Die Zuschaukunst im Wandel der Medien: Brecht und der Autorenfilm der 1960er Jahre, in: Marc Caduff/...

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Marc Caduff / Stefanie Heine / Michael Steiner (Hgg.) Die Kunst der Rezeption AISTHESIS VERLAG Bielefeld 2015 Sonderdruck aus:

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Marc Caduff / Stefanie Heine / Michael Steiner (Hgg.)

Die Kunst der Rezeption

AISTHESIS VERLAGBielefeld 2015

Sonderdruck aus:

Burkhard Meyer-Sickendiek

Die Zuschaukunst im Wandel der MedienBrecht und der Autorenfilm der 1960er Jahre

Abb. 1: Bertolt Brecht. Cahiers du cinéma.

Im Dezember 1960 erscheint eine der wohl wirkmächtigsten Ausgaben der Cahiers Du Cinema: Die Sondernummer zu Bertolt Brecht. Mit dieser begann die einflussreiche Wirkung der Brecht’schen Theateridee auf den Autorenfilm der 1960er Jahre, zu deren wichtigsten Beispielen insbesondere die Werke Jean-Luc Godards, des Autorenpaares Straub/Huillet, Alexander Kluges sowie später die Filme Volker Schlöndorffs oder Rainer Werner Faß-binders gehören. Wollte man den Anfang dieser Adaption der Brecht’schen Theatertheorie auf den Autorenfilm der 1960er Jahre datieren, dann wäre wohl Godards Vivre sa vie von 1962 als erster Film zu nennen: Dort erzählt Godard eine Geschichte, die deutlich an Mutter Courage angelehnt ist. Aber auch die zahlreichen Hinweise auf Brechts Theatertheorie in Godards La

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Chinoise, Deux ou trois choses que je sais d’elle oder Le Mépris wären hier zu nennen. Gleiches gilt für den Film Geschichtsunterricht von Straub und Huil-let, für Kluges Abschied von gestern oder Faßbinders Katzelmacher: Autoren-filme, die wesentlich von Brechts Theorie des Epischen Theaters geprägt wurden.

Fragt man konkreter nach den Einflüssen, dann wird in der Regel auf die Verfremdung verwiesen. Freilich sind die Verfahren der Verfremdung im Autorenfilm der 1960er Jahre nicht allesamt identisch mit jenen von Brecht im Zuge seiner Theorie des Epischen Theaters entwickelten Verfahren, was sich in erster Linie aus dem unterschiedlichen Medium erklärt. Die von Godard zu Beginn der 1960er Jahre entwickelten jump cuts, das schon in Au bout de soufle verwendete Ausblenden der Tonspur oder die Montage hete-rogener Filmsequenzen wurden von Brecht natürlich nicht eingesetzt. Die Einflüsse der Brecht’schen V-Effekte auf den Autorenfilm zeigen sich also eher anhand der in Brechts Essay Die Straßenszene erläuterten Theorie des gestischen Schauspiels, so etwa hob Herrmann Kappelhoff den an Brechts Theorie der Geste orientierten „Gegensatz zu den Realismuskonventionen eines psychologischen Schauspiels“ hervor:

Da werden Gesten wie Masken vor sich hergetragen, und Figuren verbinden sich zu Tableaux vivants, die den Fluss der Handlung in eine Serie von Struk-turbildern sozialer Konstellationen zerlegen; da werden Sätze gesprochen, als gehörten sie einer unbekannten Sprache an, und Handlungen von größter Grausamkeit werden mit der Mimik gelassenen Gleichmuts kontrastiert.1

Weitere V-Effekte werden deutlich anhand jenes Dramas, das den entschei-denden Einfluss auf die Nouvelle Vague hatte: Brechts Mutter Courage. Schon in der berühmten Premiere am Deutschen Theater im Januar 1949 sollte das Verhalten der Courage und der Verlust ihrer drei Kinder nicht Mitleid, sondern Lernprozesse auslösen; sollten die Darsteller, das Bühnenbild und die eingesetzten Songs den Anschein von Bühnenrealität immer wieder zerstören. Ein zentrales Mittel dieser Verfremdung war das ‚Titularium‘, die Zusammenfassung des Szeneninhalts vor seiner Darstellung auf der Bühne. Das damalige Bühnenbild zeigte zudem Requisiten und Aufbauten „rea-listisch nach Bauart und Baumaterial, aber in künstlerischer Andeutung“2, Brecht verwendete möglichst helles, weißes Licht, und über den einzelnen Szenen hingen in großen Buchstaben die Ortsbezeichnungen des jeweiligen

1 Kappelhoff (2010), S. 257.2 Knopf (1986), S. 193.

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Kriegsgeschehens. Schließlich sollten die Schauspieler ihren Text aus einer inneren Distanz heraus sprechen, ihn gleichsam nur mitteilen, um so dem Zuschauer nicht als Identifikationsfiguren zu dienen.

Teils ähnliche, teils ergänzende Verfremdungseffekte lassen sich 13 Jahre später in Jean-Luc Godards Vivre sa vie beobachten: Zwölf Zwischentitel vor dem jeweiligen neuen Kapitel zeigen an, was in diesem Kapitel als nächs-tes passieren wird, genau wie in Brechts Mutter Courage. Jump cuts stören den Erzählfluss bestimmter Sequenzen; einzelne Protagonisten werden von hinten gefilmt, während sie sprechen, sie sind bisweilen auch zu stark aus-geleuchtet; sprechen direkt in die Kamera, aus dem Voice-over werden die statistischen Ergebnisse aus offiziellen Fragebögen dargeboten usw. Der Film zitiert aus den Schriften von Montaigne, Baudelaire, Zola und Edgar Allan Poe oder aus Filmen von Robert Bresson, Jean Renoir und Carl Dreyer. Zudem verwendet Godard Zitate aus wissenschaftlichen Quellen, die in den Film einfließen: So etwa die Studie über die zeitgenössische Prostitution des französischen Untersuchungsrichters Marcel Sacotte. Und schließlich gerät die Heldin Nana in eine ernsthafte Diskussion mit einem Philosophen, der von Brice Parain, Godards ehemaligem Philosophietutor, gespielt wird: Es gibt also auch Anklänge an das Laientheater Brechts. Zudem fehlt biswei-len die Tonspur oder die Bilder werden durch eine persönliche Erzählung Godards überlagert: All dies sind deutliche Einflüsse der Brecht’schen Theo-rie der Verfremdung.

Ich möchte im Folgenden den Einfluss Brechts auf den Autorenfilm der 1960er Jahre noch einmal neu durchdenken. Anhaltspunkt meiner Über-legungen soll dabei ein Umbruch darstellen, wie ihn Brecht zu Beginn der Arbeit am Konzept des ‚epischen Theaters‘ entwickelte, ein Umbruch, der viel mit unserem Begriff der Zuschaukunst gemein hat. Zunächst soll in einem ersten einfachen Schritt der theoretische Hintergrund meiner Überlegungen – die Theorie des performativen Theaters – knapp skizziert und in ihrer Illust-rationskraft für ein Verständnis von epischem Theater erläutert werden.

Die Zuschaukunst und das ‚social drama‘: Zum ‚infinity loop model‘ des performativen Theaters

Grundlage meiner folgenden Überlegungen zur Zuschaukunst im von Brecht geprägten Film der 1960er Jahre ist der Begriff der Performanz im Sinne des ‚sozialen Dramas‘, wie ihn der Ethnologe Victor Turner im Anschluss an Kenneth Burke definierte. Das soziale Drama begriff Turner in seiner Studie

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Drama, Fields and Metaphors als einen „aharmonic or disharmonic social process, arising in conflict situations.“ In The Anthropology of Performance wird dieser Prozess zurückgeführt auf eine „eruption from the level surface of ongoing social life, with its interactions, transactions, reciprocities, its cus-toms making for regular, orderly sequences of behavior“3. Zugleich wird das soziale Drama in vier Phasen einer öffentlichen Aktion unterteilt:

1) Breach of norm-governed social relations that have liminal characteristics, a liminal between more or less stable social processes; 2) Crisis, during which there is a tendency for the breach to widen and in public forums, representa-tives of order are dared to grapple with it; 3) Redressive action, ranging from personal advice and informal mediation or arbitration to formal juridical and legal machinery, and to resolve certain kinds of crisis or legitimate other modes of resolution, to the performance of public ritual; 4) Reintegration of the disturbed social group, or of the social recognition and legitimation of irreparable schism between the contesting parties.4

Dieses Modell sozialer Konfliktbewältigung ist von Richard Schechner als Grundlage seiner performance theory von 1977 weitergedacht worden. Schechner ging davon aus, „[that] this scheme can be discerned in Greek tragedies, Shakespearean plays, or the drama of Ibsen or O’Neill, [even in] Chekhov, Ionesco, or Beckett.“5 Aus Turners universellem Modell des ‚social drama‘ entwickelte Schechner eine Theatertheorie, d.h. ein „infinity-loop model of the interaction between social and aesthetic drama“6 gemäß des folgenden Schaubilds:

3 Turner (1986), S. 90.4 Turner (1975), S. 37-40.5 Schechner (1988), S. 167.6 Ebd., S. 191.

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Während Theaterkünstler soziale und politische Handlungen als Material bei der Inszenierung eines ästhetischen Dramas, also einer Theaterauffüh-rung, verwenden, eignen soziale und politische Aktivisten sich theatrale Techniken an, um die Aktivitäten des sozialen Dramas zu unterstützen, die wiederum das Theater beeinflussen, und so fort. Schechner und Turner gin-gen also beide davon aus, dass „soziale Dramen in ästhetischen Dramen kul-turelle ‚Doubles‘ finden“, also eine „Konvergenz“ zwischen beiden Formen besteht. „The stage drama“, so schreibt Turner im Anschluss an Schechners infinity-loop model, „is a metacommentary […] on the major social dramas of its social context (wars, revolutions, scandals, institutional changes)“7. Wie sehr Brecht mit seiner Idee vom Lehrstück bzw. vom Mitspiel dieser Idee des performativen Theaters vorarbeitete, zeigt etwa sein Lehrstück Die Maßnahme. Die engen Bezüge der social drama theory zur Lehrstückdidaktik verdeutlicht das folgende Schaubild:

7 Turner (1985), S. 300f. Zum Begriff der ‚feedback-Schleife‘ vgl.: Fischer-Lichte (2004), S. 59-126 sowie S. 283ff.

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In Brechts Lehrstück Die Maßnahme rechtfertigen sich die Protagonisten, die vier kommunistischen Agitatoren, vor einem „Kontrollchor“, der das Parteigericht repräsentiert, für die Tötung eines jungen Genossen. Dabei spielt zwar jeder Schauspieler jeweils die Rolle des anderen, dennoch liegt dem Prinzip der Opferung des jungen Genossen durch die Agitatoren die Idee der ‚poetischen Gerechtigkeit‘ zugrunde, also die Bestrafung einer Schuld: Der junge Genosse scheiterte in dem Versuch, sich gemäß der Direk-tiven der Revolutionäre zu verhalten. Statt die von den Agitatoren beschlos-senen Aktionen durchzuführen, gefährdete er durch sein stets aufs Neue zum Ausdruck gebrachtes Mitleid immer wieder die Arbeit der Gruppe: Darum wird er schließlich geopfert bzw. getötet.

Brechts weitere Entwicklung ist nun durch den Versuch motiviert, diese für das Lehrstückmodell noch unverzichtbare Idee der poetischen Gerech-tigkeit zu ersetzen durch eine Mediation sozialer Konflikte im Sinne des offe-nen Dramas, bei dem zwischen der Tat und dem Täter unterschieden wird. Brechts schuldige Figuren wie etwa Shen Te aus Der gute Mensch von Sezuan werden im Unterschied zu dem schuldig gewordenen Genossen des Lehr-stücks nicht mehr bestraft. Die Sanktion bleibt aus, weshalb das Publikum im Anschluss an das offene Ende eigene Lösungen finden muss, die Brecht natürlich in einem marxistisch orientierten Wandel der Gesellschaft sieht. Brechts mit der Mutter Courage einsetzende Produktionsphase des epischen Theaters beginnt also mit der Lösung von der poetischen Gerechtigkeit bzw. der damit einhergehenden Dramaturgie des offenen Endes.

Dazu muss man nun Folgendes wissen: Nach dem Ende der Lehrstück-produktion begann Brechts intensive Beschäftigung mit den Dramen Ger-hart Hauptmanns, mit den Webern, vor allem aber mit Hauptmanns Komö-die Der Biberpelz und dessen Prinzip des offenen Endes. Dieses offene Ende basierte auf dem Fehlen der finalen Sanktion gegenüber der durch doppelten Diebstahl schuldig gewordenen Heldin.8 Eben darin liegt die große Provo-kation dieser Komödie: Dass in Der Biberpelz eine Mutter Holz und Biber-pelze stiehlt, ohne dafür bestraft zu werden, schien dem zeitgenössischen Theaterpublikum schwer nachvollziehbar: Man blieb sitzen und erwartete den fünften Akt, der jedoch in diesem Vierakter nicht stattfand. Ich zeige auch hier ein Schema, um die mir wichtige Differenz zum Lehrstückkon-zept zu verdeutlichen: Der offene Schluss dieser Hauptmann’schen Komödie

8 Zur Auseinandersetzung Brechts mit Hauptmann vgl.: Tschörtner (1986), S. 267-295.

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dürfte nämlich die entscheidende Voraussetzung für Brechts Idee des epi-schen Theaters bzw. seine Mutter Courage gewesen sein:

Dass Hauptmann mit dieser Struktur seiner Komödie eine generelle Skepsis der Naturalisten gegenüber der Tradition der poetischen Gerechtigkeit zum Ausdruck brachte, betonte schon Wulf Segebrecht. Er verwies u.a. auf den folgenden Kommentar Herrmann Conradis, der 1887 in einem Aufsatz im Magazin für die Literatur des In- und Auslandes betonte:

Wenn neuerdings in der Literatur allenthalben die Tendenz aufwacht, diesem geistlosen Fetischismus [der poetischen Gerechtigkeit] ein Ende zu machen; die Welt, allerdings durch eine machtvolle Individualauffassung vertieft, so darzustellen, wie sie ist; das Leben so brutal und gemein, wie es ist, im Spiegel der Kunst festzuhalten, so sehe ich darin von philosophischem wie in gewis-sem Sinne auch von sozialem Standpunkte ein wichtiges Heilsmoment, ein bedeutendes Zukunftssymbol.9

Reinhold Grimm hatte wohl erstmals bemerkt, dass diese für den Natura-lismus so typischen Dramen mit offenem Schluss als Ausgangspunkt des epischen Theaters Bertolt Brechts anzusehen seien.10 In der Tat befasste sich Brecht während seines gesamten Schaffens immer wieder mit dem Schicksal der Mutter Wolffen aus Hauptmanns Der Biberpelz und dessen

9 Zit. n. Segebrecht (1998), S. 73.10 Grimm (1972).

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Prinzip des offenen Dramas, also der Lösung von der finalen Sanktion eines doppelten Diebstahls. Die Einflüsse zeigen sich bei Brecht erstmals in der Mutter Courage, deren Verwandtschaft mit Hauptmanns Mutter Wolffen erstmals von Herbert W. Reichert festgehalten wurde: Beide Mutterfigu-ren missachten die Gesetze, zeichnen sich durch ein Profitstreben bzw. – im Falle der Mutter Courage – durch eine Positivierung des Krieges aus. Und dennoch sind beide sympathische Charaktere: Sie sind ungebildet, aber schlagfertig, ernähren eigenhändig ihre Familie, haben Geschäftssinn, Mut und Verstand.11 Brechts Mutter Courage verliert zwar in den Grau-samkeiten des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) ihre drei Kinder und verarmt schließlich. Allerdings ist sie nicht Opfer in einem Rührstück, sondern versucht als Täterin selbst, im Krieg bzw. mit dem Krieg ihr Geld zu machen. Die Mutter Courage verdient ihr Geld als Marketenderin, d.h. sie folgt mit ihrem Planwagen dem schwedischen Heer auf seinen Raub-zügen durch das zerstörte Deutschland und versorgt es mit den benötig-ten Waren. Sie ist trotz aller Leiden nicht am Frieden interessiert, der aus ihrer Sicht geschäftsschädigend wirkt. Ihr ältester Sohn Eilif wird gleich zu Beginn für die Kriegsdienste angeworben, Schweizerkas, der jüngere Sohn, wird als Zahlmeister eingesetzt, die Tochter Kattrin, die seit ihrer Miss-handlung durch einen Soldaten verstummt ist, wird von der Mutter für die Geschäfte eingespannt. Alle drei Kinder sterben schließlich aufgrund ihrer „Tugenden“: Eilif wird erschossen, weil er in einer kurzen Friedensphase geraubt und geschändet hat (für dieselbe Tat war er zu Kriegszeiten ausge-zeichnet worden). Schweizerkas geht an seiner Redlichkeit zugrunde, weil er die Regimentskasse verstecken will und entdeckt wird. Kattrin opfert sich in ihrer Kinderliebe, indem sie die Einwohner der Stadt Halle vor den eindringenden Truppen warnt. Der Krieg ist am Schluss des Stückes aller-dings nicht beendet, die Hoffnung der Courage, ihren Sohn Eilif wieder-zusehen, ist jedoch – wie der Zuschauer weiß – vergeblich. Was mit der Mutter Courage geschieht, bleibt – wie in Hauptmanns Der Biberpelz oder den übrigen Brechtstücken dieser Phase wie etwa Das Verhör des Lukullus oder Der gute Mensch von Sezuan – offen:

11 Reichert (1961).

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Es gilt in diesen drei zentralen Dramen aus der Brecht’schen Phase des epi-schen Theaters die Maxime aus dem guten Mensch von Sezuan: „Wir sehen selbst betroffen, den Vorhang zu und alle Fragen offen“. Brechts umfangrei-che Lösung vom aristotelischen Illusionstheater ist also seit dieser erneuten Beschäftigung mit Hauptmann auch durch den Versuch motiviert, die für das Illusionstheater zentrale Idee der poetischen Gerechtigkeit aufzukün-digen. Brechts Lösung vom aristotelischen Theater richtete sich wie bei Hauptmanns Biberpelz gegen die beiden für poetische Gerechtigkeit ent-scheidenden Prinzipien von Bestrafung und Belohnung. Gegen diese beiden Grundprinzipien setzte Brecht im Anschluss an den Naturalismus die Idee des „offenen Dramas“, dessen Ende unbestimmt bleibt. Die gemeinsame Schnittmenge zwischen dem Drama des Naturalismus und dem epischen Theater sind also Delikte, die nicht mehr durch die poetische Gerechtigkeit sanktioniert werden.

Vivre sa vie und Abschied von gestern: Zwei Beispiele des Brecht’schen Kinos

Wir betonten zu Beginn dieses Beitrages die Adaption der Brecht’schen Theatertheorie im Autorenfilm der 1960er Jahre, also den enormen Ein-fluss Brechts insbesondere auf Jean-Luc Godards Vivre sa vie von 1962: In

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Anlehnung an Brechts Mutter Courage erzählt auch Godard in insgesamt 12 Tableaus, die als blackboard eingeblendet werden, die Geschichte der Nana S., die als Fallgeschichte bzw. als ‚Casus‘ deutliche Anklänge an das Schicksal der Mutter Courage aufweist. Gleiches findet sich in Alexander Kluges Abschied von gestern von 1966. Zu Beginn erscheint der Schrifttitel „Uns trennt von gestern kein Abgrund, sondern die veränderte Lage“, und auch danach wird die Handlung wiederholt von Zwischentiteln und Kom-mentaren, die Kluge selbst sprach, unterbrochen. Nicht linear, sondern eher kaleidoskopartig wird das Bemühen der Jüdin Anita G. erzählt, in der Bun-desrepublik Fuß zu fassen. Dabei ist Kluges Orientierung an Godard so ein-deutig, dass man die Frage stellen muss: Geht es hier um die Mimesis eines Nachfolgers oder um die Korrektur des Godard’schen Entwurfs eines am Epischen Theater orientierten neuen Films?

Ich plädiere für die zweite Antwort, da ich davon ausgehe, dass Kluge sich sehr intensiv und kritisch mit Godards Brecht-Bezug auseinandersetzte. Ungeachtet der Fülle an Bezügen zu Brecht scheint mir bei Godard ein Aspekt zu fehlen, der erst in Alexander Kluges Version eines Brecht’schen Kinos erinnert und ausgearbeitet wird. Erst Kluge, so die im Folgenden auf-gestellte Behauptung, versuchte in seinem Film der Brecht’schen Idee des Epischen Theaters in seiner ganzen Breite gerecht zu werden. Dass diese Auseinandersetzung Kluges mit Brecht und Godard zugunsten Brechts und – zumindest in Teilen – zuungunsten Godards verlief, möchte ich zunächst einmal an einem Beispiel verdeutlichen. Dieses betrifft die in beiden Filmen – Vivre sa vie und Abschied von gestern – charakteristischen Aussagen über das dialektische Verfahren des Portraits:

Abb. 2: Jean-Luc Godard. Vivre sa vie. Screenshot.

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In der oben bebilderten Szene aus Vivre sa vie liest aus dem Off die Stimme eines Mannes der weiblichen Hauptfigur Nana eine Novelle Edgar Allan Poes vor: The Oval Portrait. In dieser malt ein Maler das Porträt seiner Frau: Dies sei, so der Kommentar des lesenden Mannes im Film Godards, auch „unsere Geschichte“. Poes Novelle erzählt die Geschichte von einem Mann, der aus einer Frau ein Bild macht, in dem das Leben selbst eingefangen wird, der zugleich aber diese Frau tötet, deren Porträt er zeichnet:

Und alle, die das Porträt sahen, sprachen mit unterdrückter Stimme von seiner Ähnlichkeit wie von einem unerklärlichen Wunder, wie von einem machtvollen Beweis von der Kunst des Malers und seiner Liebe zu ihr, die er so vollendet ähnlich auf die Leinwand bannte. Doch als sich die Arbeit ihrem Ende nahte, wurde niemand mehr in den Turm zugelassen, denn der Maler war wie besessen vom Eifer für sein Werk und wandte nur selten noch seine Blicke von dem Bild auf die Züge seiner Frau. Und er wollte nicht sehen, daß die Farben, die er auf die Leinwand auftrug, von den Wangen der Frau verschwanden, die vor ihm saß. Und als viele Wochen vorübergegangen waren und nur noch wenig zu tun blieb – noch ein Strich über die Lippen, noch ein letzter Glanz über dem Auge –, flackerte die Seele der jungen Frau noch einmal auf wie eine verglimmende Lampe. Und der Maler machte den Strich über die Lippen und legte den Glanz über das Auge, und er stand einen Augenblick wie entzückt vor dem Werk seiner Hände. Im nächsten Augenblick aber, während er noch in Anschauung versunken war, begann er zu zittern und wurde totenbleich und schrie, von einem Entsetzen jäh angefaßt, mit lauter Stimme: ‚Das ist ja das Leben selbst!‘ und wandte sich zu seiner Geliebten. – Sie war tot!12

Eine identische und doch entscheidend variierte Geschichte findet sich in Abschied von gestern. Wenn man bedenkt, welche enorme Rolle das Portrait als Prinzip bei Godard spielt, wenn man bedenkt, wie wichtig für das Ver-ständnis von Vivre sa vie die Geschichte Edgar Allan Poes mit dem Titel The Oval Portrait ist, dann ist Kluges Kommentar unverkennbar. Er wird ersichtlich in einem Brechtzitat in Kluges Film, der vorgelesenen Geschichte von Herrn Keuner über das Verhältnis von Mensch und Entwurf: „‚Was tun Sie‘, wurde Herr K. gefragt, ,wenn Sie einen Menschen lieben?‘ ,Ich mache einen Entwurf von ihm‘, sagte Herr K., ,und sorge, daß er ihm ähnlich wird.‘ ,Wer? Der Entwurf ? ‚ ,Nein‘, sagte Herr K., ,der Mensch.‘“13 Über diesen Text

12 Poe (1966). 13 Brecht (1977), S. 386.

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diskutieren Anita G. und Ministerialrat Pichota ausführlich, mit dem Ergeb-nis, dass Pichota eben jene Deutung verwarf, die in Godards Film favorisiert ist: Brecht meine nicht, dass der Entwurf zunehmend dem Menschen ähneln soll, sondern umgekehrt, der Mensch ähnele dem Entwurf. Das ist kritisch gemeint, es ist aber nicht so gedacht, wie in der Geschichte Poes, bei der am Ende der Entwurf bzw. das Portrait dem Menschen so sehr ähnelt, dass die-ser sein ganzes Leben an das Portrait verliert. Zugespitzt könnte man sagen, dass Kluge mit einem Brechtzitat der Grundthese eines Films widerspricht, der die Idee eines Brecht’schen Kinos allererst entscheidend vorbereitete. Diese Korrektur Kluges wird gerade aus dem Vergleich der beiden Sequen-zen deutlich: Denn während bei Godard die Moral der zitierten Geschichte nicht weiter diskutabel erscheint, wird die Moral bei Kluge in einer offenen Diskussion erst erörtert.

Drei Delikte, drei Versionen von Gerechtigkeit: Mutter Courage, Nana S., Anita G.

Eben diese Öffnung scheint mir eine generelle Tendenz in Kluges Adaption zu sein, die sich auch in einer zweiten sehr deutlichen Parallele finden lässt. Ging es in der ersten Parallele um das Verhältnis von Kunst und Leben, so geht es in der zweiten Parallele um die Frage nach der Gerechtigkeit, die mir für Kluges Abschied von gestern entscheidend scheint. Auch diese Frage ist motiviert durch Brecht, genauer gesagt durch Brechts Mutter Courage. Bei Vivre sa Vie, Abschied von gestern und Mutter Courage geht es nämlich jeweils um Delikte und die Frage, ob und wie diese zu ahnden sind. Dieses Motiv geht auf Brecht zurück und auch im Film Godards steht ein Schuldigwerden im Mittelpunkt: Der Film erzählt die Geschichte der 22-jährigen Nana, die absichtlich ihren Mann und ihren kleinen Sohn verlässt in der Hoffnung, Schauspielerin zu werden, aufgrund von Geldnot jedoch in die Prostitution gerät, einen Diebstahl begeht und schließlich bei einem geplanten Handel ihres Zuhälters zu Tode kommt. Ein ähnliches Schuldigwerden findet sich in Kluges Abschied von gestern: Anita G. ist als Kind jüdischer Eltern 1937 in Leipzig geboren und nach deren Rückkehr in der DDR aufgewachsen, wo sie Telefonistin war. Nach ihrer Flucht in den Westen wird sie Krankenschwes-ter, begeht einen Diebstahl und wird auf Bewährung verurteilt. Wie zeigen beide Filme die Ahndung dieser Diebstahlsdelikte?

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Im Film Godards stellt das vierte Tableau den Wendepunkt in der Geschichte der Nana dar, ihren Diebstahl. Nana macht eine Aussage bei der Polizei über einen Vorfall: Sie sah, dass eine Frau auf der Straße eine 1000-Franken-Note fallen ließ und versuchte nun, diese zu stehlen. Die Frau ertappte sie und Nana gab ihr das Geld zurück, dennoch aber stellte die Frau eine Strafanzeige. Im Zuge dieser Vernehmung erfahren wir, dass Nana ihre Wohnung verloren hat und, nachdem sie bereits von ihrem Arbeitgeber mehrfach einen Kredit bekommen hatte, auch keine finanziellen Ressour-cen mehr besitzt. Die Szene zeigt Nana in Nahaufnahmen, vor einem Fens-ter sitzend, wo sie einem Polizisten äußerst schuldbewusst Antworten auf dessen Fragen gibt. Wie üblich, wenn Godard unsere Aufmerksamkeit auf den Charakter Nana lenken will, verdeckt er das Gesicht der Schauspielerin: Der Zuschauer kann sich deren Schönheit also nurmehr ausmalen. Godard erweckt jedoch Sympathie für Nana durch den Schreiber, der ihr mit Mit-gefühl und einer gewissen Sorge um ihr Wohlergehen zu begegnen scheint. Nana selbst scheint ihre eigene Lage hoffnungslos: Am Ende der Szene beginnt sie einen Satz, den sie nicht beenden kann, und der von Rimbaud stammt – „Ich … bin eine andere“. Erst in diesem Moment dreht sie ihr Profil in die Kamera, zuvor sieht sie beschämt zu Boden.

Anders ist das Delikt und dessen Darstellung bei Kluge. Auch Anita G. ist straffällig geworden, in Braunschweig hat sie einer Arbeitskollegin die Strickjacke entwendet. Der Richter, der über ihre Schuld zu befinden hat, wird dabei mindestens genauso eindringlich von der Kamera studiert wie die Beschuldigte, zudem zeigt Kluge auch den Gerichtssaal, also den Ort des Geschehens. Wir sehen hier mit großer und durchaus kritischer Geste die Darstellung einer Institution. Hans Korte, der den Richter spielt, ist in sei-ner Verhandlungsführung die Verkörperung dieser Institution, seine Stimme eröffnet zunächst die Szene – „Gegen die zur Zeit berufslose Anita G., gebo-ren am 24.4.1937, zur Zeit ohne festen Wohnsitz, ledig, nicht vorbestraft, wird das Hauptverfahren vor dem Amtsgericht in Braunschweig eröffnet“ –, später zitiert diese Stimme erläuternd aus dem StGB. Anders als bei Godard wird der Richter in seiner Bedrohlichkeit gezeigt; sein Hinterkopf mit kurz geschnittener Frisur dominiert die Gerichtsszene:

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Abb. 3: Alexander Kluge. Abschied von gestern. Screenshot.

Es folgen Informationen zur Person der Angeklagten, wobei die Daten und Anklage verlesende Stimme des Richters in deutlichem Bezug, aber auch in deutlichem Kontrast zu der vergleichbaren Verhörszene bei Godard steht. Nana und der Polizist müssen ihr Delikt nicht eigens ausdiskutieren, an deren Stelle tritt vielmehr eine durchaus mitfühlende Nähe des Verhörenden und der Verhörten. Bei Kluge dagegen ist das Gespräch von einer eindeuti-gen Hierarchie geprägt, die schon in der Bildeinteilung bzw. der Positionie-rung von Richter und Angeklagter deutlich wird. Zwar ist das Schuldgefühl der Anita G. „nicht abschließend festzustellen“. Zudem muss bei Kluge der Begriff des Gewahrsams erst geklärt werden, ebenso der Begriff des Besitzes. Entscheidend aber bleibt, dass Kluge diese Verhörszene, die als Variante der Godard’schen Szene zu deuten ist, wiederum kommentiert. Dieser Kom-mentar geht aus von dem deutsch-jüdischen Richter Fritz Bauer.

Von der poetischen zur restaurativen Gerechtigkeit: Fritz Bauer und die Utopie des round table

Ich gehe davon aus, dass Kluge in seiner Adaption des Godard’schen Films eine Utopie realisierte, die in Abschied von gestern durch den Richter Fritz Bauer formuliert wird. Dies verdeutlichen zwei parallele Montagen, in denen Kluge zwei Statements von Fritz Bauer kontrastiert. Fritz Bauer nimmt auf-grund seiner eigenen tragischen Lebensgeschichte und seiner herausragen-den Rolle in der bundesdeutschen Justizgeschichte in Abschied von gestern also eine zentrale Kommentatorenrolle ein. In einer dokumentarischen Episode, die den Faden der zuvor geschilderten Gerichtssequenz wieder

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aufnimmt und gleichzeitig einen Kommentar zum Gesehenen liefert, erzählt Bauer davon, dass er sich als junger Jurist zutiefst schämte, weil er hinter dem Richtertisch sitzen durfte, während die Beschuldigten stehen mussten. Damit ist zunächst einmal die Anordnung kommentiert, wie sie in der ersten Szene zwischen Anita G. und dem von Hans Korte gespielten Amtsrichter entstand. Als Gegenmodell zu dieser hierarchischen Konstellation entfaltet Fritz Bauer dann in einer weiteren Sequenz eine Idee von Gerechtigkeit, in deren Zentrum der Begriff des „round table“ steht:

Na, sagen Sie mal, können Sie sich denken, dass wir eines Tages mal einen round table machen, wo der Staatsanwalt und der Verteidiger und der Ange-klagte und das Gericht um den Tisch herumsitzen und gemeinschaftlich um die Wahrheit kämpfen, und um das, was wir Recht nennen?

Diese Utopie Fritz Bauers lässt sich theoretisch präzisieren: Sie plädiert für eine neuartige Form der Gerechtigkeit, die später auf den Begriff der resto-rative justice gebracht worden ist. Diese in den frühen 1970er Jahren in Australien, Neuseeland und den USA entstandene Idee der restaurativen Gerechtigkeit widerspricht dem juristischen Sanktionsrecht, denn es geht im Sinne des philosophischen Kommunitarismus14 um die value restoration15, also die Wiederherstellung des sozialen Konsenses über die gültigen sozi-alen Werte und Normen, die durch einen Regelverstoß verletzt wurden.16 Es stehen nicht nur die Straftat des Täters, sondern auch die Schäden und die Bedürfnisse des Opfers im Zentrum. Und der Täter wird nicht in den hermetischen Welten eines Gerichts sanktioniert, sondern er diskutiert im Rahmen eines conferencing, also einer gemeinsamen Auseinandersetzung mit dem Opfer sowie einer eng begrenzten sozialen Gemeinschaft sein Delikt. Nicht Belohnung und Bestrafung, sondern Heilung und Versöhnung, also ein „Täter-Opfer-Ausgleich“ mit dem Ziel der Reintegration des Täters ste-hen im Zentrum.

Die Nähe der restaurativen Gerechtigkeit zu Bauers Idee des round table, der die Hierarchien des Gerichts auflösen soll, lässt sich in diesem Konzept des conferencing fassen. Die Theorie der restorative justice17 kennt beispiels-weise die Form des family group conferencing18, bei dem ohne staatliche

14 Bell (1993). 15 Wenzel/Thielmann (2006).16 Cunneen/Carolyn (2010), S. 34-40.17 Weitekamp (1999).18 Pratt (1996); Braithwaite (1999).

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Organe der Rechtsprechung Konflikte gemeinschaftlich im erweiterten Kreis der Familien von Tätern und Opfern geregelt werden; ähnliches gilt für die sogenannten sentencing circles, die seit 1980 in Nordamerika bekann-ten healing oder peacemaking circles19, oder die südafrikanische Truth and Reconciliation Commission.20 Die Nähe der restaurativen Gerechtigkeit zu den Überlegungen Fritz Bauers zeigt sich zudem in der Idee, einer Straftat nicht die Bestrafung, sondern vielmehr die Wiedergutmachung bzw. die Heilung anschließen zu lassen. Ich glaube demnach, dass in Kluges Film zwei Gerechtigkeitsideen gegeneinander ausgespielt werden: An die alte Idee der poetischen Gerechtigkeit tritt – artikuliert durch die Person Fritz Bauers – die Idee der restaurativen Gerechtigkeit. Diese Tendenz zur restaurativen Gerechtigkeit entfaltet sich vor dem Hintergrund des Brecht’schen Theaters, also aus Kluges Beschäftigung mit Brecht.

Die Zuschaukunst nach dem Ende der poetischen Gerechtig-keit: Zum Wirkungskonzept des performativen Theaters

Ich fasse die Überlegungen meines Beitrags noch einmal zusammen. Aus-gangspunkt war die Gerechtigkeitsidee im Epischen Theater Brechts, die aus dessen Vorgeschichte – dem Illusionstheater – ersichtlich wird. Die Wir-kung des von Brecht überwundenen Illusionstheaters basierte stets darauf, dass sich ein größeres Theaterpublikum mit den Helden der Geschichte identifiziert. Diese Identifikation hatte – implizit seit den Tragödien des Ais-chylos, explizit seit dem 17. Jahrhundert – die Idee der poetischen Gerech-tigkeit zur Grundlage.21 Die emotionale Bindung des Zuschauers geht also aus dessen Sinn für Gerechtigkeit hervor, der durch den „in der Dichtung oft erscheinenden, in der Wirklichkeit vermissten Kausalzusammenhang von Schuld und Strafe“22 im Idealfall befriedigt wird. Das klassische Illusi-onstheater entspricht dem allgemeinen Gerechtigkeitssinn, denn es belohnt die Tugendhaften und bestraft die Sünder. Dazu bedient es sich der Fabel, also einer möglichst wirklichkeitsgetreu nachgeahmten Handlung. Der

19 Yazzie/Zion (1996); Jaccoud (1998).20 Louw (2006). 21 von Fritz (1962); Ebbs (1973); Mönch (1993); Segebrecht (1997); Lurje

(2004); Ke (2008); Kaul (2008); Donat (2011).22 von Wilpert (21959), S. 454.

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Kausalzusammenhang von Schuld und Strafe kann also z.B. durch einen „Fluch der bösen Tat“23 demonstriert werden.

Unter dem Eindruck der Komödie Gerhart Hauptmanns begann Brecht sich in Mutter Courage von dieser Idee der poetischen Gerechtigkeit zuneh-mend zu lösen. Daher begreife ich die für das Brecht’sche Theater wie das Kino Alexander Kluges charakteristische ‚Zuschaukunst‘ als Neudeutung der Gerechtigkeitsfrage. Die Einbeziehung des Zuschauers basiert auf dem Übergang von der poetischen hin zur restaurativen Gerechtigkeit. Dieser Übergang stellt einen Motivkomplex dar, den man bei der Theorie eines Brecht’schen Autorenkinos zu berücksichtigen hat. Denn bei Brecht werden die Delikte des Täters vollkommen vom Täter gelöst und in einen gesell-schaftlichen Rahmen eingebunden. Brechts schuldige Figuren wie etwa Shen Te aus Der gute Mensch von Sezuan werden nicht wirklich bestraft. Die Sank-tion bleibt aus, damit die Zuschauer im Anschluss an das offene Ende eigene Lösungen finden, die schließlich natürlich in der marxistischen Veränderung der Gesellschaft liegen.

Auch Alexander Kluges Abschied von gestern löst sich von dieser poe-tischen Gerechtigkeit. Dagegen ist diese in Godards Vivre da vie noch zu erkennen, zumindest scheint mir der Versuch der Überwindung poetischer Gerechtigkeit im Namen einer anderen Gerechtigkeitsidee bei Godard zu fehlen. Vivre sa vie hat kein offenes Ende. Nanas Hoffnung, Schauspielerin zu werden, sowie die Enttäuschung, dennoch als Diebin und Prostituierte zu enden, und die Tatsache, dass sie am Schluss vom Zuhälter erschossen wird, lösen beim Zuschauer vielleicht Mitleid, jedoch keine offenen Fragen aus. Anders in Abschied von gestern. Zwar ist auch Anita G. auf der Flucht, aber letztlich wissen weder sie noch der Zuschauer, wovor sie flieht, ob und wo ihre Flucht enden wird. Sie entflieht ihrer Bewährungshelferin und zieht in eine andere Stadt. Als Vertreterin einer Plattenfirma wird sie Geliebte ihres Chefs, der sie aber schließlich seiner Ehefrau zuliebe anzeigt. Auch ihren nächsten Job als Zimmermädchen verliert sie wegen eines ihr nachgesagten Diebstahls. Die steckbrieflich gesuchte Anita G. zieht von einem Ort zum anderen, bis sie sich wegen der bevorstehenden Geburt ihres Kindes der Poli-zei stellt. Das Kind wird ihr weggenommen, und im Frauengefängnis sieht sie ihrer kommenden Verurteilung entgegen. Aber wir wissen weder, was genau das Delikt war, welches am Ende jene 5-jährige Haftstrafe auslösen würde, die Anita G. für sich erwartet. Wir wissen als Zuschauer nicht einmal, ob sie am Ende wirklich verurteilt wird. Vielmehr geht es dem Zuschauer dieses

23 Mönch (1993), S. 30.

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Films so wie den Besuchern von Hauptmanns Biberpelz oder Pichota und Anita angesichts der Keuner-Geschichte: Man muss erst einmal diskutie-ren, was die Schuld der Heldin ist, ob sie eine Strafe verdient, ob sie Täterin oder Opfer ist usw. Dieses offene Ende ist es, das Brecht von Hauptmann übernahm, und das auch Alexander Kluge in seinem Kino erinnert. Es ist die Grundlage seiner in Abschied von gestern entwickelten Idee einer restaurati-ven Gerechtigkeit, wie sie in Fritz Bauers Utopie vom round table anklingt.

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Die Zuschaukunst im Wandel der Medien

Inhaltsverzeichnis

Marc Caduff, Stefanie Heine, Michael SteinerEinleitung ......................................................................................................

Constanze Schellow Perform Spectatorship or Else ... Der emanzipierte Zuschauer auf der Bühne des Tanz- und Theaterdiskurses ...............................................................

Michael Steiner„Was genau geht vor bei den Theaterzuschauern“? Versuch über die Besonderheit der Rezeption von Theateraufführungen ..........................................................................

Jürg BertholdKunst der Kontingenz.Überlegungen zu einem Projekt von Rimini Protokoll ......................

Stefanie HeineBreathing Machines. Inspiration and Interdependence in Contemporary ArtInstallations ..................................................................................................

Snežana KalinićIn Touch with the Artists.(In)voluntary Participation of the Recipients in Imponderabilia .....

Philip Ursprung„Echo-Logy“.Arbeiten mit Allan Kaprow ......................................................................

Jens RoseltZuschaukünste im Theater ........................................................................

Mona De WeerdtLaura Kalauz & Martin Schicks CMMN SNS PRJCT ..........................

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Gianna FrölicherAktive Partizipation oder inszenierte Mitsprache? Sowjetische Agitationsgerichte der 1920er Jahre .................................

Burkhard Meyer-SickendiekDie Zuschaukunst im Wandel der Medien.Brecht und der Autorenfilm der 1960er Jahre ......................................

Evgenia IliopoulouOther than Ordinary.Second Person Address in M. Butor & G. Perec ..................................

Szilvia GellaiEditor’s Cut? Der Versuch eines Romanschnitts an Andreas Okopenkos Lexikon-Roman ................................................

Sabine ZubarikKein Normalzustand.Simultane Materialanordnungen in zeitgenössischen Romanen ......

Bettina WodiankaZu Gast im Hör-Spiel-Raum. Überlegungen zur hörenden Teilnahme .................................................

Sarina TschachtliDeath upon Reception.Viewer Involvement in the Zombie Movie Pontypool .........................

Carol Jana RibiModi der Wahrnehmung.Exemplifiziert an Warja Lavaters Künstlerbuch Ergo ..........................

Michael WetzelDer Autor als Rezipient – Der Rezipient als Autor. Oder: Wie man (sich) das „Große Glas“ anschaut. „To Be Looked at (From the Other Side of the Glass) With One Eye, Close to, for Almost an Hour“ ....................................

Autorinnen und Autoren ................................................................................

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