Review Essay: Immer auf der richtigen Seite? Fallstricke der Kritik an der Islamfeindlichkeit
Der Psychologe der Maschinen. Über Gilbert Simondon und zwei Theorien technischer Objekte
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Henning Schmidgen
Der Psychologe der Maschinen. Über Gilbert Simondon und zwei
Theorien technischer Objekte
[published, with minor changes, in: Christiane Kraft Alsop
(ed.), Grenzgängerin/Bridges between disciplines: Festschrift für Irmingard
Staeuble, Heidelberg/Kröning: Asanger Verlag, 2001, pp. 265-287]
Der Soziologe Bruno Latour eröffnet seine Aufsatzsammlung Der
Berliner Schlüssel (1996) mit einem ebenso anregenden wie
beziehungsreichen Text. In seinem „Porträt von Gaston Lagaffe
als Technikphilosoph“ verdeutlicht Latour am Beispiel des
alltäglichen Gegenstands Tür, welche Konsequenzen die
Veränderung eines technischen Objekts für das Zusammenleben
der mit ihm umgehenden Subjekte haben kann. An einer Bürotür
werden zusätzliche Öffnungen angebracht, und dadurch wird ein
ganzes Kollektiv menschlicher und nicht-menschlicher Akteure
neu organisiert. Die im Büro tätigen Mitarbeiter, der eine
zug-, der andere lärmempfindlich, die Boten, die ein- und
ausgehen, die Haustiere, die sich durch den Raum bewegen, und
schließlich die Maschinen, die in Betrieb sind: alle werden in
ihrem Verhalten zueinander neu abgestimmt. Latour resümiert:
„Wenn man Technik einsetzt, wird die Situation immer reicher,
komplexer, ja, warum nicht sagen: interessanter“ (Latour,
1996, S. 10).
Der französische Titel von Latours Text lautet: „Il faut
qu'une porte soit ouverte ou fermée... Petite philosophie des
techniques“. Mit dem ersten Teil dieses Titels greift Latour
Ausführungen aus einem anderen Kontext auf: Dieselbe
Formulierung findet sich in einem Séminaire des
Psychoanalytikers Jacques Lacan. 1955 hat Lacan in seinem
Vortrag „Psychanalyse et cybernétique“ versucht, am Beispiel
der Tür den Zusammenhang von zweiwertiger Logik,
elektronischen Schaltungen und symbolischer Ordnung zu
verdeutlichen. „Il faut, c’est vrai, qu’une porte soit ouverte
ou fermée“ (Lacan, 1978, S. 346). Daß die Tür nur den Zustand
der Öffnung oder den der Schließung kennt, macht sie in den
Augen des Psychoanalytikers zum Symbol par excellence: Das
Auf/Zu der Tür gleicht dem logischen 0/1, dem elektronischen
+/- und dem linguistischen S1/S2. Durch die zwei Zustände, die
sie annehmen kann, gehört die Tür bei Lacan schon wesentlich
zur symbolischen Ordnung – im Unterschied zu Stühlen oder
2
Tischen, die in seinen Augen nur mehr oder weniger
bedeutungsträchtige Gegenstände sind. Anders als diese
einfachen Möbel ist die Tür bereits eine rudimentäre
„Maschine“ (Lacan, 1978, S. 346; siehe dazu Kittler, 1989).1
Mit seiner halb ironischen, halb ernst gemeinten Replik
wendet sich Latour gegen die Lacansche ‚Kybernetisierung der
Tür’ und, allgemeiner, gegen die Reduktion von technischen
Objekten auf die in ihrer Struktur oder Funktion enthaltene
Information. Durch den Verweis auf eine Tür, die offen und
geschlossen ist, verdeutlicht er, daß es nicht ausreicht,
technische Objekte auf Algorithmen oder binäre Codes
zurückzuführen. Nach Latour kennen Maschinen, so rudimentär
sie sein mögen, stets mehr als nur zwei Zustände. Anders als
für den Psychoanalytiker, sind technische Objekte für den
Soziologen Körper, „nicht-menschliche Wesen“, die ihre eigene
Dichte (oder eben: Löchrigkeit) haben. Ihr Bestand und ihre
Tätigkeit können nicht auf Symbole reduziert werden, sie sind
vielmehr im Rahmen einer „symmetrischen Anthropologie“ zu
beschreiben (siehe Latour, 1995).
1 Bekanntlich ist dies nicht die einzige Stelle, an der Lacan von Türen
handelt. In „L’instance de la lettre“ (Lacan, 1966) dient dem Analytiker
die Tür zur Veranschaulichung der Geschlechtertrennung.
3
Latours Replik auf Lacan aktualisiert die Gegenüberstellung
von zwei Theorien technischer Objekte, die in den Diskussionen
um das Verhältnis von Technik und Kultur immer wieder
anzutreffen sind. Sie können schematisch wie folgt dargestellt
werden. Die eine Theorie impliziert eine formalisierte
Auffassung des technischen Objekts, die analytisch-
kombinatorisch oder, in neuerer Zeit, informationstheoretisch
unterbaut ist. In dieser Theorie erscheint die Maschine als
eine Vergegenständlichung symbolischer oder logischer
Ausdrücke. Die andere Theorie ist ethnologisch oder
anthropologisch ausgerichtet und erfasst das technische Objekt
als eine Art Ganzheit, die in ihrem Bestand, ihrer Entwicklung
und Auswirkung empirisch-deskriptiv zu untersuchen ist. So wie
bei Lacan erscheinen in der ersten Theorie Maschinen als
Verkörperungen von Wissen, die zurückgeführt werden können auf
Kombinationen elementarer Bestandteile. Die Kombination dieser
Teile oder Elemente folgt, so wird dabei angenommen, einer
Logik oder Grammatik, die allgemein gültig ist. In der zweiten
Theorie erscheinen Maschinen hingegen wie bei Latour als Körper
(als Dinge oder Wesen), die in ihrer Form, Entstehung und
Wirkung von örtlich definierten Sozialbeziehungen abhängen und
4
die daher im Hinblick auf solche Beziehungen zu beschreiben
sind.
Der ersten Theorie begegnet man vor allem in kybernetischen
Konzeptionen der Maschine und kognitionswissenschaftlichen
Versuchen zur Erklärung der technischen Aktivität als Wissen
(siehe z.B. Ashby, 1961; Klagenfurt, 1995; Mitcham, 1994, S.
192ff.). Die zweite Theorie liegt soziologischen und
ethnologischen Studien über die Interaktion von Mensch und
Technik zugrunde, in der die technische Aktivität vor allem
als Praxis gefasst wird (s. z. B. Latour & Lemonier, 1994;
Leroi-Gourhan, 1965; 1971/73; Mitcham, 1994, S. 209ff.). Sie
findet sich darüber hinaus in phänomenologischen Arbeiten, die
auf einen „instrumentellen Realismus“ ausgerichtet sind (s. z.
B. Ihde, 1978).
Innerhalb der Wissenschafts- und Technikforschung zeigt
sich der formalisierende Zugriff auf die Technik etwa in
Goodings Studien (1990a; 1990b) zur kognitiven Rekonstruktion
technischer Innovationen. Doch schon Dinglers (1928)
Pionierarbeit über die „universalen“ Grundelemente von
Experimentalanordnungen (Ebene, fester Körper, Bewegung, Zeit
etc.) hat in diese Richtung gewiesen. Auch Koyré (1939, S.
352), mit seiner Annahme, wissenschaftliche Instrumente seien
5
„im strengsten Sinne des Wortes Verkörperungen (incarnations) des
Geistes, Materialisierungen von Ideen“, hat einen Beitrag zur
Fundierung der formalisierenden Sichtweise der Technik
geliefert. Die Auffassung der Maschine als eigenartiges „Ding“
hingegen liegt, was die Wissenschafts- und Technikforschung
angeht, den Arbeiten von Knorr-Cetina (1981), Shapin und
Schaffer (1985) und Pickering (1995) zugrunde. Latour schließt
an diese Studien an und entwickelt sie eigenständig weiter
(s.u.).
Obwohl die zwei skizzierten Theorien technischer Objekte
historisch abgeleitet werden können,2 ist bisher nur wenig zu
ihrer Vermittlung unternommen worden. In den gegenwärtigen
Diskussionen stehen sie sich zumeist unreflektiert gegenüber.
Das Unvermittelte dieser Entgegensetzung wird besonders 2 Die analytisch-kombinatorische Theorie der Maschine kann über Franz
Reuleaux’ Theoretische Kinematik und Charles Babbages „Method of Expressing by
Signs the Action of Machinery“ zumindest bis auf Christopher Polhems
mechanisches Alphabet zurückgeführt werden. Anknüpfungspunkte dieser
Theorietradition sind – neben der Philosophie von Leibniz – die Chemie, die
Linguistik und die Mathematik. Die empiristisch-deskriptive Theorie des
technischen Objekts scheint dagegen bei Johann Beckmann zu beginnen, der
die Methoden Linnés auf das „Technikreich“ anzuwenden versuchte. Sie führt
über Ernst Kapps anthropologische Theorie der Technik bis hin zu Leroi-
Gourhans Untersuchungen zum Zusammenhang von Evolution und Technik. Zur
Geschichte des technologischen Wissens siehe Buchheim und Sonnemann (1990),
Sigaut (1991) und Mitcham (1994).
6
deutlich, wenn man sich der Technikphilosophie von Gilbert
Simondon (1924-1989) zuwendet. Diese unterläuft, wie im
Folgenden verdeutlicht wird, das skizzierte Gegenüberstehen in
mehrfacher Hinsicht. Dadurch eröffnet sie die Perspektive auf
eine dritte Theorie des technischen Objekts, in der diese
Objekte im größeren Zusammenhang materieller Kulturen situiert
werden. Teile der Sozialwissenschaften, insbesondere die
Wissenschafts- und Technikforschung, können sich, so wird hier
argumentiert, an dieser Theorie mit Gewinn ausrichten.
1958 ist der Psychologe Simondon mit einer Abhandlung
hervorgetreten, in deren Zentrum die Frage nach der
Existenzweise technischer Objekte steht. Obwohl Du mode
d'existence des objets techniques mehrfach aufgelegt wurde und von dem
Philosophen Gilbert Hottois als „klassische Referenz“ all
derer beschrieben wird, „die sich mit unserer technologischen
Moderne auseinandersetzen“ (Hottois, 1993, S. 7), ist der
Arbeit Simondons außerhalb Frankreichs bis heute kaum
Aufmerksamkeit zuteil geworden (siehe aber Dumouchel, 1995;
Marcuse, 1982).3 Simondon unterteilt seine Fragestellung in 3 Bevor die Abhandlung Simondons im Folgenden näher erörtert wird, ist
daran zu erinnern, daß sie keineswegs die einzige Buchpublikation des 1989
verstorbenen Psychologen ist. 1964 erschien L'individu et sa genèse physico-chimique,
das Simondon dem Andenken des drei Jahre zuvor verstorbenen Maurice
Merleau-Ponty widmete. Diese Monographie, ebenso wie die Abhandlung über
7
folgende Aspekte: Wie unterscheiden sich technische Objekte
von natürlichen Objekten einerseits (Pflanzen, Steine etc.)
und ästhetischen Objekten andererseits (z. B. Gemälde,
Skulpturen)? Hängt das Wesen der technischen Objekte ganz von
den Ziel- und Zweckvorgaben des Menschen ab, oder handelt es
sich um „natürliche Arten“, die eigenständig evolvieren? Wie
läßt sich ihre Entstehung und Entwicklung adäquat beschreiben?
Diese Fragen werden von Simondon aus der Perspektive einer
neo-aristotelischen Philosophie der Individuation beantwortet.
Die Entwicklung der inneren Organisation technischer Objekte
wird dabei als Übergang von „abstrakten“ zu „konkreten“ Formen
gefaßt. Simondon definiert das Wesen technischer Objekte im
technische Objekte, ist aus Simondons umfangreicher, von Georges Canguilhem
betreuter Doktorarbeit über das Problem der Form und der Information
hervorgegangen. Auch der posthum veröffentlichte Band L'indviduation psychique et
collective läßt die Verbindung zu diesem Problemkreis erkennen (siehe
Simondon, 1964; 1989a; 1989b). Die zahlreichen kleineren Publikationen von
Simondon umfassen neben Aufsätzen zur Sozialpsychologie und zur Ethik der
Technik auch Studien zum Problem der technischen Erfindung und des
technischen Fortschritts. Ferner ist Simondon als Mitverfasser eines
Überblicks über die Geschichte der modernen Psychologie hervorgetreten und
zeichnet für eine Vielzahl von cours über Themen wie akustische und visuelle
Wahrnehmung, Kreativität, Phantasie usw. verantwortlich (siehe die
Bibliographie von M. Simondon, 1990; sowie Caneghem, 1989; Hottois, 1993;
Gilbert Simondon, 1994). Literatur über Simondon erschien bislang
hauptsächlich im französischen Sprachraum. Siehe die Aufsätze in den Cahiers
philosophiques 12, Nr. 43 (1990) [Sondernummer Simondon] sowie die Beiträge im
Tagungsband Gilbert Simondon (1994).
8
Hinblick auf „Funktionsschemata“, die als allgemeine
Bestimmungen (im Sinne von Bauplänen) dienen, die zugleich
aber, als individuelle Bestimmungen, Ausgangspunkte für die
dynamische Individuation der Objekte sind.
Im Folgenden wird verdeutlicht, daß es diese doppelte
Fassung der Wesensbestimmung ist, die Simondons Theorie des
technischen Objekts für die heutigen Diskussionen um die
verwissenschaftlichte und technisierte Welt interessant macht.
Mit der formalisierenden Maschinentheorie teilt Simondon zwar
die Auffassung, daß Maschinen oder Werkzeuge wesentlich auf
Zeichengefüge bezogen sind und daß die Existenz oder Nicht-
Existenz einzelner technischer Artefakte nichts am Bestehen
des gezeichneten Objekts ändert. Im selben Moment unternimmt
er jedoch eine radikale Kontextualisierung der Maschine in
ihrer konkreten Materialität, die in vielem an die neuere
Anthropologie und Soziologie von Wissenschaft und Technik
erinnert. Das technische Objekt sieht sich dabei nicht nur in
soziale Umfelder eingebettet, sondern auch in technische und
natürliche Milieus, die für es spezifisch sind. Die
Orientierung an der Maschine als geschlossener Entität wird
damit nachhaltig durchbrochen.
9
Entstehung und Entwicklung
Simondon entfaltet seine Technikphilosophie auf drei Ebenen:
Erstens, auf der Ebene der technischen Objekte selbst, ihrer
Entstehung und Entwicklung; zweitens, auf der Ebene des
Verhältnisses von Mensch und technischem Objekt (in
synchronischer und diachronischer Perspektive); drittens, auf
der Ebene der „Technizität“, d. h. des in der Technik im
Unterschied etwa zur Ästhetik oder zur Religion implizierten
Weltbezugs. Ihre innere Spannung bezieht Simondons Theorie
dabei aus dem fast durchgängig beanspruchten und teils
identifizierend, teils differenzierend gewendeten Vergleich
von technischen mit natürlichen Objekten, von technischen
Wesen (êtres techniques) mit Lebewesen (être vivants), aristotelisch
gesprochen: von physei onta und techne onta. Simondon zufolge
unterscheiden sich technische Wesen von Lebewesen durch das
Ausmaß ihrer „internen Synergie“. Anhand der Betrachtung des
inneren Aufbaus exemplarischer Objekte (Verbrennungsmotor,
Fernseher), der Anordnung ihrer Einzelteile und der zwischen
diesen stattfindenden Energieaustauschprozesse, zeigt er, daß
technische Objekte sich im Verlaufe ihrer Entwicklung
konkretisieren. So rücken die Bestandteile des Verbrennungsmotors
näher aneinander, und bestimmte Teile werden funktional
10
„überdeterminiert“. Die Kühlrippen am Zylinder dienen nicht
mehr nur der Thermik, sondern auch der Statik: Sie kühlen den
Zylinder, geben ihm aber auch zusätzliche Stabilität
(Simondon, 1989a, S. 22f.; im Folgenden zit. als MEOT).
Konkretisierung in diesem Sinn bedeutet einen Zuwachs an
innerer Organisiertheit, Eigengesetzlichkeit und
entsprechender Unabhängigkeit. Durch die Konkretisierung
nähert sich das technische Objekt dem natürlichen an, das von
Simondon als vollständig konkretisiertes beschrieben wird. Im
natürlichen Objekt, so erklärt er, sind alle Teile
überdeterminiert (siehe MEOT, S. 49). Das technische Objekt
verfügt dagegen stets über einen Rest von Abstraktheit,
befindet sich immer „in Konkretisierung“, wird aber nie
vollends konkret. Dieser Rest von Abstraktheit verweist auf
die Tatsache, daß sich die Entstehung technischer Objekte
Erfindungen verdankt – erst hier kommt in Simondons
Darstellung also der Mensch ins Spiel.
Abstrakte technische Objekte sind Simondon zufolge dadurch
gekennzeichnet, daß ihre Teile funktional nur so ineinander
greifen, „wie Arbeiter, die kooperieren, ohne genau zu wissen,
was der andere jeweils tut“ (MEOT, S. 21). Besonders deutlich
wird dies, wenn ein technisches Objekt durch Anwendung
11
wissenschaftlicher Prinzipien planmäßig entwickelt werden
soll. Diese Entwicklung geschieht zunächst am Reißbrett, im
Labor, in der Versuchsanstalt. Die Abnahme von Abstraktheit,
also die Konkretisierung des Objekts, ist an der langsamen
Ablösung von äußeren Hilfs-, Stütz- und
Versorgungseinrichtungen abzulesen (MEOT, S. 21). Die
technischen Objekte bleiben aber für die
Ingenieurswissenschaften bis zu einem gewissen Grade „opak“.
Mag die technische Innovation auch noch so geplant und
berechnet vonstatten gehen, die von ihr bezeichnete
Diskontinuität, das Plötzliche, das ein technisches Objekt als
„neu erfundenes“ erscheinen läßt, verweist darauf, daß es
Momente oder Effekte realisiert, die wissenschaftlich (noch)
nicht erklärt werden können. Darin besteht, Simondon zufolge,
das Wesen der Erfindung: Das neue technische Objekt ist etwas,
das eine bis dato unbekannte Leistung vollbringt. Das
„Erfunden-worden-sein“ markiert also den Mehrwert des
technischen Objekts gegenüber seiner
ingenieurswissenschaftlichen Deduktion. Die Grundkoordinaten
zur Verortung der technischen Objekte und ihrer spezifischen
Existenzweise sind damit gegeben: „Die Konkretisierung
verleiht dem technischen Objekt eine Zwischenstellung zwischen
12
den natürlichen Objekten und der wissenschaftlichen
Repräsentation“ (MEOT, S. 46).4
Linien
Die Art und Weise, wie Simondon die Entstehung und Entwicklung
technischer Objekte abhandelt, wirft die Frage auf, was genau
der Begriff „technisches Objekt“ bezeichnet. Wie Jean-Pierre
Séris (1994, S. 29) bemerkt, ist dieser Begriff in der
Simondon-Rezeption zu oft als problemlos und
selbstverständlich akzeptiert worden. Tatsächlich stellt sich
die Frage, ob „technisches Objekt“ etwa mit „Maschine“
(Werkzeugmaschine z. B.) oder mit „technisches Produkt“
(Kugelschreiber, Kleidung etc.) gleichbedeutend ist. Beides
trifft nicht zu, und Simondon bringt wiederholt den
systematischen Unterschied zwischen dem technischen Objekt und
dessen konkreten Realisationen zur Geltung.
4 In vergleichbarer Weise verfährt Mikel Dufrenne in bezug auf das
ästhetische Objekt. Dufrenne, der „frühere Kollege“, dem Simondon in einer
Vorbemerkung zu Du mode d‚existence des objets techniques für seine Hilfe dankt,
setzt in seiner Phénoménologie de l‚expérience esthétique (1953) zunächst am
ästhetischen Objekt an, das er aber sogleich vom einzelnen Kunstwerk
unterscheidet. Er beschreibt das Objekt im Hinblick auf dessen „Wesen“
(verstanden als "immanente Bedeutung") und grenzt es von anderen
Objekttypen (natürliche Objekte, Gebrauchsgegenstände, ideelle Objekte
usw.) ab (siehe Dufrenne, 1953, S. 111ff.; MEOT, S. 20, Fußnote 1).
13
Der Unterschied wird zunächst daran deutlich, daß sich ein
technisches Objekt laut Simondon durch eine Reihe von
aufeinanderfolgenden Verbesserungen, kleineren
Perfektionierungen, konkretisiert. Der Ausdruck „technisches
Objekt“ kann dabei nicht ein einzelnes, materiell realisiertes
Artefakt bezeichnen, sondern er bezieht sich auf eine Serie
von variierten Artefakten, von überarbeiteten und verbesserten
Ausführungen. Auch die Art und Weise, wie Simondon die
verschiedenen Formen des technischen Objekts
„Verbrennungsmotor“ im Bild dokumentiert, zeigt, daß es ihm
dabei um einen „Gerätetyp“, eine „Apparate-Familie“ oder –
weniger vitalistisch formuliert – eine Reihung
aufeinanderfolgender Modelle geht. Was aber hält diese Reihung
zusammen, und was grenzt die kleineren Perfektionierungen von
den durchgreifenden Verbesserungen ab, mit denen ein altes
Objekt durch eine neue Erfindung ersetzt wird?
Der Verbrennungsmotor läßt sich, so erklärt Simondon, auf
ein „reines Funktionschema“ zurückführen, das den
verschiedenen Ausführungen dieses Motors zugrundeliegt (MEOT,
S. 42). Dieses Funktionsschema ist Ausdruck und Fixierung der
Erfindung. Es markiert den Beginn der „Abstammungslinie
(lignée)“ des technischen Objekts. Das Funktionsschema enthält
14
also die Wesensbestimmung des technischen Objekts, und zwar in
einem doppelten Sinn. Einerseits ist an ihm die Art und Weise
abzulesen, wie das einzelne Artefakt gebaut werden kann. Das
Schema in diesem Sinne ist eine allgemeine Bestimmung
(horismos), die dem Konstrukteur als Bauanleitung dient.
Andererseits ist das Schema Ausgangspunkt für die dynamische
Entwicklung des Objekts: Ausgehend von der einmal gemachten
Erfindung beginnt eine technische Abstammungslinie, die sich
vielfältig verzweigen kann. In diesem Sinne verfügt das Objekt
über eine individuelle Bestimmung (eidos), die seine Entwicklung
über verschiedenste Ausführungen hinweg steuert.5
Vom technischen Objekt als etwas Einzelnem kann nach
Simondon also nur auf der Ebene des Schemas die Rede sein. Im
Unterschied dazu ist das realisierte Artefakt, wie es
beispielsweise dem Menschen gegenübersteht, austauschbar.
Seine Existenz oder Nicht-Existenz ändert nichts am Existieren
des technischen Objekts. Umgekehrt: Das technische Objekt ist
nicht identisch mit dieser oder jener materiellen
Realisierung, es ist eine „Werdenseinheit (unité de devenir)“, ein 5 In philosophischer Hinsicht ist damit das Problem angesprochen, inwiefern
Artefakte natürliche Arten bilden. Im Anschluß an einschlägige Ausführungen
von Putnam siehe dazu z. B. Kornblith (1980), Losonsky (1990) und Schwartz
(1978). Im deutschen Sprachraum siehe Böhm (1989, S. 59ff.; 126ff.) und
Rapp (1995, S. 482ff.).
15
Konstanzfaktor, der die verschiedenen Variationen und
Ausführungen durchzieht (siehe MEOT, S. 20).
Mit dieser Auffassung des Funktionsschemas tritt Simondon
in bestimmte Differenz zur empirisch-deskriptiven Richtung der
neueren Wissenschafts- und Technikforschung. Wie die Beiträge
in einem von Latour und Lemonnier (1994) herausgegebenen
Sammelband exemplarisch verdeutlichen, geht es der heutigen
Soziologie der Technik hauptsächlich um die konkreten,
materiell realisierten Artefakte, die in bestimmten sozialen
Kontexten verhaftet und in diesen wirksam sind (siehe auch
Joerges, 1988; Weingart, 1989). Vielleicht darf man sogar
sagen, der Soziologie gehe es hauptsächlich um die technisch
vermittelten sozialen Praktiken, wobei die technischen
Artefakte, als ein Teil dieser Praktiken, auch von Interesse
sind. Simondon überschreitet jedenfalls diese Ebene des sozial
Konkreten, um zu einer Eigenwirklichkeit des technischen
Objekts vorzustoßen, die sich über unterschiedliche Kontexte
konstant hält und die folglich nicht nur gesellschaftlich
bestimmt sein kann. Mit diesem Rekurs auf ein persistierendes
Wesen des technischen Objekts nähert er sich den
techniktheoretischen Positionen an, die das Entscheidende des
technischen Objekts nicht in dessen materieller Konstruktion,
16
sondern im mathematischen Konstrukt erkennen: In Kybernetik
und Informationstheorie interessiert nicht das konkrete
Artefakt, sondern die Prinzipien und Berechnungen, die Zahlen,
Symbole und Algorithmen, die die Struktur und Funktion einer
Maschine bestimmen (siehe exemplarisch Ashby, 1961).
Dennoch hat Simondon kein Interesse an der Erstellung eines
symbolischen Systems technischer Elemente oder an der
Erarbeitung einer Axiomatik, die der Bildung technischer
Objekte im Allgemeinen zugrundliegt. Seine Auffassung des
Funktionsschemas zielt nicht darauf ab, einzelne
technologische Elemente zu repräsentieren, sondern ist darauf
ausgerichtet, die technische Zeichnung als Grundlage des
technischen Objekts herauszustellen. Insofern findet er
Anschluß an eine Semiotik der Maschine, die dem Paradigma der
Sprache fernsteht.6
Felder
6 Die Zeichensysteme, die technischen Objekten angegliedert sind, wurden
u.a. von Eugene S. Ferguson (1993) detailliert untersucht. Ferguson zeigt,
daß technische Schemata, Pläne und Zeichnungen Darstellungen sind, die sich
nicht vollständig auf sprachliche Strukturen zurückführen lassen. Vielmehr
beruhen sie auf einem visuellen, nicht-sprachlichen Denken, das auch in den
bildenden Künsten wirksam ist. Über die Geschichte der Maschinenzeichnung
siehe auch Booker (1963), Deforge (1976) und Nedoluha (1960).
17
Simondons Thematisierung der Abstammungslinien technischer
Objekte wird ergänzt durch eine Erkundung der Felder, in denen
die Objekte angesiedelt sind. Die unterschiedlichen Formen
technischer Objekte sind für Simondon nur im jeweiligen
Zusammenhang mit ihrer technischen und natürlichen Umgebung zu
verstehen. An Beispielen wie dem Segelflugzeug, der Eisenbahn
und der Rohrturbine zeigt Simondon, daß je nach
Spezialisierungsgrad bestimmter Teile eines Objekts sich auch
dessen Beziehung zur Umwelt gestaltet. Stark spezialisierte
Objekte sind in ihrem Funktionieren auf genau abgestimmte
Umwelten angewiesen (Segelflugzeug), weniger spezialisierte
Objekte fügen sich in eine selbst schon technisch modifizierte
natürliche Umwelt ein und bewirken dadurch eine Art
Kommunikation zwischen Maschine und Geographie (Eisenbahn).
Doch es gibt auch technische Objekte, die durch ihre
Aufstellung und ihren Betrieb eine neuartige Umwelt schaffen.
Eine Rohrturbine fügt sich nur in eine Landschaft ein, die
sozusagen von ihr selbst erzeugt worden ist. In diesem Fall
ist das technische Objekt, wie Simondon sagt, Bedingung seiner
selbst und seiner spezifischen Umwelt (siehe MEOT, S. 54ff.).
Die Betrachtung technischer Objekte und ihrer Umgebungen
wird von Simondon weiter dadurch präzisiert, daß er anhand der
18
Begriffe „Element“, „Individuum“ und „Gesamtheit“ typische
Formen von technischen Objekten unterscheidet. Die Differenz
der Begriffe „technisches Objekt“ und „Maschine“ wird dabei
besonders deutlich. Maschinen, Geräte und Apparate sind in
Simondons Terminologie „technische Individuen“, d. h. relativ
geschlossene, eigenständige technische Objekte. Ihnen stehen
die „technischen Elemente“ (einfache Werkzeuge, Instrumente,
Einzelteile von Maschinen) und die „technischen Gesamtheiten“,
d. h. die aus technischen Individuen zusammengesetzten Anlagen
und Einrichtungen (Fabriken, Labors usw.), gegenüber. Diese
Unterscheidung wird im Hinblick auf jeweils spezifische
Umgebungen weiter aufgefächert: Während die Elemente durch
Umgebungen dominiert werden, von denen sie abhängig sind, ist
für technische Individuen die Ausbildung „assoziierter
Umwelten“ typisch. Demgegenüber sind die technischen
Gesamtheiten dadurch gekennzeichnet, daß sie die Individuen in
ihrem Inneren durch Entstörer, Trennwände usw. auf Distanz
zueinander halten. Die Technik bildet hier sozusagen selbst
die Umgebung des technischen Objekts.7
7 Die Frage nach der äußeren Umwelt der technischen Gesamtheiten wird von
Simondon kaum thematisiert. Das Fehlen solcher Überlegungen versteht sich
vor dem Hintergrund der naturphilosophischen Orientierung seiner
Techniktheorie: Die durch die Gesamtheiten entstehenden Umwelten stehen für
Simondon nicht im Widerstreit zur natürlichen Umwelt (s. u.). Eine aus
19
Aber damit nicht genug: Die Begriffstrias „Element,
Individuum, Gesamtheit“ erlaubt Simondon im weiteren auch, die
Entwicklung technischer Realitäten in diachronischer
Perspektive genauer zu thematisieren. Die Vermittlung des in
einer Gesellschaft technisch Erreichten, ihrer „Technizität
(technicité)“, verläuft ihm zufolge wesentlich über die
technischen Elemente. Die Elemente haben die Fähigkeit,
Technizität in materialisierter Form zu speichern und von
einer Epoche zur anderen zu übermitteln (siehe MEOT, S. 73).
Sie verfügen, wie er sagt, über „transduktive“ Eigenschaften:
„wie Samenkörner, die die Eigenschaften der Art transportieren
und neue Individuen entstehen lassen“ (MEOT, S. 73).
Dieser Sachverhalt erklärt laut Simondon auch, warum sich
die Entwicklung der technischen Realität, historisch
betrachtet, nicht im Sinne eines stetigen Anwachsens, sondern
in einer Art Wellenlinie vollzieht: Die Elemente werden in
Gesamtheiten (z. B. Fabriken) produziert; die dort
hervorgebrachten Elemente gehen in die Individuen ein; diese
Individuen finden später wiederum Eingang in die Gesamtheiten.
Die Zeitform, die für die Entwicklung der technischen Realität
charakteristisch ist, ist also durch einen Verlauf
heutiger Sicht zumindest ergänzungsbedürftige Auffassung.
20
gekennzeichnet, der immer wieder Phasen relativer Entspannung
mit sich bringt: von den Elementen (als den eigentlichen
Trägern der Technizität) über die Individuen zu den
Gesamtheiten (als den Produzenten von Elementen) und von dort
wieder zu neuen Elementen, neuen Individuen und weiteren
Gesamtheiten.8
Vom Objekt zum Subjekt?
Die Thematisierung der Linien und Felder des technischen
Objekts ist bei Simondon mit einer Abkehr von der Betrachtung
einzelner Artefakte verbunden. Auf diese Weise wendet er sich
gegen eine Theorie der Technik, die sich von der Maschine
faszinieren läßt. Im letzten Teil von Du mode d'existence des objets
techniques wird diese Orientierung weiter akzentuiert. Selbst der
Begriff des technischen „Objekts“, der von sich aus noch auf
ein „Subjekt“ verweist, wird dann überschritten. Simondon
beschäftigt sich zunächst mit den Beziehungen zwischen Mensch
und technischem Objekt, bevor er die Entstehung des
technischen Weltbezugs in den Betrachtungszusammenhang einer
umfassenden „Onto-Genese“ rückt (siehe MEOT, S. 154f.).
8 Zu Technik und Zeit bei Simondon siehe Paradis (1994), allgemein siehe
Nowotny (1993, S. 64ff.).
21
Simondon unterscheidet zwei grundlegende Bezugsweisen zur
Technik. Der menschliche Umgang mit dem technischen Objekt
kann entweder im Modus der Minorität oder im Modus der Majorität
erfolgen. Diese Unterscheidung, die in mancher Hinsicht an die
wenig später von Lévi-Strauss (1973, S. 25ff.) vorgenommene
Unterscheidung von Bastler und Ingenieur erinnert, wird von
Simondon terminologisch attraktiv entfaltet: Die Begriffe
minorité und majorité sind mehrdeutig, und Simondon macht sich
diese Mehrdeutigkeit für seine Analysen zunutze. Zunächst geht
es ihm um Minderjährigkeit und Volljährigkeit, also um den
kindlichen und den erwachsenen Umgang mit der Technik (was von
ihm nicht nur individuell-biographisch, sondern auch
sozialhistorisch thematisiert wird); dann handelt es sich um
mineur im Sinne von klein, selbstverständlich und unbedeutend,
im Unterschied zu majeur (groß, reflektiert und wichtig);
ferner um Mehrheit und Minderheit in bezug auf die in einer
Epoche oder Gesellschaft hauptsächlich verwendete Technik
(Simondon zufolge ist jede Gesellschaft von der Wahl einer
grundlegenden Technik geprägt); schließlich wird eine
Veranschaulichung des „kleinen“ Umgangs mit Technik anhand der
Welt der mineurs, der Bergleute, vorgenommen.
22
Simondon erklärt, daß es im Bergbau des frühen 19.
Jahrhunderts (ähnlich wie in der Landwirtschaft) ein
technisches Wissen gegeben hat, welches sich wesentlich über
die Aneignung konkret-operationaler Schemata und über
bestimmte „Intuitionen“, die gleichermaßen schwer ‚auf den
Begriff’ zu bringen waren, verwirklicht hat. Das technische
Wissen erscheint dabei als eine Kenntnis von bestimmten
Handgriffen und Fertigkeiten, die eine connaturalité, eine
natürliche Vertrautheit des Menschen mit seiner lokalen
Umwelt, voraussetzt (siehe MEOT, S. 89f.). Von dieser Art des
‚kleinen technischen Wissens’, das nur vor Ort und per Hand zu
erwerben war, unterscheidet Simondon das ‚große technische
Wissen’, den „Enzyklopädismus“. Dieser umfaßt die
wissenschaftlich fundierten, rationalen Kenntnisse der
Technik. Sein Medium sind Symbolsysteme, die von konkreten
Handlungen und spezifischen Milieus weitgehend abgelöst sind:
einerseits die schriftliche Sprache, andererseits (und vor
allem) die Skizzen, Zeichnungen und Pläne, durch die
Funktionszusammenhänge und -abläufe anschaulich gemacht
werden. Der enzyklopädische Zugang zur Technik impliziert die
Verfahren der geometrischen Darstellung, der Analyse, der
Messung und Berechnung technischer Objekte. Paradigmatisch in
23
dieser Hinsicht ist für Simondon die Encyclopédie von Diderot und
d'Alembert. Das Wesentliche dieses Werks liegt ihm zufolge in
den Stichen: Diese erlauben es, das Prinzip technischer
Einrichtungen zu „durchschauen“ und lassen einen Nachbau
vorstellbar werden (siehe MEOT, S. 94ff.).9
Die Typologisierung grundlegender Beziehungsweisen zwischen
Mensch und technischem Objekt wird von Simondon im weiteren
auf die Ebene gesellschaftlicher Gruppierungen und
geschichtlicher Epochen ausgedehnt. Leitfaden sind dabei die
verschiedenen Ausprägungen des Fortschrittgedankens, doch
Simondon macht dabei auch wieder seine Unterscheidung von
technischen Elementen, Individuen und Gesamtheiten fruchtbar.
Im 18. Jahrhundert herrschte demnach ein optimistischer
Fortschrittsgedanke vor, der sich hauptsächlich auf die
Verbesserung der technischen Elemente bezog (Werkzeuge,
Instrumente). Der dramatische und pessimistische
Fortschrittsgedanke, der für das 19. Jahrhundert kennzeichnend
war, betraf hingegen die technischen Individuen. Während in
früherer Zeit der Handwerker als virtuoser porteur d'outils
gewissermaßen selbst die Stelle des technischen Individuums
einnahm, sah sich der Mensch nun durch die zunehmende 9 Simondons eigenes Theorem des Funktionsschemas findet hier offenbar seine
historische Ableitung.
24
Verbreitung von Maschinen und Apparaten bedroht – oder er
verherrlichte die utopischen Potentiale der Technik. Er wurde
zum „hilflosen Zuschauer“ von maschinellen Funktionsabläufen,
die seine Tätigkeiten ersetzten – oder zum „Planer und
Unternehmer“, der alles für machbar hielt. In beiden Fällen
verlängerte die Maschine aber nicht mehr die körperlich
fundierten Handlungsschemata (siehe MEOT, S. 113ff.). Simondon
ist der Auffassung, daß dieser „psycho-physiologische Aspekt“
der Entfremdung von der Technik Arbeiter und Kapitalisten
gleichermaßen betraf (MEOT, S. 118; siehe dazu auch Marcuse,
1982, S. 45).
Die Möglichkeit, ein andersartiges Verhältnis zu den
technischen Objekten zu entwickeln, ergibt sich Simondon
zufolge erst in dem Moment, da die Technik sich vornehmlich in
Form technischer Gesamtheiten, als System oder Netz, zu
organisieren beginnt. Angesichts „offener Maschinen“, die
einer Regulation und Koordinierung zugänglich sind, könne der
Mensch des 20. Jahrhunderts sich gegenüber der Technik
insgesamt anders verhalten. Er brauche sich von den Maschinen
nicht mehr bedroht zu fühlen, sondern könne zu ihrem „Zeugen“
werden, zum „Interpreten ihrer Schwierigkeiten“, zum
„Vermittler“ ihrer Beziehungen untereinander. Er kann zu den
25
technischen Objekten in eine Art soziale Beziehung treten: Er
wird zum Psychologen und Soziologen der Maschinen (siehe MEOT,
S. 117ff.; 11f.).10
In diesem Anvisieren einer verständnisvoll-kritischen
Allianz mit der Technik, die bei Simondon auch die Vorstellung
einer durch Technik vermittelten Wiederannäherung an die Natur
einschließt, mag man den Abdruck einer naturalistisch-
objektivierenden Techniktheorie erkennen (siehe Rapp, 1994, S.
104f).11 Im Rahmen einer solchen Theorie wird die Technik in
ihrer Entwicklung als ein über-indiviudueller und sich in
geradezu kosmischem Ausmaße vollziehender Prozeß verstanden,
der im Zusammenhang mit der Entwicklung und Ausdifferenzierung
der natürlichen Arten zu sehen ist. Auch die Spuren eines
zeitbedingten Technikoptimismus sind bei Simondon nicht zu
10 Diesen „Sozio-Psychologen“ der Maschine vergleicht Simondon in einem
einprägsamen Bild mit einem Orchesterchef. Dieser könne seine Musiker auch
nur dann gut dirigieren, wenn er das aufgeführte Stück ebenso intensiv
interpretiere wie sie: „Er bremst sie oder treibt sie an, wird aber auch
durch sie gebremst oder angetrieben, tatsächlich treibt und bremst die
Gruppe der Musiker jeden einzelnen vermittels seiner, er ist für alle die
bewegende und tätige Form der jeweils bestehenden Gruppe“ (MEOT, S. 12).11 Wichtig für Simondon scheint in dieser Hinsicht die von ihm zitierte
Philosophie der Technik von Manfred Schröter (1934) gewesen zu sein, in der das
„naturmetaphysische“ Problem der Technik im Rahmen einer morphologischen
Betrachtung angegangen wird (siehe Schröter, 1934, S. 71ff.).
26
übersehen, insbesondere wenn er an eine hoch entwickelte
Technik die Hoffnung auf die Durchsetzung naturnaher
Produktionsweisen knüpft.12
Für den hier interessierenden Zusammenhang liegt die Pointe
der Simondonschen Technikphilosophie allerdings nicht so sehr
in ihrer an Teilhard de Chardin erinnernden Technophilie, als
vielmehr in der Kritik der Maschine, die sie impliziert. So
wird Simondon nicht müde zu beklagen, daß man an der Technik
nur deren Individualisierungen wahrnehme, also eine umfassende
technische Realität auf „Maschinen“ reduziere, ohne an die
technischen Elemente, die technischen Gesamtheiten und an ihre
natürliche Umgebung zu denken. In dieser Verdinglichung der
Technik erkennt er die Ursache für die Verteufelung und die
Verherrlichung der Technik. Die humanistische Entgegensetzung
ebenso wie die technokratische Ineinssetzung von Technik und
Kultur werde, so prognostiziert er, so lange dauern, bis
eingesehen werde, „daß keine Maschine eine absolute Einheit
12 Daß die Vorstellung einer globalen technischen Vernetzung auch nach den
1950er Jahren noch über utopische Potentiale verfügt, braucht hier weder
mit Verweis auf McLuhans These von der orientalization westlicher
Zivilisationen durch das Fernsehen, noch durch Bezug auf den Kult um das
„Internet“ betont zu werden. Es muß aber auch nicht eigens hervorgehoben
werden, wie stark die technischen Großunfälle der 1970er und 1980er Jahre
mit diesen Utopien kontrastieren (siehe dazu Anders, 1988; Winner, 1986).
27
ist, sondern nur eine individualisierte technische Realität,
die in zwei Richtungen offen ist: derjenigen der Beziehung zu
den Elementen, und derjenigen der interindividuellen
Beziehungen in der technischen Gesamtheit“ (MEOT, S. 146). Es
ist diese Abkehr von der Maschine als Entität, die es Simondon
ermöglicht, das technische Objekt als Instanz aufzufassen,
welche die Felder, in die sie sich einfügt, auf scheinbar
widersprüchliche Weise auch hervorbringt.
Zur Aktualität von Simondon
Aus heutiger Sicht werden technische Objekte mit Simondon
generell als offene Maschinen adressierbar: Sie sind in
Verbindung mit den materiellen Bestandteilen und mit den
Umgebungen zu sehen, die den Aufbau, den Betrieb und die
Versorgung des Objekts gewährleisten. Darüberhinaus erscheinen
die technischen Objekte als eingebettet in Praktiken der
Regulierung und Koordinierung, die vom Menschen geleistet
werden. Und schließlich implizieren diese Verbindungen eine
bestimmte Weise des In-der-Welt-Seins (siehe MEOT, S. 247ff.).
Damit wird die Aktualität von Simondon für die neuere
Wissenschafts- und Technikforschung deutlich: Durch die
Betonung der umfassenden Realität, in die Mensch und Technik
28
eingebettet sind, schließt Simondon an die radikalen
Kontextualisierungen technischer Objekte an, wie sie aus den
Arbeiten von Latour (1996), Shapin und Schaffer (1985) oder
Pickering (1995) bekannt sind.
Im Anschluß an diese Arbeiten hat auch Isabelle Stengers
(1997) gezeigt, daß die Einführung neuer Techniken
Welterzeugungen in Gang setzt, die sich auf die „ganze
Landschaft“ beziehen, in der Menschen und Dinge angesiedelt
sind. Um technische Objekte wie die schiefe Ebene, das Pendel
oder die Waage entfalten sich experimentelle Dispositive, die
eine „mobilisierende Inszenierung“ von Dingen bewirken und im
selben Moment Verfahren zur Qualifizierung derjenigen Personen
hervorbringen, die sich im Namen dieser Dinge äußern können.
Mit Varela spricht Stengers im Blick auf technische Objekte
daher von „Enaktion“, d. h. vom unreduzierbar gleichzeitigen
Auftauchen einer materiell bestimmten technischen oder
wissenschaftlichen Handlungsweise und der Konstituierung einer
sinnhaften Welt (siehe Stengers, 1997, S. 137f.). Nichts
anderes meint auch Latour, wenn er nach Shapin und Schaffer
darauf hinweist, daß es im England des 17. Jahrhundert die
Vakuumpumpe war, die unzählige menschliche und nicht-
menschliche Akteure – vom König bis zum Gewicht der Luft –
29
assoziierte, kombinierte und neu gruppierte: „Um die Arbeit
der Pumpe herum bilden sich ein neuer Boyle, eine neue Natur,
eine neue Theologie der Wunder, eine neue
Wissenschaftlergemeinschaft und eine neue Gesellschaft, zu der
nun auch Vakuum, Wissenschaftler und Labor gehören“ (Latour,
1995, S. 110).
Trotz solcher Berührungspunkte zwischen den neueren science
and technology studies und der Technikphilosophie von Simondon
bleibt eine Differenz: Wo Latour nämlich den Akzent auf die
Relationen zwischen den menschlichen und nicht-menschlichen
Akteure legt, hält Simondon an der eigentümlichen Dichte, der
Materialität technischer Objekte fest. Die Differenz wird
besonders deutlich, wenn Latour genauer beschreibt, wie
experimentelle Techniken heterogene Kollektive ausbilden.
Hinter der Erfindung eines Verfahrens wie der Pasteurisierung
steht ihm zufolge eine komplexe Gesamtheit lokal bestimmter
Entitäten, die nur durch ihre Beziehungen definiert sind und
daher in Form einer Liste aufgeführt werden können, welche
unter anderem Folgendes enthält: „Pasteur, die
naturwissenschaftliche Fakultät in Lille, Liebig, die
Käsereien, die Laborausrüstungen, die Bierhefe, den Zucker und
schließlich das Ferment“ (Latour, 1996, S. 106). Die
30
Laborausrüstungen selbst, die ihnen eigene Materialität, sowie
die räumlichen Gegebenheiten, innerhalb derer sie
funktionieren, tendieren in diesem "Beziehungsszenario"
allerdings dazu, zu verschwinden. Die innere Konstitution der
technischen Objekte und deren äußere, lokale Kondition laufen
Gefahr, aus dem Blick zu geraten.
Demgegenüber kann mit Simondon herausgestellt werden, daß
es nicht nur „unsichtbare Verbindungen“ sind, die über das
technische Objekt als ein Zwischenglied (unter vielen anderen)
hergestellt werden (siehe Bud & Cozzens, 1992). Das technische
Objekt selbst ist vielmehr Träger materieller, d.h. sichtbarer
und greifbarer Verbindungen. In aufschlußreicher Weise werden
diese handfesten Konnektionen allerdings erst zugänglich, wenn
die technischen Individuen auf ihre Elemente geöffnet und die
Herkunft dieser Elemente bis an die Produktionsstätten
zurückverfolgt werden. Die Qualität einer Toledo-Klinge, so
ein von Simondon angeführtes Beispiel, zeigt das Funktionieren
einer technischen Gesamtheit an, in die neben den technischen
Objekten auch die lokalen Merkmale von Kohle, Holz und Wasser
eingehen (siehe MEOT, S. 37). In diesem Sinne kann gezeigt
werden, daß Watts Perfektionierung der Dampfmaschine in einer
Industrielandschaft stattfand, in der die beanspruchten
31
Rohstoffe und Verkehrsmittel auf sehr spezifische Weise
miteinander verknüpft waren (siehe Brook, 1976). Ebenso haben
sich wissenschaftlich-technische Unternehmungen, wie zum
Beispiel der Betrieb eines physiologischen Labors in einer
Großstadt des 19. Jahrhunderts, nicht nur unter Einbeziehung
von lokal verfügbaren Forschern, Instrumenten und
Versuchsobjekten realisiert, sondern stehen auch im
Zusammenhang mit den jeweiligen örtlichen Gegebenheiten der
Strom-, Gas-, und Wasserversorgung (siehe Dierig, 2000).13
Durch die Ausrichtung auf die materielle Geographie
technischer Objekte öffnet sich Simondons Technikphilosophie
auf eine umfassende Archäologie der Industrie, in der der
Beschaffenheit spezifischer Produktionslandschaften
entscheidende Bedeutung zukommt (siehe dazu allg. Sande, 1978;
Paistrick, 1973). Daß eine so verstandene Archäologie auch für
die historische Wissenschaftsforschung eine vielversprechende
Orientierung ist, wird durch die neueren Arbeiten von
13 In Zeiten globalisierter Produktion, scheinen die technischen Objekte zu
„Flickenteppichen“ geworden zu sein, denn ihre Bestandteile werden aus
aller Welt zusammengetragen und an verschiedenen Orten zusammengefügt
(siehe dazu z. B. Miyoshi, 1993). Dies mag zwar die Aufgabe erschweren,
diese Objekte unter Verfolgung der Herkunft ihrer Bestandteile zu
untersuchen, aber es ändert grundsätzlich nichts an folgendem Sachverhalt:
Die Objekte sind Träger von Spuren, die ihre Re-Kontextualisierung
erlauben.
32
Rheinberger (1997; 2001) und Sibum (1998) eindrucksvoll
vorgeführt.
Schluß
Trotz aller disziplinärer wie thematischer Abstände treffen
sich Jacques Lacan und Bruno Latour darin, das Beispiel der
Tür als Ansatzpunkt für ihre Überlegungen zur Technik gewählt
zu haben. Mit Blick auf die zwei Theorien technischer Objekte,
die damit ins Spiel kommen und zu denen Simondon hier in
Beziehung gesetzt wurde, kann nun gesagt werden: Die Tür
verbindet die analytisch-kombinatorische und die empirisch-
deskriptive Auffassung der Maschine. Der Psychoanalytiker und
der Soziologe stehen sozusagen vor der selben Schwelle, an die
sie von unterschiedlichen Seiten herangetreten sind. Von der
einen Seite wird die „Tür-Maschine“ als Inkarnation von
Information gesehen; von der anderen erscheint sie als
technisches Wesen, das sich eigensinnig zu anderen Wesen
verhält. Einerseits wird die Tür-Maschine auf ein System
technologischer Elemente bezogen, andererseits auf die
sozialen Praktiken, in die sie integriert ist.
Nach dem Worte eines Pioniers der material culture studies steht
die Tür für den „Sprung von der Wand zum Raum“ (Sigfried
33
Giedion). Simondons Technikphilosophie ermutigt dazu, den
damit angezeigten Übergang vom Flächigen zum Räumlichen, vom
Formalen zum Tektonischen, auch in der Theorie zu vollziehen.
Als Maschinen sind Türen dann im Zusammenhang mit den Räumen
zu sehen, in die sie eingesetzt sind. Die Auseinandersetzung
mit der Technik ist also auf die technischen Objekte und die
ihnen zugrundeliegenden Funktionsschemata zu fokussieren und
zugleich auf die Materialität der in den Objekten enthaltenen
Elemente sowie auf die Konstitution der größeren Gesamtheiten
(Gebäude, Gelände, Landschaften), in die sie eingebettet sind.
Eine solche Fokussierung erlaubt es, technische Objekte im
Kontext ihrer jeweiligen materiellen Kultur zu erfassen.
Schließlich wird so ein Perspektivenwechsel nahegelegt,
nach dessen Vollzug es den Soziologen und Historikern nicht
mehr nur um Technik gehen würde, sondern um die materielle
Kultur insgesamt und die in ihr enthaltenen Funktionsschemata.
Dieser Wechsel hieße nicht nur, neben Werkzeugen, Apparaten
und Versuchsanordnungen auch Mauern, Häuser und Verkehrswege
als für die Sozialwissenschaften interessante Gegenstände zu
begreifen, sondern sich allgemein für die Organisation von
Energie und Materie durch Bauten, Maschinen und andere Dinge
zu interessieren. Als Fluchtpunkt der Simondonschen
34
Techniktheorie erweist sich somit die „wunderbare Idee eines
anorganischen Lebens“ (Deleuze & Guattari, 1992, S. 568).
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