Period Ear. Perspektiven einer Klanggeschichte der Neuzeit

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Period Ear Perspektiven einer Klanggeschichte der Neuzeit von Jan-Friedrich Missfelder * Abstract: This article advocates that we should understand the sound history as a new way of investigating general history. It focuses upon auditory perception and the political economy of sound utterances, and therefore identifies sound production as an indicator of the valid political and social order. As such, the sound history unearths the specific acoustemology of a given historical society, the way in which people make sense of their world via sounds and their understanding of sound. Die Stimme macht Lärm, die Dinge ebenfalls. 1 Michel Serres Turn! Turn! Turn! (To Everything there is a Season) 2 The Byrds Das Klio blind sei, wird niemand mehr behaupten können. Die Geschichts- wissenschaft hat ihre „historischen Augen“ in den letzten Jahren geschärft und Bilder und visuelle Medien aller Art als Quellen und Erkenntnismittel zu nutzen gelernt. 3 Deren heuristischer Wert steigt dabei insbesondere in der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte immer weiter. Bilder werden nicht mehr nur als Speichermedium vergangener Wirklichkeiten aufgefasst, sondern zunehmend auch als spezifische Produzenten historischen Wissens analy- siert. 4 Die methodische und theoretische Bewegungsrichtung der Geschichts- wissenschaft scheint damit, wie in anderen Kulturwissenschaften auch, durch den je nach Akzentuierung unterschiedlich gelagerten iconic, pictorial oder *Für sachkundige Lektüre und konstruktive Hinweise danke ich Daniel Morat. 1 Michael Serres, Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, Frankfurt 1998, S. 157. 2 The Byrds, Turn! Turn! Turn!, CBS 1897, November 1965. 3 Vgl. nur Gerhard Paul, Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006; Bernd Roeck, Das historische Auge. Kunstwerke als Zeugen ihrer Zeit von der Renaissance zur Revolution, Göttingen 2004; ders., Visual turn? Kulturgeschichte und die Bilder, in: GG 29. 2003, S. 294 – 315 sowie zusammenfassend Habbo Knoch, Renaissance der Bild- analyse in der neuen Kulturgeschichte, in: Historisches Forum 5. 2005, http://edoc.hu- berlin.de/e_histfor/5/PHP/Beitraege_5 – 2005.php#393. 4 Vgl. z.B. Julia Voss, Darwins Bilder. Ansichten der Evolutionstheorie, 1837 –1874, Frankfurt 2007. Geschichte und Gesellschaft 38. 2012, S. 21 – 47 # Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2012 ISSN 0340-613X

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Period Ear

Perspektiven einer Klanggeschichte der Neuzeit

von Jan-Friedrich Missfelder*

Abstract: This article advocates that we should understand the sound history as a newway of investigating general history. It focuses upon auditory perception and thepolitical economy of sound utterances, and therefore identifies sound production asan indicator of the valid political and social order. As such, the sound history unearthsthe specific acoustemology of a given historical society, the way in which people makesense of their world via sounds and their understanding of sound.

Die Stimme macht Lärm, die Dinge ebenfalls.1

Michel Serres

Turn! Turn! Turn! (To Everything there is a Season)2

The Byrds

Das Klio blind sei, wird niemand mehr behaupten können. Die Geschichts-wissenschaft hat ihre „historischen Augen“ in den letzten Jahren geschärft undBilder und visuelle Medien aller Art als Quellen und Erkenntnismittel zunutzen gelernt.3 Deren heuristischer Wert steigt dabei insbesondere in derKultur- und Wissenschaftsgeschichte immer weiter. Bilder werden nicht mehrnur als Speichermedium vergangener Wirklichkeiten aufgefasst, sondernzunehmend auch als spezifische Produzenten historischen Wissens analy-siert.4 Die methodische und theoretische Bewegungsrichtung der Geschichts-wissenschaft scheint damit, wie in anderen Kulturwissenschaften auch, durchden je nach Akzentuierung unterschiedlich gelagerten iconic, pictorial oder

* Für sachkundige Lektüre und konstruktive Hinweise danke ich Daniel Morat.1 Michael Serres, Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, Frankfurt

1998, S. 157.2 The Byrds, Turn! Turn! Turn!, CBS 1897, November 1965.3 Vgl. nur Gerhard Paul, Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006; Bernd Roeck,

Das historische Auge. Kunstwerke als Zeugen ihrer Zeit von der Renaissance zurRevolution, Göttingen 2004; ders., Visual turn? Kulturgeschichte und die Bilder, in: GG29. 2003, S. 294 – 315 sowie zusammenfassend Habbo Knoch, Renaissance der Bild-analyse in der neuen Kulturgeschichte, in: Historisches Forum 5. 2005, http://edoc.hu-berlin.de/e_histfor/5/PHP/Beitraege_5 – 2005.php#393.

4 Vgl. z. B. Julia Voss, Darwins Bilder. Ansichten der Evolutionstheorie, 1837 – 1874,Frankfurt 2007.

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visual turn vorgegeben.5 Kaum ist die eine Wende jedoch vollzogen, kündigensich neue Drehungen an. Vom jeweiligen emotional, medial oder gar historicturn wird erwartet, dass er die Aufmerksamkeit der Kulturwissenschaftenwieder neu ausrichtet.6 Unter diesen verschiedenen turns firmieren seitkurzem auch ein acoustic,7 sonic8 oder auditory turn.9 Was hat es damit aufsich?Klänge, Musik und akustische Wahrnehmung standen lange Zeit eher amRande der kulturwissenschaftlichen Forschungsagenda – von der Musikwis-senschaft im engeren Sinne einmal abgesehen, die sich aber in ihrertraditionellen Form ebenfalls eher der textuellen Basis der Musik in Formvon Notenschrift als dem Klangereignis selbst zuwandte.10 Dies sei, so diePropagandistinnen und Propagandisten des acoustic, sonic, auditory turn, nunim Begriff, sich zu ändern. Hatte der amerikanische Phänomenologe Don Ihdeschon 1976 der Philosophie einen auditory turn verordnet,11 so scheint dieWende zum Klang nun auch andere Disziplinen zu betreffen. Literatur- undMedienwissenschaften, (Kultur-)Anthropologie und nicht zuletzt die Musik-wissenschaft selbst widmen dem Klang, dem akustischen Ereignis und derHörwahrnehmung seit einiger Zeit größere Aufmerksamkeit.12 Der kanadische

5 Vgl. zur Differenzierung und Wissenschaftsgeschichte der verschiedenen turns in-struktiv Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kultur-wissenschaften, Reinbek 2006, S. 329 – 380.

6 Vgl. ebd., S. 381 f.7 Vgl. Petra Maria Meyer (Hg.), Acoustic Turn, München 2008.8 Vgl. Jim Drobnick, Listening Awry, in: ders. (Hg.), Aural Cultures, Toronto 2004,

S. 9 – 18, hier S. 10.9 Vgl. die von Veit Erlmann im Oktober 2009 organisierte Konferenz „Thinking Hearing.

The Auditory Turn in the Humanities“, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termi-ne/id=11961&sort=datum&order=down&search=erlmann.

10 Vgl. zu diesem Problem erhellend Nicholas Cook, Between Process and Product. Musicand/as Performance, in: Music Theory Online 7. 2001, http://www.mtosmt.org/issues/mto.01.7.2/mto.01.7.2.cook_frames.html; eine frühe Ausnahme bildet allerdings Chris-topher Small, Musicking. The Meanings of Performing and Listening, Hanover, NH1998. Die Anzahl der klangorientierten Studien im Bereich der Sozialgeschichte derMusik nimmt allerdings zu. Vgl. z. B. jüngst Christopher Marsh, Music and Society inEarly Modern England, Cambridge 2010.

11 Vgl. Don Ihde, Listening and Voice. Phenomenologies of Sound, Albany, NY 20072; auchWolfgang Welsch, Auf dem Weg zu einer Kultur des Hörens? [1993], in: Reader NeuesFunkkolleg. Der Aufstand des Ohrs – Die neue Lust am Hören, Göttingen 2006,S. 29 – 46; zu Ihde auch Daniel Schmicking, Hören und Klang. Empirisch phänomeno-logische Untersuchungen, Freiburg 2003, bes. S. 57 – 67; vgl. jetzt auch Jean-Luc Nancy,Zum Gehör, Zürich 2010.

12 Vgl. als Auswahl an einschlägigen Sammelbänden und Literaturberichten nur MichaelBull u. Les Back (Hg.), The Auditory Culture Reader, Oxford 2003; Nora M. Alter u. LutzKoepenick (Hg.), Sound Matters. Essays on the Acoustics of Modern German Culture,

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Theoretiker Jim Drobnick legitimiert seinen Ruf nach einem sonic turn unteranderem durch die „emergence of a critical mass of sound-inflected theory andart“.13 Gilt dies auch für die Geschichtswissenschaft? Sind Historikerinnen undHistoriker gehalten, den nächsten turn zu vollziehen und sich vom Sehen aufsHören umzustellen? Die Diagnose einer amerikanischen Historikerin, dass„auditory history entered the discipline with a vengeance“14 mag – zumindestfür den deutschsprachigen Raum – weit übertrieben sein.15 In Bezug auf dieangloamerikanische Forschung sieht die Lage etwas besser aus, finden sichhier doch einige, durchaus disparate Studien und Ansätze aus dem Bereich derHör- und Klanggeschichte.16 Diese verbindet aber weder ein gemeinsamer

New York 2004; Veit Erlmann (Hg.), Hearing Cultures. Essays on Sound, Listening, andModernity, Oxford 2005; Harro Segeberg u. Frank Schätzlein (Hg.), Sound. ZurTechnologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien, Marburg 2005; Doris Koleschu. Sybille Krämer (Hg.), Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt 2006; DavidW. Samuels u. a., Soundscapes. Toward a Sounded Anthropology, in: Annual Review ofAnthropology 39. 2010, S. 329 – 345.

13 Drobnick, Listening Awry, S. 10.14 Sophia Rosenfeld, On Being Heard. A Case für Paying Attention to the Historical Ear, in:

American Historical Review 116. 2011, S. 316 – 334, hier S. 317.15 Vgl. jetzt aber Daniel Morat u. a. (Hg.), Politik und Kultur des Klangs im 20. Jahrhun-

dert, Zeithistorische Forschungen 8. 2011; Alexa Geisthövel, Auf der Tonspur. Musik alszeitgeschichtliche Quelle, in: Martin Baumeister u. a. (Hg.), Die Kunst der Geschichte.Historiographie, Ästhetik, Erzählung, Göttingen 2009, S. 157 – 168 sowie schon frühThomas Lindenberger, Vergangenes Hören und Sehen. Zeitgeschichte und ihreHerausforderung durch die audiovisuellen Medien, in: Zeithistorische Forschungen 1.2004, S. 72 – 85.

16 Vgl. v. a. Veit Erlmann, Reason and Resonance. A History of Modern Aurality, New York2010; Karin Bijsterveld, Mechanical Sound. Technology, Culture, and Public Problems ofNoise in the Twentieth Century, Cambridge, MA 2008; Ros Bandt u. a. (Hg.), HearingPlaces. Sound, Place, Time and Culture, Newcastle upon Tyne 2007; Richard CullenRath, How Early America Sounded, Ithaca, NY 2003; Jonathan Sterne, The Audible Past.Cultural Origins of Sound Reproduction, Durham, NC 2003; David Garrioch, Sounds ofthe City. The Soundscape of Early Modern European Towns, in: Urban History 30. 2003,S. 5 – 25; Emily Thompson, The Soundscape of Modernity. Architectural Acoustics andthe Culture of Listening in America, 1900 – 1933, Cambridge, MA 2002; Mark M. Smith,Listening to Nineteenth-Century America, Chapel Hill, NC 2001; Leigh Eric Schmidt,Hearing Things. Religion, Illusion and the American Enlightenment, Cambridge, MA2000; Jean-Pierre Gutton, Bruits et sons dans notre histoire, Paris 2000; Bruce R. Smith,The Acoustic World of Early Modern England. Attending to the O-Factor, Chicago 1999;vgl. auch die Literaturberichte von Daniel Morat, Sound Studies – Sound Histories. ZurFrage nach dem Klang in der Geschichtswissenschaft und der Geschichte in derKlangwissenschaft, in: kunsttexte.de/Auditive Perspektiven 4. 2010, http://edoc.hu-berlin.de/kunsttexte/2010 – 4/morat-daniel-3/PDF/morat.pdf sowie ders., Zur Ge-schichte des Hörens. Ein Forschungsbericht, in: Archiv für Sozialgeschichte 51. 2011,S. 695 – 716; Jürgen Müller, „The Sound of Silence“. Von der Unhörbarkeit der

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theoretischer Horizont noch eine wirkliche Debatte über ihre Gegenständeund Methoden – was ein bekanntes Problem relativ junger Forschungsfeldersein mag. In jedem Fall ist die Forschungssituation zugleich prekär undunübersichtlich. Während manche der bestehenden klanggeschichtlichenArbeiten eher impressionistisch sowie methodisch und theoretisch eherunterreflektiert daherkommen,17 finden sich gerade auf dem boomenden Feldder nicht (nur) historisch arbeitenden Sound Studies ebenso vielfältige wievage Theorieangebote, die einer Evaluation für den geschichtswissenschaft-lichen Zweck bedürfen.18

Im Folgenden soll skizziert werden, wie eine historische Wissenschaft desAkustischen aussehen könnte. Dabei wird die These vertreten, dass Klang-geschichte einen eigenständigen Beitrag zur Erkenntnis der allgemeinenGeschichte zu leisten vermag, der sich nicht in der Thematisierung einesbislang unterhistorisierten menschlichen Sinnes erschöpft. Um dies zuverdeutlichen, soll in einem ersten Schritt gezeigt werden, dass Klangge-schichte als spezifische Form von Sinnesgeschichte verstanden werden muss,welche der fundamentalen Konstitution aller historischen Wirklichkeit durchdas menschliche Sensorium Rechnung trägt. Das bedeutet, dass Klangge-schichte nur als Hörgeschichte sinnvoll konzeptionalisiert werden kann. Ausdieser Ausrichtung ergibt sich eine Reihe von methodischen Problemen, die ineinem zweiten Schritt diskutiert werden. Schließlich soll am Beispiel derakustischen Produktion sozialer und politischer Ordnungen vorgeführtwerden, welche neuartigen Erkenntnisse sich aus einer konsequent klangge-schichtlichen Perspektive auf klassische Felder der Geschichtsschreibungergeben.

Vergangenheit zur Geschichte des Hörens, in: HZ 292. 2011, S. 1 – 29; Rosenfeld, OnBeing Heard, S. 317 – 326; Michele Hilmes, Is There a Field Called Sound CultureStudies? And Does it Matter?, in: America Quarterly 57. 2005, S. 249 – 259 sowie MarkM. Smith (Hg.), Hearing History. A Reader, Athens, GA 2004.

17 Vgl. z. B. Sieglinde Geisel, Nur im Weltall ist es wirklich still. Vom Lärm und derSehnsucht nach Stille, Köln 2010; dagegen aber Smith, Listening to Nineteenth-CenturyAmerica, bes. S. 261 – 270 und Schmidt, Hearing Things, bes. S. 1 – 37.

18 Einen Überblick bietet Sabine Sanio, Aspekte einer Theorie der auditiven Kultur.Ästhetische Praxis zwischen Kunst und Wissenschaft, in: kunsttexte.de/AuditivePerspektiven 4. 2010, http://www.kunsttexte.de/index.php?id=711&idartikel=37461&ausgabe=37455&zu=907&L=0; vgl. auch Holger Schulze (Hg.), Sound Studies. Tradi-tionen, Methoden, Desiderate. Eine Einführung, Bielefeld 2008; Holger Schulze u.Christoph Wulf (Hg.), Klanganthropologie, Paragrana 16. 2007.

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I. Klio von Sinnen

Um die mögliche Reich- und Tragweite einer klangorientierten Geschichts-wissenschaft umreißen zu können, ist es hilfreich, noch einmal einen Blick aufStruktur und Selbstanspruch des vorgängigen iconic turn zu werfen. Beide,iconic und sonic turn, lassen sich nämlich als Varianten einer allgemeinenHinwendung zu den Sinnen als Grundierung kulturwissenschaftlicher Er-kenntnis verstehen. Dass dies nicht nur die Ebene des Gegenstands betrifft,sondern die epistemologische Struktur der Erkenntnis selbst, lässt sich bereitsam Beispiel des iconic turn aufzeigen. Mit diesem ist erheblich mehrverbunden als die verstärkte Berücksichtigung visuellen Materials in derhistorischen Quellenkunde. Als der amerikanische Literatur- und Bildtheo-retiker W. J. T. Mitchell 1992 den pictorial turn ausrief, reagierte er damit aufein Unbehagen am in den Kultur- und Geisteswissenschaften vorherrschendentextuellen Paradigma, installiert durch den vorherigen, den linguistic turn. Fürihn lag im pictorial turn die Chance einer „postlinguistic, postsemioticrediscovery of the picture as a complex interplay between visuality, apparatus,institutions, discourse, bodies, and figurality“.19 Mit dieser Perspektive stieß erauf weitreichende Zustimmung. Gängige Formeln von der Kultur als Text, vomendlosen Spiel der Zeichen oder von der Lesbarkeit der Welt erschienen immerweniger überzeugend. Es gebe, so zum Beispiel der Basler BildwissenschaftlerGottfried Boehm, jenseits der Sprache „gewaltige Räume von Sinn, ungeahnteRäume der Visualität, des Klanges [sic!], der Geste, der Mimik und derBewegung“,20 die sich nicht als Texte verstehen und analysieren ließen,sondern einer eigenen Logik gehorchten. Horst Bredekamp schließlich rief zur„methodischen Schärfung der bildlichen Analysemittel auf jedwedem Feld undin jeglichem Medium“21 auf und formulierte damit den Anspruch der neukonstituierten Bildwissenschaft auf den Status einer Leitwissenschaft weitüber die engere Disziplin der Kunstgeschichte hinaus. Die Rede von einer„ikonische[n] Episteme“,22 die aus der dem Text als Paradigma verpflichtetenHermeneutik herausführe und vielmehr einer „Logik des Zeigens“ folge, zeugtvon einer grundlegenden Verschiebung in der kulturwissenschaftlichenTheorietektonik. Worin genau die Folgen für jene Disziplinen bestehen, die

19 William J. T. Mitchell, The Pictorial Turn [1992], in: ders., Picture Theory. Essays onVerbal and Visual Representation, Chicago 1994, S. 11 – 34, hier S. 16.

20 Gottfried Boehm, Jenseits der Sprache. Anmerkungen zur Logik der Bilder, in: ChristaMaar u. Hubert Burda (Hg.), Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004,S. 29 – 43, hier S. 43.

21 Horst Bredekamp, Drehmomente. Merkmale und Ansprüche des iconic turn, in: ebd.,S. 15 – 26, hier S. 16.

22 Gottfried Boehm, Das Paradigma „Bild“. Die Tragweite der ikonischen Episteme, in:Hans Belting (Hg.), Bilderfragen. Die Bildwissenschaft im Aufbruch, München 2007,S. 77 – 82, hier S. 78 und öfter.

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sich nicht primär oder nicht ausschließlich der Analyse von Bildern widmen,bleibt dabei aber meist eher vage. Insbesondere in der Geschichtswissenschaftist alles andere als deutlich, wie ein Versuch „nicht nur […] Bilder zuverstehen, sondern die Welt durch Bilder zu verstehen“23 konkret aussehensoll.Jenseits der Frage der konkreten Umsetzung des Leitwissenschaftsanspruchsim iconic turn fällt aber vor allem auf, dass dieser eine klare Hierarchie in dasmenschliche Sensorium einführt. Die Betonung des Gesichtssinns gegenüberden anderen Sinnen für die Erkenntnis der Welt sei, so die Annahme des iconicturn, der spät- beziehungsweise postmodernen Situation einzig angemessen.24

In dem man den Blick auf Visualität richtet, reagiert man auf eine vielfachbeklagte „Bilderflut“ und versucht, diese „begrifflich zu dämmen“ und dieBildanalyse damit „in das Zentrum einer kritischen Philosophie der Gegen-wart“ zu rücken.25 Insbesondere im verstärkten Auftreten rein technischgenerierter Bilder in Kunst, Medien und Wissenschaften zeige sich die„Dämmerung einer alten Welt“26 der Korrespondenz zwischen Bild undRealem.27 Damit fielen klassische Fragen nach Abbildcharakter oder Reprä-sentation hinweg zugunsten einer reinen Präsenz des Visuellen, das seinerseitsRealitäten erst generiert. Die spezifische historische Situation der Gegenwart,so wird hier suggeriert, erzwinge geradezu die Privilegierung eines Sinnes alsein wissenschaftliches Paradigma. Vor diesem Hintergrund ist es nur ver-ständlich, wenn auch der acoustic turn nicht antritt, das Visuelle alsLeitkategorie der Kulturwissenschaften zu bestreiten oder gar zu beerben.Vielmehr nutzen seine Vertreter eingestandenermaßen den „Diskurseffekt derAufmerksamkeitserzeugung“,28 der im Slogan vom turn liegt, um das Augen-merk auf akustische Phänomene innerhalb der Kultur zu lenken, die einemallzu souveränen Blick auf das rein Visuelle zu entgehen drohten. Worum es

23 Bachmann-Medick, Cultural Turns, S. 349, Hervorhebung im Original.24 Vgl. zur spezifisch modernen Vorgeschichte dieser Hierarchisierung anregend David M.

Levin (Hg.), Modernity and the Hegemony of Vision, Berkeley, CA 1993.25 Bredekamp, Drehmomente, S. 20. Vgl. auch Mitchell, Pictorial Turn, S. 16: „Most

important, it is the realization that while the problem of pictorial representation hasalways been with us, it presses us inescapably now, and with unprecedented force, onevery level of culture, from the most refined philosophical speculations to the mostvulgar productions of mass media.“

26 Boehm, Paradigma „Bild“, S. 77.27 Vgl. hierzu auch Friedrich Kittler, Schrift und Zahl. Die Geschichte des errechneten

Bildes, in: Maar u. Burda, Iconic Turn, S. 186 – 203.28 Petra Maria Meyer, Vorwort, in: dies. (Hg.), Acoustic Turn, S. 13 – 31, hier S. 18. Meyer

behauptet etwas unklar, dass den anderen „proklamierten turns (vom ,linguistic turn‘über den ,semiotic turn‘, den ,iconic turn‘ und ,performative turn‘ zum ,medial turn‘)immer schon ein acoustic turn innewohnt“, S. 13. Es gehe daher darum, „diese zuergänzen und zu neuen Reflexionen heraus[zu]fordern“, S. 16.

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geht, ist also keine Umkehrung von Sinneshierarchien, sondern allenfalls dieErhöhung der Komplexität in einer auf vornehmlich einen Sinn ausgerichtetenWissenschaftskultur. Die Gegenwart bleibt dabei primär visuell strukturiert,ein acoustic turn ist zunächst nicht viel mehr als eine Pirouette innerhalb derikonischen Episteme moderner Kultur. Dieser Konstellation liegt, wiewohluneingestanden und implizit, eine eigene historische These zugrunde. DieMeistererzählung von der in der Moderne einsetzenden Dominanz desVisuellen als dem Medium der Vernunft und der Wahrheitsproduktion (HansBlumenberg),29 aber auch spezifisch moderner Überwachungstechnologien(Michel Foucault)30 bei gleichzeitiger Marginalisierung der anderen Sinneschreibt sich bis in die Gegenwart und in deren Epistemologie fort.31

Diese These lässt sich ihrerseits historisieren. Die Sinne und das Sinnierenüber die Sinne, das macht die turn-Diskussion deutlich, haben beide Anteil ander jeweiligen historischen Situation, in der sie stehen. Sie lassen sich nichtablösen von ihrer sozialen, kulturellen und politischen Umgebung, sondernbilden diese als je spezifische, historisch variable Konfiguration der Sinne ab.Es erscheint demnach als eine ureigene Aufgabe der Geschichtswissenschaft,den scheinbar natürlich gegebenen Sinnesapparat als soziales und kulturellesPhänomen zu historisieren.32 Ebenso wie jegliche Erfahrung nur eine sinnlichvermittelte ist, ist jegliche Geschichte demnach in gewisser Weise Sinnesge-schichte. Versteht man den iconic turn metonymisch als eine Wende vom(textuellen) Sinn zu den Sinnen in den Kulturwissenschaften, so ließe sichseiner Opposition gegen den linguistic turn eine Variante von dessen Credo

29 Vgl. Hans Blumberg, Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischenBegriffsbildung, in: ders., Ästhetische metaphorologische Schriften, Frankfurt 2001,S. 139 – 171.

30 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt1976; ders. , Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt1973.

31 Vgl. paradigmatisch Marshall McLuhan, Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buch-zeitalters, Düsseldorf 1968; ders. u. Edmund Carpenter, Acoustic Space, in: dies. (Hg.),Explorations in Communication, Boston 1960, S. 65 – 70; vgl. zu McLuhans Medien-theorie des Akustischen auch Nils Röller, Marshall McLuhan und Vil�m Flusser zurTragödie des Hörens, in: Hans-Peter Schwarz (Hg.), Aufträge. Zweites Zürcher Jahrbuchder Künste 2005, Zürich 2006; auch Walter J. Ong, Oralität und Literalität. DieTechnologisierung des Wortes, Opladen 1987; als Kritik an dieser „great divide theory“Mark M. Smith, Sensing the Past. Seeing, Hearing, Smelling, Tasting, and Touching inHistory, Berkeley, CA 2007, bes. S. 8 – 13.

32 Vgl. als knappe Einführung Wolfram Aichinger, Sinne und Sinneserfahrung in derGeschichte. Forschungsfragen und Forschungsansätze, in: ders. u. a. (Hg.), Sinne undErfahrung in der Geschichte, Innsbruck 2003, S. 9 – 28; Smith, Sensing the Past, sowiedie Beiträge in David Howes (Hg.), Empire of the Senses. The Sensual Culture Reader,Oxford 2005.

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abgewinnen: „Il n’y a pas d’hors sens.“ In dieser Perspektive ergibt dann auchder hypertrophe Umfassendheitsanspruch des iconic turn neuen, anderenSinn. Sinnesgeschichte erscheint so nicht als eine weitere „Bindestrich-Geschichte“ (Ute Daniel) neben Politik-, Sozial-, Geschlechter- oder Tierge-schichte, sondern als ein neuer „habit“ der Analyse jeglichen Gebietes derGeschichte in jeglichem Quellenmedium: „an embedded way of remainingvigilant about and sensitive to the full sensory texture of the past“.33

Sinnesgeschichte hat in diesem Sinne keinen prinzipiell abgegrenzten Gegen-stand, sondern stellt eine Art und Weise dar, das Ganze der Geschichte neu, vonder sinnlichen Konstituierung der Wirklichkeit her zu fassen. Ebensoentspricht einer Sinnesgeschichte als „habit“ keine privilegierte Quellengat-tung. Es gilt vielmehr, das gesamte Spektrum historischen Materials auf dieThematisierung von Sinnen und sinnlicher Wahrnehmung hin neu zu lesen.Hier sind ganz unterschiedliche Zugriffe denkbar. So schreibt Alain Corbin,der Hauptvertreter neuerer französischer Sinnesgeschichte in der Traditionder Annales, seine fulminante Wahrnehmungsgeschichte „ländlicher Gefühls-kultur“ am Beispiel französischer Glockenkonflikte des 19. Jahrhunderts aufder Basis normativer Quellen, Bürgereingaben und Verwaltungsakten.34 MarkM. Smiths Klanggeschichte des Amerikanischen Bürgerkriegs und seinerVorgeschichte stützt sich dagegen stark auf Selbstzeugnisse, Reiseberichte undPresseartikel.35 Beiden gemeinsam ist methodisch nur der neue Zugriff aufbekanntes Material. Die „masses dormantes“36 an sinnesgeschichtlichenQuellen stellen also kein unentdecktes historiographisches Neuland dar undführen auf kein gänzlich neues Feld der Geschichtswissenschaft. Vielmehrermöglicht der „habit“ der Sinnesgeschichte einen anderen Blick auf vertrau-tes Gelände und eröffnet gerade dadurch neue Fragestellungen.37

Die historiographischen Traditionen einer solchen Sinnesgeschichte sindehrwürdig, haben aber noch kaum eine eigentliche Forschungsrichtunginnerhalb des Faches begründen können. Neben obligaten Referenzen auf Karl

33 Smith, Sensing the Past, S. 5; vgl. auch ders., Producing Sense, Consuming Sense,Making Sense. Perils and Prospects for Sensory History, in: Journal of Social History 40.2007, S. 841 – 858; Daniel Morat, Sinne, in: Anne Kwaschik u. Mario Wimmer (Hg.), Vonder Arbeit des Historikers. Ein Wörterbuch zur Theorie und Praxis des Historikers,Bielefeld 2010, S. 183 – 186.

34 Vgl. Alain Corbin, Die Sprache der Glocken. Ländliche Gefühlskultur und symbolischeOrdnung im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Frankfurt 1994.

35 Vgl. Smith, Listening to Nineteenth-Century America.36 Alain Corbin, Historien du sensible. Entretiens avec Gilles Heur�, Paris 2000, S. 107.37 Vgl. auch Richard Cullen Raths Erfahrungen einer Relektüre bekannten Materials:

„When I started working with some of the primary sources Hall and Thomas used, Inoticed that where the two historians usually referred to beliefs about lightning, thesources spoke of thunder.“ Ders. , Hearing American History, in: Journal of AmericanHistory 95. 2008, S. 417 – 431, hier S. 417.

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Marx38 und Georg Simmel39 könnten vor allem prominente Vertreter derAnnales-Schule Inspiration liefern. Das Interesse an der kulturellen Formungder Sinne begleitet alle Generationen der Annales zumindest untergründig.Dabei variiert der Kontext ihrer Thematisierung ganz erheblich. So diagnos-tizierte Lucien Febvre eine seiner Ansicht nach „außerordentliche Empfäng-lichkeit [des vormodernen Menschen, J.-F.M.] für alle Außenreize“ zunächst ineinem Aufriss zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Psychologie,40

arbeitete diese These dann aber in seiner Studie über das „Problem desUnglaubens im 16. Jahrhundert“ zu einem zentralen Bestandteil seinerAnalyse des vormodernen „geistigen Rüstzeugs“ (outillage mental) aus.41

Febvre erkennt im 16. Jahrhundert eine fremde Sinnenwelt nicht nur hin-sichtlich der sinnlich wahrnehmbaren Umwelt, sondern konstatiert auch einenanderen Modus der Wahrnehmung. Für Febvre geht die verstärkte Reizbarkeitseiner Kronzeugen Rabelais und Ronsard einher mit einer Periode „besondersausgeprägter Affektivität“,42 beide fügen sich zu einer erhöhten „Spannung desLebens“ (Johan Huizinga),43 gegenüber der die anästhesierte Moderne schal,blechern und bleich daherkommt.44 Diesen romantisierend-kulturkritischenImpetus teilt Febvre auch mit Robert Mandrou, der eine Annales-Generationspäter für die Vormoderne immer noch eine „pr�dominance de l’affectif surl’intelligence“45 konstatiert. Febvre und Mandrou schreiben die Erzählung

38 Vgl. seine vielfach zitierte Bemerkung in den „Ökonomisch-philosophischen Manu-skripten“ von 1844: „Die Bildung der fünf Sinne ist eine Arbeit der ganzen bisherigenWeltgeschichte.“ Zitiert in Marx-Engels-Studienausgabe, hg. v. Iring Fetscher, Bd. 2:Politische Ökonomie, Frankfurt 1990, S. 38 – 128, hier S. 103.

39 Vgl. Georg Simmel, Exkurs über die Soziologie der Sinne, in: ders., Soziologie.Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, hg. v. Otthein Rammstedt(= Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 11), Frankfurt 1992, S. 722 – 742.

40 Lucien Febvre, Geschichte und Psychologie [1938], in: ders., Das Gewissen desHistorikers, Berlin 1988, S. 79 – 90, hier S. 86.

41 Vgl. Lucien Febvre, Das Problem des Unglaubens im 16. Jahrhundert. Die Religion desRabelais, Stuttgart 2002 [1942], S. 372 – 382, Zitat S. 313.

42 Lucien Febvre, Sensibilität und Geschichte [1941], in: ders. , Gewissen, S. 91 – 107, hierS. 98.

43 Vgl. Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters, Stuttgart 197511, S. 2.44 Eine solche Perspektive findet sich in Ansätzen auch noch (oder wieder?) in aktueller

sinnes- und klanggeschichtlicher Literatur. Vgl. z. B. David Wickberg, What is theHistory of Sensibilities? On Cultural Histories Old and New, in: American HistoricalReview 112. 2007, S. 661 – 684; Rath, How Early America Sounded, S. IX: „Sound wasmore important to early Americans than it is to you.“ S. 9: „These were worlds muchmore alive with sound than our own, worlds not yet disenchanted, worlds perhaps evenchanted into being.“ Vgl. als Hintergrund auch Wolfgang Welsch, Ästhetik undAnästhetik, in: ders., Ästhetisches Denken, Stuttgart 19985, S. 9 – 40.

45 Robert Mandrou, Introduction � la France moderne, 1500 – 1640. Essai de psychologiehistorique [1961], Paris 1998, S. 89.

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eines rationalen und daher visuell strukturierten gegenüber einem affektivenund daher auf Gehör und die Nahsinne ausgerichteten Zeitalter in einemdurchaus anregenden Kurzschluss von Sinnes- und Emotionsgeschichte fort.Die Vormoderne erscheint dabei als ein „temps qui pr�f�re �couter“,46 in deraber auch Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn eine viel vitalere Rolle spielenals in der tendenziell einsinnig visuellen Moderne. Geändert habe sich dies erstmit dem Siegeszug des Buchdrucks, der Informationsgewinnung und -über-mittlung durch individuelle und stille Lektüre. Restbestände dieser Meister-erzählung finden sich auch noch bei Alain Corbin. Seine Studien zurGeschichte des Geruchs im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert und zurakustischen Kommunikationskultur der Glocken im ländlichen Frankreichdes 19. Jahrhunderts skizzieren ebenfalls eine verlorene Welt synästhetischerKomplexität, gehen aber in methodischer wie materieller Hinsicht weit überdie Vorarbeiten Febvres und Mandrous hinaus.47 Hatten diese vor allemliterarische Quellen als Zeugnisse historischer Sinneszustände herangezogenund die damit verbundenen quellenkritischen Schieflagen kaum thematisiert,so taucht Corbin tief in die lokalen Archive hinab und zieht verstärktSelbstzeugnisse heran. Sinnesgeschichte besteht für Corbin gleichwohl wei-terhin in der Erforschung „unterschiedlicher Wahrnehmungs- und Affektsys-teme“ sowie des historischen Gebrauchs der Sinne, der aber weiterhin imRahmen einer „Sinneshierarchie“ geschieht.48 Sinnesgeschichte � la franÅaiselässt sich also charakterisieren als Thematisierung von historischen Verschie-bungen im System der Sinne, als Beschreibung wechselnder Hierarchien undder daraus resultierenden gesellschaftlichen Sensibilitäten. Spuren solcherVerschiebungen fanden Febvre und Mandrou noch in mehr oder wenigerexpliziten Thematisierungen des sensorischen Systems in Literatur undIdeengeschichte, während Corbin eine anthropologische Wende vollzieht unddas historische Material gegen den Strich auf eher implizite Strukturierungender Sinne hin liest. Gemeinsam ist allen aber eine historische Großthese,welche die Modernisierung als Ersetzung des Gehörs durch das Gesicht alsLeitsinn begreift und mit dem Siegeszug der Visualität eine tendenzielleVerarmung der anderen Sinne diagnostiziert.49 Der Betonung von wechseln-

46 Mandrou, Introduction � la France moderne, S. 76.47 Vgl. Alain Corbin, Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs [1982],

Berlin 1984; ders., Sprache der Glocken.48 Alain Corbin, Zur Geschichte und Anthropologie der Sinneswahrnehmung [1991], in:

Christoph Conrad u. Martina Kessel (Hg.), Kultur und Geschichte. Neue Einblicke ineine alte Beziehung, Stuttgart 1998, S. 121 – 140, hier S. 128 bzw. S. 132. Vgl. zu CorbinsMethode auch Sima Godfrey, Alain Corbin. Making Sense of French History, in: FrenchHistorical Studies 25. 2002, S. 381 – 398.

49 Vgl. aber zur Kritik an Corbin am Beispiel seiner These einer desodorierten ModerneAnnick Le Gu�rer, Le d�cin de l’olfactif, mythe ou r�alit�?, in: Anthropologie et Soci�t�s14. 1990, S. 25 – 44.

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den Sinneshierarchien entspricht dabei eine relativ breite ideengeschichtlicheStrömung innerhalb der Sinnesgeschichte, die sich vor allem der Reflexion aufdas System der Sinne, ihr Zusammenspiel und ihre Funktionen in Philosophie,Theologie, Musik und Medizin widmet.50

Die hier skizzierten großen Erzählungen entlang eines Sinneshierarchie-Paradigmas verschränken also zwei verschiedene Prozesse zu einer komplexensinnesgeschichtliche Modernisierungstheorie: die great divide51 zwischeneiner auditiven Vormoderne und der modernen Visualität und die Verarmungeines tendenziell synästhetischen Weltverhältnisses zur modernen Mono-Sinnlichkeit. So wünschenswert ein systemischer Ansatz bleibt, der nicht nureinen Sinn in den Blick nimmt, sondern seine historische Wandlung imVerhältnis zum gesamten Sensorium analysiert, so problematisch bleibt dochdie Verknüpfung der Historisierung von Hierarchien mit damit verbundenenModernisierungsvorstellungen. Das zeigt sich sogar noch bei Ansätzen, diesich explizit gegen die These der great divide wenden. So argumentiert zumBeispiel Mark M. Smith gegen die Logik eines Nullsummenspiels in derSinnesgeschichte, nach der die scheinbare Aufwertung eines Sinnes (meist desGesichtssinnes) notwendig mit der Verarmung eines anderen einhergehenmüsse. Statt dessen plädiert er für ein dynamisches Modell von „intersenso-riality“, um zu zeigen, dass „the other senses not only remained important[but] became critical to modernity“.52 Dabei bleibt er aber einem moderni-sierungstheoretischen Modell verpflichtet und kann nur immer wieder vonneuem zeigen, dass nicht nur Visualität, sondern auch Gehör, Geschmack,Geruch und Tastsinn ihren Ort in der Moderne finden.53 Das ist zunächst

50 Vgl. vor allem Robert Jütte, Geschichte der Sinne. Von der Antike bis zum Cyberspace,München 2000, der vor allem eine „Geschichte der sinnlichen Wertordnungengegenwärtiger und vergangener Kulturen sowie der sich verändernden Hierarchie derSinnesvorstellungen und der Sinnesgebräuche“ (S. 22) im Sinn hat. Vgl. weiter RichardNewhauser u. Corine Schleif (Hg.), The Senses in Medieval and Renaissance IntellectualHistory, The Senses and Society 5. 2010; Stephen G. Nichols u. a. (Hg.), Rethinking theMedieval Senses. Heritage, Fascinations, Frames, Baltimore 2008; Christopher M.Woolgar, The Senses in Late Medieval England, New Haven, CT 2006; Anthony Synnott,Puzzling over the Senses. From Plato to Marx, in: David Howes (Hg.), The Varieties ofSensory Experience, Toronto 1991, S. 61 – 76; zum Gehör v. a. Charles Burnett u. a. (Hg.),The Second Sense. Studies in Hearing and Musical Judgement from Antiquity to theSeventeenth Century, London 1991.

51 Smith, Sensing the Past, S. 8.52 Vgl. ebd., bes. S. 125 – 128, Zitat S. 128.53 Vgl. nur als Zusammenstellung: „[S]ound increasingly mediated and helped inform

ideas about class, identity, and nationalism, especially, in the nineteenth century.“, ebd.,S. 48; „Modernity was deeply indebted to smell and olfaction.“, ebd., S. 65; „The senseof taste, in fact, received something of a boost from modernity and continued to informsome of its fundamental categories, nationalism especially.“, ebd., S. 85; „[T]ouching

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einmal durchaus sehr verdienstvoll, erhöht es doch die Komplexität desgezeichneten Bildes enorm und verabschiedet die ganz und gar unhistorischeObsession, ganze Epochen auf sensorische Dominanzen und die damitverbundenen Grundannahmen über deren Charakter hin prüfen zu müssen.Um es noch einmal am gängigen Gegenüber von visueller Moderne und einerVormoderne, „qui pr�f�re �couter“, zu wiederholen: Klassische Attribute derModerne – Distanzierung, Rationalisierung, Säkularisierung, Objektivierung,etc. – werden dem Visuellen zugeschrieben, gegen welches das Auditive alsMedium der Nähe, der Wärme und des Heiligen profiliert wird.54 Explizitmodernekritische Theorieentwürfe von Heidegger über Horkheimer bisDerrida setzen daher auch vielfach mit einer Kritik der objektivierenden –im Sinne von verdinglichenden – Funktion des Blicks an.55 Die Identifikationvon Visualität mit Distanz und Zeitlichkeit sowie Auralität mit Präsenzsuggeriert dabei eine Ahistorizität von Klang und akustischer Wahrnehmung,die sich ihrer Historisierung immer schon zu entziehen scheinen. Es ist diese„audiovisual litany“,56 zu deren Überwindung eine Sinnesgeschichte (nichtnur) der Neuzeit einen systematischen Beitrag leisten kann. Der kanadischeMedienwissenschaftler Jonathan Sterne folgert aus seiner eigenen Polemikgegen die „audio-visuelle Litanei“ ähnlich wie Mark M. Smith, dass auch eineKlanggeschichte einen legitimen Ort in der Geschichte der Moderne bezie-hungsweise im Prozess der Modernisierung beanspruchen kann. Sein eigenerBeitrag, eine Studie zur Kulturgeschichte der Klangreproduktion im 19. und20. Jahrhundert, „explores the ways in which the history of sound contributesand develops from the ,maelstrom‘ of modern life“.57 Es folgen die klassischenCharakteristika der Moderne vom Kapitalismus über Bürokratisierung zurFortschrittsgläubigkeit. So legitim diese Geschichte auch ist und so viele neueund überraschende Einsichten sie auch birgt, so problematisch erscheint dochdie Idee des Beitrags („contribution“) zu einer eigentlich schon bekanntenGeschichte. So konzipiert, läuft Klanggeschichte Gefahr, durch die – manverzeihe das schiefe Bild – Brille des Klangs all das noch einmal zu bestätigen,was man ohnehin schon über die Moderne und ihr Anderes weiß. Zugleichverpasst sie die weiterführende Frage, ob gängige Periodisierungen, dietraditionell aus Politik-, Wirtschafts- oder Sozialgeschichte stammen, sinnes-geschichtlich überhaupt eine Bedeutung haben oder ob nicht mit gänzlichanderen Rhythmen, Phänomenen langer Dauer oder epistemischen Brüchen

was inextricable to the elaboration of a post-Renaissance and post-Enlightenmentworld.“, ebd., S. 99.

54 Vgl. exemplarisch und für viele Ong, Oralität, und (durchaus kritisch) Welsch, Kulturdes Hörens.

55 Vgl. Martin Jay, Downcast Eyes. The Denigration of Vision in Twentieth-Century FrenchThought, Berkeley, CA 1993.

56 Sterne, Audible Past, S. 14.57 Ebd., S. 9.

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zu rechnen ist.58 Es käme also auf den Versuch einer Klanggeschichte an, dienicht nur eine bis dato vernachlässigte Dimension menschlicher Erfahrunghistorisiert und der Geschichtswissenschaft zuallererst einmal erschließt,sondern entscheidend neue, nur über die Aufmerksamkeit auf Klängezugängliche Aspekte entdeckt. Andernfalls verbleibt sie im Stadium derhinzugefügten Komplementärgeschichte.59

II. Klang- und Hörkulturen

Das Grundproblem jeder nicht-komplementären Klanggeschichte vor demZeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit – aber letztlich auch danach –ist so trivial wie folgenreich: ihr Gegenstand ist verklungen. Im Unterschiedzur inzwischen fest etablierten Analyse visueller Kulturen sieht sich dieGeschichte des Klangs mit der nicht überwindbaren Schwierigkeit konfron-tiert, dass ihr Objekt vielfach nicht mehr in der zumindest physiologischanalogen Form gegeben ist. Bilder sind vielfach überliefert, Klänge in der Regelnicht. Visuelle Medien in Form etwa von Kunstwerken oder Architektur bietensich oftmals dem Blick des Historikers oder der Historikerin selbst dar undgewinnen ihre Qualität als „Zeugen ihrer Zeit“ (Bernd Roeck) gerade durch dieDifferenz zum Blick vergangener Betrachter. Das konstitutiv Ephemere desKlangs, seine existenzielle Zeitgebundenheit verhindert zunächst diese sichgleichsam von selbst einstellende Historisierungsaufgabe. Die Überlieferungvon Klängen als akustischen Ereignissen schaltet daher immer eine medialeZwischenebene ein: Notenschrift, Klangobjekte als Überreste vergangenermaterieller Kultur sowie vor allem Versprachlichungen von Hörerfahrungenaller Art. Das betrifft auch, wenngleich in unterschiedlicher Weise, Formentechnischer Klangaufzeichnung. Walzen, Tonbänder, Schallplatten oder mp3-Dateien suggerieren zwar den Realitätseffekt einer naturgetreuen Wiedergabedes Verklungenen, sind aber prinzipiell nicht weniger medial form(at)iert alsandere Medien der akustischen Inskription.60 Daraus folgt zum einen, dassjede Geschichte des Klangs immer auch Mediengeschichte seiner Speicherungsein muss. Dabei besteht zunächst einmal kein qualitativer Unterschied darin,ob diese Speicherung als Verschriftlichung von akustischen Wahrnehmungenvorliegt oder als Einschreibung in technische Medien. Mediengeschichtegerade auch des Akustischen erschöpft sich damit nicht in der Nacherzählungtechnischer Innovationen, sondern lässt sich als Kulturgeschichte komplexerEinschreibungsprozesse in unterschiedliche Medien, von Sprache über Schrift

58 Vgl. in diesem Sinne auch die Bemerkungen bei Martin Jay, In the Realm of the Senses.An Introduction, in: American Historical Review 116. 2011, S. 307 – 315, bes. S. 311 f.

59 Ähnlich auch Geisthövel, Tonspur, S. 166 f.60 Vgl. zu diesem Zusammenhang instruktiv Lisa Gitelman, Scripts, Grooves, and Writing

Machines. Representing Technology in the Edison Era, Stanford, CA 1999.

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bis zu digitalen Speichern beschreiben. Jonathan Sterne hat gerade fürtechnische Medien der Klangaufzeichnung gezeigt, dass ihre Erfindung undEntwicklung auf außertechnischen, kulturellen Voraussetzungen beruht.61 Erwendet sich damit gegen eine starke Strömung insbesondere in der deutschenMedientheorie und -geschichtsschreibung, die die Geschichte einem tech-nisch-medialen Apriori unterwirft und damit auch einen qualitativen Bruch inder Entwicklung technischer Medien annimmt.62

Zum anderen wird durch die Einsicht in die mediale Verfasstheit allesVerklungenen deutlich, dass dieses nur im Kontext einer kulturellen Einord-nung und Deutung greifbar ist, was wiederum nur möglich ist durch denRekurs auf nichtklangliches Quellenmaterial, das über die Sinnhorizonte undZuschreibungsformen akustischer Wahrnehmung informiert.63

Aus diesen Überlegungen lassen sich zwei methodische Prämissen ableiten.Erstens: Klanggeschichte konstituiert ihren Gegenstand über Umwege, überQuellen also, die nicht den Klang selbst überliefern, sondern allenfallsAufschluss über seine spezifische historische Wahrnehmung bieten. Klang-geschichte ist daher immer auch Mediengeschichte seiner Repräsentationen.Zweitens: Geht man von der fundamentalen Historizität akustischer Wahr-nehmungsformen aus, die sich über wandelbare Deutungen von Klängenäußert, dann treten vor allem die kulturellen, sozialen und politischenKontexte der Klangproduktion wie -rezeption in den Mittelpunkt desInteresses. Aus der Tatsache, dass Klanggeschichte also überhaupt nur alsGeschichte der Klangwahrnehmung, -verarbeitung und -speicherung, letztlichalso als Hörgeschichte geschrieben werden kann, resultiert methodisch daherfast notwendig ein gemäßigter (oder radikaler) Konstruktivismus als analy-tische Grundhaltung: Klänge sind eben erst durch die sich historischwandelnden Wahrnehmungs- und Deutungsmuster sowie ihre medialenRepräsentationsformen als historische Phänomene und Gegenstände histori-scher Forschung konstituierbar.Es wäre daher schon aus quellenkritischen Überlegungen heraus irreführend,eine reine Rekonstruktion einer verklungenen Klangumwelt (soundscape) zuversuchen. Absicht und Ziel von Klanggeschichte kann also keineswegs eine

61 Vgl. Sterne, Audible Past.62 Vgl. zum technisch-medialen Apriori zusammenfassend Knut Ebeling, Das technische

Apriori, in: Archiv für Mediengeschichte 6. 2006, S. 11 – 22; auch Jan-FriedrichMissfelder, Endlich Klartext. Medientheorie und Geschichte, in: Jens Hacke u. MatthiasPohlig (Hg.), Theorie in der Geschichtswissenschaft. Einblicke in die Praxis deshistorischen Forschens, Frankfurt 2008, S. 181 – 198.

63 Vgl. in diesem Sinne auch Bruce R. Smith, Listening to the Wild Blue Yonder. TheChallenges of Acoustic Ecology, in: Bandt, Hearing Places, S. 249 – 270.

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Inventarisierung des Verklungenen sein,64 sondern vielmehr die Erforschungder Bedeutungshorizonte, welche vergangene Gesellschaften und historischeAkteure der akustischen Dimension ihrer Erfahrung zuschrieben. Man wirdnie wissen, wie es eigentlich geklungen, sondern nur, wie Menschen ihreKlangumwelt wahrnahmen und in ihr handelten. Diese Wahrnehmungen undHandlungen sind demnach als soziale Praktiken und politische Strategieninnerhalb einer Gesellschaft zu verstehen. Man hat es also mit „Dramatisie-rungen“ akustischer Wahrnehmungen als „conventions of persuasive spea-king about sound“ zu tun,65 durch die historische Akteure politische undgesellschaftliche Ziele verfolgen können, ihre soziale Position markieren, ihreSensibilität ausstellen oder Lärmbelästigung einklagen. Hier lassen sichakustische Sagbarkeitsregime identifizieren, die den Rahmen historischgegebener Dramatisierungen abstecken und damit eine spezifische Klang-und Hörkultur bestimmen.Zur Beschreibung einer solchen Klang- und Hörkultur empfiehlt es sich für dieGeschichtswissenschaft, auch in diesem Fall auf die Signale zu hören, die einetheoretisch ausgeformte Sinnesanthropologie schon seit einiger Zeit aus-sendet,66 um so dem seit bald 25 Jahren antrainierten ethnographischen Blickauch ein ethnographisches Ohr oder besser : einen ethnographischen Sinnes-apparat hinzufügen zu können.67 Besonders hilfreich für den Ansatz der hierskizzierten Klanggeschichte erscheint Steven Felds Begriff der „acoustemo-logy“. Indem er Akustik und Epistemologie verschaltet, bezeichnet FeldsTerminus das „potential of acoustic knowing, of sonic presence and awarenessof sounding as potent shaping forces in how people make sense of experien-ces“.68 Akustemologie zielt demnach auf die spezifisch akustische Art der

64 Vgl. dazu schon die Polemik gegen einen solchen klanggeschichtlichen Positivismus,wie ihn z. B. Guy Thuiller vertritt (vgl. ders. , Pour une histoire du quotidien au XIXesi�cle, Paris 1977), bei Corbin, Geschichte und Anthropologie, S. 123 f.

65 Vgl. zu Begriff und Konzept Bijsterveld, Mechanical Sound, hier S. 30.66 Vgl. nur David Howes, Sensual Relations. Engaging the Senses in Culture and Social

Theory, Ann Arbor, MI 2003; ders. , Can these dry Bones Live? An AnthropologicalApproach to the History of the Senses, in: Journal of American History 95. 2008,S. 442 – 451; David Le Breton, Le saveur du monde. Une anthropologie des sens, Paris2006; Constance Classen, Worlds of Sense. Exploring the Senses in History and acrossCultures, London 1993.

67 Begriff nach James Clifford, Introduction. Partial Truths, in: ders. u. George E. Marcus(Hg.), Writing Cultures. The Poetics and Politics of Ethnography, Berkeley, CA 1986,S. 1 – 26, hier S. 12; vgl. auch Veit Erlmann, But What of the Ethnographic Ear?, in: ders. ,Hearing Cultures, S. 1 – 20 und Regina Bendix, The Pleasures of the Ear. Toward anEthnography of Listening, in: Cultural Analysis 1. 2000, S. 33 – 50.

68 Steven Feld, Waterfalls of Song. An Acoustemology of Place Resounding in Bosavi,Papua New Guinea, in: ders. u. Keith H. Basso (Hg.), Senses of Place, Santa Fe, NM 1996,S. 91 – 135, hier S. 97; auch ders., A Rainforest Acoustemology, in: Bull, Auditory

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Welterfahrung und Weltdeutung einer Gesellschaft. Klangphänomene, soFelds Hypothese, spielen eine entscheidende Rolle bei der Ausgestaltungsozialer Ordnung, der Organisation von Wissen und gesellschaftlicher Kom-munikation sowie – für Anthropologen zentral – der Kosmologie. Klang istdaher in der Perspektive der Akustemologie stets mit Bedeutung versehen undwird zu einem sozialen Phänomen durch seine Wahrnehmung und Einord-nung in ein deutendes System. Schließlich bietet das Konzept der Akustemo-logie auch die Möglichkeit der reflexiven Wendung. Es geht dann nicht nur umdie Bedeutung von Klängen für die Etablierung sozialer und kulturellerOrdnungen, sondern auch um die „soundways“ historischer Akteure, also „thepaths, trajectories, transformations, mediations, practices and techniques – inshort, the ways – that people employed to interpret and express their attitudesand beliefs about sound“.69

Anthropologen wie Steven Feld oder David Howes zeigen in ihren Arbeiten,dass Ethnien wie die Kaluli oder Massim in Papua-Neuguinea umfassendeParameter der Weltorientierung nach vornehmlich akustischen Kriterienentwickeln.70 Sie beschreiben differenzierte Klang- und Hörkulturen, die imZentrum der jeweiligen Weltdeutungssysteme stehen. Auf diese Weise könnensie starke Argumente gegen eine allgemeine Fixierung auf Visualität ins Feldführen, laufen aber zugleich Gefahr, ex negativo wiederum in die audiovisuelleLitanei einzustimmen und statt rein visueller nun rein auditive Kulturen zupostulieren.71 Ihr Forschungsobjekt wird auf diese Weise akustemologischhomogenisiert und verliert an Vielschichtigkeit und historischer Dynamik.Dabei verfügt das Konzept der Akustemologie durchaus über das Potential, umdamit gerade den Wandel historischer Klang- und Hörkulturen zu beschrei-ben. So stellt Mark M. Smith’s Arbeit ein exzellentes Beispiel dafür dar, dasssich politische und kulturelle Konflikte auch und vielleicht entscheidend ausdifferierenden Klangwahrnehmung des Eigenen und des Anderen, ausgegensätzlichen acoustemes also, erklären lassen.72

In manchem schließt die Idee der Akustemologie an Modelle der interpretie-renden Kulturanthropologie zum Beispiel Clifford Geertz’ an, die für dieGeschichtswissenschaft schon seit langer Zeit fruchtbar gemacht werden.73

Neu und innovativ ist aber die Aufmerksamkeit auf akustische Phänomene

Culture Reader, S. 223 – 239 sowie das instruktive Interview: ders. u. Donald Brenneis,Doing Anthropology in Sound, in: American Ethnologist 31. 2004, S. 461 – 474.

69 Rath, How Early America Sounded, S. 2.70 Vgl. Feld, Waterfall of Sound; Howes, Sensual Relations, S. 61 – 94.71 Ganz ähnlich, allerdings mit Blick auf taktile und olfaktorische Weltorientierung

verfährt auch Constance Classen, McLuhan in the Rainforest. The Sensory Worlds ofOral Cultures, in: Howes, Empire of the Senses, S. 147 – 163.

72 Vgl. Smith, Listening to Nineteenth-Century America.73 Vgl. Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme,

Frankfurt 19954.

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und deren Integration in eine historische Sinnesanthropologie. Steven Feldund anthropologisch arbeitende Klanghistorikerinnen und -historiker knüp-fen in dieser Hinsicht an Überlegungen des Komponisten und Pioniers derKlangökologie R. Murray Schafer an. Dieser versucht, Klänge als systemischesNetz aus „vernommenen Geschehnissen“ natürlicher, menschlicher undtechnischer Provenienz zu fassen, die historisch wandelbar sind, vor allemaber bewusst gestaltet werden können: „die Welt als eine makrokosmischemusikalische Komposition“.74 Ein solcher soundscape setzt sich nach Schaferaus dem Zusammenwirken von Grundlauten („keynote sounds“), Signalen(„signals“) und Lautmarken („sound marks“) zusammen, welche die akus-tische Gestalt einer gegebenen historischen oder auch geographischenSituation bestimmen.75 Grundlaute werden von Schafer als vorbewusste, inder Regel durch die natürlichen Bedingungen eines soundscape bestimmte„Tonarten“ definiert, die überhaupt nur ohrenfällig werden, wenn sie sichmassiv verändern oder gar wegfallen. Signale sind dagegen „Vordergrundge-räusche“, die zu „ausgeklügelte[n] Codes organisiert“76 und können somit einekommunikative Funktion innerhalb eines soundscape erfüllen. Lautmarkenschließlich wirken vergesellschaftend, indem sie Gruppen, Gemeinschaftenoder Gesellschaften akustische Identitäten verleihen und dadurch „akustischeGemeinschaften“ konstituieren.77

Man muss Schafers Analyseraster nicht tel quel auf alle historischen Situa-tionen übertragen. Ebensowenig muss man die massiven zivilisationskriti-schen Untertöne seines auf diesem Modell basierenden klangökologischenImpetus teilen, um die Leistungen des soundscape-Begriffs anzuerkennen undihn für eine anthropologisch informierte Klanggeschichte zu operationalisie-ren.78 Zwei Punkte sind in dieser Hinsicht besonders hervorzuheben. Zunächstbietet Schafer überhaupt einen Systematisierungsansatz von Klängen, der sichnicht primär an deren phänomenologischer Gestalt, sondern an ihrer sozialenFunktion orientiert. Dies ermöglicht die Historisierung von Klangzuschrei-bungen und Klangfunktionalisierungen in vergangenen Gesellschaften als

74 R. Murray Schafer, Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens [1977],hg. v. Sabine Breitsameter, Mainz 2010, S. 42 u. S. 38.

75 Vgl. ebd., S. 45 f.76 Ebd., S. 46.77 Vgl. ebd., S. 350 f.; auch Barry Truax, Acoustic Communication, Westport, CT 20012,

S. 66.78 Vgl. zur Kritik an Schafer nur Ari Y. Kelman, Rethinking the Soundscape. A Critical

Genealogy of a Key Term in Sound Studies, in: The Senses & Society 5. 2010, S. 212 – 234;Sophie Arkette, Sounds like City, in: Theory, Culture and Society 21. 2004, S. 159 – 168;dagegen die sympathetische Lesart bei Sabine Breitsameter, Hörgestalt und Denkfigur.Zur Geschichte und Perspektive von R. Murray Schafers Die Ordnung der Klänge. Eineinführender Essay, in: Schafer, Ordnung der Klänge, S. 7 – 28.

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spezifischen Ordnungen von Klängen.79 Mithin lassen sich historische Akus-temologien über das je spezifische Zusammenklingen von keynote sounds,signals und soundmarks beschreiben. Schafer selbst bietet eine historischeGroßthese zu diesem Zusammenhang, die eine vormoderne Hi-Fi-soundscapevon einer modernen Lo-Fi-soundscape abgrenzt. Während Hi-Fi-Umgebungenwie die vorindustrielle Natur für Schafer „ein günstiges Verhältnis von Signalund Rauschen“ auszeichnet und „einzelne Laute deutlich [werden], weil derPegel der Umweltgeräusche niedrig ist“, werden in einer Lo-Fi-Situation wieder modernen Stadt „die einzelnen akustischen Signale überdeckt von einerübermäßig verdichteten Anhäufung von Lauten.“80 Für Schafer stellt der Wegvon Hi-Fi zu Lo-Fi eine akustische Verlustgeschichte dar, in welcher derReichtum und die Differenzierungskraft des vormodernen Hörens im Gebrausder industriellen, urbanisierten und medialisierten Moderne verloren gegan-gen ist. Auch diese Zivilisationskritik ist nicht zwingend, unterschätzt sie dochdie Komplexität moderner urbaner soundscapes, die nicht als Degenerations-phänomen, sondern eher als akustisches Kommunikationssystem eigenenRechts analysiert werden sollten.81 Dennoch bietet Schafers Unterscheidungeine Handhabe, historische Klänge als dynamische Systeme und sozialeAneignungen zu thematisieren.Daneben ermöglicht der Terminus einen synthetischen Zugriff auf dasgesamte Spektrum akustischer Phänomene und ihre Situierung im sozialenRaum. Er vermeidet die künstliche Aufspaltung des Akustischen in Geräusch,Sprache und Musik und begreift alle in je eigener Weise als sozial eingebun-dene Klänge. Er lenkt dadurch die Aufmerksamkeit auf die Historizität dieserUnterscheidung selbst. Darauf wird unten noch einmal zurückzukommensein. Soundscape wird von Schafer explizit in Analogie zu landscape verstan-den, einem Konzept also, das die fließende Grenze von Natur und Kulturproblematisiert und historisiert.82 Klanggeschichtlich gewendet bedeutet dies,dass Naturklänge und menschengemachte sounds nur als wechselseitig

79 Sabine Breitsameter weist auf die Doppeldeutigkeit des Titels „Die Ordnung der Klänge“hin, der nicht nur eine deskriptive, historische Dimension enthält, sondern eben aucheine präskriptive, klangökologische. Dem entspricht die Mehrdeutigkeit im Originaltitel„The Tuning of the World“ als „Stimmen eines Instruments, […] Einstellen einesRadiosenders und […] Manipulieren (das ,Frisieren‘) eines Autos, dessen so erhöhteLeistung sich lautstark darbietet“, S. 9.

80 Schafer, Ordnung der Klänge, S. 91.81 Vgl. v. a. Arkette, Sounds like City.82 Vgl. Thompson, Soundscape of Modernity, S. 1: „Like a landscape, a soundscape is

simultaneously a physical environment and a way of perceiving that environment; it isboth a world and a culture constructed to make sense of that world.“ Vgl. dazu auchklassisch Joachim Ritter, Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernenGesellschaft, in: ders. , Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt 1974, S. 141 – 163 u.S. 172 – 190.

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aufeinander bezogen analysiert werden können.83 „Natur“ ist auch in klang-licher Hinsicht eine kulturelle Konstruktion. Henry David Thoreau hatte zumBeispiel keine Bedenken, Kirchenglocken in seine Wahrnehmung einerakustisch unberührten Natur seines Refugiums Walden zu integrieren,schreckte aber vor dem Pfeifen der Dampflokomotive kulturkritisch zurück.Was hier als Kultur- oder Naturklang gilt, steht also keineswegs von vornhereinfest, sondern ist als Bestandteil der spezifischen Klang- und Hörkultur, derThoreau angehört, neu zu eruieren.84 Die Analyse einer historischen Akuste-mologie zielt demnach in letzter Konsequenz auf die Rekonstruktion einesPeriod Ear, also auf die spezifischen „Hörbarkeitsregime“, welche die akus-tische Wahrnehmung einer Gesellschaft strukturieren.85

III. Klanggeschichte als politische Geschichte

Klanggeschichte, wie sie hier verstanden werden soll, beschäftigt sich nicht mitKlängen als rein akustischem Material, sondern als kulturellen und gesell-schaftlichen Phänomenen. Klingende Räume sind immer auch soziale Räume.Diese wiederum klingen nicht einfach so, sondern können akustisch besetzt,bestritten und umkämpft und dadurch zuallererst als politische Räumekonstituiert werden.86 Es gilt daher, die soziale und politische Wirkungsmachtvon Klängen herauszuarbeiten, um so Politiken des Akustischen analysieren

83 Vgl. exemplarisch Jan-Friedrich Missfelder, Donner und Donnerwort. Zur akustischenWahrnehmung der Natur im 18. Jahrhundert, in: Sophie Ruppel u. Aline Steinbrecher(Hg.), „Die Natur ist überall bey uns…“. Mensch und Natur in der Frühen Neuzeit,Zürich 2009, S. 81 – 94.

84 Vgl. zu diesem Zusammenhang instruktiv Peter Coates, The Strange Stillness of the Past.Toward an Environmental History of Sound and Noise, in: Environmental History 10.2005, S. 636 – 665, bes. S. 643 f.; auch Diane Collins, Acoustic Journeys. Explorations andthe Search for an Aural History of Australia, in: Australian Historical Studies 37. 2006,S. 1 – 17 sowie David Matless, Sonic Geography in a Nature Region, in: Social & CulturalGeography 6. 2005, S. 745 – 766.

85 Vgl. zum Begriff des Period Ear in ähnlichem wie dem hier gemeinten Sinne, aber ausmusikwissenschaftlicher Perspektive Shai Burstyn, In Quest of the Period Ear, in: EarlyMusic 25. 1997, S. 693 – 701; auch Michael Toyka-Seid, Von der „Lärmpest“ zur„akustischen Umweltverschmutzung“. Lärm und Lärmwahrnehmung als Themen einermodernen Umweltgeschichte, in: Bernd Hermann (Hg.), Beiträge zum Göttingerumwelthistorischen Kolloquium 2008/2009, Göttingen 2009, S. 253 – 276, bes. S. 265;Veit Erlmanns Polemik gegen diesen Begriff (Reason and Resonance, S. 23) zielt eher aufdiesen musikalischen Kontext einer vornehmlich authentischen historischen Auffüh-rungspraxis und geht daher an dem hier gemeinten Zusammenhang vorbei.

86 Vgl. dazu systematisch aus der Perspektive der sound studies Brandon LaBelle, AcousticTerritories. Sound Culture and Everyday Life, New York 2010 sowie die Beiträge inBandt, Hearing Places.

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zu können. Als ein besonders geeignetes Analysekriterium zur Untersuchunghistorischer Klangkulturen erscheint dabei die Kategorie der Legitimität.Das breite Klangspektrum vergangener Gesellschaften war alles andere alssozial homogen. Deutungen und Sinnzuschreibungen des soundscapes durchhistorische Akteure etablierten eine eigene Hierarchie von legitimen undillegitimen Klängen. Ein illegitimer Klang kann als „Lärm“ rubriziert werden.Eine politische Geschichte des Klangs, welche mit der Kategorie der Legiti-mität arbeitet, ist also strukturell Lärmgeschichte. Dabei gilt: Was zu einemgegebenen historischen Zeitpunkt als legitim oder illegitim, als Lärm also,gehört wurde, war Gegenstand gesellschaftlicher Konflikte und Aushand-lungsprozesse zwischen konkurrierenden Klang- und Hörkulturen. Histori-sche Akusteme stellten also keine stabilen und homogenen Strukturen dar,sondern waren durchzogen von vielfältigen Machtbeziehungen. So ergebensich Fragen, die Klanggeschichte als politische Geschichte denkbar werdenlassen: Welche Klänge wurden wann in welchem Kontext als Lärm begriffen,stigmatisiert, bekämpft oder zum Schweigen gebracht? Mögliche Antwortenauf diese Fragen lassen sich über einen der angesprochenen Quellenumwegezum Hören skizzieren: über ein Bild.Auf William Hogarths Holzschnitt „The Enraged Musician“ (Abbildung 1) von1741 ist ein wahres akustisches Pandämonium zu sehen (nicht zu hören).Hogarths Bild soll hier als Quelle für eine politische Geschichte des Klanges –und des Hörens – im urbanen Raum dienen, das die akustische Ordnunglegitimer und illegitimer Klänge in einem spezifischen historischen Kontextvor Augen führt. Gezeigt wird eine Straßenszene in London, angefüllt mitMenschen unterschiedlichster Professionen und Beschäftigungen. Aus einemsich zur Strasse hin öffnenden Fenster lehnt sich ein höfisch gekleideter Geiger,der sich – den Bogen noch in der einen Hand – mit beiden Händen die Ohrenzuhält und offensichtlich gegen den von außen in den musikalisiertenInnenraum seines Hauses dringenden Lärm protestiert. Dieser Lärm istaußerordentlich vielgestaltig. Im rechten Bildvordergrund geht ein Scheren-schleifer seinem kreischenden Handwerk nach, ein kleinwüchsiger Trommlersteht daneben. Im Hintergrund läutet ein „dustman“ seine Glocke, währendder ankommende Postreiter in sein Horn stößt. Dem Geiger direkt gegen-übergestellt ist ein Straßenmusiker mit Oboe, eine Mutter versucht unterseinem Fenster, ein herzzerreißend brüllendes Baby vergeblich durch Gesangzu beruhigen. Ein weiteres Kleinkind schwingt eine Rassel, während es einemetwa Gleichaltrigen beim Urinieren gegen des Musikers Hauswand zusieht.Inmitten dieses akustischen Chaos steht, herausgehoben durch eine leichtübernatürliche Größe und seinen weißen Rock, ein Milchmädchen, das denBetrachter mit leicht geöffnetem Mund anblickt.Dieses Bild ist eine der meistzitierten Bildquellen in der klanggeschichtlichenLiteratur, wird aber oftmals rein illustrativ herangezogen. Seine Interpretationfällt auch nicht gerade leicht, transportiert es doch kaum eine eindeutigeBotschaft. R. Murray Schafer sieht in Hogarths Stich den „Konflikt zwischen

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Musik im Innenraum und Musik im Freien“.87 Die englische HistorikerinEmily Cockayne erkennt darin ganz allgemein eine Repräsentation von „urbandisorder and disharmony“.88 Für den österreichischen Stadthistoriker PeterPayer thematisiert es dagegen „Lärm als Form des Protests“.89 Wer allerdingsSubjekt und Objekt sowohl des Lärms als auch des Protests sind und wogegensich dieser im Einzelnen richtet, bleibt unklar. Auffällig an Hogarths Bild istzunächst nur eines: Der Künstler bietet eine extrem verdichtete Vision desLondoner soundscape um die Mitte des 18. Jahrhunderts, welches auch in

Abb. 1: William Hogarth, The Enraged Musician, 1741, Radierung, Tate Gallery London.

87 Schafer, Ordnung der Klänge, S. 126.88 Emily Cockayne, Hubbub. Filth, Noise and Stench in England, 1600 – 1770, New Haven,

CT 2007, S. 129.89 Peter Payer, Vom Geräusch zum Lärm. Zur Geschichte des Hörens im 19. und frühen

20. Jahrhundert, in: Aichinger, Sinne und Erfahrung, S. 173 – 191, hier S. 185.

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schriftlichen Quellen als außerordentlich laut und lärmig beschrieben wird.90

Wichtiger für die politische Perspektive ist aber, dass er damit eine in diesemKontext gültige Hierarchie der Klänge aufzeigt. Der etablierte Kontrast vonklanglich stark reguliertem Innenraum und der außer Kontrolle geratenenKlanglandschaft der Straße wird durch das friedlich und ein wenig unbeteiligtdastehende Milchmädchen, das den Ruhepol zwischen beiden Szenen verkör-pert, kontrapunktiert. Es hält zu beiden Extremen, der sich selbst als einziglegitim begreifenden Kunstmusik ebenso wie zum für illegitim erklärtenSound der Straße gleichermaßen Distanz. Lärm wird in Hogarths Bild also zueiner relativen Größe, der seine Qualität als Lärm einzig durch die Beziehun-gen zwischen den akustischen Akteuren gewinnt. Diese sozialen Beziehungensind überdies sowohl hierarchisch strukturiert als auch moralisch aufgeladen.Das distanzierte Milchmädchen erhebt sich graziös über den sie umgebendenLärm, sein Mund ist leicht geöffnet, es scheint etwas zu sagen (oder zusingen?), das sich qualitativ vollkommen vom es umgebenden soundscapeabhebt. Zugleich weist das Bild aber auch auf die arrogante Haltung desprofessionellen Musikers hin, welcher keinen Klang als den von ihm produ-zierten als legitim gelten lassen kann.91 Es ist eben der Musiker durch denurbanen Klang enraged, nicht das Milchmädchen. Hogarths Stich zeigt, dassKlang nicht nur ein akustisches Ereignis ist, sondern auch und vor allem einMedium sozialer Konstellationen. Diese Konstellationen als politisch-gesell-schaftliche Ordnung bilden den Kontext für die historisch variable Legitimi-tätszuweisung, die Lärm erst zum Lärm macht. Lärm ist also nicht gleich Lärm,sondern wird erst durch seine Kontextualisierung und seinen spezifischen Ortzu einem solchen: „Le bruit n’existe donc pas en lui-mÞme, mais par rapportau syst�me dans lequel il s’inscrit : �metteur, transmetteur, r�cepteur.“92 Derkanadische Kulturhistoriker Peter Bailey bestimmt Lärm in Anlehnung anMary Douglas’ berühmte Definition von Schmutz in „Reinheit und Gefähr-dung“ als „sound out of place“.93 Hierbei ist „place“ eben nicht nur reinräumlich zu verstehen, sondern bezieht sich vor allem auf einen Ort in derlegitimen sozialen und symbolischen Ordnung einer Gesellschaft. R. MurraySchafers Schüler und Kollege Barry Truax macht diesen Zusammenhang noch

90 Vgl. Smith, Acoustic World of Early Modern England, S. 52 – 71; Cockayne, Hubbub,S. 106 – 130.

91 Vgl. zu Beschreibung und Deutung des Bildes Jeremy Barlow, The Enraged Musician.Hogarth’s Musical Imaginary, Aldershot 2005; vgl. auch in diesem Sinne Cockayne,Hubbub, S. 129.

92 Jacques Attali, Bruits. Essai sur l’�conomie politique de la musique [1977], Paris 2001,S. 49.

93 Peter Bailey, Breaking the Sound Barrier. A Historian Listens to Noise, in: Body &Society 2. 1996, S. 49 – 66, hier S. 50, leicht gekürzt auch in Smith, Hearing History,S. 23 – 35; vgl. Mary Douglas, Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungenvon Verunreinigung und Tabu, Frankfurt 1988.

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deutlicher und definiert Lärm ebenfalls mit Bezug auf Mary Douglas als„unwanted sound“.94 Die eigentlich historische Frage, wer welchen Klang inwelchem Kontext nicht will, zielt auf politische und soziale Machtverhältnissein der Stadtgesellschaft, also auf Fragen der politischen Geschichte. Indemurbane Klänge gesellschaftlich situiert werden, eröffnen sich Möglichkeitenzur Präsenzmarkierung sozialer Gruppen und Individuen im städtischenRaum. Die Macht über den Raum schließt auch seine akustische Besetzung ein.Dies reicht schon für die Zeit der Frühen Neuzeit vom trompetenbeschalltenIntroitus des Herrschers95 über die akustische Formung sakraler Räume undreligiöser Rituale96 bis zur Katzenmusik oder „rough music“ zur öffentlichenRidikülisierung untreuer Ehegatten.97 Die Frage nach der Legitimität solcherakustischer Praktiken verdeutlicht aber nicht nur ihre Situativität, sonderneröffnet auch die weitergehende Frage, welche Klänge in welchen Räumen alszulässig galten. Hogarths Profigeiger befindet sich eben nicht mit auf derStraße, um dem schäbigen Oboisten die akustische Herrschaft über dieselbestreitig zu machen, sondern verteidigt einen spezifisch inneren, privatenKlangraum gegen die Sound-Invasion von außen. Hier deutet sich um die Mittedes 18. Jahrhunderts ein Fundamentalprozess der Modernisierung an: diePrivatisierung und „Spatialisierung“ von Klängen im Sinne ihrer Zuweisungan bestimmte legitime Räume innerhalb des urbanen Raums.98 Wichtig wirddies insbesondere im Zuge der Industrialisierung, welche die Trennung nachlärmintensiven öffentlichen und stillen Räumen und damit eine neue Struk-turierung des Stadtraums vorantreibt.99 Noch einmal zurück zu Hogarth: SeineRelationierung von verschiedenen Klängen im Stadtraum regt dazu an, inmethodischer Hinsicht nicht systematisch zwischen Musik und „Geräusch“ zuunterscheiden, sondern beide im Anschluss an Schafer als soziale Klangprak-tiken entlang einer historisch variablen Legitimitätsskala zu verorten.100

94 Truax, Acoustic Communication, S. 95; vgl. auch Garrett Keizer, The Unwanted Soundof Everything We Want. A Book about Noise, New York 2010.

95 Vgl. z. B. instruktiv Florence Alazard, Art vocal, art de gouverner. La musique, le Princeet la cit� en Italie au XVIe si�cle, Paris 2002 und Evelyn Korsch, The „Loud Joy“. Music asa Sign of Power, in: Renaissance Journal 8. 2003, S. 4 – 14.

96 Vgl. z. B. Jan-Friedrich Missfelder, Akustische Reformation. Lübeck 1529, in: Histori-sche Anthropologie [20. 2012].

97 Vgl. Emily Cockayne, Cacophony, or Vile Scrapers on Vile Instruments. Bad Music inEarly Modern English Towns, in: Urban History 29. 2002, S. 35 – 47; Edward P.Thompson, Rough Music, in: ders., Customs in Common, London 1991, S. 467 – 538.

98 Vgl. z. B. John M. Picker, Victorian Soundscapes, New York 2003; auch Martin Hewitt u.Rachel Cowgill (Hg.), Victorian Soundscapes Revisited, Leeds 2007.

99 Vgl. Bijsterveld, Mechanical Sound, S. 68 f. ; auch Peter Payer, Der Klang von Wien. ZurNeuordnung des öffentlichen Raumes, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichts-wissenschaften 15. 2004, S. 105 – 131.

100 Vgl. hierzu v. a. Attali, Bruit; auch Paul Hegarty, Noise/Music. A History, London 2007.

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Anhand der Kategorie der Legitimität lässt sich also ein sozial und politischbestimmtes Netz von Klängen identifizieren und rekonstruieren, das Auf-schluss über die sinnliche Erfahrbarkeit gesellschaftlicher Strukturen ver-spricht. Die Frage nach dem Klang als Objekt der historischen Analyseimpliziert also immer die Frage nach der politischen und sozialen Definiti-onsmacht in einer gesellschaftlichen Ordnung. Was Hogarth ins Bild setzt, sindnicht nur Klänge in der Stadt, sondern im Wortsinne die verklungene Stadt alssoziale Ordnungsformation.101

Diese Kontextabhängigkeit des Lärms impliziert folglich immer auch Lärm-kritik, aber nicht zwingend als Kritik am klanglichen Ereigniszusammenhang,sondern an der sozialen Ordnung, welche die akustische Legitimitätsvertei-lung garantiert. Das bedeutet aber auch, dass sich Status und gesellschaftlichePosition durch Klänge ausdrücken und sozial manifestieren können. Dieswiederum hat Folgen für die spezifische Form von Lärmkritik, welche der„Enraged Musician“ repräsentiert. Hogarths London ist das London des 18.Jahrhunderts. Der städtische Raum, in dem sich die von ihm verbildlichtenKlänge ereignen, ist damit der einer frühneuzeitlichen Anwesenheitsgesell-schaft.102 Die Lärmkritik des „Enraged Musician“ erweist sich in genau demMaße als eine spezifisch frühneuzeitliche, da alle Klänge – legitim oderillegitim – spezifischen Akteuren in dieser Anwesenheitsgesellschaft zuge-rechnet werden können. Die gleichsam sonifizierten Sozialbeziehungen sinddaher in direkten Interaktionen verhandelbar, was die Wahrscheinlichkeit vonpersonaler Gewalt – eben „rage“ – signifikant erhöht. Die frühneuzeitlicheAkusteme des Lärms bezieht sich in der Regel weniger auf den Klang alssolchen als auf die Lärm produzierenden Akteure, ist also sozial relational undnicht phänomenologisch orientiert. Im Zentrum städtischer Lärmregulierun-gen stehen daher die üblichen Verdächtigen der sozialen Devianz: Jugendlicheund die notorisch Unruhe stiftenden Handwerksgesellen.103 Die obrigkeitlichgewünschte Ruhe ist damit nicht nur eine rein akustische, sondern auch undvor allem eine politische. Beide aber, und das ist hier entscheidend, hängenunmittelbar zusammen. Es sind eben ganz bestimmte soziale Gruppen, derenakustische Präsenz kontrolliert und reglementiert werden muss.

101 Vgl. in diesem Sinne, wenn auch eher impressionistisch Garrioch, Sounds of the City.102 Vgl. Rudolf Schlögl, Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden.

Formen des Sozialen und ihre Transformation in der Frühen Neuzeit, in: GG 34. 2008,S. 155 – 224; auch ders., Vergesellschaftung unter Anwesenden. Zur kommunikativenForm des Politischen in der vormodernen Stadt, in: ders. (Hg.), Interaktion undHerrschaft. Die Politik der frühneuzeitlichen Stadt, Konstanz 2004, S. 9 – 60.

103 Vgl. Christian Casanova, Nacht-Leben. Orte, Akteure und obrigkeitliche Disziplinie-rung in Zürich, 1523 – 1833, Zürich 2007, bes. S. 83 – 104; auch Norbert Schindler,Nächtliche Ruhestörung. Zur Sozialgeschichte der Nacht in der frühen Neuzeit, in: ders.(Hg.), Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit, Frankfurt1992, S. 215 – 257.

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Diese frühneuzeitliche Akusteme unterscheidet sich signifikant von derjeni-gen, die spezifisch neuzeitlicher Lärmbekämpfung zugrunde liegt. Lärm giltseit spätestens der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr in erster Linie alsProblem sozialer Stabilität, sondern als zentraler Bestandteil der „unbeab-sichtigten Nebenfolgen der Moderne“.104 Zwar spiegelt sich auch im neuzeit-lichen Lärmdiskurs ein gesellschaftliches Problem – die Angst der bürgerli-chen Eliten vor den lärmenden Massen des Proletariats –, doch richten sich diekonkreten Maßnahmen weniger gegen solche sozialen Gruppen als gegen dieakustischen Folgen der Urbanisierung und Mechanisierung der Gesellschaft inVerkehr, Industrie und Handel.105 Entscheidend daran ist, dass Klänge nichtmehr personal zurechenbar sind, die politische Akustemologie der Modernealso klangliche und politische Ordnung zunehmend entkoppelt. Zwischen-stufen lassen sich dennoch konstatieren. John Picker und Peter Payer haben fürLondon und Wien nachgezeichnet, dass eine der ersten konzertierten urbanenLärmschutzinitiativen um die Mitte des 19. Jahrhunderts sich gegen wan-dernde Straßenmusiker wandte.106 Diese stehen als soziale Gruppe gleichsamzwischen den Zeiten: Einerseits bilden sie als Objekt obrigkeitlicher Regulie-rung eine soziale Außenseitergruppe alteuropäischen Zuschnitts, andererseitserscheinen sie in der modernen Akusteme als Störungen einer akustischen,nicht sozialen Homogenisierung des Stadtraums.Aufschlussreich sind diese Befunde aber auch hinsichtlich der oben ange-sprochen Frage nach alternativen Periodisierungsmodellen. Es ist auffällig,dass systematische Lärmbekämpfungsanstrengungen erst nach 1850 einsetz-ten, dass Lärm also erst seit dieser Zeit „als negativ konnotierter Schlüssel-begriff des Modernisierungsprozesses besetzt wird“.107 Versteht man denmodernen Lärmbegriff auf diese Weise als ein Produkt der industrialisiertenund urbanisierten Moderne, so ist die Lücke von mindestens einem halbenJahrhundert zwischen dem Take-Off der Industrialisierung in den meistenLändern Europas und dem Auftreten einer verstärkten akustischen Sensibilität

104 Monika Dommann, Antiphon. Zur Resonanz des Lärms in der Geschichte, in:Historische Anthropologie 14. 2006, S. 133 – 146, hier S. 135; vgl. auch Philipp Felsch,Die Stadt, der Lärm und der Ruß. Mechanische Spuren der Psyche, 1875 – 1895, in:Cornelius Borck u. Armin Schäfer (Hg.), Psychographien, Zürich 2005, S. 17 – 42.

105 Vgl. Daniel Morat, Zwischen Lärmpest und Lustbarkeit. Die Klanglandschaft derGroßstadt in umwelt- und kulturhistorischer Perspektive, in: Bernd Hermann (Hg.),Beiträge zum Göttinger umwelthistorischen Kolloquium 2009/2010, Göttingen 2010,S. 174 – 190; Peter Payer, The Age of Noise. Early Reactions in Vienna, 1870 – 1914, in:Journal of Urban History 33. 2007, S. 773 – 793; ders., Vom Geräusch zum Lärm. ZurGeschichte des Hörens im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Aichinger, Sinne undErfahrung, S. 106 – 118.

106 Vgl. John M. Picker, The Soundproof Study. Victorian Professionals, Workspace andUrban Noise, in Victorian Studies 42. 2000, S. 427 – 454; Payer, Klang von Wien.

107 Dommann, Antiphon, S. 135; vgl. auch Toyka-Seid, „Lärmpest“.

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für deren Nebenfolgen erklärungsbedürftig.108 Erfolgten die Modernisierungder Gesellschaft und die Modernisierung ihrer Akusteme demnach mit einergewissen Phasenverschiebung? Genauere Studien zur Klanggeschichte desspäten 18. und frühen 19. Jahrhunderts liegen bisher nicht vor, es ist aberanzunehmen, dass die Entwicklung der Klang- und Hörkultur dieser Zeit nachanderen Rhythmen vonstatten zu gehen scheint als Sozial- und Wirtschafts-geschichte vorgeben.Klanggeschichte als politische Geschichte zielt also auf die sinnliche Wahr-nehmbarkeit sozialer Beziehungen und politischer Machtverhältnisse undkann damit einen Beitrag zu der Frage leisten, wie diese Strukturen überhauptlebensweltlich erfahrbar waren. Ein solcher Versuch einer sozialen Akuste-mologie, so skizzenhaft ihr Entwurf hier bleiben muss, sollte doch deutlichgemacht haben, dass Klänge, ihre Produzenten und ihre Rezipienten nicht nurMachtbeziehungen spiegeln, sondern diese zuallererst herstellen: wederBindestrich-, noch Komplementärgeschichte also.

IV. Coda: Der wilde Westen des Hörens

Man kann den oben eingeschlagenen Weg weiter verfolgen bis in dieakustische Gegenwart. Unter den vielfältigen Aktivitäten im Zusammenhangmit der europäischen Kulturhauptstadt des Jahres 2009 Linz befindet sich auchein Projekt mit dem Titel „Hörstadt“. Das Projekt setzt sich für eine „bewussteund menschenwürdige Gestaltung unser hörbaren Umwelt“ ein und veröf-fentlichte am 20. Februar 2009 in der französischen Tageszeitung Le Figaro ein„Akustisches Manifest“, das auf den Tag genau hundert Jahre später mitFilippo Tommaso Marinettis „Futuristischem Manifest“ abrechnen möchte.Dessen Feier des Lärms wird eine politische Kritik entgegengesetzt, die durchdie Schule Michel Foucaults gegangen ist. Der zweite Abschnitt des Manifestsist überschrieben mit „Der Wilde Westen des Hörens“:

Schall ist die neue Waffe der Macht. Schall ist zu Strahlung geworden. Das Volk wird mitSchall bestrahlt und apathisch und blöd gemacht – an jedem Ort, zu jeder Zeit und unter allenUmständen. Längst werden Produkte akustisch manipuliert und Werbung akustischinszeniert. In Supermärkten, Geschäften, Einkaufszentren, Restaurants, Warteräumen,Telefonwarteschleifen, ja Wohnungen, Stiegenhäusern, sogar Toiletten sind täglich MillionenMenschen Opfer toxischer Schallstrahlung, die durch ihre Körper kriecht. Verkehrsschnei-sen schleudern als Strahlungskanonen ihren krankmachenden Lärm auf Junge und Alte, sieschleudern ihn auf Frauen und Männer, ja selbst auf Babys und Greise! Niemand entrinntdem Bombardement. Automobile, Stahlrosse und Aeroplane machen uns mit Strahlenmi-litarismus gefühllos, leblos und tot. Das ist die Schönheit der Schnelligkeit! Das ist der Krieg,

108 Dieses Problem fiel auch schon R. Murray Schafer auf. Vgl. ders. , Ordnung der Klänge,S. 141 – 144.

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den Marinetti pries! Die Mächtigen vergewaltigen die Machtlosen. Willkommen im WildenWesten des Hörens!109

Hier ist der Lärm nicht mehr – wie bei Hogarth – spezifischen Akteurenzurechenbar und auch nicht mehr – wie in der Moderne – als Technologiefolgebekämpfbar, sondern wirkt durch die Mikrophysik der Macht, durch Strahlungund Gift. Die Forderung nach bewusster und menschenwürdiger Gestaltung derakustischen Umwelt richtet sich also vor allem gegen die Dauer- und Zwangs-beschallung des öffentlichen Raumes durch mechanische Klänge und Muzak, alsoeigens als Hintergrund designte Musikformen: „Das Irrenhaus der Akustik istbevölkert von Parasiten: Warteschleifen, Jingles, Audiologos, Warn- und Signal-töne, Corporate Sounds, Auftragsfirmensongs, Klingeltöne“. Lärmkritik dieserArt hat zwar eine spezifisch moderne Vorgeschichte. Der 1908 vom HannoveranerPhilosophen Theodor Lessing gegründete „Anti-Lärm-Verein“ identifizierte zumBeispiel Lärm als eine kulturell ansteckende Krankheit zum Tode des modernenMenschen.110 Ebenfalls gemeinsam ist all diesen Diagnosen ihre Ambivalenz zurakustischen Moderne. Marinetti und sein futuristischer Mitstreiter Luigi Russolohatten Maschinenklänge und die sounds der industrialisierten Moderne insge-samt als Objekte spezifisch moderner Kunst beansprucht. Gemeinsam ist alldiesen Initiativen auch die Diagnose eines sozial unspezifisch klingenden Lärm-Raumes. Im Gegensatz zum London des 18. Jahrhunderts ist der urbane Raumdemokratisiert: seine Klänge können nicht mehr persönlich adressiert werden, siesind genuin gesellschaftliche Klänge geworden. Die dem „Akustischen Manifest“beigefügte „Linzer Charta“ des „Hörstadt“-Projekts zieht hieraus die Konsequenz:„Der akustische Raum ist Gemeingut. Er gehört allen […] Die Teilhabe amakustischen Raum erfordert das Recht auf akustische Selbstbestimmung und dieEntwicklung eines akustischen Verantwortungsgefühls.“111 Eine historische Aku-stemologie des Lärm-Hörens könnte diese Entwicklung nachzeichnen und dieVerschiebungen ihrer politischen Implikationen thematisieren. Mit Phänomenender langen Dauer ist auch hierbei zu rechnen. Die akustische Dominanz undBesetzung städtischer Räume geschieht auch in der Moderne möglicherweisenicht nur durch die Mikropolitik der Macht. Demokratisierung des Klangsbeinhaltet auch die Geschichte von Ghettoblaster und iPod und ihren Nutzern alsMedien der akustischen Raumkonstitution.112 Man kann das täglich hören – anjedem öffentlichen Platz und in jedem Pendlerzug der Welt.

Dr. des. Jan-Friedrich Missfelder, NCCR „Medienwandel – Medienwechsel –Medienwissen“, Historisches Seminar, Universität Zürich, Culmannstr. 1,CH-8006 ZürichE-Mail: [email protected]

109 http://www.hoerstadt.at/ueberuns/das_akustische_manifest/das_akustische_mani-fest_im_wortlaut.html.

110 Vgl. hierzu Dommann, Antiphon, und Morat, Zwischen Lärmpest und Lustbarkeit.111 http://www.hoerstadt.at/ueberuns/die_linzer_charta.html.112 Vgl. Michael Bull, Sound Moves. iPod Culture and Urban Experience, London 2007.

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