idee eines ausnahmslos geltenden Gesetzes führt

Schmitt in letzter Instanz auf die jüdische Gesetzestheologie

zurück, gegenüber der er seine Lehre von der Ausnahme vom

Gesetz statuiert, die er offenbar implizit aus der

paulinisch-christlichen Lehre vom Ende des Gesetzes ableitet.

Die neokantianische Auffassung von der reinen

Gesetzesverfassung des Staates, die keiner souveränen Instanz

mehr bedarf, dokumentiert für Schmitt eine Krisensituation,

in der sich die Liquidation des Politischen und damit das

Ende aller politischen Kultur abzeichnet, weswegen er in ihr

nicht mehr nur die Gefahr einer ontisch-faktischen

Feindschaft, sondern eben einer fundamental ontologischen

Verschärfung der Feindschaft zu erkennen scheint. Es geht um

die Konfrontation zwischen dem „ontologischen“ Souverän und

dem „ontologischen“ Feind, es geht um einen Endkampf zwischen

zwei Rechtskulturen, die gerade, weil Schmitt sie auch noch

in ihrer säkularistischen Form mit verborgenen theologischen

Sinngehalten auflädt, die Züge eines apokalyptischen

Entscheidungskampfes zwischen Judentum und Christentum

annehmen. Insofern der aufklärerische, ausnahmslos geltende

Typ der Vernunft bei Schmitt einer säkularistischen Form des

Judentums entspricht, für die vielleicht Hermann Cohens

Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums 614 Modell gestanden

haben mag, avanciert das Judentum im Ganzen auch und gerade

unter den Bedingungen der Säkularisation zum ontologischen

Feind par excellence.

614 Cohen gibt schon durch die Überschrift die Tendenz zu erkennen. Es geht um eine von Kants Religionsphilosophie inspirierte Theologie des jüdischen Gesetzes.

265

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Wenn Taubes diese Zusammenhänge in seiner Philologie

voraussetzt, so ist also gerade Schmitt gegenüber der Hinweis

auf Röm. 11,28 nicht nur Indiz für die Relevanz der

Feindesliebe für den politisch öffentlichen Bereich, sondern

ebenso für Schmitts versteckt/offene Identifikation des

Feindes mit dem Juden, der als ontologischer Feind Schmitts

souveränes Begriffssytem bedroht und der deswegen vernichtet

werden muß. Taubes geht es in seiner Philologie vornehmlich

um die Enthüllung dieser Dimension von Schmitts Theorie des

Feindes. Aber gerade an dieser Enthüllung will Taubes

durchaus nicht nur den Privatfall Schmitt aufklären, sondern

es geht ihm offenbar um die Darstellung und Korrektur einer

bestimmten politisch-theologischen Denkform, die noch hinter

den säkularistischen Kulissen von Schmitts politischer

Theologie wirksam ist und die er im Begriff der Gnosis in

ihrer latent/virulenten Wirkungsweise zu charakterisieren

sucht. Aber noch bevor diese Zusammenhänge im einzelnen

auszuführen sind, gilt es, die Pointe von Taubes’ Exegese des

Paulus hier zu verstehen.

Nicht nur werde dessen Theologie zu einer Legitimation

bestehender Herrschaftsverhältnisse mißbraucht, wie dies

traditionell mit der Berufung auf Röm. 13,1 geschieht,615

sondern, indem die Gesetzeskritik des Paulus ganz auf das

jüdische Gesetz hin – also rein theologisch – interpretiert

wird, entspricht der souveränen Obrigkeit im Ernstfall der

jüdische Feind, auf den die unzufriedenen und rebellierenden

Massen des Volkes sozusagen verwiesen werden, um ihre

revolutionären Energien abzuführen. Mit anderen Worten: 615 Stellvertretend für die Tendenz sei hier Gogarten, Politische Ethik, erwähnt.

266

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Schmitts verborgen wirksame Korrelation von Souveränität und

Antisemitismus enthüllt offenbar ein Strukturmerkmal

europäischer Politik, die sich auf eine traditionelle,

angeblich a-politische Paulusdeutung stützt. Diese

traditionelle, vermeintlich a-politische Deutung erweist sich

aus der Perspektive der bei Schmitt wirksamen Korrelation von

Souveränität und Feind gerade als hochpolitisch. Nicht nur

stützt sie die real fungierende souveräne Obrigkeit und

überläßt nur dieser das Recht, das Gesetz zu suspendieren,

sondern sie erlaubt zugleich die traditionell theologische

Reduktion der paulinischen Gesetzeskritik auf das jüdische

Gesetz. Damit aber entfesselt sie all diejenigen

Manipulationen, die eine Gesetzeskritik, die sich auf die

politische Macht konzentriert, antisemitisch abführen. Die

Einsicht in die jüdischen Ursprünge des Paulus führt so bei

Taubes nicht nur zu einer Revision der Kritik am jüdischen

Gesetz, sondern radikalisiert diese Gesetzeskritik gerade

über das „Jüdische“ hinaus als Kritik an jedem Gesetz, zumal

dem Gesetz des römischen Weltreiches, um eben dieses

mythisch-mythologische Komplott zwischen Macht und jüdischem

Feind, zwischen Souveränität und Antisemitismus zu

durchbrechen.

Aus diesem Grund setzen Taubes’ Überlegungen zu Paulus

nicht mit Paulus’ Stellung zum jüdischen Gesetz ein, sondern

mit seiner Selbstidentifikation mit Moses, von der her das

Problem der Volksgründung – zumal unter messianischen

Bedingungen – primär als ein genuin jüdisches Projekt

verhandelt werden muß. Damit aber wird die gewöhnlich an

erster Stelle verhandelte Kritik an der jüdischen Halacha zu

267

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

einem sekundären Faktor, der nach der Rekonstruktion der

spezifisch jüdischen Ursprünge jetzt aus der Perspektive der

messianischen Erweiterung des Volksbegriffs und einem

geläuterten Verständnis der Beziehungen zwischen Nichtjuden

und Juden neu beleuchtet werden kann.

Die Gesetzeskritik, wie sie Paulus gerade im Römerbrief zum

Ausdruck bringt, könne, so Taubes’ exegetische Voraussetzung,

nicht von dem eminent politischen Kontext, der in der

Hauptstadt des Römischen Reiches situierten Gemeinde der

nichtjüdischen Christen getrennt werden. Jede Aussage, die

Problematik des Gesetzes betreffend, trifft nicht nur für den

spezifisch theologisch-jüdischen Aspekt, sondern gerade auch

für die Politik und die politische Theologie des Imperiums

zu, insofern die römische Gesetzesidee immer auch etwas mit

der spezifisch römischen Auffassung vom Göttlichen zu tun

hat. „Nicht der Nomos, sondern der ans Kreuz geschlagene

Nomos ist der Imperator“616 – so faßt Taubes die Quintessenz

der paulinischen Gesetzeskritik zunächst zusammen. Der Satz

kennzeichnet nicht nur die metaphysisch-theologische Krise

des Gesetzes, das als Gebot und Verbot Insignum für den

Sündenstand und die Todesverfallenheit kreatürlicher Existenz

ist und das durch die neue messianische Situation in der

eschatologischen Tugend der Liebe aufgehoben ist, sondern er

erhellt nicht minder den besonderen politischen Sinn eines

Endes gerade der durch den Caesar verkörperten Herrschaft des

Gesetzes. Das politische Gesetz ist prinzipiell jedenfalls

nicht minder Ausdruck der Todesverfallenheit des Menschen.

616 Taubes, Die politischen Theologie des Paulus, S. 38.268

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Doch tritt im Kontext des römischen Weltreiches natürlich

ein Moment hinzu, das die Gesetzeskritik wieder in ein ganz

theologisches, nämlich jüdisch-theologisches Licht stellt,

insofern nämlich der Kaiser nicht nur das Gesetz durch seine

Souveränität und Macht verbürgt und verkörpert, sondern

dieser Caesar als Gott verehrt wird. Gerade diese politisch-

theologische Identifikation des Gesetzes mit dem Caesar, und

des Caesars mit dem Gott, fordere die paulinische Idolkritik

heraus, die mit dem Götzen eben dessen Verfassung und Gesetz

zertrümmert. Die Rhetorik des Paulus zeichnet in Christus den

messianischen Gegenkönig, der diesen Kaiser- und Nomoskult

und mit ihm das Wertesystem nicht nur des römischen

Weltreiches, sondern eben einer jeden Machtpolitik umstürzt.

Das Kreuz steht für die Umkehrung aller politischen Werte

durch das agapeische Pneuma, in dem sich die Gemeinde der

Christen schon im Jetzt zusammenfindet.

Als Sohn Davids ist Jesus designiert zur Herrschaft; dasist eine naturale Qualität. Sohn Gottes ist jedoch keinenaturale, sondern eine zugesprochene Qualität, wie es imPsalm 2, dem Königspsalm heißt: „Du bist mein Sohn, dichhabe ich heute gezeugt.“ Das ist ein Akt derInthronisation. Also handelt es sich um eine bewußteBetonung derjenigen Attribute, die imperatorisch, diekaiserlich sind. Sie werden betont gegenüber der Gemeindein Rom, wo der Imperator selbst präsent, und wo das Zentrumdes Caesarkultes, der Caesarenreligion ist.617

Mit anderen Worten: der Sinn der Christologie von Tod,

Auferstehung und Thronbesteigung erhält seinen sehr konkreten

politisch-theologischen Sinn in dieser Situation, in der

Paulus sich mit den politischen Verhältnissen des Weltreiches

auseinandersetzt. Bedenkt man nun noch, daß die Caesaren mit

617 Ebd., S. 24.269

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

ihrem Tod eine Himmelsreise antreten, um als unsterbliche

Götter fortzuleben, so besitzt noch die Himmelfahrt Christi

eine sehr klare polemische Adresse:

Die Daten des [Römer]briefes, also 57/58, kann man solesen, daß dies nach dem Tode des Claudius geschriebenwurde, am Anfang der neronischen Zeit. Wir wissen: Claudiusist ermordet worden [...] und der Senat hat eineconsecratio durchgeführt. Das heißt: Sein Tod wurde alseine Himmelsreise gedeutet.618

Die theologische Kritik am Gesetz kann, zumal unter den

monotheistischen Voraussetzungen und den neuen messianischen

Bedingungen, nicht von ihrer politischen Kritik getrennt

werden. Diese politische Bedeutung – das ergab sich schon aus

der Kritik an Carl Schmitt – dient keineswegs der

Stabilisierung der bestehenden Machtverhältnisse, sondern

indiziert deren Umsturz. Einmal nämlich tritt an die Stelle

des Caesaren der im Himmel thronende Christus, dann tritt an

die Stelle des durch den Caesaren mit dem Nomos regierten

Volkes der von der Agape bewegte Leib Christi, wobei dieses

Bild sich auch noch polemisch zur römischen Vorstellungswelt

verhält.

Ein organologisches Bild spielt ja auch im römischen Denkeneine Rolle [...] Aber dort ist immer der Kopf, während hiervon einem Leib die Rede ist. Ein Leib in Christo, denn alleGlieder sind gleich, auch wenn sie verschiedene Funktionenhaben. Und dann schildert er [=Paulus] die Lebensformen derchristlichen Gemeinde in dieser Agape, das Leben derChristen aus dem neuen Pneuma und in der Agapeuntereinander.619

So will denn Taubes eben diese Ausführungen zur Agape als

Konterfuge zu dem Satz 13:1 lesen, der von den

618 Ebd., S. 27.619 Ebd., S. 73.

270

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Gemeindemitgliedern den Gehorsam gegenüber der von Gott

eingesetzten Obrigkeit fordert. „Denn Römer 13 – ich schließe

mich hier Karl Barth an – beginnt bereits mit dem Ende von

12, mit dem Satz: ‚Laß dich nicht vom Bösen besiegen, sondern

besiege das Böse durch das Gute.‘“ 620 Diese

Kontextualisierung von Röm. 13 durch das Ende von 12, aber

auch den weiteren Verlauf von Kapitel 13 selbst soll nicht

nur an die eben der Machtpolitik radikal entgegengesetzte

Politik der Liebe erinnern, sondern offenbar diese

alternative Politik als die wahre Politik gegenüber der

Politik des Bösen kennzeichnen. Die Kontextualisierung

indiziert, trotz der unter den gegebenen politischen

Bedingungen immerhin wahrscheinlichen Verschlüsselung, gerade

das Gegenteil zu der traditionell behaupteten „Legitimität“

von Herrschaft. Wenn aber die Theologie des Paulus von der

Deutung zu emanzipieren ist, die sie von allem Politischen

fernhalten will und zuletzt, protestantisch, als Lehre vom

individuell-privaten Glauben auffaßt, der sich erst recht aus

den real-politischen Verhältnissen herauszuhalten hat, erst

dann kann nicht nur der politische Sinn von Christi

Thronbesteigung wieder als Akt hervortreten, mit dem das Ende

der Herrscher dieser Welt sich ankündigt, sondern erst dann

wird es möglich, das traditionelle Bündnis von Souveränität

und Antisemitismus tatsächlich zu durchbrechen.

Taubes’ gesamte Exegese wird, so meine These, von diesem

Interesse geleitet, nämlich den jüdischen und den politischen

Paulus so zusammenzudenken, daß – gerade aus der Perspektive

der Judenvernichtung – ein Prozeß des Umdenkens möglich wird,

620 Ebd.271

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

in dem diese traditionelle Form von Politik so dekonstruiert

wird, daß die Kritik an Herrschaft eben nicht mehr in ein

Pogrom gegen die Juden transformiert werden kann.621 Es gilt

in letzter Instanz, die Einheit von Gericht und Gnade, von

Zorn und Liebe in Gott zu konstruieren, die es ermöglicht,

den ganzen Paulus zu verstehen, den Paulus, der in dieser

Einheit die Utopie einer Gemeinschaft von Juden und

Nichtjuden aus der Perspektive einer gelungenen Emanzipation

und Befreiung im Geist der Agape entwirft. Sehr konkret geht

es in diesem zunächst sehr abstrakt anmutenden Anliegen

darum, die Einheit von Gericht und Gnade zu konstruieren, um

eine polemische Front gegen die gnostische Theologie, die

eben das Auseinanderbrechen dieser Einheit betrieben hat, und

die in ihrer neo-gnostischen Form bei Adolph von Harnack622 621 Auch wenn Taubes eben die Formel von der Umkehr der Werte von und mit Nietzsche auf Paulus zurückprojiziert, so entgeht ihm doch die eigentlichPointe, war es doch Nietzsche, der im Antichrist Paulus 1) als den politischen Denker schlechthin und 2) als den jüdischen Theologen par excellence gedeutet hat, allerdings aus der Perspektive einer radikal negativen Wertung. Vgl. etwa § 58: „Das, was aere perennius dastand, das imperium Romanum, die großartigste Organisations-Form unter schwierigen Bedingungen, die bisher erreicht worden ist, im Vergleich zu der alles Vorher, alles Nachher Stückwerk, Stümperei, Dilettantismus ist, jene heiligen Anarchisten haben sich eine ‚Frömmigkeit‘ daraus gemacht, ‚die Welt‘, d.h. das imperium Romanum zu zerstören.“ Und im selben Paragraphen: „Paulus, der Fleisch-, der Genie-Gewordene Tschandala-Haß gegen Rom, gegen die Welt, der Jude, der ewige Jude par excellence ... Was er erriet, das war, wie man mit Hilfe der kleinen sektirerischen Christen-Bewegung abseits des Judentums einen ‚Weltbrand‘ entzünden könne, wie man mit dem Symbol ‚Gott am Kreuze‘ alles Unten-Liegende, alles Heimlich-Aufrührerische, die ganze Erbschaft anarchistischer Umtrieb im Reich zu einer ungeheuren Macht aufsummieren könne. ‚Das Heil kommt von den Juden.‘“ Beide Momente zusammen, umgekehrt, sind die politische Theologie des Paulus. 622 von Harnack, Marcion. In Taubes Die politische Theologie des Paulus behandelt erdie Neugnosis im Rahmen des Kapitels „Fremdlinge in dieser Welt. Marcion und die Folgen“ (S. 77–86). In seinem kleinen Aufsatz „Einleitung. Das stählerne Gehäuse und der Exodus daraus oder ein Streit um Marcion, einstund heute“, in: ders. Gnosis und Politik, spielen zwei weitere Namen eine wichtige Rolle, nämlich Buber und vor allem Ernst Bloch mit dessen Geist der Utopie von 1923 mit ihrer positiven Wertung der marcionitischen

272

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

die protestantische Theologie der 1920er und 1930er Jahre

wesentlich mitbestimmt hat. Da, wo die Einheit von Gericht

und Gnade auseinanderbricht, so argumentiert Taubes (auch

hier implizit), da ereignet sich nicht nur eine metaphysische

Scheidung vom Gott der Schöpfung und Gott der Erlösung, vom

bösen jüdischen Gott und guten Gott der christlichen Liebe,

sondern da sind die politisch theologischen Weichen für die

physische Liquidation des Judentums gestellt.

V Gnosis und Moderne

Oder: das unvollendete Projekt der modernen Überwindung der

Gnosis

Taubes’ Philologie von Röm. 11,28 trifft Schmitts politische

Theologie im Kern, wenn man diese mit der Philologie Schmitts

von Math. 5,44 vergleicht. Wenn Schmitt behauptet, die

Feindesliebe gelte nur für den privaten Fall, den inimicus, um

damit den Begriff der Politik ganz aus der Bekämpfung und

potentiellen Vernichtung des Feindes abzuleiten, so erinnert

Taubes an den einen Fall, in dem der Feind der Feindesliebe

tatsächlich als öffentlicher Feind gedacht werden muss.

Dieser öffentliche Feind, bedenkt man nun die Rolle von

Gesetz und Judentum in Schmitts politischer Theologie, ist

nicht zufällig „der Jude“. Ob Taubes’ spekulativer Rückschluß

von Röm. 11-28 auf Math. 5,:44 die Feindesliebe der Bergpredigt

Weltfremdheit.273

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

tatsächlich schlüssig ist, spielt dabei im Prinzip keine

Rolle. In jedem Fall erkennt Taubes an Schmitts Reduktion vom

Feind auf den Juden eine zweifache Verkennung, nämlich die

der politischen Rolle der Feindesliebe und die der Rolle, die

der Jude als Feind auch noch in der säkularisisierten Form

seines Begriffs von Politik übernimmt. Dabei ist diese

Verkennung nicht nur der spezifische Fall Schmitts, sondern

wie Taubes feststellt:

Und das habe ich Schmitt vorgehalten, dass er dieseDialektik nicht sieht, die den Paulus bewegt und die diechristliche Kirche nach 70 vergessen hat, daß er nichteinen Text, sondern eine Tradition übernahm, nämlich dieVolkstradition des kirchlichen Antisemitismus.623

Die Tradition, die Taubes hier anspricht, ist in der Tat die

Kirche in ihrer real existierenden Form als Volkskirche, und

zwar zunächst die katholische Kirche, die sich der Abwehr der

Gnosis verdankt, also jener radikal antijudaistischen Form

christlicher Theologie, die das Alte Testament als Dokument

einer dämonischen Schöpfungstheologie verworfen hat. Aber

Taubes meint, eben in der offiziellen Tradition der Kirche

selbst, zumal in der späteren protestantischen Kirche, die

Spuren dieser radikalen antijudaistischen Theologie bis hin

in die Niederungen des Antisemitismus der Volkskirche nicht

nur wahrnehmen zu können, sondern von diesen Spuren aus

verfolgt er den Antisemitismus zurück zu dem Urtext, der der

Tradition des Antisemitismus – eben über den Filter

fehlgeleiteter Traditionen – zum Modell stand: Paulus. Die

gnostische Interpretation, indem sie sich auf Paulus bezieht

und aus dessen Theologie ihren spezifisch antijudaistischen

623 Taubes, Die politische Theologie des Paulus, S. 72.274

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Dualismus ableitet, weist in ihrer radikalen Hermeneutik auf

eine Wunde im Text selbst, die es in ihrer ganzen Tiefe erst

zu begreifen gilt, soll die Kirche, aber auch jedes

politisch-theologische Verständnis von Paulus sich von dieser

Tradition des Antisemitismus befreien können.624 Wenn nämlich

die Tradition (also die Kirche) den Kanon von Altem und Neuem

Testament erst im Gegenzug zu der Gnosis Marcions vollzieht,

der in radikaler Konsequenz seiner Paulus-Interpretation nur

das Neue Testament gelten läßt (d.h. genauer: Lukas

Evangelium und Paulusbriefe), so muß in dem Augenblick einer

theologisch-kirchlichen Krise, in der gewöhnlich eine

Besinnung auf die theologischen Grundlagen in Paulus sich

ereignet, sowohl der Kanon der Kirche, also jene Einheit und

„concordia“ von „vetus testamentum et novum testamentum“, als

auch das Verhältnis zwischen Juden und Christen in eine Krise

geraten. In der Tat lassen sich die drei großen historischen

Augenblicke einer Rückkehr der paulinischen Theologie – bei

Augustinus, Luther und Karl Barth – als Augenblicke der Krise

lesen, in denen die der paulinischen Theologie

eingeschriebene Spannung von Gericht und Gnade sozusagen vor

ihrer dichothomisch-gnostischen Auffassung bewahrt werden

mußte.

Markion versteht sich ja auch als Schüler des Paulus, undzwar als der richtige Presbyteros, sagt er von sich selber,und alles andere sind Fehler. Und was ist denn der pointvon Markion? Daß der Vater Jesu Christi nicht identisch seikann mit dem creator coeli et terrae. Das Alte Testamentist vollkommen in Ordnung, nämlich literal, er beginnt mit

624 Vgl. Harnack, Marcion, Kapitel IV: „Der Kritiker und Restaurator. Die Bibel Marcions“, zeichnet die Abhängigkeit Marcions von Paulus nach, d.h.hier zeigt Harnack, wie sehr Marcion sich als authentischer Interpret vonPaulus begriff.

275

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

der Schöpfung dieser Welt durch den creator – sieh mal an,was für eine miserable creation das ist, wo so viele Mückenda sind (ich zitiere Markion). Aber der Vater Jesu Christiist mit dem überhaupt nicht identisch, sondern er ist derfremde Gott, deus aliens, der andere Gott. [...] Und datrifft er etwas in Paulus! Denken Sie nur an die ungeheureAngst des Paulus, von der Liebe Gottes abgeschnitten zuwerden. Wer schneidet hier ab? Dieser Schöpfer Gott mußdoch dämonische Zuege haben.: Er ist mächtig, also jetztpaulinisch-markionitisch gesehen, aber mit dem, was mitErlösung zu tun hat, hat er nichts im Sinn. Die Erlösungkommt von dem Vater Jesu Christi, das ist der Gott, derunbekannt ist, der jenseits der Aeonen ist, ein wirklichtranszendenter Gott.625

Indem also Marcion an der Spannung zwischen Gericht und

Gnade, Macht und Erlösung, die den paulinischen Begriff

Gottes bestimmt, einen unüberwindlichen Abgrund wahrnimmt,

trennt er beide Aspekte Gottes und substantialisiert sie in

zwei Gottheiten, einem Gott der Welt und dem wahren

Erlösergott, womit allerdings gerade die wie auch immer

problematische „concordia“ nicht nur von Altem und Neuem

Testament aufgekündigt wird. Taubes bezieht sich in diesem

Kontext auf Adolph von Harnack, um nicht nur die spezifische

Fragilität der kirchlichen Tradition als Symptom einer

solchen Auseinandersetzung mit Paulus überhaupt, sondern an

Harnack eben das Scheitern dieser Auseinandersetzung zu

dokumentieren, da wo die Kirche vor dem gnostischen Anspruch

auf interpretatorische Souveränität über den paulinischen

Text die Waffen streckt. Taubes zitiert die berühmte These

von Harnacks Buch über Marcion:

Die These, die im folgenden begründet werden soll, lautet:das Alte Testament im zweiten Jahrhundert zu verwerfen, warein Fehler, den die große Kirche mit Recht abgelehnt hat.

625 Ebd., S. 79.276

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Es im 16. Jahrhundert beizubehalten, war ein Schicksal, demsich die Reformation nicht zu entziehen vermochte. Es aberseit dem 19. Jahrhundert als kanonische Urkunde imProtestantismus noch zu konservieren, ist die Folge einerreligiösen und kirchlichen Lähmung.626

Die großen historischen Zäsuren – Augustinus, Luther und der

Protestantismus des 19. Jahrhunderts – sind nach Harnacks

Verständnis in ihrer Orientierung historisch-theologisch

jeweils so verschieden, daß sich am Ende dieser Geschichte

die Möglichkeit abzeichnet, die gnostische Theologie von

Marcion als authentische Option der protestantischen

Theologie zu realisieren. Wie auch immer im einzelnen diese

Historiographie bei Harnack zu begründen ist, sie

demonstriert für Taubes die Aktualität der gnostischen

Exegese der paulinischen Theologie. Vor allem durch die in

den Nachwehen des Ersten Weltkrieges einsetzende Paulus-

Rezeption in der protestantischen „dialektischen Theologie“,

von Karl Barth bis Friedrich Gogarten, sollte die gnostische

Option allerdings noch einmal zu einer massiven Gefahr

werden, gerade weil die „Synthese des Kulturprotestantismus,

an dem die deutschen Juden genauso beteiligt waren,

zusammenbrach.“627

Mit anderen Worten: nicht nur will Taubes – mit Hilfe

Harnacks – eine genuin paulinische Tradition konstruieren,

die von den Anfängen bei Paulus selbst, über Augustinus und

Luther bis zu den zwanziger Jahren sich erstreckt, sondern

diese Tradition als Auseinandersetzung mit der gnostischen

Deutungsgefahr verstehen, die von dieser Tradition ausgehend,

diese zuinnerst gefährdet und zuletzt so schwächt, daß die

626 Ebd. zitiert nach Taubes, Die politische Theologie des Paulus, S. 84.627 Ebd. S. 86.

277

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Gnosis am Ende praktisch die theologische Szene zu

beherrschen beginnt. Eben diese spezifisch moderne

Anfälligkeit für die Gnosis ist erklärungsbedürftig, und man

kann hier nur – was Taubes Argumentation angeht –

Spekulationen über die mögliche Rolle der Säkularisation des

Gottesreiches qua immanente Kultur – anstellen.628 Auf jeden

Fall deutet Taubes den gnostischen Fall als eine zugleich

naheliegende, wie unzulässige hermeneutische Fehlleistung,

die allerdings das „Geheimnis der Sache“ der

nationalsozialistischen Machtergreifung und Judenpolitik

zumindest teilweise zu enthüllen imstande ist.

628 Unter den zahlreichen Feststellungen Taubes zum Thema Gnosis befindet sich die Erkenntnis eines Zusammenhangs zwischen historischem und innerlichem Messianismus, die auf das ganze Problem Judentum, Christentumnoch einmal ein ganz anderes Licht wirft. In Jakob Taubes: „Der Messianismus und sein Preis“, in: Assmann, Vom Kult zur Kultur, hat Taubes zunächst gegen Gershom Scholem: „Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum“, argumentiert, daß die von ihm behauptete Dichothomie zwischen einer jüdischen Form äußerer Erlösung und einer christlichen inneren Erlösung nicht aufrechtzuerhalten sei: „Wie anders läßt sich Erlösung definieren, nachdem der Messias die äußere Welt eben nicht erlöst hat, als durch eine Verlagerung in die Innerlichkeit?“ (S. 44) Damit aber ergibt sich auch ein neuer Zusammenhang zwischen der Idee innerer Erlösung und der Gnosis, die die Spannung zwischen innen und außen noch einmal verschärft. Vgl hierzu den exzellenten Essay von ThomasMacho, „Zur Frage nach dem Preis des Messianismus. Der Intellektuelle Bruch zwischen Gerschon Scholem und Jacob Taubes als Erinnerung ungelöster Probleme des Messianismus“, in: Mosès/Weigel, Gerschom Scholem: Literatur und Rhetorik, formuliert in diesem Sinne ein gewichtiges Problem (S. 140): „Paulus, ja sogar Marcion (den Taubes gelegentlich zum jüdisch-antijüdischen Intellektuellen ernannte) müssen als Gestalten einer offenen Frage des Judentums wahrgenommen werden.“ Aus dieser Perspektive ergibt sich eine Art Morphologie des Messianismus von seiner historischenzu seiner verinnerlichten und schließlich gnostischen Form, die als messianische Verzweiflung sozusagen den Rahmen des Messianismus sprengen muß. Die Schlußfolgerung Machos, entweder führe die messianische Logik also zu einer paulinischen Aufhebung des Messianismus oder zu einer wiederholten Verwerfung des Messias als des falschen Messias, bezeichnet tatsächlich die (traumatische) Wunde der Dissoziation von Judentum und Christentum, das, was Macho das unlösbare Problem nennt. In jedem Fall sprengt es offenbar das System der Unterscheidungen, auf die Scholem seine Theorie des Messianismus errichtet.

278

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Aus dieser Perspektive gesehen, liefert Taubes mit seinen

Überlegungen einen wichtigen Beitrag zu der These Hans

Blumenbergs,629 die Moderne sei gegenüber dem ersten

christlich-antiken Versuch die zweite gelungene Überwindung

der Gnosis, die durch das Prinzip der Selbstbehauptung

möglich geworden sei. Für Taubes muß diese These, aus der

Perspektive der gnostischen Ursprünge der Judenvernichtung,

offenbar einer radikalen Revision unterworfen werden. Das

heißt: Taubes geht es wie Blumenberg um dieselbe Sache – die

Überwindung der Gnosis, wobei aber gerade die

Selbstbehauptung – angesichts ihrer brutalen Radikalisierung

in der nationalsozialistischen Politik – eher als Grund für

das Scheitern dieser Überwindung erscheinen muß. Taubes’

Therapie geht daher von dem totalen Scheitern der Moderne

aus, um von hier aus einen neuen Deutungsansatz vorzustellen,

der radikal, von der Wurzel her, die Theologie des Paulus aus

ihrer jüdischen und politisch-theologischen Urintention zu

begreifen versucht.

Blumenbergs Versuch zur Rettung der Moderne vor den

Theoretikern der Säkularisation, die diese als eine Kategorie

des Unrechts einsetzen, stützt sich dabei im Wesentlichen auf

zwei Theoreme, das Verhältnis von Gnosis und Moderne

betreffend. Erik Voegelin630 beschreibt die Moderne im Ganzen

als eine spezifische Form von politischer Theologie, die sich

auf die joachitische Gnosis vom dritten Reich stützt, d.h.

als eine politische Theologie, die das Absolute im Rahmen

einer innerweltlichen Politik durch dafür vorgesehene

629 Blumenberg, Die Legitimation der Neuzeit, vgl. Anm 2. Hierzu Taubes, Gnosis und Politik.630 Voegelin, The New Science of Politics.

279

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

eingeweihte Revolutionäre – die modernen Gnostiker –

verwirklichen soll. Gegen dieses Theorem will Blumenberg

bekanntlich die Gegenthese vertreten, die Moderne sei

wesenhaft gerade die Überwindung, nämlich die zweite

gelungene Überwindung der Gnosis. In seiner Darstellung des

ersten Versuchs stützt sich Blumenberg auf Harnacks Befund

von der Überwindung der marcionitischen Gnosis durch den

Gegenkanon der katholischen Kirche und die Ausarbeitung des

Dogmas durch Augustinus. Blumenberg konstatiert, daß der

Versuch allerdings praktisch gescheitert sei, weil der

Dualismus der Gottheiten zwar verschwunden, dafür aber in der

durch die Lehre von der Erbsünde bedingten Trennung von

Erwählten und Verworfenen wiedergekehrt sei. Wie Blumenberg

also nimmt auch Taubes einen für die Geschichte wesentlichen

Konflikt zwischen Gnosis und Kultur an, der sozusagen hinter

den Kulissen noch das Schicksal der Moderne bestimmt. Doch

scheint Taubes mit dem Hinweis auf Harnacks Historiographie

des Marcionismus zu behaupten, daß in der Tat das Ziel die

Überwindung der Gnosis sei, daß diese aber, das zeige gerade

Harnacks eigene Hinwendung zur Gnosis, eben längst nicht als

gelungene beschrieben werden könne. Die Moderne müsse

vielmehr gerade den Sieg der Gnosis verzeichnen, der sich in

der nationalsozialistischen (Juden)politik unwiderruflich

dokumentiert.

Wenn aus den kryptischen Andeutungen von Taubes überhaupt

eine systematische Argumentation rekonstruierbar sein soll,

dann stünde Taubes dem Theorem von Voegelin näher, demzufolge

nämlich die Moderne mit ihrer spezifischen politischen

Theologie der joachitischen Drei-Reiche-Lehre gnostisch

280

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

geprägt und insofern immer schon von der Möglichkeit eines

radikalen Antijudaismus mitbestimmt ist. Nur wird man

schwerlich annehmen dürfen, daß Taubes die mit dieser

gnostischen Imprägnation gesetzte Kontinuität von Lessing bis

Hitler bei Voegelin hätte gelten lassen können,631 wie denn

auch Taubes weniger an eine augustinische Rekonstruktion der

politisch-theologischen Verhältnisse appelliert hätte,

sondern an eine radikale Revision der paulinischen Ursprünge

einer machtkritischen politischen Theologie. Zudem wird man

einwenden müssen, daß die Gnosis des Marcion eine andere

Gnosis darstellt als die, die Voegelin an der Genese der

modernen politischen Theologie wahrnimmt. Das Unternehmen

einer systematischen Rekonstruktion der Überlegungen von

Taubes muß also fragwürdig bleiben und somit auch die

genauere Verortung seiner Ideen zu seiner antignostischen

politischen Theologie.632

631 Vgl. Taubes, „Das stählerne Gehäuse“, S. 10: „Der Generalangriff Eric Voegelins auf die Legitimität der Neuzeit war zu grioßflächig angelegt, seine Gnosis-Formel zu allgemein gehalten, als daß sie greifen konnte“ Taubes schließt daraus u.a., daß eben deswegen die „Thesen Blumenbergs“ im allgemeinen überzeugt haben. Zugleich aber stellt Taubes die Frage, „ob das gnostische Rezidiv seit den zwanziger Jahren unseres Jahrhundertsnicht ein Ende jener Jahrhunderte überspannenden Sinnstruktur, genannt ‚Neuzeit‘ anzeigt, so daß der Topos ‚Ende der Neuzeit‘ […] nicht doch einSymptom für eine Krise im Selbstverständnis der Gegenwart seit dem Ende des 1.Weltkriegs darstellt.“ Damit deutet Taubes die Möglichkeit an, daß die von Blumenberg konstruierte Neuzeit als überwundene Gnosis mit dem ersten Weltkrieg zu Ende gekommen ist! 632 Eine besonders gewichtige Einschätzung zum marcionitischen Problem findet sich bei Rémi Brague, Eccentric Culture. A Theory of Western Civilization, South Bend, Indiana 2002, die unmittelbar auf die Konstellation von Blumenberg – Voegelin – Taubes reagiert. In dem Kapitel „Marcionism and Modernity“ stellt Brague die Frage: „Are we witnessing a return of Gnosticism, and in particular of Marcionism?“, wobei Brague mit Marcion die Infragestellung eben der für Europa fundamentalen Struktur der Romanitas erkennt, also jenes nicht essentiellen Bezugs zu anderer Kultur (v. a. jüdisch und griechisch), die ihren ultimativen Ausdruck im römischen Katholizismus findet

281

Christoph Schmidt: Theopolitische Stunde

Auf jeden Fall scheint klar zu sein, daß für Taubes von

einer zweiten gelungenen Überwindung der Gnosis durch die

Selbstbehauptung der Moderne keine Rede sein kann, daß die

Gnosis als der Fundus einer bis in die kirchliche Volkskirche

fortwirkenden Gefahr längst nicht überwunden ist, sondern

eben gerade unter den Bedingungen von Säkularisation, siehe

das Beispiel Carl Schmitt, ganz neue Dimensionen annehmen

kann. Aus der Perspektive eben des Scheiterns ihrer

Überwindung bahnt sich Taubes den geistesgeschichtlichen Weg

durch die Trümmer der Geschichte hindurch, zurück zu dem in

seinen Augen tatsächlich relevanten Urtext der Moderne, zu

Paulus, um an ihm immerhin die Gegenstrategie

herauszustellen, die jede Politik der Selbstbehauptung und

Macht, aber auch jede antijudaistische Gnosis radikal in

Frage stellen soll: nämlich die politische Theologie der

Agape und der Liebe derjenigen Schwäche, die, indem sie von

allen Formen der Selbstbehauptung und sich selbst

behauptender Politik emanzipiert werden muß, eben für die

immer noch ausstehende wahre „Umkehrung aller Werte“ steht.

282