Der Lyriker als Kosmopolit? Die Weltoffenheit und Weltimagination in der chinesischen Lyrik der 80er...

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Der Lyriker als Kosmopolit? Die Weltoffenheit und Weltimagination in der chinesischen Lyrik der 80er Jahre 1. Einleitung Die chinesische moderne Lyrik hat in ihrer Entwicklung im 20. Jahrhundert zweimal große Welle der Rezeption von und Auseinandersetzung mit den fremden Einflüssen nicht zuletzt aus Europa erlebt. Dass sie auch jeweils den Zeitpunkt der Geburt und Wiedergeburt der chinesischen poetischen Modernität mitmarkiert, spricht freilich viel mehr als die zeitliche Parallelität aus. Die Suche nach einer von der gar hochartistischen konventionellen- klassischen Lyrik abgegrenzten modernen Sprache der Poesie hat von Anfang an, d.h. von dem berühmten polemischen Manifest Über die literarische Revolution im Frühjahr 1917 an, auch den Anspruch der Weltpoesie für sich behauptet: "Von den hervorragenden Geistern in unserer Literatur, wer könnte sich als der chinesische Hugo, Zola, Goethe, Hauptmann, Dickens, Wilde rühmen?" (Chen, 1993, S.263). Der Wunsch auf die Anknüpfung an die

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Der Lyriker als Kosmopolit?

Die Weltoffenheit und Weltimagination in der chinesischen

Lyrik der 80er Jahre

1. Einleitung

Die chinesische moderne Lyrik hat in ihrer Entwicklung im

20. Jahrhundert zweimal große Welle der Rezeption von und

Auseinandersetzung mit den fremden Einflüssen nicht

zuletzt aus Europa erlebt. Dass sie auch jeweils den

Zeitpunkt der Geburt und Wiedergeburt der chinesischen

poetischen Modernität mitmarkiert, spricht freilich viel

mehr als die zeitliche Parallelität aus. Die Suche nach

einer von der gar hochartistischen konventionellen-

klassischen Lyrik abgegrenzten modernen Sprache der

Poesie hat von Anfang an, d.h. von dem berühmten

polemischen Manifest Über die literarische Revolution im Frühjahr

1917 an, auch den Anspruch der Weltpoesie für sich

behauptet: "Von den hervorragenden Geistern in unserer

Literatur, wer könnte sich als der chinesische Hugo,

Zola, Goethe, Hauptmann, Dickens, Wilde rühmen?" (Chen,

1993, S.263). Der Wunsch auf die Anknüpfung an die

europäische moderne Dichtung lässt sich teilweise bei den

nachfolgenden Anstrengungen einer Bewegung der neuen

Lyrik, die bis zu den 40er Jahren fortgesetzt wurde,

realisieren. Besonders in der Anlehung an die Vorbilder

des französischen und deutschen Symbolismus entwickeln

zahlreiche wichtige Lyriker wie z.B. Bian Zhilin, Liang

Zongdei, Li Jinfa, Feng Zhi die ersten schönsten

Beispiele der chinesischen modernen Lyrik, die ihrerseits

einen Nachklang dieser weltweiten lyrischen Bewegung des

Symbolismus im fernöstlichen Kulturraum ausmachen.

Während man in der ersten Entwicklungsphase der

chinesischen modernen Lyrik einen Reiz-Reaktion Effekt im

Zusammenhang der aufkommenden modernen Lyrik in der

ganzen Welt beobachten kann, haben wir in den 80er Jahren

eine ganz andere Situation. Anders ist zuerst die

Zielscheibe der zweiten literarischen Revolution. Nicht

mehr der tausendjährigen glorreichen und deshalb

unterdrückenden lyrischen Tradition wollte man sich

entziehen, sondern der ideologischen Instrumentalisierung

der Poesie, die übrigens schon in den späten 30er Jahren

keimte und nun in der Kulturrevolution zwischen 1966 und

1976 den Gipfel erreicht hat.Und dies durch eine neue

Öffnung für die poetische Welt jenseits der nationalen,

kulturellen und ideologischen Grenze. Der entschiedene

Abschied von einer nahezu kahlgeschlagenen Sprachwelt

geht einher mit der erneuten Aufnahmbereitschaft für die

Inspiration aus der nicht nur europäischen Lyrik, wo man

glaubt, die authentische poetische Sprache und die neue

poetologische Konzeption dadurch aufbauen zu können. Ein

anderer wichtiger und für unseren Zusammenhang noch

interessanterer Unterschied zu der lyrischen Bewegung in

den 20er und 30er Jahren besteht darin, dass die meisten

chinesischen Lyriker zu dieser Zeit nicht wie ihre

Vorgänger den direkten Kontakt mit der zeitgenössischen

Lyrik der Welt durch ein Auslandsstudium oder persönliche

Begegnung schaffen konnten, sondern nur durch die Lektüre

der fremden Übersetzung einen imaginären Dialog mit nicht

mehr zeitgnössischen Autoren zu führen versuchten.

Einerseits greifen sie auf die längst bekannten Lyriker

wie Hölderlin, Rilke, Baudelaire, u.a. zurück, die mit

neuen Übersetzungen wieder ins Blickfeld gerückt werden.

Andererseits schenken sie auch zugleich den neu

"entdeckten" großen Lyriker in der ersten Hälfte des 20.

Jahrhundert wie Osip Emilyevich Mandelstam, Federico

Garcia Lorca, usw. Aufmerksamkeit. Diese gleichsam

anachronistische Beschäftigung mit der europäischen Lyrik

prägt das Schreiben der Lyriker in den 80er Jahren sowohl

im Stil als auch im Inhalt. Bezeichnend ist dabei die

explizite Inszenierung und Gestaltung des Dialogs

zwischen dem lyrischen Ich und seinem zuerkannten

Vorgänger, Verbündeter, Geistverwandten. Darauf werde ich

noch kommen.

Also hier geht es weniger um eine Integration in die

gegenwärtigen Strömungen der Experimentlyrik seit 60er

Jahren oder der Alltagslyrik seit 70er Jahren usw. als um

die Imagination einer gemeinsamen lyrischen Welt in der

Poesie und durch die Poesie. Ohne an einer real

existierenden Weltpoesie teilzunehmen zeigen die

chinesischen Lyriker in den 80er Jahren desto mehr Pathos

für eine erdichtete Verbindung mit der vermeintlichen

Weltlyrik. Dahinter steht ein Selbstverständnis des

Lyrikers als ein über jeglicher Trennung der Menschen

stehender Erlesener, der gleichsam die Leiden der ganzen

Menschheit auf sich nimmt und dadurch eine Gemeinschaft

mit den seinigen bildet. Im folgenden werden am Beispiel

drei der wichtigsten chinesischen Gegenwartslyriker die

Bemühungen um diese poetische Welt und die Gemeinschaft

der Weltlyrik nachgezeichnet, die zweifelsohne eine

Besonderheit der chinesischen Stimme in der mittlerweile

unübersehbaren Polyphonie der Weltsprache der Lyrik

kennzeichnet.

2. Bei Daos Antwort als Zeichen der Weltoffenheit

Die Antwort

Infam lautet das Passwort der Infamen,

Würde ist das Epitaph der Ehrwürdigen.

Schau, am vergoldeten Himmel

Treiben überall die gebogenen Schatten der Toten.

Die Eiszeit längst vorbei,

Warum herrscht überall noch das Eis?

Das Kap der guten Hoffnung ist entdeckt,

Warm messen sich im Toten Meer tausend Segel?

In diese Welt

Habe ich nur Papier, einen Stick und meinen Schatten

mitgebracht,

Um vor den Richtern

Die Stimmen der Verurteilten zu verkünden:

Ich sage dir, Welt,

Ich - glaube - nicht!

Selbst wenn zu deinen Füßen tausend Herausforderer

liegen,

Zähle mich als tausendundeins.

Ich glaube nicht an die Bläue des Himmels;

Ich glaube nicht an die Stimme des Donners;

Ich glaube nicht an die Falschheit von Träumen;

Ich glaube nicht an die Sühnelosigkeit des Todes.

Wenn es bestimmt ist, dass Meere die Dämme durchbrechen,

So lass alle Wasser der Bitternis in mein Herz hinein;

Wenn es bestimmt ist, dass Ufer sich erheben,

So lass die Menschheit ihrer Existenz neu einen Gipfel

wählen.

Es ist der Schnittpunkt der Zeit und blitzende Sterne

Verschönen gerade den unblockierten Himmel,

Es sind fünftausend Jahre alte Piktogramme,

Es sind die Gestalt gewordenen Blicke

künftiger Generationen.

(Beidao, 1991, 10)

Mit seinem erheblich leidenschaftlichen Ausruf "Ich-

glaube-nicht" eröffnete Bei Dao (Pseudoname für Zhao

Zhenkai, geb. 1949) im Erscheinungsjahr des Gedichtes

1978 eine neue Epoche für die chinesische Lyrik, wo die

Samidatlyrik seit den 70er Jahre mit dem Abschluß der

Kulturrevolution und der Lockerung der Kontrolle in der

Literatur und Kunst unter Deng in die Öffentlichkeit

drängte und nunmehr mit dem Namen Menglong Shi (die

hermetische Lyrik) ihre neue Formen und enorme

Bekanntheit gewann. Typisch für diese Übergangsphase

zwischen den totalitären 70er Jahren und den relativ

liberalen 80er Jahren sind hier der rebellische Dichter-

Heroismus, die immer noch kollektive Identität des

lyrischen Ichs und der Gestus des zukunftversprechenden

Propheten. Dies alles schon viel beredet und gedeutet.

Eine neue Lesart im Bezug auf die Ich-Welt-Verhältnisse

in dem Gedicht, die ich hier vorschlage, soll uns aber

einen anderen Blick auf den zweiten Aufbruch der

chinesischen modernen Lyrik anbieten. Ein Aufbruch in die

neue Welt im doppelten Sinne.

Auf der Ebene der lyrischen Gestaltung setzt sich das

lyrische Ich bald nach dem Beklagen über die gegenwärtige

Falschheit und Grausamkeit in einen Weltraum, wo die

geographisch weitentfernten Orte (der Kap der Guten

Hoffung, das Tote Meer) herangezogen werden, ihre

metaphorische Bedeutungen im Namen wieder aktiviert und

zur Infragstellung der eigenen Lebenswelt bedient werden.

Und weiterhin bewegt sich das lyrische Ich stets in

diesem Raum, mit seinem Glaube an eine neue Menschheit

der Authentizität und Unschuld ex negativo. Wobei eine

Erweiterung des leidenden Subjekts immer durch die

kosmischen Bilder formuliert wird, bis diese Raum-

Metapher zu einer Verbindung zwischen der archaischen

Zivilisation und der künftigen Generation im Bild der

Sterne transformiert wird. Diese angedeutete Triade der

Menschengeschichte ist insofern signifkant, als das

Gedicht schließlich weit über einer bestimmten

historischen und politischen Zustand hinausgeht und die

neue Fundierung der Existenz der Menschenheit insgesamt

appelliert.

So augenfällig die Größenphantasie der Post-

Kulturrevolution-Generation, so bedeutsam diese

Konstruktion des neuen Menschenideals in einem gar

phantasierten Weltraum für die weitere Entwicklung der

chinesischen modernen Lyrik. Neue Poesie und neue

Menschenheit fallen hier zusammen und bestimmen die

Beziehung mit der Ferne und Fremde. Nicht zuletzt aus

Abscheu vor der überwältigenden Leitidee des

Klassenkampfs samt ihrer furchtbaren Folge in der nahen

Verganghenheit ist zur Zeit die Gegenbewegung entstanden,

die langjährige Geschlossenheit durchzubrechen und eine

Renaissance des Humanismus und der indivuduellen Freiheit

im Namen der allgemeinen Menschheit aufzuschwören.

Dementsprechend die Projektion der Idealwelt auf die

Außenwelt. Und mehr noch ein Drang, sich einen eigenen

Platz in einer übernationalen Welt zu situieren. Im

Gegensatz zur Wahrnehmung der Fremdheit und der Spannung

der kulturellen Differenzen in den 90er Jahren dominiert

eine Suche nach der idealisierten Gemeinsamkeit der

Menschheit in den späten 70er und den ganzen 80er Jahren.

In diesem Kontext lässt sich tatsächlich eine

vielbedeutende Botschaft in der Weltraum-Metapher in Bei

Daos Gedichts Antwort ablesen. Wie das lyrische Ich der

fremdfeindlichen Ideologie und dem heuchlerischen

revolutionären Idealismus den Rücken zudreht, deutet es

auf eine offene bessere Welt für die ganze Menschen,

allerdings besonders für seine Mitmenschen hin.

In diesem Sinne scheint es nur folgerichtig, wenn die

jüngere Generation, die ab der Mitte der 80er Jahren in

der Öffentlichkeit auftrat und den prominenten Pionieren

wie Bei Dao, Yang Lian, Duo Duo, Gu Cheng Konkurrenz

machte, noch mehr für die westliche klassisch-moderne

Literatur, Kunst und auch Philosophie schwärmt und darauf

ihre eigene Dichtung basiert. Die sensationelle

Erscheinung der hermetischen Lyrik am Anfang der 80er

Jahren, so problematisch wie sie selbst ist, erschließt

sowohl konzeptuell als auch stilistisch einen neuen

Horizont, der eine Aussicht auf die vermeintliche

Weltlyrik in der Ferne ermöglicht und anregt. Und die

wieder belebte Übersetzung- und Vermittlungsarbeit der

modernen Lyrik und Literatur im allgemeinen trägt auch

maßgebend zu der geläufigen Interaktion zwischen dem

Lesen und Schreiben bei. Wie diese Interaktion in die

eigene Dichtung einwirken kann, lässt sich an einem

repräsentativen Beispiel von Hai Zi, dem Idol-Lyriker der

80er Jahren zeigen.

3. Hai Zis Identifikation mit Hölderlin als Imagination

des Lyrikerverbunds

Das Unglück

- Für Hölderlin

1. Der Wein in der Krankheit

Ich nehme ein Krankenbett auf.

Mein Hölderlin, der darin liegt,

Das Pferd, das galoppierte wie verrückt

Quer durch das ganze Frankreich,

Ist Symbol des reinen Lyrikers, des kranken Lyrikers

geworden.

Ach, der unglückliche Lyriker,

Wie sie Dich wie ein Pferd

An das Bett eines Zimmermanns angefesselt haben.

Ich weiss nicht, ob

Am Abend wo der August verging,

Der zweite Bruder Sophokles

Mit seiner Tragödie Deine Schmerzen mildern konnte.

Wenn die Schwester und Pastor

Das verhängnisvolle Vließ erhoben,

Das brennde Vließ,

Das brannte wie Schnee.

Er sagte, - keine Eile, Ihr ungeduldige Götter,

Nachdem eine letzte Hymne an die Heimat gesungen wird,

Werde ich in Euer

Dunkles und dumpfes Horn einschleichen,

Das vollgefüllte, tönende Horn,

Das zugleich die Krone und das verrücke Ziegenhorn

ist: ich lege mich ab

- "zehntausende Jahre wären zu lang"

Übrig bleibt nur das Horn, die Lyrik dunkel, der

Lyriker blind.

4. Nach dem Blut ist die Dunkelheit, die noch röter

als Blut ist

Hölderlin, sag mir, wie die Dunkelheit war,

Wie sie Dich überschwemmte,

Wie sie Dich in den Armen nahm,

So wie der Strom ein Pferd verschluckt.

[...]

Welcher Gott Dich an der Hand führte über den Weg

wo das Licht und die

Dunkelheit durchkreuzten?

Was für greise Mutter und verwandten Zimmermann Du

am Ufer trafst?

Waren sie Illusion, oder Wahrheit?

Waren sie Schönheit oder Lüge? Düsternis oder

Euphorie?

Oder die Vereinigung von Beiden: Herrschaft.

Nach dem Blut immer noch Dunkelheit, die noch

rötter als Blut ist.

Ich werde Dein für immer und ewig gedenken,

Des unglückliche Bruders, Hölderlin! (Haizi, 2009,

309ff.)

Mit dem Abebben des Pathos des Propheten-Dichters

zeichnet eine tiefgreifende Selbstreflexion über die

lyrische Sprache und den Lyriker bei den sogenannten

post-hermetischen Lyrikern ab. Diese verbindet sich

öfters mit einer Verarbeitung ihrer Erfahrung der Lyrik

vor allem aus Europa und Russland. Exemplarisch dafür ist

Hai Zi (Pseudoname für Zha Haisheng, 1964-1989), dessen

Lyrik seine Zeitgenossen und viele Kollegen begeisterte

und durch das unermüdliche Besingen der Göttlichkeit des

Lyrikers einen eigenartigen und unersetzlichen Platz in

der Lyrik der 80er Jahren einnimmt. Diese Göttlichkeit

ist seiner transformierenden Aneignung der Götterwelt bei

Hölderlin zu verdanken, was er selbst in einer Rezension

über Hölderlins Lyrik offen bekennt. Mit einem Imperativ

bringt er auch seine Identifikation mit Hölderlin in

seiner Auffassung des Lyrikers zum Ausdruck: "Als ein

Dichter sollst du das Geheimnis der Menschen lieben, von

Land zu Land ziehen in heiliger Nacht. Liebe den Schmerz

und das Glück der Menschen. Halte aus, was auszuhalten

ist, und singe, was gesungen werden muß.".(Haizi, 2009,

916) Also eine Identifikation im Zeichen der Leiden und

Liebe für die Menschen, wobei die christliche Idee der

Nächstenliebe in eine gar geheimnisvolle Alleinheit der

lyrischen Phantasie transponiert wird.

Solche Selbstreflexion und Selbstbestimmung des Lyrikers

findet man nicht selten in Hai Zis Dichtung. Die

Beziehung zwischen der Anregung von Hölderlin und dem

eigenen Schaffen kann sich nicht mehr veranschaulichen

als in seinem "Unglück. Für Hölderlin". Das ganze

poetologische Gedicht setzt einen Dialog zwischen dem

lyrischen Ich und seinem "Bruder", also seinem

Geistesverwandten Hölderlin in Szene. Die Ausführung

eines ständig von Leiden und Wahnsinn heimgesuchten

Dichterlebens, so wie der Titel des "Unglücks" deutlich

macht, ist im Zusammenhang der mythologischen und

poetologischen Intertextualität zu einer

Initiativgeschichte des "reinen" Lyrikers verwandelt. Das

Unglück, die Leiden und der Wahnsinn werden nicht nur als

Voraussetzungen des reinen Lyrikers sondern seine

Wesensbedingungen schlechthin beschrieben. Die

vielbedeutende Verbindung des Bluts und der Dunkelheit

arktikuliert anschließend und abschließend Opfer- und

Gewaltsphantasie, Hermetik und Heiligkeit, Macht der

Poesie und Schicksal des Lyrikers in einem Zug. Die

Anrede des Bruders und das wiederholte Attribut des

Unglücks in der allerletzen Zeile deuten hin, dass es

hier nicht bloß um eine Widmungsgedicht geht, sondern

vielmehr eine imaginäre poetologische Kommunikation bis

zur Identifikation. Durch eine genealogische Metapher

hebt das lyrische Ich seine Bereitschaft hervor, das

Schicksal Hölderlins zu teilen, mitzuleiden, mitzusingen,

da es sich auf dem Weg zu einem reinen und kranken

Lyriker führen will. Die ausführliche Wiedergabe

Hölderlins Erlebnisse und die vielfache Anspielung auf

seine lyrischen Texte erscheinen im nachhinein als eine

Konstruktion einer vertrauten poetischen Welt, wo das

lyrische Ich sich als Eingeweihter erlebt.

Diese im eigenen Gedicht gestaltgegebene Identifikation

mit einem Dichter aus einer fremden Kultur und einer

fernen Zeit, die bei Haizi ganz ausgeprägt wird, steht

nicht singulär in der chinesischen Lyrik in den 80er

Jahren. Durch diese ganz konkrete Imagination auf der

poetologischen Ebene wird die Lyrik tatsächlich zu einem

Medium, mit dem man die vermeintlich gleichgesinnten

Erlesenen anspricht und sich mit ihnen in die Welt über

allen möglichen Grenzen platziert. Während Hai Zi für

diese Welt ein gemeinsames Fundament vor allem in die für

die 80er Jahre typische humanistische poetologische

Konzeption, nämlich Schreiben über die Leiden und Liebe

für alle Menschen sieht, bringen andere Lyriker die

Überlegungen über die Übertragbarkeit der fremden

poetischen Welt in die eigene und umgekehrt mit in ihre

Weltimagination, die gerade dadurch mehr Nuance und

Sinnbedeutung gewinnt. Beispiel: Zhang Zao.

4. Zhang Zaos interkulturelle Reise durch das Schreiben

Kafka an Felice

1.

Ich heiße Kafka. Wenn Sie sich erinnerst,

Haben wir uns bei M. B kennengelernt.

Damals blätterten Sie gerade ein Fotoalbum im

Licht,

Wo ein wundervoller Duft mir ins Herz

reindrang.

Meine komische Lunge wendete sich Ihrer Hand

zu,

Wie ein Pfau seine Feder auffächerte, um

Bewunderung bittend.

Ihr Schatten zitterte auf dem Flügel des

Klaviers,

Ihrer Nacht wendete sich meine komische Lunge

zu.

So wie der Heilige, der nicht mal eine Sekunde

vom Gott weg kann,

Dachte ich ständig an meine Pfaulunge.

Ich hat ihr den blutige Käfig geöffnet.

Geh, sagte ich, geh dir dem Herzen annähern.

"Darf ich Dich mit einer Rose vergleichen?"

Im Raum schwebten überfall die gefallenen

Blätter, die den Atem

anhielten und starrten.

6.

Lesen ist Mord: Ich mag nicht, dass die

Einsamen mich lesen. Der glühende Atem

Ist mir widerlich: sie greifen die

Bücher, so wie sie ihre eigene Organge

greifen.

[...]

Der Stern am Himmel schrie auf: verbrenne

mich!

Das Wasser in Prag schrie: Gib mir einen

Weisen!

Der Grabstein schwieg: wer mich liest, töte

mich. (Zhang, 2010, 174ff.)

Bei Zhang Zao (1962-2010) kann man wirklich eine

interkulturelle Reise sowohl in der Biographie als auch

in der Dichtung verfolgen. Anders als Hai Zi und viele

seiner Zeitgenossen konnte er als Anglist und Germanist

viel westliche Literatur im Original lesen. Er ist 1986

nach Deutschland gekommen und hat in Tübingen über die

chinesische moderne Lyrik seit 1918 promoviert und lange

Zeit zwischen Deutschland und China gependelt. Aber

seinen Ruhm als Lyriker oder gar Avantgard Lyriker gewann

er am Anfang der 80er Jahren gerade als einer, der die

traditionelle chinesischen Poesie durch die raffinierte

moderne Form belebte und viele schöne Sprachbilder aus

der klassischen Zeit in einen völlig neuen Kontext

erfolgreich umzusetzen wusste. Schnell bekannt wurden

Sätze wie "Sobald ich mich an meine reuevolle

Vergangenheit erinnere, ist der Südhügel schon voller

gefallenen Plumenblumenblätter.". Desto signifikanter ist

seine Arbeit auch an den europäischen mythologischen und

literarischen Motive und Figuren, die nichts anders als

Versuch eines poetischen Kosmopoliten zur Schau stellt,

die nationale und kulturelle Grenze durch seine Dichtung

aufzuheben und in beiden literarischen Traditionen ein

Gemeingut für alle Dichter der Welt sehen zu wollen.

Bezeichnend sind ein Bündel Rollengedichte, die jeweils

europäische und chinesische Figuren unter dem gleichen

Thema in Erscheinung treten lassen. "Romeo und Juliet"

konfrontieren sich mit "Liang Shanbo und Zhu Yingtai",

"Leda und der Schwan" finden ihren Pendant bei "Wu Gangs

Klagen" usw. Vor dem Hintergrund des Textkorpus scheint

das Gedicht Kafka an Felice, obwohl auch von einer

unglücklichen Liebe ausgegangen, ganz eigenartig zu sein.

Hier haben wir ein Selbstvorstellen als Einstieg, das

ausdrücklich ein Rollenspiel für den ganzen Text

angekündigt. Ähnlich wie bei Hai Zi, aber viel mehr

verdichtet fliessen hier auch biographische Anekdoten,

intertextuelle Wendungen, körperliche Metaphern und

poetologische Reflexion zusammen. Eine grotesk gefärbte

Liebesgeschichte wird so nach und nach zu einer lyrischen

Selbstreferenz, die nicht ohne Selbstironie des

schreibenden und lesenden Lyriker dargestellt wird. So im

extremen und lapidaren Urteil: "Lesen ist Mord". Dass

Zhang Zao diesmal nicht mehr eine Korrespodenz zwischen

der chinesischen und europäischen klassischen Literatur

bzw. Kultur bildet und das lyrische Ich selbst in einen

Repräsentant der europäischen modernen Poesie par

excellence hineinsetzt, bietet uns wieder ein

vortreffliches Beispiel für die Überzeugung der

chinesischen Lyriker in den 80er Jahren von einer

internationalen Poet-Republik an. Nur auf der Grundlage

der Überzeugung lässt sich die Souveränität im freien

Spiel mit einer fremden Identität und den eigenen

poetologischen Gedanken verstehen.

Noch in seinem poetologischen Essaysband Die Rose der Zeit hat

Bei Dao 2005 rückblickend diesen Glauben der Verbindung

und Kommunikation zwischen Lyriker der Welt besonders

durch die Übersetzung und Lektüre nachdrücklich bestätigt

und ein anderer wichtiger Lyriker namens Bai Hua,

Teilnehmer der lyrischen Bewegung in den 80er Jahren, hat

dies in dem Vorwort des Bandes auf den Punkt gebracht:

"Die Weltlyrik ist in uns reingekommen und wir auch in

die Weltlyrik. In der Tat gibt es eine gemeinsame

Weltlyrik, wo wede reine chinesische Lyik noch reine

westliche Lyrik sondern eine Intertextualität im Sinne

von Kristeva, ein kommunikativer Zusammenhang zu finden

ist.".(Beidao, 2005, 5)

Literatur:

Bei Dao: Notizen vom Sonnenstaat. Gedichte, aus dem Chinesischen und mit einem Nachwort von Wolfgang Kubin, München: Hanser 1991; Bei Dao: Die Rose der Zeit. Beijing: Zhongguo Wenshi 2005;Chen Duxiu: Ausgewählte Werke. Bd. 1., Shanghai: Renmin 1993;Haizi: Gesammelte Gedichte. Hrsg. von Xi Chuan, Beijing: Zuojia 2009;Zhang Zao: Gedichte. Beijing: Renmin Wenxue 2010.