Diagnostik in Babylonien und Assyrien

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Med. hist.3. 36(2001) 247-266 ?2001 URBAN & FISCHERVERLA6 http://www.urbanfischer.de/journals/medhistj MEDIZIN HISTORISCHES JOURNAL Nils P. Heefiel Diagnostik in Babylonien und Assyrien Schlusselwbrter: mesopotamische Medizin - babylonisches Diagnosehandbuch - Ab lauf der Patientenuntersuchung - Krankheitsklassifikation Key words: mesopotamian medicine - babylonian diagnosdc handbook - course of exa mining the patient - classification of diseases Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Schriften der antiken Auto ren die einzigen Quellen fur unser Wissen iiber die wissenschaftlichen Lei stungen der Babylonier.1 Mit den spektakularen Entdeckungen der assyri schen Hauptstadte und ihrer Tontafelbibliotheken in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts kamen neben vielen Dokumenten des taglichen Le bens auch Tausende von akkadisch-sprachigen, in Keilschrift geschriebe nen Tontafeln ans Licht, die uns einen genauen Einblick in die religiosen und politischen Vorstellungen, aber auch in die wissenschaftlichen Bemii hungen der Babylonier und Assyrer ermoglichen. Allein inder Bibliothek des assyrischen Konigs Assurbanipal (669 - ca. 629 v. Chr.) fanden sich iiber 22000 zumeist bruchstiickhafte Tontafelf ragmen te, von denen iiber 1000 medizinischen Inhalts sind. Seit der Entzifferung der Keilschrift und den Fortschritten in der Erforschung der akkadischen Sprache,2 in der die iiberwaltigende Mehrzahl der medizinischen Texte abgefafit ist, wurde auch an der Edition von medizinischen Texten gearbeitet.3 Besonders die 247 1 Zwar priesen Strabo, Diodor, Cicer? und andere die Kenntnisse der Mesopotamier in der Astronomie und Astrologie sowie in der Kunst der Divination, von den medizinischen Er rungenschaften des Alten Orients berichteten die klassischen Autoren dagegen kaum et~ was. Siehe dazu St. M. Maul, ?Die Heilkunst des Alten Orients", Medizinhistorisches Journal 36, 2001, 3-22. 2 Zur Entzifferungsgeschichte derKeilschriftsiehe M. T. Larsen, The Conquest of Assyria, London/New York 1996, 293-316. 3 Gute Einfuhrungen in die babylonisch-assyrische Medizin finden sich bei R. D. Biggs, Medizin, in:D. O. Edzard (Hrsg.), Reallexikon der Assyriologie, 7. Bd., Berlin/New York 1987-1990, 623-629; ders.,Medicine, Surgery, and PublicHealth in AncientMeso potamia, in: J. M. Sasson (Hrsg.), Civilizations of the Ancient Near East, Bd. 3, New York 1995, S. 1911-1924 mit weiterfiihrender Literatur und bei St. M. Maul, Die babylo nischeHeilkunst. Medizinische Keilschrifttexte auf Tontafeln, in:H. Schott (Hrsg.), Meilensteine der Medizin, Dortmund 1996, 32-39. 0025-8431/01/36/3-4-247 $15.00/0

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Med. hist. 3. 36(2001) 247-266 ?2001 URBAN & FISCHER VERLA6

http://www.urbanfischer.de/journals/medhistj

MEDIZIN HISTORISCHES

JOURNAL

Nils P. Heefiel

Diagnostik in Babylonien und Assyrien

Schlusselwbrter: mesopotamische Medizin - babylonisches Diagnosehandbuch

- Ab lauf der Patientenuntersuchung

- Krankheitsklassifikation

Key words: mesopotamian medicine - babylonian diagnosdc handbook - course of exa

mining the patient - classification of diseases

Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Schriften der antiken Auto

ren die einzigen Quellen fur unser Wissen iiber die wissenschaftlichen Lei

stungen der Babylonier.1 Mit den spektakularen Entdeckungen der assyri schen Hauptstadte und ihrer Tontafelbibliotheken in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts kamen neben vielen Dokumenten des taglichen Le

bens auch Tausende von akkadisch-sprachigen, in Keilschrift geschriebe nen Tontafeln ans Licht, die uns einen genauen Einblick in die religiosen und politischen Vorstellungen, aber auch in die wissenschaftlichen Bemii

hungen der Babylonier und Assyrer ermoglichen. Allein in der Bibliothek des assyrischen Konigs Assurbanipal (669

- ca. 629 v. Chr.) fanden sich

iiber 22000 zumeist bruchstiickhafte Tontafelf ragmen te, von denen iiber

1000 medizinischen Inhalts sind. Seit der Entzifferung der Keilschrift und

den Fortschritten in der Erforschung der akkadischen Sprache,2 in der die

iiberwaltigende Mehrzahl der medizinischen Texte abgefafit ist, wurde

auch an der Edition von medizinischen Texten gearbeitet.3 Besonders die

247

1 Zwar priesen Strabo, Diodor, Cicer? und andere die Kenntnisse der Mesopotamier in der

Astronomie und Astrologie sowie in der Kunst der Divination, von den medizinischen Er

rungenschaften des Alten Orients berichteten die klassischen Autoren dagegen kaum et~

was. Siehe dazu St. M. Maul, ?Die Heilkunst des Alten Orients", Medizinhistorisches

Journal 36, 2001, 3-22. 2 Zur Entzifferungsgeschichte der Keilschrift siehe M. T. Larsen, The Conquest of Assyria, London/New York 1996, 293-316. 3 Gute Einfuhrungen in die babylonisch-assyrische Medizin finden sich bei R. D. Biggs, Medizin, in: D. O. Edzard (Hrsg.), Reallexikon der Assyriologie, 7. Bd., Berlin/New York 1987-1990, 623-629; ders., Medicine, Surgery, and Public Health in Ancient Meso

potamia, in: J. M. Sasson (Hrsg.), Civilizations of the Ancient Near East, Bd. 3, New

York 1995, S. 1911-1924 mit weiterfiihrender Literatur und bei St. M. Maul, Die babylo nische Heilkunst. Medizinische Keilschrifttexte auf Tontafeln, in: H. Schott (Hrsg.),

Meilensteine der Medizin, Dortmund 1996, 32-39.

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Nib P. Heefiel

nach unserem Verstandnis sehr rational anmutenden therapeutischen Tex

te, die vor allem Behandlungsanweisungen und Rezepte enthalten, standen

im Mittelpunkt des Interesses der Gelehrten des spaten 19. und friihen 20.

Jahrhunderts. Texte zur babylonischen Diagnostik wurden dagegen erst

relativ spat in den Tontafelsammlungen entdeckt. Es ist das Verdienst des

Arztes Felix von Oefele, der um die Jahrhundertwende in Bad Neuenahr

praktizierte und sich intensiv mit der babylonischen und altagyptischen Medizin befafite, die Existenz eines babylonischen Handbuchs zur Dia

gnostik und Prognostik erstmals bekannt gemacht zu haben.4 Im Jahre 1951 wurde durch Rene Labat eine Edition des babylonischen Diagnose handbuchs zuganglich, in der die damals bekannten Texte zusammenge stellt waren.5 Seit dieser grundlegenden Bearbeitung sind nicht nur eine

grofie Zahl neuer Texte, die unser Wissen iiber die babylonische Diagno stik vermehren, sondern vor allem zwei Kataloge zum Diagnosehandbuch bekannt geworden, welche den Umfang und Aufbau des Diagnosehand buchs beschreiben und denen es zu verdanken ist, dafi heute ein recht ge naues Bild der babylonischen Diagnostik gezeichnet werden kann.

Zur Beziehung von Krankheitsdtiologie und Diagnostik

Das Ziel der Untersuchung des Kranken war fur die Babylonier ungleich mehr als die reine Benennung der Krankheit zum Zwecke der therapeuti schen Linderung, da eine Krankheit grundsatzlich auch als Stoning des

sonst guten Verhaltnisses zwischen dem Erkrankten und einer Gottheit

wahrgenommen wurde. Es gait daher, zunachst die Gottheit zu identifizie

ren, die ihren Zorn den betroffenen Menschen in Form der Krankheit spii ren liefi, um dann diese Gottheit zu versohnen und damit die vollstandige

Genesung des Kranken herbeizufuhren. Grundlage der babylonischen

Diagnostik war daher folgerichtig der Glaube, anhand der verschiedenen

Symptome am Korper des Patienten nicht nur auf die Krankheit selbst, sondern vor allem auf die die Krankheit verursachende Gottheit zuriick

schliefien und auch den weiteren Verlauf der Krankheit vorhersagen zu

konnen. Die Symptome am Korper des Patienten waren direkt von der sie

verursachenden Gottheit abhangig, und jeder gute Heiler, der die kausalen

Zusammenhange zwischen den Symptomen und den Gottern kannte, war

durch das sorgfaltige und genaue Inspizieren der Symptome in der Lage, die verursachende Gottheit zu benennen.

4F. von Oefele, Ein Handbuch der Prognostik in Keilschrift, in: Deutsche Medicinische Presse 5, 1901, 27. Zu den Werken F. von Oefeles siehe M. Stol, Felix von Oefele and Ba

bylonian Medicine, in: Janus 72, 1985, 7-16. 5 R. Labat, Traite akkadien de diagnostics et pronostics medicaux, Paris 1951. 248

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Diagnostik in Babylonien und Assyrien

Als Krankheitsverursacher wirkten nach den atiologischen Vorstellungen der Babylonier neben den Gottern auch die verschiedensten Damonen, die

sich dem Menschen entweder im direkten Auftrag einer Gottheit in unheil

voller Absicht nahern konnten oder aber zuschlugen, wenn der Mensch

nicht mehr unter gottlichem Schutz stand, weil sich seine Schutzgottheit von ihm abgewendet hatte. So wurde z. B. die hohe Mortalitatsrate von

Neugeborenen und Kleinkindern auf die Rankespiele der Damonin La

mastu zuriickgefiihrt, die sich etwa der Mutter als Amme anbot, um den

Saugling mit ihrer unreinen Milch zu vergiften. Oder es wurden bestimmte

Formen der Epilepsie mit dem Wirken eines Totengeistes in Zusammen

hang gebracht, der, nicht korrekt bestattet, die Welt der Lebenden heim

suchte und Krankheit und Unheil mit sich brachte. Aufierdem konnten

auch Menschen Krankheiten durch Zauberei und magische Praktiken her

vorrufen, indem sie den Betroffenen durch verschiedene Arten von Kon

taktzauber infizierten. All dies konnte geschehen, wenn sich der Mensch

durch eine bewufke oder unbewufite Tat den gottlichen Zorn zugezogen hatte und nicht mehr im sozial-religiosen Aquilibrium stand. Ganz selten

finden solche Vergehen seitens des erkrankten Menschen in den diagnosti schen Texten Erwahnung: Im Vordergrund stehen dabei sexuelle Ubertre

tungen wie Inzucht, Verkehr mit der Ehefrau eines anderen Mannes oder

auch unsittliche Annaherungen an zur Keuschheit verpflichtete Priesterin

nen. Aber auch Tabuverletzungen wie der Genufi unreiner Speisen oder

nicht eingehaltene Eide sowie Diebstahl und Mord werden hier als letztli

che Ursachen von Krankheit angefuhrt.

Uber diese allgemeinen Ansichten hinaus konnen wir heute feststellen,

dass Krankheiten nach babylonischen Vorstellungen nur sehr selten aus

sich selbst heraus wirkten. Damit jemand erkrankte, war ein aggressiver Akt seitens der Gottheit, eines Damons oder eines Zauberers als Ausloser

der Krankheit notwendig. Die Krankheit wurde verursacht, so glaubte man, indem die Gottheit oder

(Jer Damon den Betreffenden in irgendeiner

Form beriihrte und damit die Krankheit auf ihn ubertrug, ja sogar in seinen

Korper einpflanzte. Diese Beriihrung durch die Gottheit wurde als ?Schla

gen", ?Packen", ?Ergreifen" oder ?Beruhrenct des Menschen ausgedriickt. Zumeist jedoch erfolgt die Benennung des Krankheitsverursachers durch

die stereotype Formel ?Hand der Gottheit soundsow, die auch eine Beriih

rung impliziert. Als Beispiele mogen dienen:

249

1. Wenn sein Gesicht voll von weifilichen Blaschen ist: Hand des (Sonnengottes) Samas, er wird gesunden.

2. Wenn sein Nacken und seine Hiiften ihn gleichzeitig schmerzen: Hand des (Wetter gottes) Adad.

3. Wenn er am Morgen heift, am Abend dagegen kalt ist und zittert: Hand des (Mond gottes) Sin.

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Nik P. Heefiel

4. Wenn funf, zehn, fiinfzehn oder zwanzig Tage seine Finger und Zehen ganz zusam

mengezogen sirid und herunterhangen, und er sie weder offnen noch offen halten kann: Die Hand der (Liebes- und Kriegsgdttin) Istar. Es wird in Ordnung kommen, und er wird gesunden.6

Arzt und Beschwdrer: Die mesopotamiscben Heiler

Schon der alteste bekannte diagnostische Text aus der ersten Halfte des

2. Jt. v. Chr. zeigt dieses Interesse der Heiler nicht nur am Ausgang und

Verlauf der Krankheit und an ihrer Benennung, sondern auch an der Iden

tifizierung des Krankheitsverursachers in Form der ?HandM einer Gott

heit.7 Daneben zeigen therapeutische Texte und Briefe dieser friihen Zeit, dafi die Behandlung des Kranken nicht in der Hand einer Person allein lag. Beim Heilungsprozefi wirkten Vertreter zweier Berufsgruppen, der dsipu ?Beschw6rer" und der asu ?Arzt", zusammen. Diese Ubersetzungen der

babylonischen Termini sind jedoch nicht so zu verstehen, dafi der Be

schworer auf - nach heutiger Sichtweise - rein magische Weise, durch Be

schworungen und Gebete, versuchte, die Krankheit zu heilen, wahrend

der Arzt ^rationale" Therapien, durch Herstellung von heilkraftigen Sal

ben, Verbanden oder Zapfchen, durchfiihrte.8 Sowohl der Beschworer als

auch der Arzt bedienten sich aus heutiger Sicht magischer und rationaler

Behandlungsmethoden. Es hat vielmehr den Anschein, dafi der asu ur

spriinglich ein Wundarzt war, sich also vornehmlich mit aufierlichen Ver

letzungen beschaftigte, wahrend der dsipu sich mehr mit aus dem Inneren

des Korpers wirkenden Erkrankungen befafite, die auf der Haut sichtbar

wurden oder sich durch Schmerzen bemerkbar machten. Wahrend der

Arzt sich ausschliefilich der Medizin widmete, hatte der Beschworer ein

weit grofieres Betatigungsfeld, denn er war der Fachmann fur die Bezie

b Die Textstellen aus dem babylonischen Diagnosehandbuch (SA.GIG) werden im folgenden nach Tafel und Zeile zitiert. In Klammern wird als Literatur R. Labat, Traite akkadien de diagnostics et pronostics medicaux, Paris 1951 (= TDP) und N. P. Heessel, Babylonisch assyrische Diagnostik, Alter Orient und Altes Testament 43, Minister 2000 (= BAD) ange geben. 1: SA.GIG 9/48 (TDP 74/48); 2: SA. GIG 10/9 (TDP 80/9); 3: SA.GIG 17/93 (BAD 204, 210); 4: SA.GIG 16/59,-60> (BAD 177, 183f.). 7 Dieser Text ist in Keilschriftkopie publiziert in Tabulae Cuneiformes de Liagre Bohl II, Leiden 1957, Nr. 21. Eine Teilbearbeitung der sehr abgeriebenen Tafel findet sich bei N. P. Heessel, Babylonisch-assyrische Diagnostik, 97f.

8 Eine solche Sichtweise findet sich vereinzelt immer noch in der Fachliteratur. Sie ent

stammt einer Zeit, in der man versuchte, eine rational-empirische Medizin, die mit dem asu

?Arzta zusammengebracht wurde, von einer magisch-religiosen Medizin, die vom dsipu ?Beschw6rera reprasentiert wurde, streng zu unterscheiden. Siehe E. Ritter, Magical-Ex pert (=Asipu) and Physician (~Asu). Notes on Two Complementary Professions in Baby lonian Medicine, in: H. G. Guterbock und T. Jacobsen (Hrsg.), Studies in Honor of Benno Landsberger on his Seventy-Fifth Birthday, April 21, 1965, Assyriological Studies 16, Chicago 1965, 299-321. Eine solche neopositivistische Beurteilung lafit sich heute nicht

mehr halten. 250

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Diagnostik in Babylonien und Assyrien

hung zwischen den Menschen und der Gotterwelt und mufite dieses deli

kate Verhaltnis mittels Divination sowie Ritualen und Beschworungen im

Gleichgewicht halten bzw. wiederherstellen. Da auch Krankheiten neben

allgemeinen Ubeln und Unglucksfallen als Folge von Problemen und Ver

stimmungen zwischen dem Erkrankten und den Gottern angesehen wur

den, war es die Aufgabe des Beschworers, das sozial-religiose Aquilibrium wiederherzustellen, denn nur dadurch konnte der an einer Krankheit Lei

dende genesen. Es war daher auch der Beschworer und nicht etwa der

Arzt, der die diagnostische Untersuchung durchfuhrte und die Diagnose und Prognose stellte.

Es ist wichtig, sich zu vergegenwartigen, dafi die Untersuchung der Sym

ptome des Patienten nicht das einzige den Babyloniern zur Verfugung ste

hende Mittel war, um zur Diagnose und Prognose einer Krankheit zu ge

langen. Besonders im 2. Jt. v. Chr. bediente man sich zur Diagnose- und

Prognosestellung der Olweissagung, bei der Ol in Wasser gegossen wurde

und aus den Verlaufsformen des Ols der Wille der Gotter ebenso ablesbar

war wie aus der Deutung von Traumen - eine Konzeption, die uns durch

die biblische Josephsgeschichte vertraut ist.9 Aufierdem bestand jederzeit die Moglichkeit, mittels einer Opfer- oder Leberschau, bei der ein Schaf

geschlachtet und die Schafsleber inspiziert wurde, eine Anfrage an die Got

ter zu richten. Dabei, so glaubte man, legten die Gotter Samas und Adad

die Wahrheit in das Aussehen der Leber des Schafes, und eine Anfrage, et

wa ob der Patient die Krankheit uberleben werde, konnte durch das kundi

ge ?Lesen" der Schafslebern beantwortet werden.10 Im 1. Jt. v. Chr. wurde

dem assyrischen Konig niemals ein Medikament gegeben, ohne dafi man

zuvor eine Leberschau durchfuhrte, um die Vertraglichkeit und Ungefahr lichkeit des Medikaments fur den

Konjg sicherzustellen.

Wahrend diese Techniken jedoch vor allem zur Prognostik herangezogen wurden, bildete die Untersuchung der Krankheitssymptome des Patienten

durch den Beschworer den eigentlichen Kern der Diagnostik. Die ver

schiedenen Symptomgefuge und Krankheitsbilder, denen die Arzte bei ih rer Arbeit begegneten, und die von ihnen getroffenen Diagnosen und Pro

gnosen wurden bald auch aufgeschrieben und ebenso wie Rezepte und the

rapeutische Mafinahmen den nachfolgenden Generationen uberliefert.

251

9 Vergleiche dazu G. Pettinato, Die Olwahrsagung bei den Babyloniern, Studi Semitici 22, Rom 1966, und allgemein zur Traumdeutung S. A. L. Buttler, Mesopotamian Concepti ons of Dreams and Dream Rituals, Alter Orient und Altes Testament 258, Minister 1998.

10 Zur Verwendung der Leberschau bei der Diagnostik siehe J. Nougayrol, Presages medi

caux de Pharuspicine babylonienne, in: Semitica 6, 1956, 5-14. Allgemein zur Leberschau

siehe U. Jeyes, Old Babylonian Extispicy, Leiden 1989, R. Leiderer, Anatomie der Schafsleber im babylonischen Leberorakel, Munchen 1990 und U. Koch-Westenholz,

Babylonian Liver Omens, Kopenhagen 2000.

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Nils P. Heefiel

Das babylonische Diagnosehandbuch

Die verschiedenen diagnostischen Texte wurden in der Mitte des 11. Jh. v.

Chr. von dem babylonischen Gelehrten Esagil-kin-apli redigiert, in ein ver

bindliches Schema gebracht und somit serialisiert.11 Die neu geschaffene Se

rie umfalke mehr als 3000 diagnostische Eintrage und wurde akkadisch sa

kikku genannt, was wohl am treffendsten mit ?Symptomea iibersetzt wer

den kann. Wir nennen das Werk heute das babylonische ?Diagnosehand buch". Esagil-kin-apli verteilte die Eintrage auf 40 Tafeln von durchschnitt

lich etwa 80 Eintragen, wobei es zu grofieren Schwankungen kommen

konnte (zwischen 24 und 280 Eintragen), da die einzelnen Eintrage zum ei

nen erhebliche Langenunterschiede aufwiesen und zum anderen die Eintra

ge einer Tafel immer eine Sinneinheit bilden, die nur selten auseinanderge rissen wurde. Die einzelnen Tafeln ordnete der Gelehrte dann zu Gruppen, die praktisch Kapitel oder Unterserien bilden. So zerfallt die gesamte Serie von 40 Tafeln in 6 Unterserien von unterschiedlicher Lange. Diese Unterse

rien tragen auch jeweils einen eigenen Titel, mit dem programmatisch der

Inhalt der Unterserie beschrieben wird. Die Form, die Esagil-kin-apli den

Texten damit gegeben hatte, wurde allgemein akzeptiert und bis zum Unter

gang der Keilschriftliteratur fast unverandert immer wieder abgeschrieben.

Nr. Tafeln Titel des Kapitels Inhalt des Kapitels

1 1-2 ?Wenn der Beschworer zum Beobachtungen allgemeiner Art auf Haus des Kranken geht" dem Weg zum und im Haus des Kran

ken durch den Beschworer oder einen anderen Menschen

2 3-14 ?Wenn du dich dem Kranken Symptombeobachtungen an den einzel naherst" nen Korperteilen des Kranken vom

Kopf zum Fufi

3 15-25 ?Wenn er einen Tag krank ist" Beriicksichtigung des Erkrankungszeit punkts und der Erkrankungsdauer so wie Beobachtung allgemeiner Sympto me am Korper des Kranken

4 26-30 ?Wenn ein Schlag ihn befallt - Symptombeschreibungen bei Symptome der Epilepsie" verschiedenen Epilepsieformen

5 31-35 ?Wenn Sonnenglut ihn erhitzt" Voraussagen iiber die Dauer von Fie

bererkrankungen, Verbindung von

Symptombeobachtungen und der Iden

tifizierung des Krankheitsverursachers mit Krankheitsbezeichnungen

Schwangerschaftsprognosen, Beobach

tungen von Erkrankungen wahrend der

Schwangerschaft sowie Symptombe obachtungen bei Frauen- und Klein

kinderkrankungen

6 36-40 ?Wenn eine gebarfahige Frau schwanger wird"

Ubersicht iiber die Kapitel des babylonischen Diagnosehandbuchs

11 Zur Serialisierung des Diagnosehandbuchs siehe N. P. Heessel, Babylonisch-assyrische Diagnostik, 104-110. 252

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Diagnostik in Babylonien und Assyrien

Der Aufbau des Diagnosehandbuchs orientiert sich am Verlauf der diagno stischen Untersuchung und spiegelt die planvolle Vorgehensweise des Be

schworers wider. Die Diagnosestellung begann fiir ihn keineswegs erst bei

der Untersuchung des Patienten selbst. Schon auf dem Weg zum Haus des

Kranken achtete er auf ungewohnliche Vorkommnisse, auffallige Tiere,

Gegenstande oder Menschen und, am Haus des Kranken angekommen, schenkte er selbst den Gerauschen, die die Tur des Hauses erzeugte, Be

achtung. Weiterhin liefi er sich auch von anderen Besuchern ungewohnli che Ereignisse berichten, die diesen auf ihrem Weg zum Haus des Kranken

widerfahren waren oder die sie und die Angehorigen des Kranken im Haus

beobachtet hatten. Dazu konnten der Flug von Vogeln oder der Schrei von

Tieren genauso wie Spinnen, Geckos und Mause an der Schlafstelle des

Kranken gehoren. Einige Beispiele:

5. Wenn der Beschworer zum Haus des Kranken geht und auf der Strafie eine aufrecht stehende Tonscherbe sieht, so ist der betreffende Kranke schwerkrank, du sollst dich ihm nicht nahern.

6. Wenn er eine Katze sieht: Die Kranke leidet an der Hand der Istar. 7. Wenn die Tur des Haushalts, in dem der Kranke liegt, knarrt: Dieser Kranke wird

sterben.12

Aus unserer Sieht erscheint diese Vorgehensweise magisch und irrational; in einer Kultur jedoch, deren hervorstechendstes Merkmal die Divination

war - der Glaube, dafi keine Erscheinung auf der Erde und am Himmel zu

fallig war, sondern immer auf das zukiinftige Schicksal der Menschen und

die geheimen Ratschlusse der Gotter verwies - konnten auch solche

Omenbeobachtungen liber die Diagnose der Krankheit und den weiteren

Krankheitsverlauf Aufschlufi geben. Sie entsprachen damit durchaus dem

?wissenschaftlichen" (Selbst-)verstandnis der Babylonier. So erinnert etwa

die aufrechtstehende Topfscherbe an den zerbrochenen Krug und steht da

mit durch Analogie fiir das zerstorte Leben des Patienten, wodurch die ne

gative Ausdeutung erklarbar wird.13

Diese Beobachtungen von Omina bilden die aus zwei Tafeln bestehende

erste Unterserie. Mit der dritten Tafel des Diagnosehandbuchs beginnt dann der zweite, mit iiber 1000 Eintragen auf 12 Tafeln umfangreichste Teil des Diagnosehandbuchs, der sich schon eher mit modernen westlichen

Vorstellungen von Diagnostik in Einklang bringen lafit. In dieser Unter

serie mit dem Titel ?Wenn du dich dem Kranken naherst" werden die

253

12 5: SA.GIG 1/1-2 (TDP 2/1-2; A. R. George, in: Revue Assyriologique 85, 1991, 142/

1-2); 6: SA.GIG 1/29 (A. R. George, in: Revue Assyriologique 85, 1991, 144/29); 7: SA.GIG 1/50 (TDP 2/6, A. R. George, in: Revue Assyriologique 85, 1991, 144/50).

13 Zur babylonischen Ausdeutung solcher Beobachtungen siehe A. R. George, Babylonian Texts from the Folios of Sidney Smith. Part Two: Prognostic and Diagnostic Omens, Tab

let I, in: Revue Assyriologique 85, 1991, 137-163.

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Nils P. Heefiel

Symptome am Korper des Patienten aufgelistet und einer Diagnose und/

oder Prognose zugeordnet. Die Eintrage sind streng systematisch ?vom

Kopf zum Fufi" angeordnet und zeigen damit, dafi das diagnostische Ord

nungsprinzip a capite ad calcem nicht erst von den Griechen verwendet

wurde. Als Beispiele mogen dienen:

8. Wenn seine rechte Schlafe ihn schmerzt und sein rechtes Auge ein Pterygium bildet

(wdrtl.: einen Schatten baut): Hand des Sulpaea (der Stern Jupiter), es wird gelost werden, und er wird gesunden.14

9. Wenn sein Bauch brennend heifi ist, seine Zehen dagegen aber ganz kalt: Drei Tage, vier Tage wird es anhalten, aber er wird gesunden, alternativ: er wird sterben.

10. Wenn sein Oberschenkel ihn von seinem Hiiftknochen bis zu seinem Knochel schmerzt, er aber aufsteht und umherlaufen kann: maskadu ist ihr (= der Krank

heit) Name. 11. Wenn seine Fiifie krampfartig zusammengezogen sind und er sie nicht mehr aus

strecken kann, aber sein Verstand nicht gepackt ist: Er wird sterben.15

Jeweils eine Tafel befafit sich mit Symptomen an einem Korperteil. Nach

einander werden so die Schadeldecke, die Schlafen, die Augen, die Nase, die Zunge, die Ohren und das Gesicht und schliefilich der Nacken und die Arme, die Hande, die Brust, der Bauchbereich und, in der letzten Tafel

dieses Abschnitts, der ganze Bereich abwarts der Huften abgehandelt. Die

Tatsache, dafi sieben Tafeln dem Kopf und nur fiinf dem restlichen Korper gewidmet sind, zeigt die Bedeutung, die den am Kopf gewonnenen Sym

ptombeobachtungen zukommt. Bei der Abhandlung der Korperteile a ca

pite ad calcem wird nur der mannliche Korper beschrieben. Der weibliche

Korper war, soweit bekannt, nicht Gegenstand einer systematischen Sym

ptomauflistung. Die anatomischen Kenntnisse der Babylonier waren, was

die aufieren Teile des menschlichen Korpers betrifft, ausgezeichnet. Ob

wohl die in Babylonien weit verbreitete Opferschau mit ihrer detaillierten

Beobachtung von tierischen Organen, vor allem des Schafes, zu einem ho

hen Kenntnisstand der inneren Anatomie von Tieren gefiihrt hatte, blieb

die Kenntnis der inneren Anatomie des Menschen jedoch sehr gering.

Das dritte Kapitel des Diagnosehandbuchs, mit elf Tafeln fast ebenso um

fangreich wie das zweite, behandelte entsprechend seinem Titel ?Wenn er

einen Tag krank ist" vor allem Zeitbeziige, also den Krankheitsverlauf, da

neben aber auch alle andern Aspekte, die den ganzen Korper des Kranken

in Mitleidenschaft zogen und daher nicht im vorherigen Kapitel abgehan delt wurden. So wird zuerst die bisherige Lange der Krankheit, von einem

Tag bis zu mehreren Monaten, berucksichtigt. Bevor dann der Erkran

kungszeitpunkt (morgens, mittags, abends) folgt, werden noch geriatri

14 Zum Symptom Pterygium vergleiche R. L. Miller, Nouvelles Assyriologiques Breves et

Utilitaires, Paris 1989, Nr. 10. 15 8: SA.GIG 4/28 (TDP 36/28); 9: SA.GIG 13/6061 (TDP 116/2-3); 10: SA.GIG 33/99

(BAD 357, 363); 11: SA.GIG 14/216' (TDP 142/11'). 254

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Diagnostik in Babylonien und Assyrien

sche Beschwerden eingeschoben, also das hohe Alter des Patienten beriick

sichtigt. Schliefilich werden Symptome beschrieben, die am ganzen Korper

auftreten, wobei es sich vor allem um Temperaturbeobachtungen handelt.

Abgeschlossen wird das Kapitel mit Betrachtungen zur Diat des Kranken.

Das nachste Kapitel des Diagnosehandbuchs beschaftigt sich ausschliefilich

mit der Epilepsie. Neben den entsprechenden Symptombeobachtungen

(Krampfe, Anfalle, Speichelflufi, etc.) wird hier auch, nach einer neuge fundenen Tafel, das Alter des Kranken beim ersten Auftreten der Epilepsie

berucksichtigt (die genannten Altersstufen sind bei Geburt, mit 3, 7, 10, 20, 30 und 50 Jahren). In ethischer Hinsicht ist besonders interessant, dafi

Neugeborene, die an schweren Epilepsieformen litten, nicht behandelt, sondern getotet werden sollten, wahrend bei alteren Kindern eine Behand

lung versucht wurde. Das funfte Kapitel ist schweren Fiebererkrankungen

gewidmet, aber leider noch zu wenig bekannt, um es hier genauer zu eror

tern.16 Das letzte Kapitel schliefilich ist gemafi seinem Titel ?Wenn eine ge

barfreudige Frau schwanger ist" hauptsachlich geburtshilflichen und gyna

kologischen Fragen gewidmet. Die erste Tafel dieses Kapitels beschaftigt sich mit schwangeren Frauen, die aber nicht krank sind. In dieser Tafel

geht es darum, aus normalen Schwangerschaftssymptomen, etwa der Ver

anderung der Brustwarze, auf die Anzahl, das Geschlecht und den zukiinf

tigen sozialen Status der ungeborenen Kinder zu schliefien. Dann folgen

Symptombeobachtungen bei tatsachlich erkrankten schwangeren Frauen, wozu unter anderem auch eine Inspektion des abgehenden Fruchtwassers

gehorte. Die allerletzte, 40. Tafel des Diagnosehandbuchs behandelt

schliefilich noch die Padiatrie - genauer: Symptome bei Sauglingen; hier wird vor allem das Saugen der Muttermilch thematisiert.

Die Untersuchung des Patienten

Dieser stringente Aufbau des Diagnosehandbuchs und weitere Angaben in

diagnostischen und auch therapeutischen Texten erlauben es uns, eine de

taillierte Vorstellung der Untersuchung zum Zweck der Diagnosestellung zu gewinnen. Wie schon aus dem Titel der ersten Unterserie ?Wenn der

Beschworer zum Haus des Kranken geht" ersichtlich wird, machten die

babylonischen Heilkundigen vornehmlich Hausbesuche. Uber etwaiges

Vorsprechen von Kranken im Hause des Beschworers ist uns nichts be

kannt, jedoch wissen wir, dafi an den Tempeln der Heilgottin Gula, vor al

lem in der Stadt Isin, in der sie in Babylonien hauptsachlich verehrt wur

16 Die Problematik der inhaldichen Beschreibung dieses Kapitels liegt vor allem in der Tatsa

che, daft von den funf dem Kapitel zugehorigen Tafeln bisher nur zwei entdeckt wurden. Diese beiden Tafeln (die 31. und 33.) sind zu heterogen, um inhaltliche Gemeinsamkeiten herausarbeiten zu konnen.

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Nik P. Heefiel

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Diagnostik in Babylonien und Assyrien

1 cm

Abb. 1 und 2: Foto und Handkopie der Vorderseite einer babylonischen Tontafel aus dem

letzten Drittel des ersten Jahrtausends v. Chr. Der Text enthalt Beobachtungen zum Alter

des Kranken beim ersten Auftreten von Epilepsie (BM 56605, Vorderseite - publiziert mit

freundlicher Erlaubnis der Trustees des British Museum, London).

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Nils P. Heefiel

de, Arzte und Beschworer beschaftigt waren und Kranke dort Behandlung und wohl auch stationare Aufnahme erfahren konnten.17 Wie oben schon

ausgefiihrt, achtete der Beschworer auf seinem Weg zum Haus des Kran

ken genauestens auf etwaige ominose Vorzeichen, die ebenso wie die Sym

ptome Aufschlufi fiber den Krankheitsverursacher und den Krankheitsver

lauf geben konnten. Am Haus des Kranken angekommen, begann er die

Untersuchung des Patienten, der dazu sicherlich unbekleidet war. Doch

bevor der Beschworer sich ganz in diese systematische Beobachtung der

Korperteile vertiefte, hatte er sich, wie die erste Zeile der zweiten Unterse

rie zeigt, einer Reinigungszeremonie zu unterziehen:

12. Wenn du dich einem Kranken nahern willst, so nahere dich ihm keinesfalls, bis du eine Reinigungszeremonie an dir vollzogen haben wirst.18

Vermutlich geht eine solche hygienische Anweisung zur Vermeidung von

Ansteckung auf empirisch gewonnene Erkenntnisse zuruck. Nach seiner

Reinigung begann der Beschworer die Untersuchung mit Reaktionstests.

Dazu spritzte er dem Kranken Wasser ins Gesicht, schuttete es auf seinen

Kopf und flofite es ihm in den Mund ein, um aus der Reaktion des Kran ken Riickschlusse zu ziehen. Schliefilich wurde der Korper des Kranken von der Schadeldecke bis zu den Zehen inspiziert. Dabei wurden bei paarig vorhandenen Korperteilen immer erst der rechte, dann der linke und zu

letzt beide zusammen betrachtet. Der Beschworer begann seine Untersu

chung also mit der eigenen Wahmehmung der Symptomatik und verschaff

te sich so zuerst selbst ein Bild fiber die Krankheit, bevor er zur Eigen- und

Fremdanamnese iiberging.19 Hatte sich der Beschworer anhand der selbst

beobachteten Symptome iiber die Erkrankung informiert, begann er mit

den Erkundigungen beim Patienten und seinen Angehorigen zur Kranken

geschichte. Hierbei interessierten ihn vor allem Beginn und Dauer der Er

krankung sowie das Auftreten von Symptomen zu bestimmten Tages- und

Nachtzeiten und was der Patient zu sich genommen hatte.

Der Beschworer bediente sich bei der Untersuchung des Patienten wie alle

Heilkundigen der Antike und des Mittelalters ausschliefilich seiner Sinne.

Genaugenommen konnen wir allerdings nur vier Sinne bei der Untersu

chung mit Sicherheit belegen: Zur visuellen und auditiven Untersuchung kommen noch haptische und olfaktorische Untersuchungen; dies belegen

17 H. Avalos, Illness and Health Care in the Ancient Near East, Atlanta 1995, 196-216. 18SA.GIG 3/1 (BAD 20). 19 Natiirlich ist es schwierig, den Ablauf einer Untersuchung ausschliefilich anhand des Auf baus des Diagnosehandbuchs zu erschliefien. Die Wahrnehmung der Symptomatik durch den Beschworer und die Eigen- sowie Fremdanamnese sind teilweise sicher zeitgleich er

folgt. Dennoch spiegelt m.E. die Reihenfolge des Diagnosehandbuchs den konzeptionel len Ansatz der babylonischen Gelehrten wider. 258

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Diagnostik in Babylonien und Assyrien

Phrasen wie ?wenn die von der Krankheit befallene Stelle beim Beriihren

hart wie Stein ist" oder ?wenn es aus den Ohren eines Patienten schlecht

riecht". Der Gebrauch des Geschmackssinns ist bisher noch nicht bei der

Diagnosestellung nachgewiesen. An Untersuchungsverfahren bediente

sich der Beschworer der Inspektion und der Palpation, die Auskultation

und die Perkussion sind dagegen nicht mit Sicherheit zu belegen. Bei der

Inspektion wurde der Patient im Liegen, Gehen und Stehen, von hinten

und vorne sowie von oben bis unten untersucht. Bei der Palpation wurden

anscheinend alle Korperteile abgetastet, um kein Symptom zu iibersehen.

Eine Messung nach Gewicht, Grofie und Umfang (Mensuration) ist in Ba

bylonien sicherlich nicht durchgefuhrt worden.

Die bei der Untersuchung beachteten Symptome sind so zahlreich, dafi

hier nur eine kleine Auswahl beispielhaft genannt werden kann. Grund

satzlich wurde bei den einzelnen Korperteilen zuerst auf Verfarbungen und

dann auf etwaige Entziindungen oder Anschwellungen geachtet. Weiterhin

wurde die Temperatur der Korperteile sorgfaltig registriert, auch wenn da

zu dem Untersuchenden nur sein subjektives Empfinden zur Verfiigung stand: So unterschied man die Temperatur in vier Kategorien ?kalt

- nicht

sehr heifi - heifi - brennend heifi". Uberaus zahlreich sind Symptome, die

an bestimmte Korperteile gebunden sind. Besonders das Auge wurde ge nauestens inspiziert, etwa ob die Pupille weit oder eng wird, die Augen verklebt sind oder gar Eiter aufweisen oder ob Aderchen im Auge geplatzt sind etc. Dieses ophthalmologische Interesse diirfte sicher auf die im Vor

deren Orient haufig auftretenden Augenleiden zuruckgehen.20

Neben den am Korper auftretenden Symptomen werden auch allgemeine Faktoren wie Laute und Gerausche, mehr psychologische Symptome wie

Depressionen, Aufregung, Schreckhaftigkeit, und naturlich auch die Efi

und Trinkgewohnheiten des Patienten bei der Untersuchung beriicksich

tigt.

Wahrend die Kenntnis der inneren Anatomie in Babylonien im allgemei nen sehr gering war, wurden bestimmte innere Korperteile bei der dia

gnostischen Untersuchung berucksichtigt. Hierzu gehoren vor allem die

blutfiihrenden Arterien und Venen, die Nerven sowie die Muskeln und

Sehnen, die jedoch nicht einzeln bezeichnet, sondern zusammenfassend

iefdnu genannt wurden. Dieser Begriff umschliefit alle diinnen, lang lichen Teile im Korper und ist am besten als ?Strange (des Korpers)" zu

259 20Vergleiche M. Stol, Old Babylonian Ophthalmology, in: M. Lebeau und P. Talon

(Hrsg.), Reflets des deux fleuves, Festschrift Finet, Akkadica Suppl. VI, Leuven 1989, 163-166.

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Nils P. Heeflel

ubersetzen.21 In einigen Fallen gelingt es, den genauen Korperteil zu

identifizieren, der sich hinter dem Begriff ser'dnu verbirgt. So sind z. B.

die Bfutgefafie gemeint, wenn die blauliche Verfarbung der Strange oder ihre Grofie und Lage unter der Haut thematisiert werden. Dariiber hinaus

war aber auch der Pulsschlag bekannt und wurde haufig beobach

tet:22

13. Wenn die Adern (ser'dnu) seiner Fiifie stark hin- und hergehen, an seinen Handen

dagegen die Adern ganz still stehen: Von unten ist die Krankheit in ihn eingetreten, er wird Schmerzen haben, aber gesunden.23

Aus der Wahrnehmung des Zusammenhangs des Pulses an verschiedenen

Korperteilen wie den Handen und Fiifien darf sicher nicht geschlossen werden, dafi die Babylonier den Blutkreislauf gekannt haben.24 In einem

weiteren Eintrag des Diagnosehandbuchs konnte der Begriff ser'dnu den

Nerv bezeichnen:

14. Wenn seine Oberschenkelstrange ihn gleichzeitig schmerzen und er nicht aufstehen und umherlaufen kann: s<*gd//?-Krankheit.25

Nattirlich wurde nicht nur der Korper, sondern es wurden auch seine Aus

scheidungen genaustens untersucht. Die Uroskopie und die Koproskopie wurden dabei fur so wichtig erachtet, dafi diese Symptombeobachtungen in das zweite Kapitel des Diagnosehandbuchs

- die Auflistung der Korper teile - nach dem Penis bzw. dem After eingeschoben wurden, bevor mit

den nachsten Korperteilen fortgefahren wurde. Untersucht wurden diese

Ausscheidungen, ebenso wie der Speichel und auch das Blut, auf Farbe, Geruch und Konsistenz.

Hatte der Beschworer die Symptomatik erkannt, konnte er hieraus auf die

Krankheit und auch auf den Krankheitsverursacher zuriickschliefien und

die Diagnose sowie die Prognose stellen. Einige Symptombilder wurden

jedoch als so gefahrlich eingestuft, dafi vor einer Diagnose- und Prognose

stellung zuriickgeschreckt wurde:

21 Siehe St. M. Maul, Die babylonische Heilkunst. Medizinische Keilschrifttexte auf Ton tafeln, 34.

22 Zur Betrachtung des Pulses in Mesopotamien siehe A. L. Oppenheim, On the Observati on of the Pulse in Mesopotamian Medicine, in: Orientalia 31, 1962, 27-33.

23SA.GIG 14/260,-26r (TDP m/S^-M'). 24 Hier zeigt sich, wie vorsichtig man bei Ubersetzungen sein mufi. Aus einer sehr freien

Ubersetzung des agyptischen medizinischen Papyrus Ebers wurde lange Jahre geschlos sen, dafi die Agypter den Blutkreislauf entdeckt hatten. Mittlerweile ist klar, dafi dies nicht der Fall ist und das Verdienst dieser Entdeckung allein William Harvey gebuhrt. 25 SA.GIG 33/98 (BAD 357, 363). A. L. Oppenheim, On the Observation of the Pulse in Mesopotamian Medicine, 32 Anm. 2 hat diese Textstelle als Beleg fur die Kenntnis des Ischiasnervs gedeutet. t !60

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Diagnostik in Babylonien und Assyrien

15. Wenn er sechs Tage krank ist und sich am siebten Tag auf dem Weg der Besserung befindet, er am achten Tag wieder krank wird, aber am neunten Tage gesundet, am zehnten wiederum erkrankt und dann am elf ten Tag gesund erscheint: Seine Krank heit ist in ein gefahrliches Stadium getreten, der Beschworer soil fur seine Genesung keine Diagnose (oder Prognose) abgeben.26

Naturlich konnte die Symptomatik einer Krankheit anderen so ahnlich

sein, dafi eine Differentialdiagnose vonnoten war, wie der folgende Eintrag

zeigt:

16. Wenn er wahrend seiner Krankheit seine Augen nicht hebt, aus seinen Augen, sei ner Nase, seinem Mund, seinen Ohren und seinem Penis gleichzeitig Blut austritt: Hand der Plejaden, (wenn es aber) am 31. Tag (seiner Krankheit geschieht): Hand (des Sternbildes) der Zwillinge.27

Reaktionstests wurden nicht nur am Beginn der Untersuchung durchge fuhrt, sondern vereinzelt auch erst nach der Diagnosestellung, um zu einer

genauen Prognose zu gelangen. So spritzte man etwa dem Kranken Wasser

ins Gesicht, um zu beobachten, ob er darauf reagierte, was als positives Zeichen gedeutet wurde; eine fehlende Reaktion wurde als Hinweis ver

standen, dafi der Kranke wohl nicht uberleben werde.

Einmal diagnostizierte Krankheiten konnten sich auch verandern. Vor al

lem bei der Epilepsie wurde das Umschlagen einer Krankheitsform in eine

andere beobachtet und wiederum prognostisch ausgedeutet.

Weiterhin finden sich im Diagnosehandbuch hin und wieder auch Behand

lungsanweisungen. Diese zielen jedoch nicht darauf, die Krankheit direkt zu heilen, sondern zu vermeiden, dafi ein Patient langer als den vorherbe stimmten Zeitraum krank bleibt. Ein Beispiel:

17. Wenn (der Kranke) infolge zuviel Sonneneinstrahlung iiberhitzt ist und ganz dun kel wird und sie (die Hitze) ihm Krampfe? bereitet? und er brennend heifies Fieber bekommt: Dieser Mann wird 14 Tage krank sein. Um seine Krankheit nicht langer dauern zu lassen, wirfst du ihn (nach dieser Zeit) in kaltes Wasser, bis sein Bauchbe reich richtig zittert, lafit ihn dann stehen, und (erst) dann salbst du ihn wiederholt

mit warmem 01, dann wird er gesunden.28

War die Diagnose einmal gestellt, schritt der Arzt zur Behandlung des

Kranken. Tausende von therapeutischen Texten sind uns erhalten, die ver

schiedene Rezepturen und Behandlungsmethoden fur Krankheiten ver

zeichnen. Therapeutische Texte zitieren manchmal die Symptomatik, be

vor sie zur Rezeptur ubergehen; zumeist jedoch nennen sie nur die Krank

heit und listen dann mehrere Rezepte auf.

261

26SA.GIG 16/73'-74' (BAD 178, 184). 27SA.GIG 17/25-26 (BAD 197, 207). 28 SA.GIG 31/6-8 (BAD 342, 345).

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Nils P. Heefiel

Diagnostik und Therapeutik

Doch wie verbindet sich nun die Diagnostik, die in ihren getroffenen Dia

gnosen allem Anschein nach mehr an der sozial-religiosen Einordnung der

Erkrankung interessiert ist, mit einer Therapeutik, die auf Linderung von

Krankheitssymptomen abzielt? Zwischen den therapeutischen und den

diagnostischen Texten klafft nach unserem Verstandnis eine Liicke, die vor

allem in der Forschung der 1950er und 60er Jahre zu einer strikten Tren

nung dieser zusammengehorigen Zweige der Medizin gefiihrt hat. Die

Diagnostik sei demnach rein religios-magisch ausgerichtet und versuche, auf diesem Wege dem Patienten zu helfen, wahrend die Therapeutik einem

rational-empirischen Ansatz folge, der allein als Vorlaufer der griechischen - und damit letztlich der abendlandischen - Medizin zu gelten haben. Aus

geblendet wurde hierbei die Tatsache, dafi sich zum einen in den diagnosti schen Texten rationale und systematische Ansatze finden, die die griechi sche Medizin massiv beeinflussen sollten, und dafi zum anderen auch die

therapeutischen Texte nicht frei von nach unserem Verstandnis ?magi schen" EmfKissen sind. So enthalten beispielsweise Rezepte haufig magi sche Praktiken, die die Wirksamkeit eines Medikamentes erhohen sollten, und bei Behandlungsanweisungen wird das Rezitieren von Beschworungs formeln vorgeschrieben. Noch immer bestimmt das Bild der Dichdtomie

von Rationalitat und Magie die heutige Sichtweise der babylonischen Dia

gnostik und Therapeutik und verbunden damit auch der schon eingangs er

wahnten Berufsgruppen der Heilkundigen -

dsipu und asu: der Arzt {asu) heilt demnach den Patienten mit der rational-empirischen Therapeutik, wahrend der Beschworer (dsipu) mittels der Diagnostik ausschliefilich fur die magisch-religiose Verortung der Krankheit und das Wiederherstellen

des sozial-religiosen Aquilibriums verantwortlich ist. Pragnant wurde die se Sichtweise in den 1990er Jahren auf den Punkt gebracht: ?Der Beschwo

rer gebraucht nur die Formulierung ,Hande der Gotter', der Arzt benutzt

den Krankheitsnamen in seiner Diagnose".29

Diese Sichtweise kann mittlerweile endgiiltig durch eine jiingst publizierte Tontafel widerlegt werden.30 Der Text gehort als 33. Tafel zum Diagnose handbuch des Beschworers, ordnet den Krankheitssymptomen jedoch erstmals durchweg eine Krankheitsbezeichnung zu, anstelle einer Identifi

zierung des Krankheitsverursachers. Der Text folgt der Phraseologie ?Wenn der Befund der befallenen Stelle" - darauf folgt die Beschreibung der Symptomatik

- ?dann ist x der Name der Krankheit". Einige Beispiele:

29 M. Stol, Diagnosis and therapy in Babylonian medicine, in: Jaarbericht - Ex Oriente Lux

32, 1991-1992, 64. 30

Erstmals publiziert von E. von Weiher, Spatbabylonische Texte aus dem Planquadrat U 18, Ausgrabungen in Uruk-Warka, Endberichte 12, Mainz 1995, Nr. 152. Eine Neube

arbeitung findet sich bei N. P. HeeAel, Babylonisch-assyrische Diagnostik, 353-374. 262

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Diagnostik in Babylonien und Assyrien

18. Wenn der Befund der befallenen Stelle wie die Schuppenhaut eines Fisches ist, sein Leib rot wird und er den Befund eine festgesetzte Zeitspanne aufweist: risutu ist der Name der Krankheit.

19. Wenn der Befund der befallenen Stelle heifl wie Fieber und wafirig ist: bubu'tu ist ihr Name.

20. Wenn der Befund der befallenen Stelle heift wie Fieber, aber nicht wassrig ist und dafiir voll mit kleinen Blaschen ist: isitu ist ihr Name.

21. Wenn der Befund der befallenen Stelle rot ist, der Mensch andauernd heifi wird und sich iibergibt: sdmdnu ist ihr Name.

22. Wenn der Befund der befallenen Stelle hart wie Stein ist und sie sich entweder an seinem Hals oder in seiner Achselhohle oder in seiner Leiste befindet: Innerhalb von drei Tagen [wird er sterben, saddnu ist ihr] Name.31

Die Tatsache, dafi dieser Text zum Diagnosehandbuch gehort, macht deut

lich, dafi die Identifizierung der Krankheit keineswegs vom Arzt, sondern

vom Beschworer vorgenommen wurde und die Diagnostik damit sowohl

eine nach unserer Sichtweise magisch-religiose als auch rationale Seite auf

weist. Einzelne Zitate dieses Textes finden sich auch in therapeutischen Texten und zeigen damit die Verbindung von Diagnostik und Therapeutik auf.

Es war demnach die Aufgabe des Beschworers, sowohl die Krankheit

selbst als auch den Krankheitsverursacher zu identifizieren. Mit diesem

Wissen konnte er dann einerseits die Krankheit mit therapeutischen Mit

teln behandeln, andererseits aber auch die Ursache fur die Erkrankung, die

Verargerung einer Gottheit iiber den Patienten, mittels Reinigungsritualen und Beschworungen beseitigen und so zu einer Entfernung des von der

Gottheit durch die Beruhrung des Patienten in ihn gepflanzten Krankheits

herdes gelangen.

Die 33. Tafel des Diagnosehandbuchs zeigt aber noch mehr. Denn nach ei

nem Strich folgt am Ende der iiber 100 Eintrage, die Krankheiten benen

nen, eine zweispaltige Liste, in der den Krankheitsbezeichnungen jeweils die ?Hand" einer Gottheit zugeordnet ist. So wird die Krankheit sdmdnu

auf die ?Hand" der Heilgottin Gula zuriickgefuhrt oder die diksu-Krznk

heit auf die ?Hand" des Gotterkonigs Marduk. Hiermit besafi der Be

schworer ein Instrument, den Krankheitsverursacher sofort anhand der

identifizierten Krankheit zu ermitteln.

263

3118: SA.GIG 33/11 (BAD 353, 359); 19: SA.GIG 33/14 (BAD 353, 359); 20: SA.GIG 33/ 15 (BAD 354, 359); 21: SA.GIG 33/24 (BAD 354, 360); 22: SA.GIG 33/32 (BAD 355, 360). Beim letzten Eintrag (22) handelt es sich, wie F. Kocher (in: R. M. Boehmer et al: Uruk - Die Graber, Ausgrabungen in Uruk-Warka, Endberichte 10, Mainz 1995, 212) ange merkt hat, um die klassische Symptomatik der Beulenpest. Ob auch die anderen Sym

ptombeschreibungen der Krankheit saddnu zu dieser Diagnose passen, mufi in einer ge naueren Untersuchung geklart werden.

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Nils P. Heefiel

Ein weiteres diagnostisches Hilfsmittel, das etwa in der Mitte des 1. Jt. v.

Chr. erstmals belegt ist und daher noch nicht in das altere Diagnosehand buch inkorporiert war, ist eine Krankheitsliste, welche die Krankheiten

den Organen, aus denen sie entstehen, zuordnet. So werden dem Herzen, dem Magen, der Lunge und den Nieren jeweils zwischen 6 und 12 Krank

heiten zugewiesen.32

Im einzelnen konnen wir die babylonischen Krankheiten mit Ausnahme

einiger weniger Falle kaum mit heutigen Krankheiten korrelieren. Fur die

Epilepsie hatten die Babylonier mindestens sechs verschiedene Bezeich

nungen, die jeweils ein bestimmtes Krankheitsbild beschreiben.33 Die lan

ge Jahre geltende Gleichsetzung der Krankheit sabarsubbu mit der Lepra kann heute nicht mehr aufrecht erhalten werden.34 Bezeichnend fur die Si

tuation ist, dafi die einzige wirklich als ?identifiziert" geltende Krankheit, der Ikterus, bekanntermafien heute nicht als Krankheit, sondern als Sym

ptom klassifiziert wird. Dieser mafiige Erfolg bei der Identifizierung heuti

ger Krankheiten unter den babylonischen Krankheitsbezeichnungen ist na

tiirlich einerseits auf die Schwierigkeit der kulturspezifischen Klassifikati on von Krankheiten zuriickzufiihren, andererseits aber auch auf die Un

moglichkeit, eine exakte retrospektive Diagnose anhand von antiken

Krankheitsbeschreibungen zu stellen. Man kann und sollte die Schwierig keiten bei der Identifizierung antiker Krankheitsbezeichnungen auch als

Chance begreifen, weniger nach Krankheitsidentifizierungen zu suchen als

vielmehr das medizinische System einer Kultur zu untersuchen, das auf ih ren ganz speziellen sozialen, wirtschaftlichen, politischen und - vor allem -

religiosen Ansichten aufgebaut ist. So konnte es erfolgversprechender sein, die Kriterien zu bestimmen, nach denen die Babylonier Krankheiten

klassifizierten, anstatt zu versuchen, sie nach heutigen Klassifikationssche

mata zu identifizieren.

32 Siehe zu diesem Text die Bearbeitung und Deutung von F. Kocher, Spat-babylonische medizinische Texte aus Uruk, in: C. Habrich et al. (Hrsg.), Medizinische Diagnostik in Geschichte und Gegenwart, Festschrift H. Goerke, Miinchen 1978, 17-34, bes. 23-25.

33 Zu den verschiedenen babylonischen Krankheitsbildern, die der Epilepsie zugeordnet werden, siehe M. Stol, Epilepsy in Babylonia, Cuneiform Monographs 2, Groningen 1993, S. 5-21. Zu den Schwierigkeiten, verschiedene Krankheitsbezeichnungen unter dem

Begriff Epilepsie zusammenzufassen, siehe die Diskussion von H. Avalos, Journal of Cu

neiform Studies 47, 1995, 119-121 und N. P. Heessel, Babylonisch-assyrische Diagno stik, S. 33 Anm. 56.

34 Siehe dazu F. Kocher, Saharsubbu - zur Frage nach der Lepra im alten Zweistromland, in: J. H. Wolf (Hrsg.), Aussatz -

Lepra - Hansen-Krankheit: Ein Menschheitsproblem

im Wandel, Wiirzburg 1986, 27-34 und zuletzt M. Stol, Leprosy. New Light from Greek and Babylonian Sources, in: Jaarbericht Ex Oriente Lux 30, 1987-88, 22-31. 264

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Diagnostik in Babylonien und Assyrien

Die wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung der babylonischen Diagnostik

In Babylonien bildete sich mit einer peinlich genauen Untersuchung des

Patienten und der wohldurchdachten Anordnung von Tausenden von ge wonnenen Symptombeobachtungen erstmals in der Menschheitsgeschichte eine systematische Diagnostik heraus, die auch auf die griechische Medizin

wirken sollte.35 Die Bedeutung des babylonischen Diagnosehandbuchs

liegt jedoch nicht allein in seinem systematischen Aufbau durch die Anord

nung von Symptomen a capite ad calcem. Dieses Anordnungsschema liegt

implizit auch schon dem in der Mitte des 2. Jt. v. Chr. niedergeschriebenen

agyptischen chirurgischen Papyrus Edwin Smith36 zugrunde und - noch

friiher, am Ende des 3. Jt. v. Chr. - der sumerischen Liste der Korperteile mit dem Namen ugu-mu ?Meine Schadeldecke". Entscheidend ist viel

mehr, dafi in einem fur diese Zeit vollig aufiergewohnlichen Text, in dem der Redakteur des Diagnosehandbuchs sich selbst vorstellt und seine Be

weggriinde fur die Redaktion darstellt, das Schema - akkadisch istu muhhi

adi sepe ?Von der Schadeldecke zu den Fiifien" - explizit als Anordnungs

schema genannt wird und der Autor durch die Offenlegung seiner Metho

dik seine redaktionelle Tatigkeit uberpriifbar macht. In diesem Text, der

einer Art Katalog zum Diagnosehandbuch angehangt ist, berichtet der Ge

lehrte Esagil-kin-apli von dem unbenutzbaren Zustand der diagnostischen Texte, die - so schreibt er - ?seit alters her niemals in einer Serie zusam

mengefafit waren", und wie er sich ?aufgrund von widerspruchhchen Tra

ditionen, fur die keine Textduplikate verfugbar waren", genotigt fand, eine

Neuedition zu erstellen. Dann nennt er seine zahlreichen Titel und be

schreibt seine Stellung als der Gelehrte seiner Zeit. Schliefilich berichtet er:

(Daher habe ich) die Neuedition des Diagnosehandbuchs geschaffen, istu mul&i adi se

pe ?Von der Schadeldecke zu den Fiifien", und es fur die Wissenschaft etabliert. Sei vor

sichtig! Pafi auf! Sei nicht nachlassig in deiner Bildung! Wer kein Wissen erwirbt, der soli die Eintrage des Diagnosehandbuchs nicht lesen. Die Serie sakikku (das Diagnose handbuch) betrifft alle Krankheiten und jede Form von Depression ... Moge der Be schworer, der die Entscheidungen fallt, der iiber das Leben der Menschen wacht, der die Serie sakikku ganzlich kennt, den Patienten untersuchen und die Texte uberpriifen, moge er alles griindlich erwagen und erst dann seine Diagnose ... treffen!

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35 Vergleiche hierzu R. Labat, Traite akkadien de diagnostics et pronostics medicaux, S.

XXXV-XLV und J. Filliozat, Pronostics medicaux akkadiens, grecs et indiens, in: Jour nal Asiatique 240, 1952, 299-321. 36 Der Papyrus wurde am Beginn des Neuen Reiches niedergeschrieben, der Text soil aber

aufgrund von altagyptischen Sprachformen um die Mitte des 3. Jt. v. Chr. entstanden sein, siehe dazu W. Westendorf, Handbuch der altagyptischen Medizin, Bd. 1, Leiden 1999, 16. Fur die Abfolge der einzelnen Rezepte des Papyrus ist aber der Zeitpunkt der Nieder schrift entscheidend, da nicht ausgeschlossen werden kann, daft vorhandene altere Rezepte bei der Anfertigung des Papyrus in eine neue Reihenfolge gestellt wurden.

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Nils P. Heefiel

In diesen Ermahnungen, zu lernen und die Texte zu studieren, die Sym

ptome genau zu beobachten und erst nach griindlicher Erwagung die Dia

gnose zu treffen, darf man vielleicht den Beginn einer Diagnostik sehen, die in ihrer Systematik und Methodik schon wissenschaftlich genannt zu

werden verdient.

Anschrift des Verfassers: Dr. Nils P. Heefiel Seminar fur Sprachen und Kulturen des Vorderen Orients

Assyriologie Hauptstr. 126 D-69117 Heidelberg

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