Buddhistische Theorien des Geistes: Intentionalität und Selbstbewusstsein

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Birgit Kellner / Susanne Weigelin-Schwiedrzik (Hg.) Denkt Asien anders? Reflexionen zu Buddhismus und Konfuzianismus in Indien, Tibet, China und Japan V&R unipress Vienna University Press

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Birgit Kellner / Susanne Weigelin-Schwiedrzik (Hg.)

Denkt Asien anders? Reflexionen zu Buddhismus und Konfuzianismus in Indien, Tibet, China und Japan

V&R unipress

Vienna University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-89971-713-6 Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V&R unipress GmbH. © 2009, V&R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Birgit KellnerVorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Ernst SteinkellnerErkenntnistheorie im Buddhismus: Zur Erkenntnis des Denkens vonanderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Lambert SchmithausenPflanzenreich und Buddha-Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

Johannes BronkhorstDoes India think differently? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

Birgit KellnerBuddhistische Theorien des Geistes: Intentionalitat undSelbstbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

Tom J.F. TillemansWie denken Madhyamikas? Bemerkungen zu Jay Garfield, Graham Priestund parakonsistenter Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

Gregor PaulLogik in Ostasien – Allgemeingultigkeit und Besonderheiten . . . . . . . 99

Christian UhlDer Buddhismus und die Moderne am Beispiel der Philosophie NishidaKitaros . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

Susanne Weigelin-SchwiedrzikLaudatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

Birgit Kellner

Buddhistische Theorien des Geistes: Intentionalitat undSelbstbewusstsein

Oft hort man, asiatisches Denken ware im Vergleich zu europaischem in hohe-rem Maße mit Spiritualitat oder Religion verflochten. Eine enge Verbindunginsbesondere von Philosophie und Spiritualitat in Asien dient gelegentlich auchheute noch als Rechtfertigung eines Ausschlusses – etwa zur Begrundung,weshalb in Lehr- und Handbuchern der Philosophie asiatisches Denken nichtberucksichtigt wird. Bei Wissenschaftlern (m/w), die sich eingehend mit denstark unterschiedlichen und in sich sehr vielfaltigen Denktraditionen Chinas,Indiens, Japans, Koreas oder Tibets beschaftigen, rufen solche Ausschlusse inder Regel den Reflex hervor, zur Rehabilitierung ihrer Forschungsgegenstandeanzutreten. Mithilfe historischer oder regionaler Partikularisierung versuchtman zu zeigen, dass sich auch in Asien Denktraditionen entwickelt haben, diekeinerlei signifikante Verbindung zu Spiritualitat aufweisen, oder dass umge-kehrt Theorien unbezweifelt philosophischen Charakters in Europa mehr Be-ruhrungspunkte mit religiosen Diskursen aufweisen als landlaufig angenom-men. Wahrend so auf blinde Flecken auf beiden Seiten des Vergleichs hinge-wiesen werden kann, wird aber auch der Philosophiebegriff, der solchen Aus-schlussverfahren zugrunde liegt, problematisiert. Vertrate man namlich einenbreiteren, in Richtung einer praktischen Vernunft gedachten und vom (a laHeidegger) besonderen Ort der griechischen Antike abgelosten Philosophie-begriff, ließe sich vieles an asiatischem Denken nicht langer aus Gesamtdar-stellungen der Philosophie ausschließen, die in einer globalen Welt eben auchglobal ausgerichtet zu sein hatten. Schließlich wird auch darauf hingewiesen,dass selbst bei Anerkennung eines (wie auch immer) enger gefassten Philoso-phiebegriffes im reichhaltigen Schrifttum vormoderner asiatischer DenkerVieles gefunden werden kann, was philosophisch interessant und wertvoll ist –

Birgit Kellner, Buddhistische Theorien des Geistes: Intentionalitat und Selbstbewusstsein. In:Kellner, Birgit ; Weigelin-Schwiedrzik, Susanne: Denkt Asien anders? Reflexionen zu Buddhis-mus und Konfuzianismus in Indien, Tibet, China und Japan, S. 55 – 75.ISBN 978-3-89971-713-6 2009 V&R unipress GmbH, Gottingen

unbedachte Ausschlusse auszusprechen bedeutet, vielversprechende Ressour-cen ungenutzt zu lassen.1

Ichmochte diese verschiedentlich angewandten, mitunter auch kombiniertenStrategien hier nicht weiter diskutieren, auch nicht, inwieweit sie sachgerechtsind oder Erfolg versprechen. Sie sind jedenfalls Ausdruck davon, dass Fragenwie »Denkt Asien anders?« vor dem Hintergrund des Verhaltnisses zwischenphilosophischen und spirituell oder religios orientierten Diskursen zu einerReihe von Vergleichen zwischen Ost und West anregen. Solche Fragen bietenaber auch einen willkommenen Anlass, daruber nachzudenken, wie sich in-nerhalb einzelner Denktraditionen Asiens philosophische Analyse und reflek-tierende Ausarbeitung spiritueller Ideale und Praktiken in Beziehung bringenlassen – anders gesagt, das Terrain verschiedener Arten von Reflexionsformenzu sondieren und ein Verstandnis von Theoriebildungen im kulturellen Kontextanzustreben, das uber punktuelle und statische, letztlich immer auf (das Kon-strukt) Europa als Referenzpunkt bezogene Vergleiche hinausgeht. Das setztnaturlich voraus, dass wir in den diskutierten Traditionen tatsachlich philoso-phische Diskurse sinnvoll von spirituellen oder religiosen unterscheiden kon-nen – dass dies im altindischen Buddhismus, auf den ich mich hier beschrankenmochte, grundsatzlich moglich ist, wird die folgende Darstellung vorfuhren.

Das Thema der geistigen Intentionalitat, also der – wie manche Philosophenbehaupten – geistigen Zustanden inharenten Ausrichtung auf Objekte bietet sichnun aus dem einfachen Grund als Gegenstand einer solchen Untersuchung an,weil man sich im Buddhismus des alten Indien tatsachlich aus philosophischerund »spirituell-theoretischer« Perspektive damit befasst hat. Aus methodolo-gischen Grunden mochte ich dabei den Begriff der Intentionalitat, ebenso wiedie Arbeitsbegriffe »Philosophie« und »Theorie spiritueller Praxis«, zunachstbewusst offen und formbar belassen und darauf bauen, dass sich im Lauf derUntersuchung scharfere Konturen ergeben.2

Der Buddhismus entstand im alten Indien etwa im 5. Jahrhundert v. u. Z. alseine heilspraktisch ausgerichtete Lehre. Lebewesen gelten als in einem Da-

1 Siehe hiezu auch die grundsatzlichen Bemerkungen in Kapstein 2001, Introduction.Der unteranderem von Kapstein vertretene und von den Arbeiten Pierre Hadots inspirierte Ansatz,mithilfe eines in Richtung lebenspraktischer Weisheit erweiterten Philosophiebegriffs denStellenwert indo-tibetischen Denkens im zeitgenossischen philosophischen Diskurs zu er-hohen, wird sehr ausfuhrlich und auch unter Hinweis auf wichtige Probleme, die sich darausergeben, in Eltschinger 2008 diskutiert. Zur Rezeptionsgeschichte »orientalischen« und vorallem indischen Denkens in Europa siehe Halbfass 1988, sowie (fur die Periode vor dem19. Jahrhundert) Wimmer 2001.

2 Siehe in diesem Zusammenhang Cabezons Introduction, S. 10 – 12, zu dem SammelbandCabezon 1998 fur die These, dass bewusst formbar gehaltene Kategorien (in seinem Fall:»Scholastik«) bei transkulturellen Untersuchungen von Theoriebildungen stipulativenVorab-Definitionen uberlegen sind.

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seinskreislauf gefangen, der nicht nur in Form von Krankheit, Alter und Todmanifest Schmerzen bereitet, sondern aufgrund der allen Dingen und Erfah-rungen innewohnenden Verganglichkeit grundsatzlich unbefriedigend ist. An-zustrebendes Ziel ist die Befreiung aus diesem Immer-Wieder-Geborenwerden.

Dem geistigen Bereich gilt dabei besondere Aufmerksamkeit, denn die Ur-sachen fur die Verstrickung der Lebewesen in den Daseinskreislauf sind letztlichpsychisch. Tief sitzende affektive Regungen – Gier und Hass – und tief sitzendekognitive Fehlhaltungen – Verblendung oder Nichtwissen – wirken als Befle-ckungen (klesa) zusammen. Sie hindernMenschen daran, die Wirklichkeit so zuerfahren, wie sie ist, und uben unheilvollen Einfluss auf ihr Handeln aus. So, wiees letztlich geistige Faktoren sind, die die Lebewesen im Daseinskreislauf ge-fangen halten, fuhrt auch eine fundamentale Transformation des Geistes, unddavon angeleitet von Verhaltensweisen, zur Befreiung, zum Nicht-mehr-Gebo-renwerden, zum Nirvan

˙a. Entsprechend heißt es in einer in buddhistischen

Texten des alten Indien haufig zitierten Maxime:

Durch die Befleckung des Geistes werden die Lebewesen befleckt, durch die Reinigung desGeistes werden sie gereinigt.3

In den Jahrhunderten nach dem Tod des Buddha wurde die zunachst nurmundlich uberlieferte Lehre schließlich auch verschriftlicht. Parallel dazu istman daran gegangen, die in den zahlreichen dem Buddha zugeschriebenenLehrreden verstreuten Begriffe zu sammeln, zu ordnen und aus ihnen so etwaswie Bausteine einer in komplexen Begriffsnetzwerken organisierten Lehre zumachen.4 Diese Entwicklung ist im dritten Korb kanonischer Sammlungen, demsogenannten abhidharma-Korb, reflektiert, der neben dem Korb der Lehrredenund jenem der Ordensregeln steht.5 »Abhidharma« nennt man auch die auf dieseTexte gestutzte Stromung im Buddhismus, die allmahlich die Bausteine derLehre zu Bausteinen der Welt macht, zu diskreten, dynamischen Daseinskon-stituenten oder Gegebenheiten (dharma), die zueinander in vielfaltigen kausa-len Beziehungen stehen und deren Bestehen zeitlich begrenzt ist. Ahnlich ge-artete Versuche, mithilfe ontologischer »Inventare« eine systematische undumfassende Erklarung der Welt zu geben, findet man zu dieser Zeit auch au-ßerhalb des Buddhismus, im naturphilosophisch ausgerichteten Vaises

˙ika.

3 Siehe Lamotte 1987: 52 f. fur eine Reihe von Belegstellen.4 Diese Ansatze zur Systematisierung und Ordnung von Begriffen werden oft abschatzig als

trocken und sprode beurteilt. Vgl. aber demgegenuber die eindruckliche Darstellung derProduktivitat und mnemotechnischen Starke abhidharmischer Begriffsnetzwerke in Gethin1992.

5 Der Ausdruck abhidharma (Pali abhidhamma) wird in der Bedeutung von »auf die bud-dhistische Lehre bezogener [Text]« verwendet, aber auch in der Bedeutung »hochste Lehre«,siehe Cox 1995: 3 f. fur diese und weitere in der Tradition entwickelte Deutungen.

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Im Buddhismus entstehen so anspruchsvolle und technisch anmutendeLehrsysteme, unter denen insbesondere der im Nordwesten des indischenSubkontinents florierende Sarvastivada fur die weitere Lehrentwicklung be-deutend ist – die »Lehre, dass alles immer und uberall existiert«, benannt nachder fur dieses System charakteristischen These, dass alle verursachten Gege-benheiten in allen drei Zeitstufen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft,existieren, wobei sie sich dabei jeweils in ihrer Existenzweise unterscheiden. Dasgeistige Geschehen besteht fur den Sarvastivada ausschließlich in kausalerWechselwirkung temporarer, ereignishafter und autonomer Gegebenheiten,denn ein irgendwie geartetes substanzielles »Ich« oder eine »Seele«, die psy-chischen Vorgangen gegenuber Bestand hatte und Substrat geistiger Zustandeware, gibt es hier nicht. Auch das Verhaltnis zwischen verschiedenen geistigenGegebenheiten, etwa einer Sehwahrnehmung und der sie begleitenden ange-nehmen Empfindung, wird nicht als eines von Eigenschaft und Trager gedacht,sondern als eine Art Kausal- bzw. Bedingungsverhaltnis gedeutet.

Im Sarvastivada gewinnt auch die Idee an Bedeutung, dass geistige Ereignisseund mit ihnen verbundene Faktoren wie Empfindungen oder Willensregungeneinen Objektanhaltspunkt (alambana) haben – das Geistige hangt an Objekten,es ist auf sie gestutzt. Wenn man das so versteht, dass Geistiges von oder uberetwas ist, nehmen die Vertreter des Sarvastivada also in diesem Sinn an, Geis-tiges ware intentional. Sie bestehen nun darauf, dass der Objektanhaltspunkteines geistigen Ereignisses etwas Existentes sein muss. Diese Annahme spielt ineiner nicht unbetrachtlichen Anzahl der Argumente, die fur die Kernthese desSarvastivada – die Existenz der Daseinsfaktoren in allen drei Zeitstufen – ge-geben werden, eine sehr wichtige Rolle, ist also in diesem System keineswegsmarginal.6

Innerhalb des Sarvastivada entwickelt sich ein Komplex von Ideen, soge-nannten Sautrantikas oder Dars

˙t˙antikas zugeschrieben, die der Hauptrichtung

im Sarvastivada entgegenstehen; auf jeden Fall im 5. Jahrhundert, vielleicht auchschon fruher, wird Sautrantika als ein eigenes Lehrsystem behandelt.7 Die

6 Siehe Cox 1988: 45 f.7 Anders als »Sarvastivada« bezeichnen »Sautrantika« oder »Dars

˙t˙antika« nicht inhaltlich be-

stimmte Positionen, sondern Haltungen: Ein »Sautrantika« ist ein »Sutra-Vertreter«, der dieLehrreden des Buddha (sutra) fur autoritativ halt, nicht die abhidharmischen Kommentareund Abhandlungen. Ein »Dars

˙t˙antika« ist ein »Beispiel-Verwender«, der in Erlauterungen

gerne anschauliche Beispiele aus der Alltagswelt gebraucht. Zumindest ab dem Abhidhar-makosabhas

˙ya (5. Jh.) bezeichnen die beiden Ausdrucke in der Regel Vertreter der gleichen

Positionen. Die Referenzverhaltnisse in fruheren Quellen sind demgegenuber heterogen, undauch der Bestand an inhaltlichen Positionen, die Sautrantikas oder Dars

˙t˙antikas zuge-

schrieben werden, variiert. Siehe dazu die Beitrage in Kritzer 2003, sowie Kritzers GeneralIntroduction ebenda. Ich verwende in Abstraktion von dieser historischen Komplexitat imFolgenden durchgehend den Ausdruck »Sautrantika«.

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Sautrantikas lehnen die These von der Existenz der Gegebenheiten in allen dreiZeitstufen ab und argumentieren dabei auch damit, dass nicht alle geistigenZustande existierende Objektanhaltspunkte besitzen – Sinnesirrtumer, beidenen ein doppelter Mond gesehen wird, Traumvorstellungen, oder Erkennt-nisse sprachlicher Bezeichnungen ohne Wirklichkeitskorrelat, wie »Hasen-horn«. Deshalb lasst sich aus der Erkenntnis von etwas auch nicht dessenExistenz ableiten.8 Die intentionaleAusrichtung geistiger Ereignisse scheint aberauch bei den Sautrantikas außer Zweifel zu stehen.

Franz Brentano versuchte in seiner 1874 erschienenen Psychologie vom em-pirischen Standpunkt, Intentionalitat als ausschließlichesMerkmal desGeistigenzu begrunden, das also den Geist von der Physis unterscheidet. In buddhisti-schen Traditionen entwickelt sich die Idee geistiger Intentionalitat aber, wie mirscheint, nicht aus einem vergleichbaren Zusammenhang. Die irreduzible Rea-litat des Geistigen, sowie auch das Konzept geistiger Verursachung, setzenbuddhistischeDenker voraus; wenn sie dafur aktiv argumentieren, so tun sie dasauf anderer Grundlage als einer ausschließlich dem Geistigen zukommendenIntentionalitat.9 Unabhangig von Unterschieden in der Rolle, die Intentionalitatin ubergeordneten theoretischen Zusammenhangen einnimmt, teilen Sarva-stivada und Sautrantika aber Brentanos Auffassung, die Gerichtetheit auf einenObjektanhaltspunkt sei etwas dem Geistigen Eigenes, das der Materie nichtzukommt. In diesem Sinn haben wir es auch im altindischen Buddhismus miteiner intentionalistischen Theorie des Geistes zu tun, die zumindest behauptet,dass nur Geistiges intentional ware.

Glauben Vertreter des Sarvastivada oder des Sautrantika auch, alles Geistigesei intentional? Gegen intentionalistische Theorien des Geistes wird gern ein-gewandt, dass es ganz offensichtlich auch geistige Zustande gibt, die nicht aufetwas gerichtet sind – woruber sind etwa diffuse Zustande wie Nervositat? Sindkorperliche Schmerzempfindungen auf etwas gerichtet?10 Im altindischenBuddhismus hat man sich aber eher mit der Frage befasst, ob Intentionalitat inder einen oder anderen Form das eigentliche Wesen des Geistigen ausmacht, obalso etwa der Eindruck, unsere Sinneswahrnehmungen waren auf Objekte ge-richtet, der Natur solcher geistigen Ereignisse entspricht.11 Ausarbeitungen

8 Siehe Cox 1988 fur eine ausgezeichnete und fundierte Darstellung der diesbezuglichenKontroversen.

9 Siehe dazu exemplarisch den Beitrag Ernst Steinkellners in diesem Band.10 Fur eine Uberblicksdarstellung dieser und ahnlich gelagerter »anti-intentionalistischer«

Argumentationen sowie eine zeitgenossische Verteidigung einer intentionalistischenTheorie des Geistes siehe Crane 2007, Kapitel I, »Intentionalitat als Merkmal des Geistigen«.

11 Metaphysische Fragen, wie etwa, ob Gegebenheiten – geistig oder physisch – uberhaupt soetwas wie ein »Eigenwesen« haben, werden im Madhyamaka aufgeworfen; siehe dazu denBeitrag von Tom J.F. Tillemans in diesem Band.

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spiritueller Praxis – verstanden als »geistige Seite religioser Ubungen, d. h.solcher Ubungen oder Handlungen, die direkt oder indirekt auf das Heil aus-gerichtet sind«12 – im Mahayana-Buddhismus beantworten diese Frage ab-schlagig.

Geistige Intentionalitat in buddhistischen Ausarbeitungenspiritueller Praxis

Der buddhistische Heilsweg sieht vor, dass Praktiker am Weg einer in der Regelviele Geburten umspannenden und intensiven Geistesschulung die affektivenund kognitiven Befleckungen eliminieren, die sie im Daseinskreislauf gefangenhalten. Auch, was die damit verbundenen Betrachtungs- und Versenkungs-ubungen angeht, geben die dem Buddha zugeschriebenen Lehrreden ein viel-faltiges Bild; auch hier versucht man im Abhidharma zu ordnen und die ver-schiedenen Praktiken unter dem Gesichtspunkt ihrer Funktion und unmittel-baren oder mittelbaren Wirksamkeit festzulegen. Auf diese Weise werdenSchemata des Heilswegs ausgebildet, in die die Praktiken aus den Lehrredenintegriert werden, die aber auch verschiedentlich gedeutet und bewertet werden.

In alteren Schichten der Yogacarabhumi, einem sehr umfangreichen undwahrscheinlich uber einen langeren Zeitraum hinweg bis (spatestens) zum Endedes 4. Jahrhunderts kompilierten Werk, wird der Heilsweg in einen »weltlichen«(loka) und einen »uberweltlichen« (lokottara) Pfad unterteilt.13 Am weltlichenPfad gelangen Praktiker durch sukzessive Entleerung ihres Bewusstseins undBeruhigung ihres Geistes in einer Reihe aufeinander folgender Phasen tieferKonzentration zu einer temporaren Wiedergeburt in hoheren Spharen. Siewerden also in eine spirituell gunstigere Lage versetzt, verbleiben aber immernoch innerhalb des grundsatzlich unbefriedigenden Daseinskreislaufes. Amuberweltlichen Pfad gelangen sie hingegen zum Nirvan

˙a.

Am uberweltlichen Pfad betrachtet der Yogin14 zunachst wahrnehmbareebenso wie transzendente Gegenstande unter den vier Aspekten Unbestandig-keit, Leidhaftigkeit, Nicht-Selbst-Sein und Leerheit von einem substanziellenSelbst. Dadurch wendet er sich von der Welt ab und ausschließlich dem Nirvan

˙a

zu, wird dann allerdings immer noch wiederholt von der Vorstellung einesSelbsts als permanentem Subjekt seiner Erfahrungen geplagt. Um sie zu elimi-nieren und seine Einsicht in die Verganglichkeit des Geistigen zu festigen, soll er

12 Schmithausen 1973: 162.13 Fur die folgende Darstellung siehe auch Schmithausen 2007.14 Fur buddhistische Praktiker wird im Folgenden dem Sprachgebrauch der Quelltexte im

Sanskrit entsprechend die maskuline Form verwendet.

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anstelle außerer Gegenstande den sie betrachtenden Geist selbst zum Objekt derMeditation erheben und auch ihn unter den genannten vier Aspekten betrach-ten. Auf eine dann eintretende Periode tiefer Geistesruhe folgt eine unmittelbareEinsicht in die vier edlen Wahrheiten. Damit tritt der Yogin in den Weg desSchauens (darsanamarga) ein, auf dem die kognitiven – allerdings noch nichtdie affektiven – Befleckungen eliminiert werden.

In jungeren Abschnitten der Yogacarabhumi, sowie auch im Sandhinirmo-canasutra, ist dieser Abschnitt des Weges anders gestaltet: Hier sollen Praktikererkennen, dass die Bilder, die sie in meditativer Konzentration betrachten, vonden sie betrachtenden Geistesakten nicht verschieden sind. Anstelle der Einsichtin die Verganglichkeit des Geistigen steht hier ein intuitives Erkennen davon, wiees wirklich um die dem Geist erscheinenden Bilder bestellt ist. Im Sandhi-nirmocanasutra wird diese Einsicht auf die Gegenstande alltaglicher Wahr-nehmung verallgemeinert: Auch sie sind nichts anderes als die geistigen Akteoder »Bewusstmachungen« (vijnapti), die auf sie gerichtet sind. Gerade das sollder Praktiker letztlich als die wahre Natur aller Erfahrungsgegenstande erken-nen. Darin ist entweder der Ursprung15 oder aber ein fruher Ausdruck der furdas Lehrsystem des Yogacara oder Vijnanavada16 spater bestimmenden idea-listischen Idee zu sehen, dass alles bloß(e) Bewusstmachung ist (vijnaptimatra),oder, wie es die Texte ebenfalls ausdrucken, dass alles bloß(er) Geist ist(cittamatra).17

Eine Reihe grundlegender Werke des Vijnanavada gehen aber noch weiter.18

ImMahayanasutralankara (MSA 6.6 – 9) hat etwa der buddhistische Praktiker –

15 So Schmithausen 1973: 163 ff. Der Ursprung der Lehre von der vijnaptimatrata aus spiri-tueller Praxis, oder aus Vorstellungen daruber, ist bei Schmithausen nur eines von mehrerenBeispielen fur seine allgemeine These, dass namlich zentrale philosophische Lehren desBuddhismus aus spiritueller Praxis (oder eben aus Vorstellungen daruber) entstanden sind –oder, praziser gesagt, dass nach Maßgabe der erhaltenen Quellen die diese Philosophemepragenden Zusammenhange in Ausarbeitungen spiritueller Praxis gefunden werden kon-nen. Fur Kritik an Schmithausens Generalthese vgl. Franco 2009.

16 Der Ausdruck yogacara, der sich aus yoga, »asketisch-spirituelle Bemuhung« (v. a. meditativkonzentrierte Praxis, Schmithausen 2007: 213), und acara, »Wandel/Betragen«, zusam-mensetzt, bezeichnet in einer Reihe nicht spezifisch diesem Lehrsystem zuordenbarenQuellen ganz allgemein Personen, in deren Leben die Praxis von yoga eine bedeutende Rollespielt, siehe dazu Silk 2000, Deleanu 2006, sowie Schmithausen 2007. Er wird erst spater furein Lehrsystemverwendet, das sich durch idealistische Ideen auszeichnet; diese idealistischeAusformung wird gemeinhin als »Vijnanavada« bezeichnet.

17 Dass es sich beim ausgebildeten Vijnanavada um eine ihrem Charakter nach idealistischeLehre handelt, wurde mehrfach infrage gestellt. Man hat sich dabei vor allem auf die Er-mittlung ontologischer Thesen gestutzt, also auf die Frage, ob Vijnanavada tatsachlich dieExistenz einer (materiell konstituierten) Außenwelt verneint. Fur eine rezentere anti-idea-listische Interpretation von Yogacara siehe Lusthaus 2002, sowie dazu die Zuruckweisungseiner Kernthesen (hauptsachlich) aus philologischer Sicht in Schmithausen 2005.

18 Siehe Bentor 2002.

Buddhistische Theorien des Geistes: Intentionalitat und Selbstbewusstsein 61

der Bodhisattva – vor dem Eintritt in den Weg(abschnitt) des Schauens bereitsunermessliche Vorrate an Verdienst und Wissen angehauft. Durch Nachdenkenuber buddhistische Lehrtexte ist er zu volliger Klarheit gelangt. Er begreift nun,dass sein Verstandnis der Inhalte dieser Lehrreden ausschließlich durchsprachlich gefarbtes Denken in Erscheinung tritt, dass diese Lehrinhalte bloßesDenksprechen sind (jalpamatra). Durch diese Einsicht – oder praziser gesagt:wohl durch eine im Text implizite Verallgemeinerung dieser Einsicht – setzt sichein Prozess in Gang, aus dem ich hier in verknappter Form die wesentlichenPunkte herausgreife:

1. Der Bodhisattva begreift, dass die Gegenstande, die ihm seine geistigen Er-eignisse prasentieren, nur die geistigen Ereignisse selbst sind, die in gewisserForm erscheinen.

2. Dadurch versteht er, dass ein diesen Ereignissen gegenuber Anderes, das vonihnen erfasst wurde, nicht existiert.

3. Dadurch versteht er, dass die geistigen Ereignisse ihrerseits nicht als etwasexistieren, das etwas von ihnen Getrenntes erfassen wurde.

4. Damit ist sich der Bodhisattva der Zweiheitlosigkeit des Geistes vollig ge-wiss.19

Im ersten Schritt kehrt die im Sandhinirmocanasutra formulierte Idee wieder,dass die Gegenstande nichts als die sie zur Erscheinung bringenden geistigenEreignisse sind. Sie wird dort allerdings aus einer anderen Verallgemeinerungheraus entwickelt als im MSA, namlich ausgehend von Eigenheiten gewisserVersenkungszustande. Im MSA bildet dagegen die sprachlich-begriffliche Far-bung des Denkens den Ausgangspunkt. Daraus, dass die Gegenstande nichts alsGeist sind, wird nun im MSA die Konsequenz gezogen, dass diese Gegenstandeals ein den intentionaler Zustanden, die auf sie gerichtet sind, gegenuber An-deres nicht existieren. Daraus wird (unter Punkt 3) wiederum abgeleitet, dassauch die geistigen Akte selbst nicht in der Form existieren, die der Bodhisattvazu Beginn dieses Prozesses noch angenommen hatte: dass sie auf etwas außer-halb ihrer selbst gerichtet waren. Das bedeutet nun (Punkt 4), dass sich derBodhisattva der »Zweiheitlosigkeit« des Geistes ganz und gar gewiss ist : Er istsich gewiss, dass sein Geist frei von erfasstem Objekt und erfassendem Subjektist. Anders ausgedruckt: Er ist sich gewiss, dass sein Geist frei von einer In-tentionalitat ist, die eine Dualitat von intentionalem Objekt und intentionalausgerichtetem Geistesakt beinhaltet. Nun ließe sich moglicherweise argu-mentieren, dass der Begriff der Intentionalitat eine solche Dualitat beinhaltenmuss, um analytisch produktiv zu sein. Wenn man in diese Richtung denkt, so

19 Ahnlich auch MSA 11.47 f.

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bedeutet dieser Vorgang, dass der Bodhisattva Intentionalitat aus seinem Be-wusstseinsstrom eliminiert.

In Variationen findet sich dieser Vorgang im altindischen und tibetischenBuddhismus wieder und wieder, im Rahmen gradueller Einsichtsprozesse in diewahre Wirklichkeit bis hinein in den Tantrismus. In seiner Verwendung zeigensich aber auch Verbindungen mit philosophischen Reflexionsformen und her-meneutischen Modellen, in denen die im Buddhismus dominant gewordenenLehrsysteme hierarchisch angeordnet werden. Der erste Bhavanakrama desKamalasıla (ca. 740 – 795) enthalt zum Beispiel ein zusammengefasstes undgleichzeitig erweitertes Schema,20 in das auf den einzelnen Stufen allgemeineArgumentationslinien, die buddhistische Philosophen entwickelt haben, alsUberlegungen in die Betrachtungen des Praktikers eingefugt wurden. Im MSAwird beispielsweise zu Beginn des Vorgangs aus einer (verallgemeinerten)Einsicht, die Gegenstande waren nichts anderes als geistige Akte, die Nicht-existenz von diesen Akten gegenuberstehenden Objekten abgeleitet. Bei Ka-malasıla hingegen soll der Praktiker hier seine Aufmerksamkeit zunachst auf diemateriellen Gegebenheiten richten, die sich andere als außere Gegenstandevorstellen und fragen, ob sie etwas anderes als das Erkennen sind, oder ob esnicht vielmehr das Erkennen selbst ist, das – ahnlich wie im Traumschlaf – inihrer Form erscheint. Er soll die materiellen Gegebenheiten als in Atome geteiltuntersuchen. So wird er entdecken, dass er keine Atome wahrnimmt, obwohl ersie, wurden sie existieren, wahrnehmen musste. Auf diese Weise kommt er dazu,die Vorstellung materieller Gegebenheiten aufzugeben – in der Tat gibt es nurdas Erkennen, das in ihrer Form erscheint. Kamalasıla gibt damit eine allge-meine Argumentationslinie an, die mithilfe einer Reihe von Argumenten aus-gestaltet werden konnte, mit denen buddhistische Denker vor ihm entwederAtomtheorien an sich zuruckgewiesen haben, oder Auffassungen, dass Atome inder einen oder anderen FormWahrnehmungsobjekte sind. Dieser »Einbau« von,wenn man so will, Konzentraten philosophischer Analyse in Betrachtungsvor-gange zeigt einerseits, wie philosophische Diskurse uber Schlusselargumente,die sie entwickeln, in Theorien spiritueller Praxis integriert werden. Historischwurden andererseits diese »eingebauten« Argumentationslinien offenbar aucheinzelnen buddhistischen Lehrsystemen wie Sarvastivada oder Sautrantika zu-geordnet. So hat sich ein hermeneutisches Modell ergeben, das uber die Zu-ordnung von Lehrsystemen zu bestimmten Stufen am Heilsweg deren hierar-chische Anordnung in komplexen doxografischen Modellen ermoglicht.21

20 BhK 1.520,7 – 521,20. Dieses Schema ist explizit als Kommentar zu Lankavatarasutra10.256 – 268 formuliert.

21 Kajiyama zeigt konkret an Kamalasılas Fall, sowie unter Bezug auf denMadhyamakalankaravon dessen Lehrer Santaraks

˙ita (ca. 725 – 788), wie ein solch systemorientiertes Modell

ausgestaltet werden kann; vgl. Kajiyama 1978.

Buddhistische Theorien des Geistes: Intentionalitat und Selbstbewusstsein 63

Dharmakırti zu Intentionalitat und Selbstbewusstsein:ausgewahlte Argumente

Die zuvor nach dem MSA skizzierte Darstellung des Vorgangs, der den Bo-dhisattva zum »Weg des Schauens« fuhrt, kann als Teil einer »spirituell-prak-tischen« Theorie eingeordnet werden. Sie geht von einem ubergeordneten spi-rituellen Ziel aus und legt Schritte fest, die zu seinem Erlangen notwendig sind –nicht im Sinn einer konkreten Anleitung, die sich an meditierende Praktikerrichtet, auch nicht als eingehende Erorterung von am Heilsweg zu erwartendenpsychischen Entwicklungen, sondern als abstrahierte und auf das Wesentlichereduzierte Angabe der spirituell gesehen wichtigsten Einsichten, die ein Bo-dhisattva am Heilsweg idealerweise hat.

In Vergleich und Kontrast zu dieser spirituell-praktischen Theorie lassen sichArgumente bringen, die buddhistische Philosophen im Zuge ihrer Analyse derGrundlagen des Bewusstseins. Historisch einflussreich, aber auch schwer zurekonstruieren, sind dabei vor allem Argumente aus den erkenntnistheoreti-schen Hauptwerken Praman

˙avarttika (PV) und Praman

˙aviniscaya (PVin) des

Dharmakırti (wahrscheinlich 7. Jahrhundert), neben Dignaga (wahrscheinlich5. Jahrhundert) der zweite bedeutende Vertreter der erkenntnistheoretisch-lo-gischen Schule oder Richtung des Buddhismus. Die relevanten Erorterungenhaben hier ihren Platz bei der Behandlung der Wahrnehmung (pratyaks

˙a),

neben der Schlussfolgerung die zweite maßgebliche Erkenntnisquelle und imUnterschied zu dieser definitorisch als frei von jeglicher sprachlich-begrifflicherFunktionsweise bzw. entsprechenden Inhalten festgelegt. Unter Wahrnehmungsubsumieren Dignaga und Dharmakırti im Ubrigen auch Erkenntnisformenwiedie yogische Wahrnehmung transzendenter Objekte, aber da sich die fur un-seren ZusammenhangwichtigenArgumente eindeutig auf die Sehwahrnehmungbeziehen, kann diese Eigenheit buddhistischer Wahrnehmungsklassifikationenhier ausgeklammert bleiben. Schließlich sei noch festgehalten, dass, wenn imFolgenden von »Erkenntnis« die Rede ist, damit ebenfalls die Wahrnehmunggemeint ist, als geistige Episode, und nicht in dispositionalem Sinn.

Dharmakırti behandelt den Themenkomplex geistiger Intentionalitat anmehreren Stellen. Das Verhaltnis der einzelnen Argumentationszusammen-hange zueinander ist aber nicht gerade evident, kann auf verschiedene Weiseinterpretiert werden und ist in der modernen Forschung bisher noch nichtausfuhrlich untersucht worden.22 Deshalb, und auchwegen der viel – je nachdem

22 Als Pionierarbeit ist Vetters Studie Erkenntnisprobleme bei Dharmakırti (Vetter 1964) zubewerten, die allerdings in ihrer nahezu lakonischen Knappheit vieles offen lasst. Philolo-gischund historisch ausfuhrlicher ist Tosakis (allerdings wiederum editionsmethodologischuberholte) Ausgabe und annotierte japanische Ubersetzung (Tosaki 1979, 1985) des Kapitels

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– gepriesenen oder beklagten Schwierigkeit von Dharmakırtis Werk, konnenhier nur einige ausgewahlte Argumente vorgestellt werden, wobei es unver-meidlich sein wird, auch auf Interpretationsprobleme einzugehen.

In einem der relevanten Abschnitte23 beschaftigt sich Dharmakırti mit derBegrundung der Objektbindung der Wahrnehmung – wie lasst sich erklaren,dass die Wahrnehmung nach ihrem Objekt differenziert und somit gegen-standlich bestimmt ist? Er greift dabei zunachst auf Vorstellungen uber dieWahrnehmung zuruck, die doxografisch den Sautrantikas zugeordnet werden:Als geistiges Ereignis entsteht die Wahrnehmung als augenblickliche Wirkungaus einem zeitlich unmittelbar vorangehenden Komplex von Ursachen, dieebenfalls nur augenblicklich existieren. So entsteht die Sehwahrnehmung auseinem vorangegangenen Geistesmoment und aus Umweltbedingungen wieLicht. Hinzu tritt der Sehsinn, der nach demAbhidharma in feinstofflicher Formexistiert und seinen Sitz in den beiden Augen hat. Das Objekt schließlich bestehtin Farbe und Form, die außerhalb des Bewusstseins materiell existieren. Unterdiesen Ursachen ist die Wahrnehmung auf besondere Weise mit dem Objektverbunden, indem sie namlich seine Gestalt tragt. Die Gestalt des Sinnes oderdes Lichts tragt sie naturlich nicht, so wie – in den Worten Dharmakırtis – auchein Kind nur seinen Eltern ahnelt, obwohl seine Geburt auch beispielsweisedurch die Nahrung, die die Eltern zu sich genommen haben, bedingt ist (PV3.368).

Dass die Wahrnehmung die Gestalt des außeren Gegenstandes hat, der sieverursacht hat, erklart fur Dharmakırti zunachst schlussig ihre gegenstandlicheBestimmtheit, und zwar bedeutend schlussiger als eine Reihe von Gegenposi-tionen, die er brahmanischen Traditionen seiner Zeit zuschreibt.24 So kann etwader Sehsinn nicht dafur verantwortlich sein, dass die Wahrnehmung gegen-standlich bestimmt ist. Eine Besonderheit des Sehsinns, wie etwa, dass er stumpfoder gescharft ist, differenziert die mit seiner Beteiligung erzeugte Wahrneh-mung naturlich auf gewisseWeise, aber das vermag nicht zu begrunden, weshalbdie Wahrnehmung ein bestimmtes Objekt wie etwa etwas Blaues erfasst, undnicht ein anderes, beispielsweise Gelbes. Zudem ist der Sehsinn als Ursache allenSehwahrnehmungen gemeinsam und kann nicht als Erklarung fur etwas dienen,

uber die Wahrnehmung aus dem Praman˙avarttika. Eine ambitionierte Gesamtdarstellung

der Grundlagen dharmakırtischen Denkens gibt, ebenfalls auf der Basis desPraman

˙avarttika, John Dunne (Dunne 2004). Fur tibetische Weiterentwicklungen siehe

Dreyfus 1997. Dreyfus hat jungst auch eine vorlaufige Erkundung von Intentionalitat beiDharmakırti vorgelegt, die zum Teil zu sehr anderen Ergebnissen gelangt als meine Aus-fuhrungen hier (Dreyfus 2007).

23 PV 3.301 – 366, dazu stark parallel PVin 1.34 – 57. Eine kritische Edition des Sanskrittextesdieses Abschnitts aus dem PV mit Ubersetzung und begleitender Studie ist in Vorbereitung.

24 PV 3.301 – 319, parallel zu PVin 1.31,1 – 33,10.

Buddhistische Theorien des Geistes: Intentionalitat und Selbstbewusstsein 65

was einzelne Wahrnehmungsinstanzen auszeichnet. Der Kontakt von Sinn undGegenstand wiederum, der nach Auffassung des Nyaya und des Vaises

˙ika eine

Wahrnehmung mitverursacht, bezieht sich auf den Gegenstand in seiner Ge-samtheit. Man sieht nun aber den Gegenstand nur mit einigen seiner Eigen-schaften, wie etwa Farbe oder Form, nicht aber – wie der Kommentator Ma-norathanandin (wahrscheinlich 2.Halfte 11. Jh.) erganzt – alsMasse vonAtomen(M1 213,22). Daher ist der Kontakt als Erklarung fur die gegenstandliche Be-stimmtheit der Sinneswahrnehmung ungeeignet. Eine »bloße Anschauung desGegenstandes«, die etwa die Schule der Bhat

˙t˙a-Mımam

˙sa kennt, ist wiederum

ohne die Annahme, die Wahrnehmung wurde die gegenstandliche Gestalt be-sitzen, untauglich und kann daher auf Dharmakırtis eigenen Ansatz reduziertwerden.

Nun bringt die Idee, dass die Wahrnehmung aus einem außeren Gegenstandentsteht und dessen Gestalt tragt, trotz ihrer Uberlegenheit gegenuber brah-manischen Erklarungskandidaten aber auch Probleme mit sich, und zwargrundsatzlicher Art.25 Es sei zugestanden, dass jede Wahrnehmung ein beson-deres Objekt hat. Aber weshalb ist sie eine Wahrnehmung eines außeren Ge-genstandes? Die Literatur des Vijnanavada vor Dharmakırti bietet Argumenteunterschiedlicher Pragung und Stoßrichtung, die begrunden sollen, dass geis-tige Ereignisse keine außeren Objekte haben, oder aber auch, dass es uberhauptkeine materielle Außenwelt gibt. In Dharmakırtis Praman

˙avarttika und Pra-

man˙aviniscaya werden – meines Wissens ausschließlich – erkenntnisbezogene

Argumente gegeben, die darauf abzielen zu begrunden, dass die Erkenntniskeine außeren Gegenstande erkennen kann, und dass die Annahme außererErkenntnisobjekte auch nicht notig ist. Ontologische Argumente, aus denenabgeleitet wird, dass die Außenwelt uberhaupt nicht existiert, finden wir hiernicht.26

Ein schon aus Dignagas Alambanaparıks˙a bekanntes Argument gegen die

Erkennbarkeit einer materiell gedachten Außenwelt leitet aus Rahmenbedin-gungen der in Sarvastivada und Sautrantika entwickelten Atomtheorie eineunauflosbare Inkongruenz ab. Auf einen einfachen Nenner gebracht, besagt es:Was wir sehen, ist nicht real, und was real ist, sehen wir nicht. Real sind die

25 Siehe fur die folgenden Ausfuhrungen PV 3.320 – 323, parallel PVin 1.33,11 – 34,9.26 In dieser Hinsicht lassen sich Dharmakırtis Argumente, ubrigens genauso wie jene aus

Dignagas Alambanaparıks˙a und -vr

˙tti, den zentralen Argumenten aus Vasubandhus

Vim˙satika Vijnaptimatratasiddhih

˙gegenuberstellen, die unabhangig von der Relation

zwischen Wahrnehmung und außerem Objekt die Denkunmoglichkeit buddhistischerAtomtheorien begrunden und daher dazu angetan sind, die materielle Welt grundsatzlich zuleugnen – auch wenn Vasubandhus ubergeordnetes Beweisziel der Vim

˙satika, wenn wir

Claus Oetke folgen, nicht die Inexistenz materieller Entitaten per se ist, sondern die In-existenz materieller Entitaten, die Objekte menschlicher Erfahrung sind (Oetke 1992).

Birgit Kellner66

winzigen Atome, die einzeln nicht gesehen werden konnen. Wir sehen namlich»grobe« Gegenstande, also raumlich ausgedehnte Farben und Formen. Raum-lich Ausgedehntes ist wiederum nicht im eigentlichen Sinn real, weil es sich inEinzelteile zergliedern lasst. Was kausal wirksam ist, muss aber im eigentlichenSinn real sein.27 Dharmakırti fugt hinzu, dass außerdemdas, waswir sehen, einesist – ein einheitliches Bild –, wahrend die Atome, die die Wahrnehmung her-vorrufen, mehrere sein mussen.28 Das wurde theoretisch noch die Moglichkeitbelassen, dass es ein einzahliges, einheitliches Wahrnehmungsobjekt mitraumlicher Ausdehnung gibt, dem das ebenfalls einheitliche Wahrnehmungs-bild entspricht, wie etwa das Ganze (avayavin) des Nyaya und des Vaises

˙ika, das

ontologisch getrennt von seinen Teilen ist. Auch dessen Existenz wird aber vonDharmakırti zuruckgewiesen.29

Ein zweites Argument wird nur an einer einzigen Stelle angedeutet, indemnamlich die Gleichformigkeit der Wahrnehmung mit dem Objekt als »abwei-chend« (vyabhicarin) bezeichnet wird (PV 3.320). Nach dem Kommentar desManorathanandin ist das so zu verstehen, dass die gegenstandliche Gestalt nichtbei allen Sinneswahrnehmungen mit Außerem ubereinstimmt. Es gibt Sinnes-irrtumer wie etwa das Sehen eines Doppelmondes, wo zwar im Geiste etwaserscheint, das aber nicht als außerer Gegenstand real ist (M1 215,14 f.).

Ein drittes Argument bringt vor, dass, wenn Entstehen aus dem Objekt undGleichformigkeit mit ihm die Wahrnehmung auf das Objekt festlegen, dannunerwunschterweise auch eine dieser Wahrnehmung (W2) unmittelbar voran-gehende Wahrnehmung (W1) mit gleichem Objekt als Objekt von W2 infragekame – denn W1 ist ebenfalls Ursache von W2, und W2 ist W1 auch ahnlich,insofern beide ja das gleiche Objekt haben. Mit anderen Worten: Da die fruhereWahrnehmung in so einer Situation den gleichen Anspruch darauf hat, Objektder spateren zu sein wie der außere Gegenstand, auf den die Definition dasObjekt einschranken mochte, ist die definitorische Festlegung des Objektesnicht spezifisch genug – in der Terminologie der altindischen Logik ausgedrucktware sie zu umfassend (ativyapti).30

In meiner Rekonstruktion dieses Arguments bringt Dharmakırti den Begriffder »Gleichformigkeit« hier sehr allgemein zur Anwendung: im Sinn einer reinaußerlichen Ahnlichkeit zwischen zwei Wahrnehmungsinstanzen. Man konnte

27 Alambanaparıks˙amit -vr

˙tti 342,1 – 344,3, sowie Frauwallners deutsche Ubersetzung ebenda,

S. 346 ff.28 Das Problem der Einheit des Wahrnehmungsbildes und der Vielheit der es verursachenden

(atomaren) Objekte wird aus etwas anderer Perspektive auch in PV 3.194 ff. erlautert, siehehiezu Dunne 2004: 101 ff. , sowie seine englische Ubersetzung der Stelle S. 396 ff.

29 Siehe den Exkurs in PVin 1.34,10 – 35,6, sowie PV 2.84 ff.30 PV 3.323, parallel PVin 1.33,12 – 34,1. Dan Arnold gibt eine andere Interpretation des Ar-

gumentes (Arnold 2008), die aber mit dem Wortlaut des Verses schwerer vereinbar ist.

Buddhistische Theorien des Geistes: Intentionalitat und Selbstbewusstsein 67

gegen dieses Argument nun einwenden, dass die spatere Wahrnehmung ja nichtin dem Sinn die »Gestalt« der fruheren Wahrnehmung hat, dass etwa ihr Gehaltder Proposition »ich sehe die fruhere Wahrnehmung von Blau« entspricht. Ausder Subjektperspektive lasst sich die Wahrnehmung blauer Farbe von derWahrnehmung der Wahrnehmung blauer Farbe leicht unterscheiden. DiesesArgument ware also dadurch leicht zu entkraften, dass man die geistige Inten-tionalitat derWahrnehmung als die Perspektive des Subjekts beinhaltend deutet.

Das spricht nicht unbedingt gegen meine Rekonstruktion des Arguments,denn auch an anderer Stelle entwickelt Dharmakırti eine Kritik an der Gleich-formigkeit, die diesen Begriff eben nicht subjektiv fasst:31 Wenn die Tatsache,dass die Wahrnehmung uberhaupt ein Objekt bewusst macht, dadurch erklartwird, dass sie dem Objekt ahnlich ist, so mussten auch alle Objekte, die einanderahnlich sind, einander wahrnehmen – Objekte zu Bewusstsein zu bringen warenicht langer auf das Geistige beschrankt; selbst Kruge wurden andere Krugewahrnehmen. Wurde man dieser absurden Konsequenz dadurch begegnenwollen, dass man die Ahnlichkeit nur bei Geistigem zur Grundlage des Ob-jektbewusstseins macht, ware aber nicht langer die Ahnlichkeit das ausschlag-gebendeMerkmal – esmuss dann etwas anderes bei geistigen Ereignissen geben,das sie Objekte zu Bewusstsein bringen lasst. Wenn ferner die Wahrnehmungihrem Objekt vollstandig ahnlich ware, also gleich, ware sie nicht langerWahrnehmung. Gliche sie ihrem Objekt hingegen nur teilweise, konnte jedebeliebige Wahrnehmung Erkenntnis jedes beliebigen Objektes sein. Jede Er-kenntnis von etwas Blauem wurde jedes beliebige Blaue erkennen (M1 248,10 f.)– denn schließlich ahnelt die Erkenntnis blauer Farbe jedem blauen Objektirgendwie. Es hatte auch die Erkenntnis eines Kruges als Erkenntnis einesStoffstucks zu gelten, denn Krugerkenntnis und Stoffstuck ahneln einander jaetwa darin, dass beide die Beschaffenheit haben, erkennbar zu sein (Det D244b5f.). Diese Argumente weisen darauf hin, dass Dharmakırti hier eine Unter-scheidung trifft zwischen der Behauptung, die Wahrnehmung hat die Gestalteines Objektes, und jener, dass sie sich der Gestalt eines Objektes bewusst ist.Allem Anschein nach legt das Bewusstsein einer in ihr selbst enthaltenen Ob-jektgestalt die Wahrnehmung auf diese Objektgestalt in all ihrer Besonderheitfest, wahrend ein ohne die Komponente der Bewusstheit und als bloße »Ahn-lichkeit« gedachter Gestaltbesitz dazu nicht in der Lage ist.

Bei all dieser Kritik am Begriff der »Ahnlichkeit« oder »Gleichformigkeit« ister aber doch auch nicht ganz verfehlt – »in der Welt« mag er als Erklarung dafurgelten, weshalb eine Wahrnehmung an ihr besonderes Objekt gebunden ist. Nunhat Dharmakırti selbst die Gleichformigkeit in Auseinandersetzung mit brah-manischen Gegenpositionen fur diesen uberlegen erklart. Das macht es wahr-

31 PV 3.428 – 434.

Birgit Kellner68

scheinlich, dass mit der »Welt« hier vorrangig die Welt der miteinander inDisput und Konkurrenz stehenden religios-philosophischen Systeme gemeintist. Wenn sich buddhistische Philosophen in dieser Welt mit brahmanischenDenkern auseinandersetzen wollen, die ihre Grundanschauungen nicht teilen,kommen sie also nicht umhin, auch Konzepte zu verwenden, die aus ihrer Sichtder naheren Analyse nicht Stand halten.

Dharmakırti zieht aus der Kritik eines außeren Erkenntnisgegenstands nunden folgenden Schluss:

Es gibt kein anderes [außeres Objekt], das von der Erkenntnis erfahren wurde.32

Diese Behauptung erinnert an Punkt 2 des zuvor nach dem aus dem Mahaya-nasutralankara skizzierten Vorgangs: Der Bodhisattva begreift, dass ein geis-tigen Ereignissen gegenuber Anderes, das von ihnen erfasst wurde, nicht exis-tiert. Allerdings gelangt Dharmakırti zu diesem Schluss auf dem Weg prinzipiellnachvollziehbarer Argumente. Der Bodhisattva hingegen erreicht diese Einsichtdadurch, dass er verstanden hat, dass die Gegenstande, die ihm seine geistigenEreignisse prasentieren, nur die geistigen Ereignisse selbst sind, die in gewisserForm erscheinen. Dharmakırtis Argumente gegen außere Erkenntnisobjektesetzen die Lehre vom »bloß(en) Bewusstsein« nicht logisch voraus, wahrend derEinsichtsprozess des Bodhisattva dies allem Anschein nach tut: Der Bodhisattvahat offenbar die Einsicht, dass sein Verstandnis buddhistischer Lehrinhalteausschließlich durch sprachlich gefarbtes Denken in Erscheinung tritt, auf in-tentionale Objekte des Geistes verallgemeinert und auch diese als »bloß(en)Geist« erkannt. Er revidiert also gewissermaßen vom Standpunkt einer auf an-derem Weg erlangten »hoheren« Einsicht aus eine der »niederen« Stufe ange-horende Auffassung. Bei Dharmakırti fuhren hingegen die Fehler der »nieder-rangigen« Theorie selbst dazu, dass sie revidiert und durch eine ihr uberlegeneabgelost wird.

Dharmakırti vervollstandigt nun die Aussage, dass die Erkenntnis nichtsanderes erkennt, durch den Zusatz, dass sie vielmehr sich selbst erkennt. DasObjektbewusstsein entpuppt sich bei naherer Analyse als »Selbstbewusstsein« indem Sinn, dass die Wahrnehmung sich einer in ihr selbst enthaltenen gegen-standlichen Gestalt bewusst ist. Der Bodhisattva im MSA hingegen schreitet zuder Einsicht fort, dass die geistigen Ereignisse nicht als auf etwas ihnen Au-ßerliches gerichtet existieren.

Nun bleibt fur Dharmakırti (vorerst) die Grundtatsache bestehen, dass dieWahrnehmung gegenstandlich bestimmt ist, indem sie eine gegenstandlicheGestalt in sich tragt. Wo kommt diese Gestalt nun aber her, wenn sie nichtpunktuell auftretenden außeren Objekten eignet? Sie kommt aus dem Be-

32 PV 3.327a = PVin 1.38a: nanyo ’nubhavyas buddhyasti.

Buddhistische Theorien des Geistes: Intentionalitat und Selbstbewusstsein 69

wusstseinsstrom selbst: Dort haben vergangene Erfahrungen gewisse Residuenoder Eindrucke hinterlassen, die abgerufen oder erweckt werden konnen. Au-ßere intentionale Objekte sind also nicht nur nicht moglich, sondern auch garnicht notig, um die gegenstandliche Bestimmtheit geistiger Ereignisse zu er-klaren. Diese Erklarung beruft sich in letzter Konsequenz auf eine im Bud-dhismus fest verankerte Annahme, namlich dass die Ursachenketten, aus denenmaterielle und geistige Entitaten hervorgehen, ohne Anfang sind.

Wenn die Wahrnehmung aber de facto nichts Außeres erkennt, warumkommt es gewohnlichenMenschen so eindrucklich so vor?Diese Frage ruft nacheiner Irrtumstheorie (error theory), die erklart, weshalb uns etwas, das falsch ist,als sehr offensichtlich wahr erscheinen kann. Eine Irrtumstheorie ist dazu an-getan, die Glaubwurdigkeit jener Theorie zu verstarken, der sie zur Seite gestelltwird – Galileos Theorie der Erdbewegung wird glaubwurdiger, wenn erklartwerden kann, warum uns die Erde als unbewegt erscheint.33 Eine Irrtumstheoriebietet auchDharmakırti, um zu erklaren, weshalb es uns so erscheint, als wurdenwir außere Gegenstande sehen, wo doch de facto nur unsere Wahrnehmungs-zustande selbst gegenstandliche Gestalten enthalten. Diese Irrtumstheorie be-ruht auf einer buddhistischen Grundanschauung: Gewohnliche Menschen lei-den an tief sitzenden kognitiven Fehleinstellungen, die ihre Fahigkeit, die Naturihres Geistes wahrheitsgetreu zu erfahren, unweigerlich beeintrachtigen. Siekonnen gar nicht anders, als die in der Wahrnehmung gegebene Gestalt alsaußerlich zu bestimmen, also gewissermaßen nach außen zu projizieren (PV3.431).

Mit der Erklarung des Objektbewusstseins als Selbstbewusstsein ist die furDharmakırti am meisten wirklichkeitsgetreue Konzeption geistiger Ereignisseaber noch nicht erreicht. Es bleibt namlich die Frage, ob das geistige Geschehenin seinem Inneren eine bestimmte Struktur aufweist. Man konnte es innerhalbeiner Wahrnehmung selbst mit »Teilen«, Aspekten, Gestalten oder Erschei-nungsformen zu tun haben, denen auf die eine oder andere Art Realitat zu-kommt: die gegenstandliche Gestalt und, davon getrennt, eine Gestalt als er-fassendes Subjekt. An manchen Stellen lehnt Dharmakırti nun auch eine Spal-tung geistiger Ereignisse in ihrem Inneren ab, denn auch sie ist Produkt eines tiefsitzenden Irrtums; tatsachlich ist die Wahrnehmung als geistiges Ereignis voneinheitlicher, ungeteilter Natur. Ihre Natur zu spalten gleicht dem Versuch einesan der Timira-Augenkrankheit Leidenden, an den unwirklichen Haarbuscheln,die er sieht, einzelne Haare zu unterscheiden (PV 3.330 – 331). Die Wirksamkeitkognitiver Fehleinstellungen zeigt sich damit auf zwei verschiedenen Ebenen:Zum einen bringen sie Menschen dazu, innere Bilder nach außen zu projizieren,

33 Fur eine Anwendung des Begriffes der error theory in ahnlichem Zusammenhang, vgl.Siderits 2004: 218.

Birgit Kellner70

zum anderen sind sie dafur verantwortlich, dass Erfahrungen in Subjekt undObjekt gespalten werden. Die Art und Weise, wie sich geistige Zustande ge-wohnlichen Menschen prasentieren, ist also systematisch fehlerhaft. Was In-tentionalitat angeht, ist unsere unmittelbare Erfahrung schlicht nicht geeignet,die wahre Natur der Sinneswahrnehmung zu bezeugen, und sie ist dazu nichtnur in Einzelfallen ungeeignet, sondern prinzipiell. Damit erweist sich aber inletzter Konsequenz die gegenstandliche Bestimmtheit geistiger Zustande, diezunachst mithilfe ihrer systematischen Korrespondenz zur Außenwelt – der»Gleichformigkeit« mit außeren Gegenstanden – erklart wurde, ebenfalls alsProjektion, auch wenn dieser Konsequenz in Dharmakırtis Werken meinesWissens keine große Beachtung geschenkt wird; die sich ihm anschließendeTradition in Indien und Tibet hat sich ausfuhrlich mit der Frage befasst, welchenStatus denn nun eigentlich die »Gestalten« (akara) im Bewusstsein haben, undist zu keinem einheitlichen Ergebnis gelangt.

Im Vergleich zur spirituell-praktischen Theorie des MSA, die die Eliminie-rung von Intentionalitat in einen heilswirksamen Prozess einbettet, bietenDharmakırtis Praman

˙avarttika und Praman

˙aviniscaya gewissermaßen ein Ar-

senal an Argumenten auf, mit denen zuerst eine schlussige Theorie intentionalgedachter Wahrnehmung formuliert und verteidigt wird, im Anschluss aber dieGrundlagen dieser Theorie, ja, geistiger Intentionalitat selbst, der Kritik unter-zogen und revidiert werden. Dharmakırtis Art der philosophischen Analyse undBegrundung teilt dabei naturlich mit der spirituell-praktischen Theorie desMSA gewisse Grundannahmen, und formuliert auch punktuell vergleichbareInhalte, selbst wenn dies in der verwendeten Terminologie oft nicht unmittelbarevident ist.

Dharmakırtis Denken steht aber auch, gerade imVergleich zu Textenwie demMSA, in einem anderen Diskurszusammenhang: Dharmakırtis recht kompli-zierter und oszillierender Umgang mit der »Gleichformigkeit« kann auch alsSymptom einer sozialen und diskursiven Grundkonstellation gelten, in der sichbuddhistische Denker argumentierend mit außerhalb des Buddhismus formu-lierten Gegenpositionen auseinandersetzen und dabei gewisse ihrer Grundan-schauungen temporar aussetzen mussen. Umgekehrt zeigt sich, dass, sobalddiese Grundanschauungenwie etwa die systematischeVerzerrungmenschlichenErfahrens durch das Nichtwissen in den Blick genommen werden, gewissephilosophische Probleme entweder gar nicht mehr als genuine Probleme for-muliert werden konnen oder zumindest ihre Dringlichkeit verlieren – etwa diegegenstandliche Bestimmtheit von Erkenntnissen. Die von buddhistischenDenkern im Kontext traditionsubergreifender Argumentation vorgenommenephilosophische Analyse und die in Ausarbeitungen des Heilswegs entwickeltespirituell-praktische Theorie scheinen also gewissermaßen gegenlaufige Bewe-gungen zu vollfuhren. Wir haben damit moglicherweise ein Spannungsfeld

Buddhistische Theorien des Geistes: Intentionalitat und Selbstbewusstsein 71

betreten, das uber den Themenkomplex geistiger Intentionalitat hinaus Beach-tung verdient: konstituiert aus Beschrankungen und Moglichkeiten von unter-schiedlichen Reflexionsformen und mit ihnen verbundenen Wertvorstellungen,Maßstaben und diskursiven Praktiken im kulturellen Kontext.

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