Die Kunst der Migration (2011)
Transcript of Die Kunst der Migration (2011)
Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln
_Vilém_Flusser_Archiv
Universität der Künste Berlin
International Flusser Lectures
Die Kunst der Migration.Von Sesshaften, Nomaden, Luftmenschen und Gesamtkunstwerken
Anke Finger
1
International Flusser Lectures
Die Kunst der Migration.
Von Sesshaften, Nomaden, Luftmenschen und Gesamtkunstwerken
Anke Finger
2
Die International Flusser Lectures sind ein Projekt des _Vilém_Flusser_Archivs,
das seit 2007 an der Universität der Künste Berlin angesiedelt ist und bis 2006
an der Kunsthochschule für Medien Köln beheimatet war.
Die Vorträge umkreisen oder durchschreiten großzügig die Ideenwelt des Prager
Kulturphilosophen und wollen sie in ihrem anregenden Potenzial lebendig halten.
Von 2001 bis 2007 waren die Lectures und ihre Veröffentlichung Bestandteil
des von der DFG geförderten intermedialen Editionsprojektes. Der Druck dieser
Publikation wurde durch die Universität der Künste Berlin gefördert.
International Flusser Lectures
Siegfried Zielinski
Die Kunst der Migration.Von Sesshaften, Nomaden, Luftmenschen und Gesamtkunstwerken
© 2011
Siegfried Zielinski und Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln
Gestaltung: Andreas Henrich
Herausgeber: Claudia Becker, Marcel René Marburger, Siegfried Zielinski für das
_Vilém_Flusser_Archiv an der Universität der Künste Berlin
Homepage: http://www.flusser-archive.org
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Ein Titelsatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhältlich.
ISBN xxx
3
International Flusser Lectures
Die Kunst der Migration.Von Sesshaften, Nomaden, Luftmenschen und Gesamtkunstwerken
Anke Finger
5
In einem Interview, das Flusser 1990 in Robion mit zwei Arch+ Redak-
teuren führte, stellte er seine Definition einer von ihm stets als essay-
istisch gedachten Existenz vor: „[D]ie Lebenswelt ist ein Gesamtkunst-
werk. In der Genesis wird gesagt, wir sind Kunstwerke, wir haben ei-
nen Schöpfer, einen Autor und sind Teil eines Gesamtkunstwerks, das
heißt Schöpfung. Der Schöpfer hat dieses Gesamtkunstwerk mit einem
eigenartigen Rückspiegel ausgestattet, der es uns erlaubt, darauf zu
kommen, wie das Ganze hergestellt ist. Sie können damit nach innen
schauen, dann kommen wir auf den Autor in uns, oder nach außen,
dann kommen wir auf den Autor um uns herum. Kurz und gut, wir sind
darauf gekommen, dass ‚der Schöpfer’ nur eine unter vielen Virtuali-
täten des Raums geschaffen hat, und jetzt machen wir es ihm nach
und schaffen andere. Dadurch haben wir uns abgesetzt und sind zu un-
serem eigenen Autor geworden“.1 Flusser bringt hier Grundsätzliches
in seiner Philosophie und Biographie zur Sprache, Elemente, denen er
immer wieder und in Verbindung mit verschiedenen Gedankenexpe-
rimenten Aufmerksamkeit gezollt hat: Schöpfung, sprich Kreativität;
der/die Urheber derselben, also der Autor oder die Autorin; und das,
was entsteht, in diesem Zitat die Lebenswelt als Gesamtkunstwerk,
das heißt zunächst, die Zusammenführung von Kunst (oder Werk) und
Leben mit Hilfe von Husserls teils kontroversem Begriff, eine Zusam-
menführung, die bei Flusser oft bevorzugt in der Essayform Ausdruck
fand – biographisch wie philosophisch und konnotativ fest gehalten, ja,
paradox verankert, im Begriff „Bodenlosigkeit“.
Im folgenden soll diese Lebenswelt als Gesamtkunstwerk näher fokus-
siert werden, denn Flusser war selbst kreativ und ohne Unterlass zum
Autor seines Innen und Außen geworden – dafür lohnt ein Blick in den
Rückspiegel und eine nähere Befragung verschiedener Konzepte, die
6
er besonders für die Kunst, oder das Werk, der Migration verwende-
te. Wir werden feststellen: Flussers Bodenlosigkeit hat Wurzeln. Und
diese Wurzeln konfrontieren uns mit den Formationen, Gewächsen
oder Auswüchsen einer globalen Migration und Mobilität im 21. Jahr-
hundert, in welchem, teils unübersichtlich, variable „Virtualitäten des
Raums“ ko-existieren. In diesen haben sich Migranten wie Sesshafte
(zu Definitionen kommen wir etwas später) eingerichtet, ohne notwen-
dig eine bewusste oder reflektierte Autorschaft zur Schaffung ihrer
gesamtkunstwerklich orientierten Lebenswelten wahrzunehmen. Der
Prager Flüchtling und von außen als Jude designierte Flusser betrach-
tete eine bewusste und reflektierte Autorschaft jedoch – nach anfäng-
lich selbstmordgefährdeten Jahren in Brasilien – als Voraussetzung für
ein Leben als Migrant, und man sah seine Version der Bodenlosigkeit
bestückt mit Attributen wie etwa nomadisch, nostalgisch, engagiert,
erfahrend, durchlöchert, multilingual, projektorientiert und vernetzt.
Flusser nahm bei dieser Arbeit eine Haltung ein, die etwa Niklas Luh-
mann in Kapitel 2 seines Bandes Gesellschaftsstruktur und Semantik
wie folgt beschrieb: es geht bei der Beobachtung zweiter Ordnung
(also nach der „Einteilung der Gegenstandswelt“ oder Materialität der
Kultur) um „das Beobachten von Beobachtern und um eine bestimm-
te Form für die Frage, wie Beobachter Beobachter beobachten“.2 Für
uns sieht das so aus: Flusser schreibt eine „philosophische Autobio-
graphie“, Bodenlos (1992), und beobachtet eine untergegangene euro-
päische Kultur aus brasilianischer Perspektive. Dann schreibt er einen
„Versuch über den Brasilianer“, Brasilien oder die Suche nach dem neu-
en Menschen (1994), und beobachtet eine sich im Wandel befindende
Kultur (wenn man vom Singular reden möchte) aus der Perspektive ei-
nes Immigranten, der sich auch nach mehr als 30 Jahren in Südamerika
des Attributes „europäisch“ bedient. Die „Stimmung“ dieses Versuchs,
7
so Flusser, ergibt sich aus dem „Bewußtsein der Desorientierung“, ein
Bewusstsein, das wach zu halten ist, und aus dem „Versuch ... sich
zurechtzufinden, auch auf die Gefahr des Scheiterns hin“ (10).
Wie beobachten wir dann den Beobachter Flusser? Wie beobachtet er
sich selbst? Angesichts der Rückspiegel, mit denen Flusser „das Gan-
ze“ von Prag und von Brasilien erarbeitet um seine gesamtkunstwerk-
lichen Lebenswelten mit Hilfe der Bodenlosigkeit in beiden Kontexten
zu projizieren, sind wir aufgefordert uns mit zwei autobiographischen
Projekten, mit zwei Autobiographien auseinanderzusetzen: denn die
Fremdbilder, die Flusser als Flüchtling und Exilant von Prag und „vom
Standpunkt eines nach Brasilien immigrierten Intellektuellen“ (16)
zeichnet, sind beides Zeugenschaften von Kulturen und Geschichten
und darüber, wie Flusser sie autobiographisch erfahren und vehement
reflektiert hat – aus geographisch distanzierter Position, aber vielleicht
weniger mit emotionalem Abstand. Er verfolgt hiermit zweierlei: er ver-
rückt die Spiegel um – wie auch in seiner Schreibpraxis – nomadisch zu
zirkulieren, also ein nomadisches Schreiben zu praktizieren, von einem
Text zum nächsten und im Zirkel über weitere zurück; er verankert oder
verwurzelt sich selbst mit dieser Art der Beobachtung und Schreibwei-
se in der jüdisch geprägten Identität des „Luftmenschen“, erstellt ein
„cultural branding“ von Prag und Brasilien, die andere „Zeugen“ als
z.T. äußerst kritikwürdig empfinden; und seine Existenz und sein Den-
ken erlangen Bodenhaftung durch eine von ihm geschaffene Lebens-
welt, ein Ich der Bodenlosigkeit. In diesem Identität stiftenden Prozess
schwört er einer geschichtlich aufoktroyierten Opferrolle radikal ab: er
schreibt sich selbst als Täter. Im Aufsatz zu „Exil und Kreativität“ wird
dies explizit: „Im Deutschen gibt es das gehässige Wort ‚Luftmensch’.
Der Vertriebene kann entdecken, dass ‚Luft’ und ‚Geist’ nah verwandte
8
Begriffe sind und dass daher ‚Luftmensch’ Mensch schlechthin bedeu-
tet. So eine Entdeckung ist ein dialektischer Umschlag im Verhältnis
zwischen Vertriebenem und Vertreiber. Vor der Entdeckung ist darin
der Vertreiber der aktive Pol, der Vertriebene der passive. Nach der
Entdeckung wird der Vertreiber der Leidtragende, der Vertriebene der
Täter. Es ist die Entdeckung, dass die Geschichte nicht von Vertreibern,
sondern von Vertriebenen gemacht wird. Nicht die Juden sind ein Teil
der Geschichte der Nazis, sondern die Nazis sind ein Teil der Geschich-
te der Juden“.3
Von Sesshaften, Migranten und „cultural branding“
Fahren wir fort mit Daten: Im März 2009 veröffentlichte die Bundes-
zentrale für politische Bildung im Rahmen ihres „focus Migration“
Online-Angebots das Länderprofil Nummer 17: die Europäische Uni-
on. In dieser – nennen wir sie Supra-Nation, gerne wird auch „Staa-
tenverbund“ gebraucht – wohnen ca. 497 Millionen Menschen (zum
Vergleich: die USA haben ca. 300 Millionen Einwohner), wovon 5,8%
als ausländische Bevölkerung gezählt werden (Stand von 2007). Laut
Bericht ist seit 1992 die Zuwanderung „die wichtigste Quelle des Be-
völkerungswachstums in der Europäischen Union“ (2), und die so ge-
nannte Arbeitsmigration und Familienzusammenführung stehen an der
Spitze dieses Wachstums.4 Seit ca. 15 Jahren gibt es daher eine mehr
oder weniger funktionierende EU Einwanderungspolitik, die sich unter
anderem darum bemüht, weniger qualifizierte MigrantInnen etwa mit
der Blue-Card-Initiative aufzuwiegen, und sich einer Integration von
Migranten als zweiseitigem Prozess verschrieben hat („Common Basic
Principles on Integration“, initiiert vom EU Ministerrat 2004). Umfragen
9
innerhalb der EU Bevölkerung, die 2006 in einer qualitativen Studie zur
Zukunft der EU festgehalten wurden, bezeugen, dass sich ein „wach-
sendes Gefühl der Unsicherheit“ abzeichnet, die „Immigration und die
Integration der Immigranten“ betreffend, egal, ob das jeweilige Land
über eine lange oder kurze Migrationstradition verfügt. Allgemein wird
in diesen Umfragen beanstandet, dass sich illegale MigrantInnen am
Rande der Gesellschaft bewegen oder bewegen müssen und dass
legale ebenso wie illegale MigrantInnen nicht nur einen zusätzlichen
Wettbewerb auf dem Stellenmarkt bedeuten, sondern zudem die Ge-
hälter drücken. Außerdem seien Leute von sehr verschiedenen Kultu-
ren schwer zu assimilieren.5
Fakt ist, dass sich die EU mit über 50 Millionen MigrantInnen als Re-
gion etabliert hat, die im 21. Jahrhundert voraussichtlich mehr Immig-
ranten aufnehmen wird als etwa das traditionelle Einwanderungsland
USA oder das mit 186 Millionen Einwohnern ehemalige „Einwande-
rungsland“ Brasilien. Viele an diesem Prozess Beteiligten sehen sich
zunehmend in Situationen, die sozio-historisch verfestigte Rahmen
durchbrechen oder sprengen, besonders im Zuge sich post-kolonial und
global arrangierender Lebenswelten, Lebensentwürfen und Un/Mög-
lichkeiten. Im Dialog mit Fragen und Diskussionspunkten, die Vilém
Flusser zu den konzeptuellen Entwicklungen von Heimat, Nation, Mig-
ranten, Nomaden, Exil und Bodenlosigkeit beigetragen hat, möchte ich
hier etablierte Begriffe Konzepten und Ideen gegenüberstellen, bzw.
miteinander vernetzen, die uns die Kunst der Migration und Flussers
Positionierungen diesbezüglich näher bringen sollen. Denn „Kunst“
geht bekanntlich zurück auf das Wort „können“ oder auch „kennen“,
und es stellt sich somit akut die Frage: wer kann Migration? Und wie?
Und wer beobachtet oder interagiert hierbei wen oder mit wem?
10
Zentral für diese Fragen sind nicht Daten, Statistiken und Studien, wie
sie vermehrt in den Wirtschafts-, Politik- und Sozialwissenschaften
erstellt werden. Dort erfreut sich die Migrationswissenschaft einer
fast fiebrigen Lebendigkeit, teils und notwendigerweise im Schwange
der scheinbar unaufhaltsamen Globalisierung, teils aber auch im Fokus
der internationalen Menschenrechte und der veränderten, geopolitisch
bedingten, Regionalisierungen seit 1989/90 und dem Ende des Kalten
Krieges. Dieses stark interdisziplinär geprägte Forschungsgebiet un-
tersucht historische und aktuelle Migrantengruppen, und die Fragen,
die sich im 21. Jahrhundert stellen, reflektieren selbstverständlich
die soziokulturellen sowie geopolitischen Veränderungen der letzten
Jahrzehnte. Caroline Bretell und James Hollifield haben daher folgende
Liste zusammengefasst: Anthropologen etwa möchten herausfinden
„auf welche Weise Migration Veränderungen innerhalb einer Kultur
und bezüglich ethnischer Identität beeinflusst“; Historiker sind daran
interessiert, „wie wir Erfahrungen von Migranten verstehen können“;
und Soziologen konzentrieren sich zum Beispiel auf Erklärungsmöglich-
keiten für Eingliederung oder Ausschluß von Migranten in etablierten
Sozial- oder Kulturgruppen.6 Das Verhalten, die Erfahrungen und die
Entscheidungsprozesse von Migranten stehen oft im Zentrum dieser
sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekte – welche Fragen und
Themen jedoch verfolgen die Geisteswissenschaften und Künste in
diesem Bereich?
Aus der Perspektive einer interkulturell orientierten Komparatistik
sehe ich mich weiteren Fragen gegenüber, die sich zunächst im Be-
reich von Definitionen bewegen. Selbstverständlich existieren, sagen
wir, in der Literaturwissenschaft, ganze Regalwände zur so genannten
Migrantenliteratur, zum „Fremden” oder „Anderen”, zur postkolonialen
11
Theorie, zum „Subalternen“, zu Reiseberichten oder -romanen und zur
Eroberungs- und Kolonialgeschichte. Viele Fragen zur Migration sind
in den Künsten und Geisteswissenschaften beantwortet worden, zu-
meist in Bezug auf individuelle Erfahrungen, persönliche Wahrnehmun-
gen, Emotionen, Hoffnungen, Enttäuschungen, Kreativität, um nur ein
paar Elemente zu nennen, die den meisten menschlichen Existenzen
zu Grunde liegen und literarisch/künstlerisch „verarbeitet“ werden. In
ihrer Einleitung zum Katalog vom Jahre 2003, der die Ausstellung zum
Thema „Migration” begleitete, betonen etwa Friedemann Malsch und
Christiane Meyer-Stoll, dass es ihnen beim „Phänomen der Migrati-
on“ um die „organische Ausformung“ geht, „die zu Migration führt und
durch sie wiederum bewegt wird. Was macht die Migration mit dem
Menschen?“7
Vilém Flusser, aus der Perspektive eines von den Nationalsozialisten
verfolgten Juden im brasilianischen Exil, würde antworten: die Mi-
gration macht den Menschen bodenlos. Die Bodenlosigkeit, von ihm
definiert als „Stimmung“ oder „Erfahrung der Einsamkeit, ... ist grund-
sätzlich anti-kulturell und kann daher nicht zu Kulturformen erstarren.“
Flusser führt aus: „Es gibt Menschen, für die Bodenlosigkeit die Stim-
mung ist, in der sie sich sozusagen objektiv befinden. Menschen, die
jeden Boden unter den Füßen verloren haben, entweder weil sie durch
äußere Faktoren aus dem Schoß der sie bergenden Wirklichkeit versto-
ßen wurden oder weil sie bewusst diese als Trug erkannte Wirklichkeit
verließen“.8 Flussers Stimmung der Bodenlosigkeit, als Ausdruck einer
gewissen existentiellen Haltung, oder Zwischenrealität, steht folgen-
de Beschreibung von John Urry entgegen, der sich dem aktuellen Be-
griff „Mobilität“ gewidmet hat: „It sometimes seems as if all the world
is on the move. The early retired, international students, terrorists,
12
members of diasporas, holidaymakers, business people, slaves, sports
stars, asylum seekers, refugees, backpackers, commuters, young mo-
bile professionals, prostitutes – these and many others – seem to find
the contemporary globe are the routeways of these many groups in-
termittently encountering one another in transportation and commu-
nication hubs, searching out in real and electronic databases the next
coach, message, plane, back of lorry, text, bus, lift, ferry, train, car,
web site, wifi spot and so on“.9 Urry weist auf die täglich 4 Millionen
Flugreisenden hin, auf die 31 Millionen Flüchtlinge in der ganzen Welt
und beschwört einen „post-disciplinary mobility turn“ – nach den lingu-
istic, visual, cultural und spatial turns – den er definiert als „a different
way of thinking through the character of economic, social and political
relationships“.10 In diesem Kontrast von Bodenlosigkeit und Mobilität,
von „Luftmenschen“ und von Menschen in der Luft, von Sesshaften,
Migranten und Nomaden, lokalisiere ich die Gegenüberstellung der
hier zur Diskussion gebrachten Begriffe, ausgehend von Flussers „Tä-
terschaft“ im Exil und seinem Entwurf einer gesamtkunstwerklichen
Lebenswelt. Denn es begegnen sich Emotionen, Motivationen und
ökonomische, historische, soziale und politische Voraussetzungen und
Grundlagen für Menschen und die Systeme, in denen sie leben: wieso
und wann etwa wird Bodenlosigkeit gepaart mit Einsamkeit und wie
lassen sich im Jahre 2007 oder heute Sklaven, Flüchtlinge und Asy-
lanten, laut Urry, in einem Satz arrangieren mit Sportgrößen, interna-
tionalen Geschäftsleuten und Rucksackreisenden? Wie entsteigen wir
den klammen Binaritäten von Migranten und Sesshaften, von Touris-
ten und Menschenhandel, von Nationalkulturtraditionen und hybriden
Räumen oder Identitäten?
13
In Bodenlos und in Brasilien oder die Suche nach dem neuen Menschen,
um auf Flussers autobiographische Schriften zurück zu kommen, ergibt
sich eine Art „cultural branding“, eine Art Marken- oder Warenpolitik,
der besprochenen Kulturen, die Flusser zum Gegensatz der eigenen,
zerstörten und hinter sich gelassenen, Sesshaftigkeit macht. Wie aus
seinem Essay „Nomadische Überlegungen“ bekannt sein mag, be-
trachtet er die Sesshaften als „um eine Daseinsdimension [Zeit] am-
putierte Krüppel“ und assoziiert Nomaden mit Fahren, Erfahrung, und
Gefahr (Kontrast Sesshafte: Sitzen, Besitz und Gewohnheit). In beiden
Texten macht er sich zum Migranten als Täter, der tatkräftig ein Prag
und ein Brasilien projiziert, das ein ganz bestimmtes Kulturbild liefert,
ohne sich dialogisch mit anderen Zeugenschaften auseinanderzuset-
zen.11 Ich bezeichne Flussers Vorgehen in diesem Kontext deshalb als
„cultural branding“, als es ein aktives Eingreifen in die Kreation und
Identitätsbildung von gesamtkunstwerklichen Lebenswelten ist, die
über allgemeine Stereotypisierung oder Imagologie, ein Nebenzweig
der Komparatistik, und Nostalgie hinausgeht. Prag ersteht in Flussers
Bild oder Projektion als privilegierter Ort einer hoch zivilisierten, harmo-
nisch und modern organisierten und metonymisch auf den neuen Staat
hinweisenden Stadt. Prag war „die Wirklichkeit“ einer alle nationalen
(und ethnischen) Unterschiede ameliorierenden Identität, „ein existen-
tielles Klima“, und „Prager sein bedeutete ... ein religiöses Dasein“.12
Diese Mythisierung Prags formt Flusser zu einem „cultural branding“,
ein Produkt, in welchem er ein aktives intellektuelles Leben verortet
und das er als „Stimmung“, wie oben dargelegt, nicht als Wirklichkeit
wiederzubeleben sucht.
Die andere Zeugenschaft, der Text zu Brasilien, ergibt sich in Verbin-
dung zu diesem zwar erlebten, aber utopisch gewordenen, weil unter-
14
gegangenen Prag. Im Text erkennt man einen Autor, der sich mehr als
Ethnograph denn als Teilnehmer der brasilianischen Kultur schreibt, ei-
nen Standpunkt mit einem gewissen Abstand einnehmend, in der Hoff-
nung und im Versuch, „unvoreingenommen zu sehen und zu schildern“.
Auch hier wird das „Bild eines Landes“ oder einer Kultur geliefert, und
zwar die eines „nach Brasilien immigrierten Intellektuellen“.13 Von man-
chen Brasilianern selbst, etwa Márcio Seligmann-Silva, erfährt dieser
Text daher vehemente Kritik: „[D]ie eigentliche Brasilien-Lektüre Flus-
sers besteht aus einem Bündel lokaler oder von ihm recycelter Stereo-
typen“ und wiederholt unbefragt diverse Mythen der Kultur. „Flusser
entwirft“, so Seligmann-Silva weiter, „eine Ontologie des brasiliani-
schen Wesens und des Brasilianers, die mit seinem Vorschlag eines
posthistorischen Denkens nicht kompatibel ist. Er essentialisiert das
Momentane“, was sich prägnant schon im Singular ‚des Brasilianers’
niederschlägt.14 Den beobachtenden Flusser scharf beobachtend sieht
Seligmann-Silva hierbei eine ‚Wiederverzauberung der Welt’ durch
Flussers Engagement in einer brasilianischen Kultur und Geschichte,
in der er eben nicht als „kühler“ Ethnograph beteiligt ist, sondern die
er mit Hilfe einer europäischen Werte-Matrix aktiv mitzubilden sucht:
die Möglichkeiten für das „Neue“ oder den „neuen Menschen“ liegen
in Brasilien in einer Art Dornröschenschlaf und sollten fast märchen-
haft erweckt werden wollen – ein weiteres „cultural branding“ und die
Mythisierung oder Stilisierung eines von außen kommenden, der sich
als „Täter“ selbst nach langer Selbst-Arbeit regeneriert hatte. Dieser
Versuch scheitert, denn, so Seligmann-Silva, Flussers Interpretation
nach gab Brasilien ab dem Militärputsch von 1964 „sein Potenzial als
nachgeschichtliches revolutionäres Modell auf“. Wie Rüdiger Zill in
diesem Kontext hervorgehoben hat, tritt Flusser nun in die Position des
„Immigrationstheoretikers“, der im Migranten prinzipiell ein Modell,
den „Vorposten der Zukunft“ sieht15 – aber in welcher Form?
15
Migration in der Kunst
Zum Vergleich möchte ich zwei Ausstellungsprojekte neben Flussers
Positionierung als Täter, bzw. den Migranten als Täter, stellen. Es
ergibt sich diesbezüglich die Frage, ob wir es mit einer Binarität des
Drinnen und Draußen, wie Flusser es in seinem gesamtkunstwerkli-
chen Lebensweltentwurf beschrieben und wie es etwa die Ausstel-
lung „double movement“ gezeigt hat, zu tun haben, also einer Kont-
rastierung von Sesshaften und Nomaden oder Migranten (und einer
vielleicht dialogisch angelegten Außen- und Innenwelt) – Modell 1 – ;
oder mit einer Art Marktplatz oder Bahnhof, wie es das Kollektiv um
„Utopia Station“ konzipierte – Modell 2. Im ersteren entwickelt sich
Migration zweigleisig: „The aesthetic dimension of 2move develops in
two different directions: the influence of immigrants in the culture of
host countries, especially in the public space; and the influence of the-
se countries on the subjective relationships of immigrants with their
homelands, whether they have personal memories of that homeland
or not; whether this homeland is imaginary or the product of ‘post-
memory.’ These relationships, in turn, also impact on the countries of
residence, where they circulate among migrants and their interlocu-
tors, like ghosts”.16 Es ergibt sich aus diesem Hin und Her der diversen
Erfahrungs- und Projektionswelten ein mehr oder weniger dialogisches
Allerlei der durch gegenseitige Einflüsse geprägten virtuellen Räume
des Selbst und der Migrationspositionierungen.
Im zweiten Projekt präsentiert sich die Migration als kommunales Pro-
dukt, in welchem alle Beteiligten impliziert sind, mit jeweils ganz un-
terschiedlichen Beiträgen. „Utopia Station“ ist eine andauernde Aus-
stellung, ein Event und Buchprojekt, das 2002 seinen Anfang nahm und
16
von Molly Nesbit, Hans Ulrich Obrist und Rirkrit Tiravanija konzipiert
wurde. Seit einem ersten Zusammentreffen von Künstlern und Auto-
rInnen im Jahre 2003 hat dieses Projekt multiple Formen angenommen
und wird sich immer wieder neu manifestieren. Die Inhalte von „Uto-
pia Station“ verändern sich stets, das Projekt selbst ist variabel, seine
Identität fließend, und jede angenommene Form ist zunächst immer
erst ein Zusammentreffen („gathering“ oder „assemblage“). Die Orga-
nisatoren, die Utopia Station u.a. 2003 auf der Venedig Biennale prä-
sentierten, beschreiben es wie folgt: „The Station itself will be filled
with objects, part-objects, paintings, images, screens. Around them a
variety of benches, tables, and small structures take their place. It will
be possible to bathe in the Station and powder one’s nose. The Station,
in other words, becomes a place to stop, to contemplate, to listen and
see, to rest and refresh, to talk and exchange. For it will be completed
by the presence of people and a program of events. Performances,
concerts, lectures, readings, film programs, parties, the events will
multiply. They define the Station as much as its solid objects do. But
all kinds of things will continue to be added to the Station over the
course of the summer and fall. People will leave things behind, take
some things with them, come back or never return again. There will
always be people who want to leave too much and others who don’t
know what to leave behind or what to say.”17 Bezeichnenderweise
lässt sich das „Utopia Station“ Projekt mit einem kurzen Statement
zusammenfassen, das sein Potential, aber auch seine Flüchtigkeit wie-
dergibt: „For now we meet.“
17
Fig. 1: Wong Hoy Cheong: „When My Gaze = Yours“, Utopia Station 2003, #142
Der Täterschaft Flussers und die Modelle eines „zweigleisig“ dialogi-
sierenden Migranten und einer Station, auf der man sich zufällig auf
eine Begegnung einlassen kann, entspricht rein visuell das Bild Wong
Hoy Cheongs. Dieses gesamtkunstwerkliche Mengendiagramm, in
welchem der eine Blick den anderen komplett umfängt und umgekehrt,
den im Gesamtkunstwerk eingebauten Rückspiegel mit integrierend,
weist wiederum auf eine Identitätskonzeption Flussers hin, in welcher
er nicht die eigene Täterschaft, sondern sein Judentum dialogisch for-
muliert: „Wenn mich die anderen als Juden ansehen (und die anderen
sind nicht nur Antisemiten, sondern insbesondere meine eigene Fami-
lie), dann erkenne ich mich in diesem Blick und sehe sie meinerseits
18
mit einem jüdischen Blick an. Es ist also wahr, dass ich nur bin, was ich
bin, in Funktion des Blicks eines anderen, das bedeutet aber nicht, dass
ich nicht das bin, was ich ‚wirklich‘ bin. ... Ich bin nur, was ich bin, Jude
eingeschlossen, innerhalb der Kategorien, die mir die anderen aufer-
legen (Intersubjektivität), und außerhalb dieser Kategorien, in der Ein-
samkeit, bin ich strenggenommen nichts. Ohne den Blick der anderen
existiere ich nicht“.18 Welchem Modell folgt Flusser als Beobachter und
Migrationstheoretiker? Welchem folgt er in der Erkennung der Blicke
der Anderen? Ist sein „cultural branding“, seine Identität stiftende Zeu-
genschaft bezüglich Prag und Brasilien, zweigleisig, oder projiziert er
ein „for now we meet“ auch im Sinne seiner Informations- und Medien-
theorien, die vernetzt sind mit seiner Konzeption der Bodenlosigkeit?
Oder passt keines von beiden Modellen?
Von Luftmenschen, Mobilen Identitäten und Nomaden
Werfen wir, bevor wir die Modelle weiter verfolgen und sie mit dem
Gesamtkunstwerk verbinden, einen weiteren Blick in Flussers Rück-
spiegel und untersuchen die Verwurzelung der Bodenlosigkeit ein we-
nig genauer. Es wird niemanden sonderlich verwundern, wenn ich hier
die Sprache auf das ausschließlich christliche Bild des stereotypischen
Wanderjuden („wandering jew“) bringe und auf die vergleichbaren,
häufig antisemitisch belegten Begriffe des Luftmenschen – ein ver-
armter Spielertyp oder auch Intellektueller –; der Bodenlosigkeit, wie
sie etwa der Linkshegelianer Bruno Bauer 1843 beschrieb; oder auch
des Kosmopoliten, der des Öfteren die urbane Version des Luftmen-
schen lieferte, bis dieses Bild positiv umgedeutet wurde. Wir haben
es hier mit ideologisch kontaminierten Konzepten zu tun – auch das
19
Nomadentum trägt stereotypische Orientalismen in sich – deren affir-
mative Betrachtung wir nicht kritiklos übernehmen sollten, sicher auch
nicht von Flusser, so attraktiv dies für eine dialogisch ausgerichtete,
globale Migrationsdebatte zunächst scheinen mag. Die blitzschnelle
Verbreitung des wohl ältesten dieser Bilder – Ahasver, der Wanderju-
de – fußt auf einem kleinen deutschen Pamphlet aus dem Jahre 1602
mit dem Titel Kurtze Beschreibung und Erzehlung von einem Juden mit
Namen Ahauserus, etc., das allein im Erscheinungsjahr zwanzig Mal
aufgelegt wurde. Wie R. Edelmann in einer Sammlung zum Thema be-
tont, „[i]t is the German pamphlet which makes the legend about the
Wandering Jew common property for the broad masses all over Europe
and a source of further development within European folklore. And like
the Faustus legend and others, it also soon became one of the most
oft-treated motives of European art and literature“.19 Das vom Chris-
tentum konstruierte Bild des anker- und bodenlosen Juden verfestigt
sich im Nationalismus des 19. Jahrhunderts. Zu einer Vorstellung vom
desorientierenden, weil nicht lokalisierbaren, fremden Juden, kommt
die nationalistisch-republikanische Bestrebung etwa eines Fichte, der
sich 1807 in seinen „Reden an die Deutsche Nation“ um die Konta-
minierung der deutschen Sprache sorgt. Grund dafür liefern u.a. die
gleichmacherischen Tendenzen der Aufklärung, und die Beobachtung,
wie Aamir Mufti sie beschrieben hat, dass die etablierten Juden in
den Jahren der französischen Besatzung gesehen wurden als „internal
presence of the outside threat“.20 Hannah Arendt bezeichnete dies als
patriotischen Anti-Semitismus (sich auf Rahel Varnhagen berufend).
Die Anfänge der jüdischen Emanzipation im 18. Jahrhundert, basierend
auf einer Elite, die sich etwa in den Berliner Salons wohnhaft gemacht
hatte, wurden jedoch zunächst von der Angst vereitelt, eine Aushöh-
lung der beginnenden nationalen oder kulturgeographischen Identität
20
durch eine sich sesshaft fühlende, aber als fremd projizierte Minorität,
zu provozieren.
Das Bild des Luftmenschen erweist sich hierbei als (z.T. osteuropäi-
sche) Alternative im 19. Jahrhundert, ca. 1860-1930. Wie Nicolas
Berg in seinem akribisch recherchierten Buchessay zum Thema dar-
legt, „zielt [die Metapher] ‚Luftmensch’ vor allem, wenn auch keines-
wegs ausschließlich, auf einen als jüdisch markierten semantischen
Zusammenhang von Armut, wechselnden Tätigkeiten und für Juden
typisch wahrgenommenen Berufen. Der Begriff begegnet uns in den
Quellen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zunächst als jü-
dische Selbstbeschreibung, später dann zunehmend als von außen
kommende Fremdwahrnehmung“.21 Berg identifiziert einen, wie er es
nennt, „Umschlag von Ironie in Ideologie, von Literatur in Politik und
von einem jüdischen in einen judenfeindlichen Diskurs“ innerhalb die-
ses Zeitraums.22 So begann Max Nordau ab 1901 den Luftmenschen
„spezifisch jüdisch“ zu nennen, und die Vernetzung des Begriffs „Bo-
denlosigkeit“ mit der jüdischen Diaspora, kurz, die Infragestellung von
Staatsbürgerschaften und Nationalzugehörigkeiten, die Bruno Bauer
in seinen Schriften vorgenommen hatte, „wurde“, so Berg, „zu einem
Meilenstein der Tendenz, die Bewertung der Juden als Kollektiv meta-
phorisch innerhalb der dichotomen Logik von Boden und Luft, Erde und
Geist, Wurzel und ‚Entwurzelung’ vorzunehmen“.23
Gleichzeitig beginnt eine positive Besetzung des trans- oder postnati-
onalen und kulturellen Schwebens und Fliegens und von Begriffen wie
Kosmopolit (oder auch Flaneur, der Kosmopolit des Urbanen). Nicht von
ungefähr ermöglichen die nagelneuen Produkte einer rasanten Technik
– der Zug, das Auto, das Luftschiff, das Flugzeug, die Photographie, das
21
Telefon, das Radio, der Film – Bezüge und Verbindungen zu Erfahrungs-
welten und -räumen, die jenseits des bekannten Bodens und dann
darüber lagen. Die Mobilität einer diasporisch verstreuten jüdischen
Bevölkerung verkörperte in seiner projizierten weltgewandten Losge-
löstheit vom lokalen Einerlei den Trend des neuen Jahrhunderts, der
sich selbstverständlich auch in einer positiven Besetzung von bisher
negativen Stereotypen in Literatur, Kunst und Philosophie niederließ
und an Kants ‚ius cosmopoliticum’ anklingt – die Vorstellung, dass sich
Individuen und Nationen einlassen können auf einen universalen Staat
(die Interaktion von ius civitatis und ius gentium).24 Flusser steht hier
in der Tradition einer von vielen Beteiligten, oder Möchte-gern-Betei-
ligten, fast religiös gefeierten, technisierten Mobilität, um nicht auch
von einem Wiederbeleben des „neuen Menschen“ zu sprechen, den
etwa der Expressionismus und die Avantgarden mit der Verheißung der
Moderne auferstanden sahen.
Flusser deutet diese Tradition an – immerhin ist er in ihr groß geworden
– aber er lässt sie nicht dezidiert als Ursprung gelten. Er dachte sich
nach seiner Vertreibung als Flüchtling und Exilant im Kontext einer Ge-
schichte, die unbewohnbar geworden war, auch als ideeller Weltbürger
im Kleinstkontext Prag, da die Welt, wie sie war, nicht mehr existierte.
Wenn Flusser sich daher als ‚Täter’ um-schreibt, so beschreibt er sich
autobiographisch zwar mit Etiketten wie Exilant oder Migrant (Emigrant
aus Prag, Immigrant in Brasilien), aber eigentlich lebt er als Nomade in
einer Nachgeschichte, die keinen Boden mehr hat. Denn die Frage, die
ihn im ersten Abschnitt seines Textes zur Nachgeschichte beschäftigt,
stellt sich andauernd wie folgt: „Wie kann man nach [Auschwitz] le-
ben?“25 Und sie liegt zum großen Teil begründet im Schwindel erregen-
den Wandel einer weltbürgerlichen Fortschrittstechnik, die zum mons-
22
trösen Apparat des Nationalsozialismus verkommen war. Insofern
haben sich in Flussers Verständnis der Luftmensch und der Kosmopolit
tatsächlich in Luft aufgelöst, nämlich indem sie zu Asche verdammt
wurden und sich, wie Celan es formulierte, das Grab in der Luft schau-
felten – es sind verlorene „neue“ Menschen und Welten. Verloren wor-
den ist bei Flusser daraufhin der „Glaube an den Fortschritt“ und der
„Glauben an den uns tragenden Boden, an uns selbst“.26
Bevor ich zum letzten Teil übergehe, ein kurzer Exkurs zum „Muskel-
judentum“. Was Flusser mit seiner radikalen Umkehrung vom Opfer
in den Täter verursacht, ist eine mögliche Rückführung seiner virilen
„Täterschaft“ auf die Idee des „Muskeljudentums“ – eine historische
Assoziation oder Verbindung, die er sicher sehr weit von sich gewiesen
hätte. Der „Muskeljude“ geht, wie auch die negativ jüdisch besetzte
Identität des Luftmenschen, zurück auf Max Nordau, der 1898 einen
starken, „sittlich“ gut ausgerüsteten Judentypus einforderte, um den
Zionismus aktiv zu fördern – im Gegensatz zum Stereotyp des intel-
lektualisierten, verweichlichten oder verweiblichten, dem Mythos der
aufklärerischen Menschenrechte verfallenen, (ost)europäischen Juden
und Talmudgelehrten. Nordau und andere Zionisten dachten hierbei
zwar durchaus selbst aufklärerisch (im Sinne von Rationalität, Wis-
senschaftlichkeit, Politik), arbeiteten aber pragmatisch in Richtung
Nationalstaat: Pro Menschenrechte durch Staatenbildung und gegen
Antisemitismus. Todd Samuel Presner beschreibt dies als Nordaus
Aufruf zum Aufstand gegen eine (selbst)auferlegte Machtlosigkeit
oder Passivität: „The ‚Luftvolk’ of the Diaspora must become grounded
[AF] as a ‚Nationalvolk’“.27 Auch hier wird ein Bild des ‚neuen – jüdi-
schen – Menschen’ gezeichnet, ein Ideal, das sich zeitgenössisch gibt
zum Beispiel in Verbindungen mit Körperkultur- oder Turnbewegungen
23
und -vereinen. Dieses Ideal vernetzt sich aber ebenso mit Diskursen
zu einer militaristisch aufgeladenen Männlichkeit (als Anti-Diskurs zur
Dekadenz) im Interesse eines energischen National- oder Gruppenge-
fühls, im Sinne des Zionismus und als Kampf gegen den Anti-Semitis-
mus, etwa in der Kunst eines Ephraim Moses Lilien – „regeneration“
als „an eminently political and aesthetic project“.28 Flusser wird diesen
Regenerations- und Volksbewusstseinsbestrebungen anhand eines
projizierten „Muskeljuden“ womöglich auf die eine oder andere Weise
begegnet sein, zumal er sich als junger Mann Mitte der 30er Jahre
kurzzeitig für den Zionismus interessierte.
Von Gesamtkunstwerken, Gesprengten Rahmen und Räumen
Kehren wir zurück zu der Lebenswelt als Gesamtkunstwerk und den
beiden anhand von Kunstprojekten dargestellten Migrationsmodellen;
und klären wir nun den Begriff Gesamtkunstwerk.29 Das Gesamtkunst-
werk, auch im Hinblick auf die traditionellen Verwurzelungen in frühen
Theorien Wagners, verkörpert ein in der Moderne gerne verfolgtes
Ideal einer Kunst im Leben, eines Lebens in der Kunst, also ein ästhe-
tisches Projekt par excellence, indem es bestrebt ist, sich alle Medien
einzuverleiben und somit die Differenz zwischen künstlerischen/ästhe-
tischen und sozialen Bereichen aufzuheben. Eine vorläufige Definition
des Terminus wäre somit die ästhetische Ambition zur Grenzenlosig-
keit – ein Projekt des Zusammenspiels und der Vermischung in vieler-
lei heterogenen Formen. Es ist nicht synonym mit Synästhesie oder
„mixed media“, aber auch nicht notwendig mit allem ästhetischen oder
politischen Utopismus, und schon gar nicht zu verwenden als Reduk-
tion zum Wagnerismus. Eher sollten wir unterscheiden zwischen drei
24
Formen des Mischens und des Zusammenspiels oder der Verwebung:
auf einer ersten, materiellen Ebene diejenige der mangelnden Grenzen
zwischen den einzelnen Künsten und Gattungen (Multimedia, Opern,
synästhetische Werke), sowie auch einer Poesie von Philosophie und
Kritik. Diese erste, ästhetische Ebene ist notwendig verbunden mit
der nächsten, politischen Ebene: Sie markiert die Überschreitung der
Grenzen zwischen Kunst und Leben oder zwischen Kunst und Gesell-
schaft, in kreativen Gesten oft konzipiert als kollektiv oder interaktiv,
die Mitwirkung eines Publikums einschließend, mit dem Ziel einer ge-
sellschaftlichen Transformation, auch auf utopischer oder revolutionä-
rer Basis. Auf einer dritten Ebene kann das Gesamtkunstwerk auch
die Tendenz zu einer eher metaphysischen Grenzenlosigkeit beinhal-
ten, etwa zwischen Gegenwart, empirischer Wirklichkeit, einer Nicht-
Gegenwart oder Noch-Nicht-Gegenwart, einer imaginierten Totalität,
Einheit, Unendlichkeit oder Absolutheit – eine Tendenz, die sich auch in
der oft ritualistischen Eigenschaft einiger Gesamtkunstwerk-Projekte
innerhalb der letzten ca. 150 Jahre manifestiert. Dieses Ensemble der
Elemente oder Ebenen beschreibt ein dynamisches, komplexes, vielfäl-
tiges und vielstimmiges, ein Gesamtkunstwerk der ent-einheitlichten
Singularität.
Diese drei Ebenen des Gesamtkunstwerks, ästhetisch (mixed media),
politisch (die Vermischung von Kunst und Leben) und metaphysisch
(geistig und potentiell erlösend) erklären nicht das Totale im Gesamt-
kunstwerk – wie ist das „Gesamt” zu verstehen in der Formation einer
Lebenswelt? Das Gesamtkunstwerk basiert auf einer ästhetischen
Haltung, die sich nicht auf eine unumschränkte auktoriale Subjektivität
beruft oder die Autonomie des Kunstwerks, da es seit seinem roman-
tischen Ursprung durch ein Streben nach kollektiver Autorschaft und
25
der Auflösung der Grenzen zwischen Kunst und Leben charakterisiert
wird. Wie es im Endeffekt schwierig bleibt, Ästhetik oder den Bereich
der Kreativität und die Erfahrung von Sinnesobjekten als in irgendeiner
Form widersprüchlich oder autonom abgewandt vom Leben, der Ethik
oder Politik zu konzipieren, so ist dies noch weniger möglich mit dem
essentiell sozialen Kunstwerk, das als Gesamtkunstwerk bezeichnet
wird. „Gesamt” kann in diesem Zusammenhang also als Versammlung,
als Sammlung von verschiedenen Teilen und daher als Überschreiten
von Grenzen verstanden werden: Gesamt ist ein Partizip, das als Ad-
jektiv gebraucht wird, abstammend vom Verb ‚samenen’ oder jetzt
sammeln, was zusammentragen, sammeln oder versammeln bedeutet.
Dies erfordert eine nuanciertere und historisierte Betrachtung der äs-
thetischen Idee vom Sammeln, um im Besonderen die Kontinuität des
„gesammelten” Kunstwerks zu erfassen. Wie beziehen sich Sammlung
und Einheit aufeinander? Welche Rolle spielen Disjunktion/Trennung
und Fragmentierung in dieser Sammlung? Tatsache ist, dass die Vor-
stellung eines gesammelten Werks, mit diversen Kohäsionsgraden,
vom abstrakten Absoluten bis zur äußersten materiellen Gestreutheit,
in der menschlichen Kreativität mitschwingt (Leben und Kunst) und
sich in weiteren neuen Formen manifestieren wird.
Uns interessieren in diesem Kontext die im Gesamtkunstwerk impli-
zierte Dialogizität, das Sammeln und die Gestreutheit der Kreativität
im Austausch miteinander. Das dialogische Prinzip evoziert zunächst
Mikhail Bachtins heteroglossischen Ansatz an Literatur und Philoso-
phie, besonders seine Romantheorie. Sie wird auch assoziiert mit Mar-
tin Bubers „Ich und Du“ von 1923, ein Text, der Flusser stark prägte. In
den bildenden Künsten bezieht sich Dialogizität auf Konnektivität und
Zusammenhänge, laut Eduardo Kac:
26
The dialogic principle changes our conception of art; it offers a
new way of thinking that requires the use of bidirectional or mul-
tidirectional media and the creation of situations that can actually
promote intersubjective experiences that engage two or more
individuals in real dialogic exchanges […] that I call ‘multilogic
interactions’.30
Die Verbreitung des Begriffs und seiner ungefähren Entsprechungen
– Polyphonie, Intersubjektivität, Konnektivität, auch Interkulturali-
tät – korrespondiert mit einem wachsenden Interesse an der Beob-
achtung vernetzter Lebenswelten durch Migration. Wie Jeffrey T.
Nealon betonte, „[d]ialogic intersubjectivity, understood in terms of
an impassioned play of voices, has displaced the dominant modernist
and existentialist metaphor of the monadic subject and its plaintive
demand for social recognition and submission from the other.”31 Dieses
leidenschaftliche Spiel der Stimmen drückt sich auch in der Idee des
Gesamtkunstwerks aus, das durch soziale und ästhetische Kollektivi-
tät und diverse Ansammlungen des Ichs geprägt ist und Dialog und
Austausch zum Thema macht, in ähnlichen Möglichkeitsfeldern, wie
diejenigen, die von Flusser beschrieben wurden.
Die Wirklichkeit, einst an Prag gebunden und in Brasilien gesucht,
verdichtet sich nach einer Reflektion über die eigene Rolle – egal wo
– im Selbst (als Täter und als Existierender in der Nachgeschichte):
„Wo ich bin, dort vergegenwärtigen sich alle Möglichkeiten, denn ich
bin immer gegenwärtig. Die Struktur der Möglichkeitsfelder, der blinde
Zufall, erlaubt die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Man kann sich aus-
rechnen, was wahrscheinlich ist und was weniger wahrscheinlich, und
man kann das Weltspiel bewusst mitmachen, mit den Möglichkeiten
27
würfeln. ... Die Stimmung [im Gegensatz zur Stimmung der Einsamkeit
in Bodenlos und der im Brasilienbuch, AF] des nachgeschichtlichen Da-
seins ist die des kalkulierten Hasardspiels...“.32 Flusser entwirft sich
somit selbst als mobile Identität und sieht sich konsequent weder ge-
schichtlich noch geographisch gebunden. Diese Form des Nomaden-
tums, ein Ich, das sich den Möglichkeiten dort widmet, je nachdem,
in welchem Möglichkeitsfeld es sich gerade befindet, verkörpert sich
sowohl in Flussers Denkansätzen (inter- und transdisziplinär), als auch
in seinem Sprachgebrauch (multi-lingual). Flusser denkt und schreibt
nomadisch und transfinit und innerhalb eines metaphorisch als Spiel
angelegten Dialogs mit dem Innen und Außen seiner gesamtkunst-
werklichen Lebenswelt.
Insofern sind die Modelle der beiden Kunstausstellungen – „for now
we meet” und die zweigleisige Migration (Aussen- und Innenwelt)
– direkt verbunden mit einer ästhetischen, politischen und metaphy-
sischen Verortung des Gesamtkunstwerks in seiner inhärenten Dialo-
gizität. Flussers Konzept der Lebenswelt als Gesamtkunstwerk, ganz
gleich, ob er den Begriff tatsächlich jemals theoretisiert hat, ergibt sich
demnach als Reziprozität: Das Gesamtkunstwerk als Lebenswelt der
Migration und die Lebenswelt der Migration als Gesamtkunstwerk.
So gesehen gestaltet er aktiv, als Täter, die reflektierte Autorschaft
einer mobilen Identität, die sich den gegebenen Möglichkeitsfeldern
dort widmet, wo ästhetisch, politisch und metaphysisch ein Dialog
entstehen kann – denn ein mehr oder weniger kalkuliertes Hazard-
spiel bleibt das Gesamtkunstwerk in seiner Vielstimmigkeit allemal.
Zentral und in Verbindung mit dem angeführten Zitat zu Beginn dieser
Diskussion, bleibt hierfür Flussers Konzept des Autors: „Was macht
eigentlich ein Autor? Er sammelt Informationen, die er in bereits pro-
28
duzierten Werken findet, nach Kriterien seiner Zeit und seiner Kultur.
Dieser Informationsmenge fügt er Informationen hinzu, die er selbst in
seinem konkreten Leben erworben hat. Unter den selbsterworbenen
Informationen mögen sich auch Geräusche finden lassen, also bisher
nicht vorhandene Informationen... Wenn man Geräusche in einem
Kunstwerk feststellen zu können glaubt, so spricht man gern in Abhe-
bung von einer variierenden von einer transzendenten Kreativität. Im
Konzept eines unübersehbaren, aber begrenzten Möglichkeitsfeldes
sind dagegen Geräusche einfach unwahrscheinliche Möglichkeiten,
die im Kunstwerk wahrscheinlicher wurden und näher an die Wirk-
lichkeit heranrückten. Der transzendent produzierende Autor wird also
als Informator verstanden, als ein der entropischen Tendenz der Welt
entgegengesetzter Faktor“.33 Die Täterschaft des bodenlos nomadisch
denkenden und schreibenden Migranten Flussers liegt demnach in der
Kunst, Unwahrscheinlichkeiten wahrscheinlicher zu machen, mit als
solche identifizierten Möglichkeitsfeldern, selbst erschaffenen virtu-
ellen Räumen oder einem schlichten „for now we meet“ – im Text oder
in der Wirklichkeit.
29
Anmerkungen
1 V. Flusser, Zwiegespräche: Interviews 1967-1991, Göttingen 1996, S. 122.
2 N. Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Frankfurt am Main 1995, S. 32.
3 V. Flusser, Von der Freiheit des Migranten: Einsprüche gegen den Nationalismus, Bensheim/Düsseldorf 1994, S. 107.
4 Siehe dazu: http://www.focus-migration.de/uploads/tx_wilpubdb/ LP_17_EU.pdf.
5 „The European Citizens and the Future of Europe: Qualitative Study in the 25 Member States”, Mai 2006, S. 17 [http://ec.europa.eu/public_opinion/quali/ql_futur_en.pdf].
6 Caroline Brettell and James Hollifield (Hrsg.), Migration Theory: Talking Across Disciplines, New York 2008, S. 4 [Übersetzung von Anke Finger].
7 Friedemann Malsch und Christiane Meyer-Stoll (Hrsg.), Migration, Köln 2003, S. 11.
8 V. Flusser, Bodenlos: Eine philosophische Autobiographie, Düsseldorf 1992, S. 11.
9 John Urry, Mobilities, Cambridge 2007, S. 3.
10 Ebd., S. 6.
11 Siehe dazu etwa: Peter Demetz, Böhmische Sonne, mährischer Mond. Essays und Erinnerungen, München 1996.
12 Bodenlos, S. 14 und 21.
13 V. Flusser, Brasilien oder die Suche nach dem neuen Menschen. Für eine Phänomenologie der Unterentwicklung, Mannheim 1994, S. 15-16.
14 Márcio Seligmann-Silva, „Brücken bauen aus der Heimat heraus. Vilém Flusser und die Spuren seines Exils“, in: Susanne Klengel und Holger Siever (Hrsg.), Das Dritte Ufer: Vilém Flusser und Brasilien. Kontexte-Migration-Übersetzungen, Würzburg 2009, S. 33ff.
30
15 Rüdiger Zill, „Nomadentum als konkrete Utopie. Unterwegs zu einer Philosophie der Migration”, in: Das Dritte Ufer, S. 240.
16 S. http://www.doublemovement.org/index.htm
17 Molly Nesbit, Hans Ulrich Obrist, Rirkrit Tiravanija, „What is a Station?”/ Venice Biennale 2003; „And a loose community assembles”/ An interview with Molly Nesbit, Co-curator of Utopia Station, Interview, December 10, 2007; sowie: Introduction by Danielle Follett, in: Anke Finger und Danielle Follett (Hrsg.), The Aesthetics of the Total Artwork: On Borders and Fragments, Baltimore 2010 [Im Druck. http://www.e-flux.com/projects/utopia/index.html.
18 V. Flusser, Jude Sein. Essays, Briefe, Fiktionen, Mannheim 1995, S. 62.
19 Galit Hasan-Rokem und Alan Dundes (Hrsg.), The Wandering Jew: Essays in the Interpretation of a Christian Legend, Bloomington 1986, S. 8.
20 Aamir R. Mufti, Enlightenment in the Colony: The Jewish Question and the Crisis of Postcolonial Culture, Princeton 2007, S. 73.
21 Nicolas Berg, Luftmenschen: Zur Geschichte einer Metapher, Göttingen 2008, S. 11.
22 Ebd., S. 11-12.
23 Ebd., S. 23.
24 Siehe dazu auch: Andrea Albrecht, Kosmopolitismus: Weltbürgerdiskurse in Literatur, Philosophie und Publizistik um 1800, Berlin 2005; sowie zur Verbindung von Mobilität und Kosmopolitismus: Weert Canzler, Vincent Kaufmann und Sven Kesselring (Hrsg.), Tracing Mobilities: Towards a Cosmopolitan Perspective, Hampshire 2008.
25 V. Flusser, Nachgeschichte. Eine korrigierte Geschichtsschreibung, Bensheim/Düsseldorf 1993, S. 12.
26 Ebd., S. 15.
27 Todd Samuel Presner, Muscular Judaism: The Jewish Body and the Politics of Regeneration, New York 2007, S. 2. Ich danke Sebastian Wogenstein für diesen Hinweis. Siehe dazu auch: Michael Brenner, Geschichte des Zionismus, München 2002.
31
28 Ebd., S. 13.
29 Eine Auseinandersetzung mit dem Husserlschen Begriff „Lebenswelt” würde hier zu weit führen, aber ich verweise auf den Aufsatz von Christoph Ernst, „Verwurzelung vs. Bodenlosigkeit: Zur Frage nach ‚Struktureller Fremdheit’ bei Vilém Flusser”, in Flusser Studies 02, Mai 2006 [http://www.flusserstudies.net/pag/02/strukturelle- fremdheit02.pdf].
30 Eduardo Kac, „Negotiating Meaning: The Dialogic Imagination in Electronic Art,” in: Bakhtinian Perspectives on Language and Culture:
Meaning in Languages Art and New Media, hg. von Finn Bostad and Craig Brandist, New York 2004, S. 199-216. Siehe dazu auch: Signs of Life. Bio Art and Beyond, hg. von Eduardo Kac, Cambridge 2007.
31 Jeffrey T. Nealon, Alterity Politics. Ethics and the Performance of Subjectivity, Durham/London 1998, S. 33.
32 Nachgeschichte, S. 196.
33 V. Flusser „Vom Autor oder vom Wachsen”, in: Florian Rötzer und Sara Rogenhofer (Hrsg.), Kunst Machen? Gespräche und Essays, München 1991, S. 68.
32
Anke Finger
Professorin für Germanistik und Komparatistik an der University of Connecticut/USA. Studium der Amerikanistik, Germanistik, Geschichte und Komparatistik an der Universität Konstanz und Brandeis University (USA). Co-Editor des E-Journals Flusser Studies http://www.flusserstudies.net.
Veröffentlichungen (Auswahl)
Vilém Flusser: An Introduction (mit Rainer Guldin und Gustavo Bernardo), Minneapolis 2011 The Aesthetics of the Total Artwork: On Borders and Fragments (mit Danielle Follett), Baltimore 2010 Vilém Flusser - UTB Profile (mit Rainer Guldin und Gustavo Bernardo), Paderborn 2009 Das Gesamtkunstwerk der Moderne, Göttingen 2006
33
International Flusser Lectures
Bislang erschienen:
Dietmar Kamper. Körperabstraktionen.
Timothy Druckrey. Medien, Gedächtnis, Moderne.
Harun Farocki. Bilderschatz.
Manfred Faßler. Tiefe Oberflächen – Virtualität, Visualisierung,
Bildlichkeit.
Claudia Giannetti. Vilém Flusser und Brasilien.
Susanne Hauser. Spielsituationen.
Detlef B. Linke. Medientheorie, Hirnforschung und die Aufnahme
der Türkei.
Klaus Bartels. Cyborgs, Servonen, Avatare.
Elisabeth von Samsonow. Was ist anorganischer Sex wirklich?
Sigrid Weigel. Die „innere Spannung im alpha-numerischen Code”.
Hinderk M. Emrich. „Was Avatare und Engel uns sagen können …“
Peter Weibel. Time Slot.
Christoph Asendorf. „Knoten des zwischenmenschlichen Netzes“.
Norval Baitello. Flussers Völlerei.
Klaus Theweleit. Übertragung. Gegenübertragung. Dritter Körper.
Paola Bozzi. „Durch fabelhaftes Denken”: Evolution, Gedanken-
experiment, Science und Fiction.
Rainer Guldin. „Wolkenformationen […] aus dem Dunst der
Möglichkeiten.“ Zur nubigenen Einbildungskraft.
Alexander R. Galloway. Außer Betrieb: Das müßige Interface
Siegfried Zielinski. Entwerfen und Entbergen.
Verlag der Buchhandlung Walther König
Ehrenstraße 4 Burgstraße 27
D – 50672 Köln D – 10672 Berlin
T: +49 (0)221 205 96 53 T: +49 (0)30 257 60 98 10
Flussers Bodenlosigkeit hat Wurzeln – nicht nur tatsächliche, histori-
sche, sondern ebenso Wurzeln, die in Flussers Autobiographik, seiner
Auktorialität und seinem Selbstbild verankert sind. Der Prager
Flüchtling und von außen als Jude designierte Flusser betrachtete
eine bewusste und reflektierte Autorschaft als Voraussetzung für
ein Leben als Migrant, und man sah seine Version der Bodenlosigkeit
bestückt mit Attributen wie nomadisch, nostalgisch, engagiert, erfah-
rend, durchlöchert, multilingual, projektorientiert und vernetzt. Die
Fremdbilder, die Flusser als Flüchtling und Exilant von Prag und „vom
Standpunkt eines nach Brasilien immigrierten Intellektuellen“ zeich-
net, sind beides Zeugenschaften von Kulturen und Geschichten und
darüber, wie Flusser sie autobiographisch erfahren und vehement
reflektiert hat. Er verfolgt hiermit zweierlei: er praktiziert ein nomadi-
sches Schreiben, von einem Text zum nächsten und zurück; er veran-
kert oder verwurzelt sich selbst mit dieser Art der Beobachtung und
Schreibweise in der jüdisch geprägten Identität des „Luftmenschen“;
erstellt ein „cultural branding“ von Prag und Brasilien, die andere
„Zeugen“ als z.T. äußerst kritikwürdig empfinden; und seine Existenz
und sein Denken erlangen Bodenhaftung durch eine von ihm geschaf-
fene Lebenswelt, ein Ich, der Bodenlosigkeit. In diesem Identität
stiftenden Prozess schwört er einer geschichtlich aufoktroyierten
Opferrolle radikal ab: er schreibt sich selbst als Täter.