Der Lyriker als Kosmopolit? Die Weltoffenheit und Weltimagination in der chinesischen Lyrik der 80er...
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Der Lyriker als Kosmopolit?
Die Weltoffenheit und Weltimagination in der chinesischen
Lyrik der 80er Jahre
1. Einleitung
Die chinesische moderne Lyrik hat in ihrer Entwicklung im
20. Jahrhundert zweimal große Welle der Rezeption von und
Auseinandersetzung mit den fremden Einflüssen nicht
zuletzt aus Europa erlebt. Dass sie auch jeweils den
Zeitpunkt der Geburt und Wiedergeburt der chinesischen
poetischen Modernität mitmarkiert, spricht freilich viel
mehr als die zeitliche Parallelität aus. Die Suche nach
einer von der gar hochartistischen konventionellen-
klassischen Lyrik abgegrenzten modernen Sprache der
Poesie hat von Anfang an, d.h. von dem berühmten
polemischen Manifest Über die literarische Revolution im Frühjahr
1917 an, auch den Anspruch der Weltpoesie für sich
behauptet: "Von den hervorragenden Geistern in unserer
Literatur, wer könnte sich als der chinesische Hugo,
Zola, Goethe, Hauptmann, Dickens, Wilde rühmen?" (Chen,
1993, S.263). Der Wunsch auf die Anknüpfung an die
europäische moderne Dichtung lässt sich teilweise bei den
nachfolgenden Anstrengungen einer Bewegung der neuen
Lyrik, die bis zu den 40er Jahren fortgesetzt wurde,
realisieren. Besonders in der Anlehung an die Vorbilder
des französischen und deutschen Symbolismus entwickeln
zahlreiche wichtige Lyriker wie z.B. Bian Zhilin, Liang
Zongdei, Li Jinfa, Feng Zhi die ersten schönsten
Beispiele der chinesischen modernen Lyrik, die ihrerseits
einen Nachklang dieser weltweiten lyrischen Bewegung des
Symbolismus im fernöstlichen Kulturraum ausmachen.
Während man in der ersten Entwicklungsphase der
chinesischen modernen Lyrik einen Reiz-Reaktion Effekt im
Zusammenhang der aufkommenden modernen Lyrik in der
ganzen Welt beobachten kann, haben wir in den 80er Jahren
eine ganz andere Situation. Anders ist zuerst die
Zielscheibe der zweiten literarischen Revolution. Nicht
mehr der tausendjährigen glorreichen und deshalb
unterdrückenden lyrischen Tradition wollte man sich
entziehen, sondern der ideologischen Instrumentalisierung
der Poesie, die übrigens schon in den späten 30er Jahren
keimte und nun in der Kulturrevolution zwischen 1966 und
1976 den Gipfel erreicht hat.Und dies durch eine neue
Öffnung für die poetische Welt jenseits der nationalen,
kulturellen und ideologischen Grenze. Der entschiedene
Abschied von einer nahezu kahlgeschlagenen Sprachwelt
geht einher mit der erneuten Aufnahmbereitschaft für die
Inspiration aus der nicht nur europäischen Lyrik, wo man
glaubt, die authentische poetische Sprache und die neue
poetologische Konzeption dadurch aufbauen zu können. Ein
anderer wichtiger und für unseren Zusammenhang noch
interessanterer Unterschied zu der lyrischen Bewegung in
den 20er und 30er Jahren besteht darin, dass die meisten
chinesischen Lyriker zu dieser Zeit nicht wie ihre
Vorgänger den direkten Kontakt mit der zeitgenössischen
Lyrik der Welt durch ein Auslandsstudium oder persönliche
Begegnung schaffen konnten, sondern nur durch die Lektüre
der fremden Übersetzung einen imaginären Dialog mit nicht
mehr zeitgnössischen Autoren zu führen versuchten.
Einerseits greifen sie auf die längst bekannten Lyriker
wie Hölderlin, Rilke, Baudelaire, u.a. zurück, die mit
neuen Übersetzungen wieder ins Blickfeld gerückt werden.
Andererseits schenken sie auch zugleich den neu
"entdeckten" großen Lyriker in der ersten Hälfte des 20.
Jahrhundert wie Osip Emilyevich Mandelstam, Federico
Garcia Lorca, usw. Aufmerksamkeit. Diese gleichsam
anachronistische Beschäftigung mit der europäischen Lyrik
prägt das Schreiben der Lyriker in den 80er Jahren sowohl
im Stil als auch im Inhalt. Bezeichnend ist dabei die
explizite Inszenierung und Gestaltung des Dialogs
zwischen dem lyrischen Ich und seinem zuerkannten
Vorgänger, Verbündeter, Geistverwandten. Darauf werde ich
noch kommen.
Also hier geht es weniger um eine Integration in die
gegenwärtigen Strömungen der Experimentlyrik seit 60er
Jahren oder der Alltagslyrik seit 70er Jahren usw. als um
die Imagination einer gemeinsamen lyrischen Welt in der
Poesie und durch die Poesie. Ohne an einer real
existierenden Weltpoesie teilzunehmen zeigen die
chinesischen Lyriker in den 80er Jahren desto mehr Pathos
für eine erdichtete Verbindung mit der vermeintlichen
Weltlyrik. Dahinter steht ein Selbstverständnis des
Lyrikers als ein über jeglicher Trennung der Menschen
stehender Erlesener, der gleichsam die Leiden der ganzen
Menschheit auf sich nimmt und dadurch eine Gemeinschaft
mit den seinigen bildet. Im folgenden werden am Beispiel
drei der wichtigsten chinesischen Gegenwartslyriker die
Bemühungen um diese poetische Welt und die Gemeinschaft
der Weltlyrik nachgezeichnet, die zweifelsohne eine
Besonderheit der chinesischen Stimme in der mittlerweile
unübersehbaren Polyphonie der Weltsprache der Lyrik
kennzeichnet.
2. Bei Daos Antwort als Zeichen der Weltoffenheit
Die Antwort
Infam lautet das Passwort der Infamen,
Würde ist das Epitaph der Ehrwürdigen.
Schau, am vergoldeten Himmel
Treiben überall die gebogenen Schatten der Toten.
Die Eiszeit längst vorbei,
Warum herrscht überall noch das Eis?
Das Kap der guten Hoffnung ist entdeckt,
Warm messen sich im Toten Meer tausend Segel?
In diese Welt
Habe ich nur Papier, einen Stick und meinen Schatten
mitgebracht,
Um vor den Richtern
Die Stimmen der Verurteilten zu verkünden:
Ich sage dir, Welt,
Ich - glaube - nicht!
Selbst wenn zu deinen Füßen tausend Herausforderer
liegen,
Zähle mich als tausendundeins.
Ich glaube nicht an die Bläue des Himmels;
Ich glaube nicht an die Stimme des Donners;
Ich glaube nicht an die Falschheit von Träumen;
Ich glaube nicht an die Sühnelosigkeit des Todes.
Wenn es bestimmt ist, dass Meere die Dämme durchbrechen,
So lass alle Wasser der Bitternis in mein Herz hinein;
Wenn es bestimmt ist, dass Ufer sich erheben,
So lass die Menschheit ihrer Existenz neu einen Gipfel
wählen.
Es ist der Schnittpunkt der Zeit und blitzende Sterne
Verschönen gerade den unblockierten Himmel,
Es sind fünftausend Jahre alte Piktogramme,
Es sind die Gestalt gewordenen Blicke
künftiger Generationen.
(Beidao, 1991, 10)
Mit seinem erheblich leidenschaftlichen Ausruf "Ich-
glaube-nicht" eröffnete Bei Dao (Pseudoname für Zhao
Zhenkai, geb. 1949) im Erscheinungsjahr des Gedichtes
1978 eine neue Epoche für die chinesische Lyrik, wo die
Samidatlyrik seit den 70er Jahre mit dem Abschluß der
Kulturrevolution und der Lockerung der Kontrolle in der
Literatur und Kunst unter Deng in die Öffentlichkeit
drängte und nunmehr mit dem Namen Menglong Shi (die
hermetische Lyrik) ihre neue Formen und enorme
Bekanntheit gewann. Typisch für diese Übergangsphase
zwischen den totalitären 70er Jahren und den relativ
liberalen 80er Jahren sind hier der rebellische Dichter-
Heroismus, die immer noch kollektive Identität des
lyrischen Ichs und der Gestus des zukunftversprechenden
Propheten. Dies alles schon viel beredet und gedeutet.
Eine neue Lesart im Bezug auf die Ich-Welt-Verhältnisse
in dem Gedicht, die ich hier vorschlage, soll uns aber
einen anderen Blick auf den zweiten Aufbruch der
chinesischen modernen Lyrik anbieten. Ein Aufbruch in die
neue Welt im doppelten Sinne.
Auf der Ebene der lyrischen Gestaltung setzt sich das
lyrische Ich bald nach dem Beklagen über die gegenwärtige
Falschheit und Grausamkeit in einen Weltraum, wo die
geographisch weitentfernten Orte (der Kap der Guten
Hoffung, das Tote Meer) herangezogen werden, ihre
metaphorische Bedeutungen im Namen wieder aktiviert und
zur Infragstellung der eigenen Lebenswelt bedient werden.
Und weiterhin bewegt sich das lyrische Ich stets in
diesem Raum, mit seinem Glaube an eine neue Menschheit
der Authentizität und Unschuld ex negativo. Wobei eine
Erweiterung des leidenden Subjekts immer durch die
kosmischen Bilder formuliert wird, bis diese Raum-
Metapher zu einer Verbindung zwischen der archaischen
Zivilisation und der künftigen Generation im Bild der
Sterne transformiert wird. Diese angedeutete Triade der
Menschengeschichte ist insofern signifkant, als das
Gedicht schließlich weit über einer bestimmten
historischen und politischen Zustand hinausgeht und die
neue Fundierung der Existenz der Menschenheit insgesamt
appelliert.
So augenfällig die Größenphantasie der Post-
Kulturrevolution-Generation, so bedeutsam diese
Konstruktion des neuen Menschenideals in einem gar
phantasierten Weltraum für die weitere Entwicklung der
chinesischen modernen Lyrik. Neue Poesie und neue
Menschenheit fallen hier zusammen und bestimmen die
Beziehung mit der Ferne und Fremde. Nicht zuletzt aus
Abscheu vor der überwältigenden Leitidee des
Klassenkampfs samt ihrer furchtbaren Folge in der nahen
Verganghenheit ist zur Zeit die Gegenbewegung entstanden,
die langjährige Geschlossenheit durchzubrechen und eine
Renaissance des Humanismus und der indivuduellen Freiheit
im Namen der allgemeinen Menschheit aufzuschwören.
Dementsprechend die Projektion der Idealwelt auf die
Außenwelt. Und mehr noch ein Drang, sich einen eigenen
Platz in einer übernationalen Welt zu situieren. Im
Gegensatz zur Wahrnehmung der Fremdheit und der Spannung
der kulturellen Differenzen in den 90er Jahren dominiert
eine Suche nach der idealisierten Gemeinsamkeit der
Menschheit in den späten 70er und den ganzen 80er Jahren.
In diesem Kontext lässt sich tatsächlich eine
vielbedeutende Botschaft in der Weltraum-Metapher in Bei
Daos Gedichts Antwort ablesen. Wie das lyrische Ich der
fremdfeindlichen Ideologie und dem heuchlerischen
revolutionären Idealismus den Rücken zudreht, deutet es
auf eine offene bessere Welt für die ganze Menschen,
allerdings besonders für seine Mitmenschen hin.
In diesem Sinne scheint es nur folgerichtig, wenn die
jüngere Generation, die ab der Mitte der 80er Jahren in
der Öffentlichkeit auftrat und den prominenten Pionieren
wie Bei Dao, Yang Lian, Duo Duo, Gu Cheng Konkurrenz
machte, noch mehr für die westliche klassisch-moderne
Literatur, Kunst und auch Philosophie schwärmt und darauf
ihre eigene Dichtung basiert. Die sensationelle
Erscheinung der hermetischen Lyrik am Anfang der 80er
Jahren, so problematisch wie sie selbst ist, erschließt
sowohl konzeptuell als auch stilistisch einen neuen
Horizont, der eine Aussicht auf die vermeintliche
Weltlyrik in der Ferne ermöglicht und anregt. Und die
wieder belebte Übersetzung- und Vermittlungsarbeit der
modernen Lyrik und Literatur im allgemeinen trägt auch
maßgebend zu der geläufigen Interaktion zwischen dem
Lesen und Schreiben bei. Wie diese Interaktion in die
eigene Dichtung einwirken kann, lässt sich an einem
repräsentativen Beispiel von Hai Zi, dem Idol-Lyriker der
80er Jahren zeigen.
3. Hai Zis Identifikation mit Hölderlin als Imagination
des Lyrikerverbunds
Das Unglück
- Für Hölderlin
1. Der Wein in der Krankheit
Ich nehme ein Krankenbett auf.
Mein Hölderlin, der darin liegt,
Das Pferd, das galoppierte wie verrückt
Quer durch das ganze Frankreich,
Ist Symbol des reinen Lyrikers, des kranken Lyrikers
geworden.
Ach, der unglückliche Lyriker,
Wie sie Dich wie ein Pferd
An das Bett eines Zimmermanns angefesselt haben.
Ich weiss nicht, ob
Am Abend wo der August verging,
Der zweite Bruder Sophokles
Mit seiner Tragödie Deine Schmerzen mildern konnte.
Wenn die Schwester und Pastor
Das verhängnisvolle Vließ erhoben,
Das brennde Vließ,
Das brannte wie Schnee.
Er sagte, - keine Eile, Ihr ungeduldige Götter,
Nachdem eine letzte Hymne an die Heimat gesungen wird,
Werde ich in Euer
Dunkles und dumpfes Horn einschleichen,
Das vollgefüllte, tönende Horn,
Das zugleich die Krone und das verrücke Ziegenhorn
ist: ich lege mich ab
- "zehntausende Jahre wären zu lang"
Übrig bleibt nur das Horn, die Lyrik dunkel, der
Lyriker blind.
4. Nach dem Blut ist die Dunkelheit, die noch röter
als Blut ist
Hölderlin, sag mir, wie die Dunkelheit war,
Wie sie Dich überschwemmte,
Wie sie Dich in den Armen nahm,
So wie der Strom ein Pferd verschluckt.
[...]
Welcher Gott Dich an der Hand führte über den Weg
wo das Licht und die
Dunkelheit durchkreuzten?
Was für greise Mutter und verwandten Zimmermann Du
am Ufer trafst?
Waren sie Illusion, oder Wahrheit?
Waren sie Schönheit oder Lüge? Düsternis oder
Euphorie?
Oder die Vereinigung von Beiden: Herrschaft.
Nach dem Blut immer noch Dunkelheit, die noch
rötter als Blut ist.
Ich werde Dein für immer und ewig gedenken,
Des unglückliche Bruders, Hölderlin! (Haizi, 2009,
309ff.)
Mit dem Abebben des Pathos des Propheten-Dichters
zeichnet eine tiefgreifende Selbstreflexion über die
lyrische Sprache und den Lyriker bei den sogenannten
post-hermetischen Lyrikern ab. Diese verbindet sich
öfters mit einer Verarbeitung ihrer Erfahrung der Lyrik
vor allem aus Europa und Russland. Exemplarisch dafür ist
Hai Zi (Pseudoname für Zha Haisheng, 1964-1989), dessen
Lyrik seine Zeitgenossen und viele Kollegen begeisterte
und durch das unermüdliche Besingen der Göttlichkeit des
Lyrikers einen eigenartigen und unersetzlichen Platz in
der Lyrik der 80er Jahren einnimmt. Diese Göttlichkeit
ist seiner transformierenden Aneignung der Götterwelt bei
Hölderlin zu verdanken, was er selbst in einer Rezension
über Hölderlins Lyrik offen bekennt. Mit einem Imperativ
bringt er auch seine Identifikation mit Hölderlin in
seiner Auffassung des Lyrikers zum Ausdruck: "Als ein
Dichter sollst du das Geheimnis der Menschen lieben, von
Land zu Land ziehen in heiliger Nacht. Liebe den Schmerz
und das Glück der Menschen. Halte aus, was auszuhalten
ist, und singe, was gesungen werden muß.".(Haizi, 2009,
916) Also eine Identifikation im Zeichen der Leiden und
Liebe für die Menschen, wobei die christliche Idee der
Nächstenliebe in eine gar geheimnisvolle Alleinheit der
lyrischen Phantasie transponiert wird.
Solche Selbstreflexion und Selbstbestimmung des Lyrikers
findet man nicht selten in Hai Zis Dichtung. Die
Beziehung zwischen der Anregung von Hölderlin und dem
eigenen Schaffen kann sich nicht mehr veranschaulichen
als in seinem "Unglück. Für Hölderlin". Das ganze
poetologische Gedicht setzt einen Dialog zwischen dem
lyrischen Ich und seinem "Bruder", also seinem
Geistesverwandten Hölderlin in Szene. Die Ausführung
eines ständig von Leiden und Wahnsinn heimgesuchten
Dichterlebens, so wie der Titel des "Unglücks" deutlich
macht, ist im Zusammenhang der mythologischen und
poetologischen Intertextualität zu einer
Initiativgeschichte des "reinen" Lyrikers verwandelt. Das
Unglück, die Leiden und der Wahnsinn werden nicht nur als
Voraussetzungen des reinen Lyrikers sondern seine
Wesensbedingungen schlechthin beschrieben. Die
vielbedeutende Verbindung des Bluts und der Dunkelheit
arktikuliert anschließend und abschließend Opfer- und
Gewaltsphantasie, Hermetik und Heiligkeit, Macht der
Poesie und Schicksal des Lyrikers in einem Zug. Die
Anrede des Bruders und das wiederholte Attribut des
Unglücks in der allerletzen Zeile deuten hin, dass es
hier nicht bloß um eine Widmungsgedicht geht, sondern
vielmehr eine imaginäre poetologische Kommunikation bis
zur Identifikation. Durch eine genealogische Metapher
hebt das lyrische Ich seine Bereitschaft hervor, das
Schicksal Hölderlins zu teilen, mitzuleiden, mitzusingen,
da es sich auf dem Weg zu einem reinen und kranken
Lyriker führen will. Die ausführliche Wiedergabe
Hölderlins Erlebnisse und die vielfache Anspielung auf
seine lyrischen Texte erscheinen im nachhinein als eine
Konstruktion einer vertrauten poetischen Welt, wo das
lyrische Ich sich als Eingeweihter erlebt.
Diese im eigenen Gedicht gestaltgegebene Identifikation
mit einem Dichter aus einer fremden Kultur und einer
fernen Zeit, die bei Haizi ganz ausgeprägt wird, steht
nicht singulär in der chinesischen Lyrik in den 80er
Jahren. Durch diese ganz konkrete Imagination auf der
poetologischen Ebene wird die Lyrik tatsächlich zu einem
Medium, mit dem man die vermeintlich gleichgesinnten
Erlesenen anspricht und sich mit ihnen in die Welt über
allen möglichen Grenzen platziert. Während Hai Zi für
diese Welt ein gemeinsames Fundament vor allem in die für
die 80er Jahre typische humanistische poetologische
Konzeption, nämlich Schreiben über die Leiden und Liebe
für alle Menschen sieht, bringen andere Lyriker die
Überlegungen über die Übertragbarkeit der fremden
poetischen Welt in die eigene und umgekehrt mit in ihre
Weltimagination, die gerade dadurch mehr Nuance und
Sinnbedeutung gewinnt. Beispiel: Zhang Zao.
4. Zhang Zaos interkulturelle Reise durch das Schreiben
Kafka an Felice
1.
Ich heiße Kafka. Wenn Sie sich erinnerst,
Haben wir uns bei M. B kennengelernt.
Damals blätterten Sie gerade ein Fotoalbum im
Licht,
Wo ein wundervoller Duft mir ins Herz
reindrang.
Meine komische Lunge wendete sich Ihrer Hand
zu,
Wie ein Pfau seine Feder auffächerte, um
Bewunderung bittend.
Ihr Schatten zitterte auf dem Flügel des
Klaviers,
Ihrer Nacht wendete sich meine komische Lunge
zu.
So wie der Heilige, der nicht mal eine Sekunde
vom Gott weg kann,
Dachte ich ständig an meine Pfaulunge.
Ich hat ihr den blutige Käfig geöffnet.
Geh, sagte ich, geh dir dem Herzen annähern.
"Darf ich Dich mit einer Rose vergleichen?"
Im Raum schwebten überfall die gefallenen
Blätter, die den Atem
anhielten und starrten.
6.
Lesen ist Mord: Ich mag nicht, dass die
Einsamen mich lesen. Der glühende Atem
Ist mir widerlich: sie greifen die
Bücher, so wie sie ihre eigene Organge
greifen.
[...]
Der Stern am Himmel schrie auf: verbrenne
mich!
Das Wasser in Prag schrie: Gib mir einen
Weisen!
Der Grabstein schwieg: wer mich liest, töte
mich. (Zhang, 2010, 174ff.)
Bei Zhang Zao (1962-2010) kann man wirklich eine
interkulturelle Reise sowohl in der Biographie als auch
in der Dichtung verfolgen. Anders als Hai Zi und viele
seiner Zeitgenossen konnte er als Anglist und Germanist
viel westliche Literatur im Original lesen. Er ist 1986
nach Deutschland gekommen und hat in Tübingen über die
chinesische moderne Lyrik seit 1918 promoviert und lange
Zeit zwischen Deutschland und China gependelt. Aber
seinen Ruhm als Lyriker oder gar Avantgard Lyriker gewann
er am Anfang der 80er Jahren gerade als einer, der die
traditionelle chinesischen Poesie durch die raffinierte
moderne Form belebte und viele schöne Sprachbilder aus
der klassischen Zeit in einen völlig neuen Kontext
erfolgreich umzusetzen wusste. Schnell bekannt wurden
Sätze wie "Sobald ich mich an meine reuevolle
Vergangenheit erinnere, ist der Südhügel schon voller
gefallenen Plumenblumenblätter.". Desto signifikanter ist
seine Arbeit auch an den europäischen mythologischen und
literarischen Motive und Figuren, die nichts anders als
Versuch eines poetischen Kosmopoliten zur Schau stellt,
die nationale und kulturelle Grenze durch seine Dichtung
aufzuheben und in beiden literarischen Traditionen ein
Gemeingut für alle Dichter der Welt sehen zu wollen.
Bezeichnend sind ein Bündel Rollengedichte, die jeweils
europäische und chinesische Figuren unter dem gleichen
Thema in Erscheinung treten lassen. "Romeo und Juliet"
konfrontieren sich mit "Liang Shanbo und Zhu Yingtai",
"Leda und der Schwan" finden ihren Pendant bei "Wu Gangs
Klagen" usw. Vor dem Hintergrund des Textkorpus scheint
das Gedicht Kafka an Felice, obwohl auch von einer
unglücklichen Liebe ausgegangen, ganz eigenartig zu sein.
Hier haben wir ein Selbstvorstellen als Einstieg, das
ausdrücklich ein Rollenspiel für den ganzen Text
angekündigt. Ähnlich wie bei Hai Zi, aber viel mehr
verdichtet fliessen hier auch biographische Anekdoten,
intertextuelle Wendungen, körperliche Metaphern und
poetologische Reflexion zusammen. Eine grotesk gefärbte
Liebesgeschichte wird so nach und nach zu einer lyrischen
Selbstreferenz, die nicht ohne Selbstironie des
schreibenden und lesenden Lyriker dargestellt wird. So im
extremen und lapidaren Urteil: "Lesen ist Mord". Dass
Zhang Zao diesmal nicht mehr eine Korrespodenz zwischen
der chinesischen und europäischen klassischen Literatur
bzw. Kultur bildet und das lyrische Ich selbst in einen
Repräsentant der europäischen modernen Poesie par
excellence hineinsetzt, bietet uns wieder ein
vortreffliches Beispiel für die Überzeugung der
chinesischen Lyriker in den 80er Jahren von einer
internationalen Poet-Republik an. Nur auf der Grundlage
der Überzeugung lässt sich die Souveränität im freien
Spiel mit einer fremden Identität und den eigenen
poetologischen Gedanken verstehen.
Noch in seinem poetologischen Essaysband Die Rose der Zeit hat
Bei Dao 2005 rückblickend diesen Glauben der Verbindung
und Kommunikation zwischen Lyriker der Welt besonders
durch die Übersetzung und Lektüre nachdrücklich bestätigt
und ein anderer wichtiger Lyriker namens Bai Hua,
Teilnehmer der lyrischen Bewegung in den 80er Jahren, hat
dies in dem Vorwort des Bandes auf den Punkt gebracht:
"Die Weltlyrik ist in uns reingekommen und wir auch in
die Weltlyrik. In der Tat gibt es eine gemeinsame
Weltlyrik, wo wede reine chinesische Lyik noch reine
westliche Lyrik sondern eine Intertextualität im Sinne
von Kristeva, ein kommunikativer Zusammenhang zu finden
ist.".(Beidao, 2005, 5)
Literatur:
Bei Dao: Notizen vom Sonnenstaat. Gedichte, aus dem Chinesischen und mit einem Nachwort von Wolfgang Kubin, München: Hanser 1991; Bei Dao: Die Rose der Zeit. Beijing: Zhongguo Wenshi 2005;Chen Duxiu: Ausgewählte Werke. Bd. 1., Shanghai: Renmin 1993;Haizi: Gesammelte Gedichte. Hrsg. von Xi Chuan, Beijing: Zuojia 2009;Zhang Zao: Gedichte. Beijing: Renmin Wenxue 2010.