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Zum Spannungsverhältnis von Determinismus und Bildungsideal in Balzacs Illusions perdues Von DIEMO LANDGRAF (Acadia University, Wolfville) Einleitung In seiner komparatistischen Studie Il Romanzo di Formazione verweist Moretti (1986) auf die mit Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre erfolgte Geburt eines neuen Romantypus, der ihm zufolge die europäische Narrativik des 19. Jahr- hunderts beherrsche: “È nato il Bildungsroman: la forma che domina – o, più esattamente, rende possibile – il secolo d’oro della narrativa occidentale”. 1 Zwar differenziert er im Folgenden zwischen dem eigentlichen Bildungsroman und dem “romanzo di formazione” (Unterscheidungskriterium sei die dem Bildungsroman inhärente “retorica teleologica” im Gegensatz zur prinzipiellen Offenheit des Ausgangs der “romanzi di formazione”) 2 doch ist er der Ansicht, dass es sich um letztlich eine Gattung handele, beispielhaft vertreten von einem Roman: “Wilhelm Meister. E dopo di lui, Elizabeth Bennett et Julien Sorel, Rastignac e Frédéric Moreau e Bel-Ami, Waverley e David Copperfield […]”. 3 Als größte Gemeinsamkeit dieser zugegebenermaßen heterogenen Texte stellt er die Semantisierung des Lebensabschnitts der Jugend heraus, die er als kenn- zeichnend für die Epoche der Moderne betrachtet, was im Rahmen der Studie aus soziologischer Perspektive überzeugend entwickelt wird. 4 Während Morettis These für die deutschsprachige Narrativik hinsichtlich eines Zeit- raums, der sich etwa von der Veröffentlichung von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre bis zum 1. Weltkrieg erstreckt, nahezu ungeteilte Zustimmung er- warten kann, dürfte sie im Hinblick auf Frankreich vor allem seitens der deut- schen Romanistik wahrscheinlich mit Widerspruch rechnen. Als radikale Gegenposition lässt sich Warning (1998) anführen, der pauschal gar vom Ausfall des Bildungsromans in Frankreich spricht. 5 Neben dem auch 1 A.a.O. 9. Hervorhebungen immer im zitierten Text. 2 A.a.O. 16. 3 A.a.O. 10. Moretti nennt zwar hier Rastignac, den Protagonisten des Romans Le père Goriot, in seiner Untersuchung bezieht er sich aber vor allem auf Illusions perdues und seinen Protagonisten Lucien. 4 Vgl. a.a.O. 11ff. 5 Jüngste Veröffentlichungen legen die Vermutung nahe, dass in Frankreich selbst kein derart ausgebildetes Problembewusstsein besteht. So werden in den von Chardin (2007) herausgegebenen komparatistischen Arbeiten zum Themenfeld die Begriffe Bil- dungsroman, roman de formation, roman d’apprentissage und roman d’éducation (vgl.

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Zum Spannungsverhältnis von Determinismus und Bildungsideal in Balzacs Illusions perdues

Von DIEMO LANDGRAF (Acadia University, Wolfville)

Einleitung

In seiner komparatistischen Studie Il Romanzo di Formazione verweist Moretti(1986) auf die mit Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre erfolgte Geburt einesneuen Romantypus, der ihm zufolge die europäische Narrativik des 19. Jahr -hun derts beherrsche: “È nato il Bildungsroman: la forma che domina – o, piùesattamente, rende possibile – il secolo d’oro della narrativa occidentale”.1

Zwar differenziert er im Folgenden zwischen dem eigentlichen Bildungsromanund dem “romanzo di formazione” (Unterscheidungskriterium sei die demBildungsroman inhärente “retorica teleologica” im Gegensatz zur prinzipiellenOffenheit des Ausgangs der “romanzi di formazione”)2 doch ist er der Ansicht,dass es sich um letztlich eine Gattung handele, beispielhaft vertreten von einemRoman: “Wilhelm Meister. E dopo di lui, Elizabeth Bennett et Julien Sorel,Rastignac e Frédéric Moreau e Bel-Ami, Waverley e David Copperfield […]”.3

Als größte Gemeinsamkeit dieser zugegebenermaßen heterogenen Texte stellter die Semantisierung des Lebensabschnitts der Jugend heraus, die er als kenn-zeichnend für die Epoche der Moderne betrachtet, was im Rahmen der Studieaus soziologischer Perspektive überzeugend entwickelt wird.4 WährendMoret tis These für die deutschsprachige Narrativik hinsichtlich eines Zeit -raums, der sich etwa von der Veröffentlichung von Goethes Wilhelm MeistersLehrjahre bis zum 1. Weltkrieg erstreckt, nahezu ungeteilte Zustimmung er -war ten kann, dürfte sie im Hinblick auf Frankreich vor allem seitens der deut-schen Romanistik wahrscheinlich mit Widerspruch rechnen.

Als radikale Gegenposition lässt sich Warning (1998) anführen, der pauschalgar vom Ausfall des Bildungsromans in Frankreich spricht.5 Neben dem auch

1 A.a.O. 9. Hervorhebungen immer im zitierten Text.2 A.a.O. 16.3 A.a.O. 10. Moretti nennt zwar hier Rastignac, den Protagonisten des Romans Le

père Goriot, in seiner Untersuchung bezieht er sich aber vor allem auf Illusions perduesund seinen Protagonisten Lucien.

4 Vgl. a.a.O. 11ff.5 Jüngste Veröffentlichungen legen die Vermutung nahe, dass in Frankreich selbst

kein derart ausgebildetes Problembewusstsein besteht. So werden in den von Chardin(2007) herausgegebenen komparatistischen Arbeiten zum Themenfeld die Begriffe Bil -dungs roman, roman de formation, roman d’apprentissage und roman d’éducation (vgl.

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von Moretti verwendeten Unterscheidungskriterium der Teleologie führt er einArgument an, das von diesem gar nicht berücksichtigt wird, nämlich ein Idealder Bildung, das ihm zufolge in Frankreich gar nicht bekannt sei. Als dem deut-schen Bildungsideal entgegengesetzt betrachtet er die Tradition der französi-schen Moralistik, die das “nüchtern-skeptische Bild menschlicher mores radi-kalisiert [habe] zu einer ausgesprochen pessimistischen Anthropologie.”6 Dasentsprechende Menschenbild komme im Begriff des amour propre zum Aus -druck, der unabänderlichen Selbstsucht, die als Kern der menschlichen Naturden Glauben an ein Erziehungs- oder Bildungsideal, das auf eine positive Ent -faltung des inneren Menschen abzielt, hinfällig werden lasse.7

Vor diesem Hintergrund ist die hier vertretene These situiert, dass eineReihe von Romanen der französischen Literatur, auch wenn die BezeichnungBil dungsroman nicht ganz zutreffend erscheint, durchaus wichtige Gemein -sam keiten mit den deutschen Romanen dieser Gattung haben. Es handelt sichbei all diesen Texten insofern um eine länderübergreifende Angelegenheit, alssie sich modellhaft mit den Konsequenzen der sozialen Umwälzungen ausein-andersetzen, von denen vor allem die Staaten Mittel- und Westeuropas, wennauch in unterschiedlichem Maße, ab der als Annäherungswert zu verstehendenEpochenschwelle um 1800 betroffen waren.8 Zweifelsohne entfalteten dieIndustrienationen England, Deutschland und Frankreich diesbezüglich zeit-versetzt die größte Dynamik. Dabei sind in den beiden Kulturräumen, die unshier vorrangig interessieren, unterschiedliche Schwerpunkte zu konstatieren:Während in Deutschland im Rahmen des sogenannten Idealismus eine Selbst -verwirklichung das Ziel ist, die durch das Streben nach dem Guten, Wahrenund Schönen erreicht werden soll und damit gleichzeitig Individuum undGesell schaft versöhnt, steht in Frankreich das Thema der sozialen Mobilität ausder Perspektive einer kritischen Sittenbetrachtung im Vordergrund.9 Selbstver -ständlich gilt dies nur annäherungsweise: Beide Positionen stehen in der Regelmiteinander in Beziehung, und jeweils handelt es sich um neue Perspektivenfür das Individuum, die mit dem gesellschaftlichen Wandel einhergehen. Einege nauere Hinwendung zu exponierten Beispielen der deutschen und französi-

vor allem Mortier: 264) nahezu synonym verwendet. Dies verwundert vor allem bezüg-lich des letzten Terminus, sind doch im Erziehungsroman gerade eine oder mehrereErzieherfiguren von zentraler Bedeutung, während dies im Bildungsroman nicht der Fallist. Vgl. dazu auch die Ausführungen im Folgenden.

6 Warning (1998): 121.7 A.a.O. 122.8 Zum Begriff der Epochenschwelle und ihrer grundlegenden Bedeutung für das Ver -

hältnis von Individuum, Gesellschaft und Literatur vgl. u.a.: Klinkert (2002, insbesonde-re 18–31) Fohrmann (1998), Herzog/Koselleck (1987) Gumbrecht/Link-Heer (1985).

9 Deutlich schlagen die Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich z.B.bezüglich des Kapitalismus zugrunde, der vor allem in Balzacs Comédie Humaine einesder Hauptthemen darstellt.

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schen Literatur zeigt außerdem, dass Begriffe wie Idealismus und Pessimismuszwar für tendenzielle Unterschiede zwischen den beiden Kulturräumen kenn-zeichnend sind, jedoch nicht als absolute Werte verstanden werden dürfen.10

Dies entspricht der Perspektive Morettis, der jedoch den Faktoren Wissen undBildung, die ja in der Gattungsbezeichnung plakativ zum Aus druck kommen,keine Beachtung schenkt. Es gilt also, Gemeinsamkeiten und Unterschiedezwischen Frankreich und Deutschland im Hinblick auf die Bedeutung dieserbeiden Faktoren, die narrative Darstellung ihrer Aneignung und das jeweiligeMenschenbild zu überprüfen. Es soll dabei nicht versucht werden, den franzö-sischen Texten den deutschen Bildungsbegriff überzustülpen oder zu beweisen,dass sie ihm doch irgendwie entsprechen. Dies ist bei der nicht völlig zu ver-meidenden Verwendung des Wortes “Bildung” im Hinblick auf den franzö -sischen Kulturraum zu berücksichtigen. Als Fixpunkt der konkreten Unter -suchung wird Balzacs Roman Illusions perdues dienen, der als exemplarischgel ten kann, sowohl hinsichtlich der oben beschriebenen europaweit relevan-ten Dynamik als auch der Besonderheiten des französischen Kul tur raums. ImHintergrund mag man an eine Reihe weiterer Romane denken, die alle einemähnlichen Handlungsschema folgen, ihm jedoch autorenspe zifisch und im Rah -men der kulturgeschichtlichen Entwicklung jeweils eine beson dere Ausprä -gung geben.11

Zum Begriff des Bildungsromans

Um Unterschiede und Gemeinsamkeiten jenseits des nationalspezifischen Gat -tungsbegriffs abgrenzen zu können, ist es sinnvoll, sich zunächst mit der Ge -schichte des Begriffs Bildungsroman auseinanderzusetzen. Die erste Schwie -rigkeit liegt gleich darin, dass es bekanntlich in den romanischen Sprachenkeine Entsprechungen gibt, die dem vieldeutigen Wort “Bildung” in allen sei-nen Facetten gerecht werden. Die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs12

wurde im Verlauf der Kulturgeschichte in Deutschland auf ganz bestimmteWeise zunächst durch religiöse (Imago Dei), dann säkular-pietistische (imSinne von Erziehung), humanistische (“klassische Bildung”) und zuletzt kul-

10 Vgl. Chardin (2007: 8) mit seinem Schlagwort vom “optimisme goethéen”, der in einem vermeintlichen Kontrast zum illusionslosen Pessimismus eines Balzac oderFlaubert stehe.

11 Das Schema: Ein junger Mann aus der Provinz kommt vom Wunsch nach finan-ziellem und gesellschaftlichem, teils auch künstlerischem Erfolg getrieben nach Paris, woseine meist naiven Vorstellungen vom Leben mit der Wirklichkeit konfrontiert werden.In der Regel ist damit eine mehr oder weniger explizite Gesellschaftskritik verbunden.Nur einige Namen berücksichtigend, lässt sich eine Vielzahl an Werken nennen: Stend -hals Le Rouge et le Noir, Balzacs La Peau de Chagrin, Louis Lambert, Le père Goriot,Illusions perdues etc., Flauberts Éducation Sentimentale, Maupassants Bel-Ami.

12 Zur Etymologie des Bildungsbegriffs siehe Selbmann (1984: 1): “»Bildung«: (ahd.bildunga, mhd. bildunge) meint ursprünglich sowohl »Bild«, »Abbild«, »Ebenbild« und»Nachbildung« (imitatio) als auch »Gestalt« (forma) und »Gestaltung« (formatio).”

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turkritische Positionen (Nietzsches “Bildungsphilister”)13 überformt. (Natür -lich entwickelt sich der Bildungsbegriff auch in der Gegenwart weiter, was hierjedoch nicht berücksichtigt werden kann).14 Zweifelsohne lassen sich die mei-sten der sogenannten deutschen Bildungsromane zu einem bestimmten Ab -schnitt dieser nationalen Begriffsgeschichte in Beziehung setzen, während esfranzösischen Autoren schwerlich nachzuweisen ist, dass sie sich in dieselbeeinreihen würden. Aber lässt sich daraus schließen, dass das Phänomen desBildungsromans für Frankreich nicht relevant ist, nur weil es dort nicht einenvergleichbaren Bildungsbegriff gibt? Diesbezüglich lässt sich mit MichelFoucaults Überlegungen zur Bestimmung diskursiver Felder argumentieren,denn der von der deutschen Philologie geprägte Begriff des Bildungsromans istvorrangig ein Konstrukt, das sich im Rahmen der “régularités discursives”“tradition”, “influence”, “évolution” und “mentalité” konstituiert.15 Die natio-nal geprägten Regularitäten, die sich im gegebenen Fall bereits in der Wahl desBegriffes zeigen, lassen leicht übersehen, dass es sich beim Korpus der deut-schen Bildungsromane gleicherweise wie bei den erwähnten französischenRoma nen um ein Feld von “Streuungen” bestimmter Phänomene wie demKon flikt zwischen Individuation und Sozialisierung, einer kulturgeschichtlichbedingten Semantisierung der biologischen Kategorie Jugend und der Darstel -lung eines Adaptionsprozesses an bestimmte gesellschaftliche Entwicklungenhandelt.16

Ungeachtet national geprägter Mentalität und Begriffsgeschichte lassen sichim deutschen und französischen literarischen Genre durchaus gemeinsameStruk turen finden, die prinzipiell ähnlichen soziokulturellen Voraussetzungengeschuldet sind.

13 “[…] als ob es nicht von vornherein verurteilt wäre, “klassisch” und “deutsch” inEinem [sic] Begriff zu einigen. Mehr noch, es wirkt erheiternd, – man denke sich einmaleinen “klassisch gebildeten” Leipziger (Nietzsche 1990: 315)!” An selber Stelle findensich Äußerungen zum Zusammenhang von deutschem Idealismus und Bildungsge dan -ken.

14 Für eine detaillierte Darstellung aller Epochen vgl. Bollenbeck (1994).15 Zu den regularités discursives siehe Foucault (1969): 31ff.16 Die Ansicht, in einem Bildungsroman müsse eine bestimmte Form der Bildung wie

z.B. die “humanistische” explizit thematisiert werden, ist naiv. Mit “Bildung” wird jaauch das allgemeine Reifen der Persönlichkeit durch zunehmende Lebenserfahrung undSelbstbemeisterung angesprochen. So ist zwar Wilhelm Meister mit dem deutschen Idea -lis mus in Verbindung zu bringen, es geht aber durchaus nicht um die Auseinander -setzung mit dem klassischen bzw. humanistischen Bildungsideal, sondern um allgemeineLebensweisheit und Weltklugheit, natürlich immer in engem Bezug zur Kunst (so vorallem dem Theater), wodurch ästhetische Fragen von primärer Relevanz sind. Auch derVersuch, sich dem Genre über einen Katalog obligater thematischer Komponenten zunähern – Buckley (1974) nennt z.B. frustrierende Schulerfahrungen – ist fragwürdig.Immer werden Gegenbeispiele sich finden lassen. So ist z.B. bei Hermann HessesUnterm Rad wohl eine Schulmisere anzutreffen, nicht aber beim “Archetypus” des Gen -res, Goethes Wilhelm Meister.

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Bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist in der Gattung desRomans eine tendenzielle Verschiebung der Perspektive von außen nach innenzu konstatieren. Exemplarisch für die bewusste Erfassung dieser Entwicklungist Blanckenburgs Versuch über den Roman (1774), in dem er bemerkt, dass die“innre Geschichte” eines Helden, nicht die Darstellung äußerer Handlungs -abläufe […] “das Wesentliche und Eigenthümliche eines Romans” sei.17 In die-sem Sinne betont er auch, dass der Roman idealerweise die Entwicklung derFiguren der Handlung darstellt, während das Drama “nichts, als schon fertigeund gebildete Charaktere” zeigen kann.18 Hier ist natürlich nicht nur an Textedeutscher Autoren zu denken, sondern es drängen sich Beispiele französischerAutoren auf, von denen als bekanntestes vielleicht Rousseaus Erziehungs -roman Émile (1762) zu nennen wäre. Von Blanckenburgs Versuch aus ist esnicht weit bis zur Begriffsschöpfung durch Karl Morgenstern (1819). Er gehtdavon aus, dass der Autor seine eigene Bildungsgeschichte über die Darstellungim Roman an den Leser vermittelt:

Bildungsroman wird er heißen dürfen, erstens und vorzüglich wegen seinesStoffes, weil er des Helden Bildung in ihrem Anfang und Fortgang bis zu einergewissen Stufe der Vollendung darstellt; zweytens aber auch, weil er gerade durchdiese Darstellung des Lesers Bildung, in weiterem Umfange als jede andere Art desRomans fördert.19

Die Quintessenz dieser Definition besagt also, dass es in Romanen, die man derGattung Bildungsroman zurechnen kann, eine triadische Beziehung zwischenden Instanzen Autor bzw. Erzähler, Protagonist und Leser gibt. Wenn wir imSinne der obenstehenden Überlegungen von der kulturspezifischen Bedeutungdes Wortes “Bildung” abstrahieren, so geht es grundsätzlich um die Vermitt -lung von Wissen, das für die drei Instanzen einen jeweils eigenen Stellenwerthat. Der Erzähler verfügt bereits über einen gegebenen Wissensstand, der sohoch ist, dass er die Belehrung anderer ermöglicht. Exemplarisch geschieht diesam Beispiel eines Protagonisten, dessen Wissens- und Erkenntnisstand zumBeginn der Handlung defizitär ist, im weiteren Verlauf jedoch eine gewisseEntwicklung aufzeigt, was aber nicht bedeuten muss, dass er hierin die Per fek -tion erreicht. Wichtiger ist, dass das Ideal bzw. die Faktoren, die dessen Ver -wirk lichung verhindern (so bei den sogenannten Pessimisten, allen voranFlaubert) aufgezeigt wird.20 Der Leser seinerseits ist eingeladen, diese Ent wick -

17 Zitiert nach Selbmann (1984): 9.18 A.a.O. 10.19 A.a.O. 12.20 Vgl. hier Friedrich (1980: 106), der im Hinblick auf Frédéric Moreau, den Protago -

nisten der Éducation Sentimentale vom “Fatum der Banalität” spricht, das “jeden Auf -schwung von vornherein entwertet hat”. Auf den lähmenden Nihilismus folgt gegenEnde des Jahrhunderts der Versuch einer geistigen Befreiung, die sich unter anderem inGides Roman L’Immoraliste (1902) manifestiert.

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lung zu verfolgen und womöglich vom dargestellten Lernprozess oder aberdessen Scheitern zu profitieren.

Der literaturgeschichtliche Stellenwert dieser Definition ist offenkundig:Bildung bzw. die Aneignung von Wissen und Erfahrung sind ins Zentrum derAufmerksamkeit einer dominant auftretenden Spielart des Erzählens getreten.Diese Aspekte menschlicher Lebenserfahrung, die sicherlich auch vorherbereits einen gewissen Stellenwert hatten, sind nun so ins Bewusstsein gerückt,dass das Bedürfnis besteht, sie in ihrer Prozesshaftigkeit und Dynamik modell-haft nachzuvollziehen. Man kann getrost konstatieren, dass dies ab besagterEpochenschwelle nicht nur in Deutschland der Fall ist.

Kulturgeschichtliche Voraussetzungen – Der Wandel des Wissensbegriffs

Zweifelsohne hat Warning recht, wenn er auf die spezifischen kulturgeschicht-lichen Voraussetzungen in Frankreich verweist, die der Bildung des Indivi -duums dort eine zum deutschen Kulturraum prinzipiell unterschiedlicheBedeutung verleihen. Im Gegensatz zur “pessimistischen Anthropologie” derMoralistik der französischen Klassik, die von der unabänderlichen Ich-Suchtdes Individuums ausgeht, dessen Kern trotz aller (oberflächlicher) éducationimmer der amour-propre bleibt,21 stünde dementsprechend der deutsche Idea -lis mus, der die Veredelung eines gegebenen inneren Potentials anstrebt und derauf höchster Ebene in Hegels Auffassung der Weltgeschichte als “Fortschrittim Bewusstsein der Freiheit” gipfeln würde.22 Dabei werden allerdings andere,auf europäischem Terrain gültige, jedoch in Frankreich besonders deutlich sichabzeichnende Prämissen übersehen, die in eine der Moralistik nachfolgendeEpoche fallen, nämlich die der Aufklärung. Sie betreffen das Verhältnis vonIndi viduum und Wissen.

Nicht ohne Grund werden die Epoche der Aufklärung und die an sieanschließende Französische Revolution als Ausgangspunkt der Moderne (inAb gren zung zur mit der Renaissance beginnenden Neuzeit) betrachtet. Vordiesem Einschnitt sind Wissen und Bildung vor allem ein Attribut, ein Standes -merkmal, dessen Besitz durch die Beherrschung eines standardisierten Reper -toires bestimmter Formen und Inhalte symbolisiert wird. In der Narrativik derfranzösischen Literatur des 17. Jahrhunderts (die überdies hinter dem Dramazurücksteht und vergleichsweise wenig gepflegt wurde) wird dieser Bereichpraktisch nicht thematisiert. Denkt man beispielweise an Mme de Lafayettes(1634–1693) Roman La princesse de Clèves (1678), dessen Handlung die Initia -tion einer jungen Frau in die höfische Gesellschaft und die Liebe zum Thema

21 Vgl. Warning (1998): 121f.22 Vergessen sollte man dabei nicht, dass dieser Philosophie in Deutschland keines-

falls ungeteilte Zustimmung beschieden war. So kommentierte z.B. Jakob Burckhardttrocken-sarkastisch nur: So? (vgl. Klappentext von Burckhardt 2007). Auch die kritischeEinstellung Nietzsches ist bekannt.

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hat, so sind die Bereiche Wissen und Persönlichkeitsentwicklung auf die prag-matische Auseinandersetzung mit der unüberwindlich gegebenen Moral dessozialen Standes und den Erwartungen an Geschlechterrollen beschränkt. Einbesonders interessantes Beispiel aus dem weiteren Bereich der Weltliteraturbietet uns Cervantes (1547–1616) mit seinem Roman Don Quijote (1605/1615),zum einen, da er von vielen als der “erste moderne Roman” angesehen wird,23

und zum anderen, weil dort Bedeutung und Funktion von kanonisiertem Wis -sen durch ihre subversive Verarbeitung besonders offensichtlich werden.

Bereits der Prolog zeigt, dass Cervantes der eklektizistischen Ästhetik seinerZeit ausgesprochen kritisch gegenübersteht, dass aber auch er sich ihr mitnich-ten entziehen kann. So beklagt er, dass dem Buch solch notwendige Beigabenwie gelehrte Zitate und antike Rhetorik fehlten. Angesichts der Bescheidenheitseiner Bildung und Kunstfertigkeit solle die angekündigte Geschichte gar “sinel ornato de prólogo, ni de la innumerabilidad y catálogo de los acostumbradossonetos, epigramas y elogios” folgen.24 Eine Persiflage dieser Sonette, Epi -gramme und Lobreden, die eine genaue Kenntnis der Gepflogenheiten verra-ten, folgt jedoch gleich darauf in der bereits begonnenen Vorrede. Damit trägtCervantes, wenn auch in Form einer Parodie, pflichtgemäß zur Perpetuierungdes entsprechenden Kanons bei. Er bedient sich dabei eines Repertoires gege-bener Elemente, die man zwar verfremden und neu kombinieren kann, derenSubstanz davon aber nahezu unberührt bleibt. Ähnliches gilt für die Kapitel 37und 38 des ersten Teils, in denen mit dem Thema Armas y Letras ein in derEpoche geläufiger Diskurs über Stellenwert und Beziehung von Kriegskunstund Gelehrsamkeit parodistisch aufgegriffen wird. Bezeichnend ist diesbezüg-lich der von Don Quijote angegebene Zweck der Gelehrsamkeit: “[…] hablo delas letras humanas, que es su fin poner en su punto la justicia distributiva […],entender y hacer que las buenas leyes se guarden.”25 Indem als Prototyp dieserGesetze die Lehren Jesu (“el mejor maestro de la tierra y del cielo”)26 genanntwerden, manifestiert sich umso deutlicher, dass wahres Wissen von dieserPerspektive aus gesehen ein unveränderliches und somit auch nicht fort -zuschreibendes ist. Von Seiten des Erzählers ist diesbezüglich keine Wertungzu verzeichnen. Weder in Bezug auf den Inhalt noch auf die Darstellungsweisekönnen wir die Einstellung des Autors zu diesem theologisch sanktioniertenWis sen ableiten, jedoch steht fest, dass Cervantes dem Wissensbegriff seinerZeit und ihren (von der Inquisition geschützten) moralischen Normen derartRech nung tragen musste, dass ein Abweichen von ihnen nicht denkbar war.27

23 Vgl. Robert (1972): 11ff.24 Cervantes (2003): 10. 25 A.a.O. 320.26 Ebenda.27 Lukács (1971: 90) bezeichnet Cervantes als “gläubigen Christen” und “naiv-loya-

len” Patrioten. Wie Robert (1972: 213ff) resümiert, legen spätere Forschungen das Ge -

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Im Rahmen eines solchen Gesellschaftssystems, wie es für das Spanien desSiglo de oro und auch für Frankreich vor der Aufklärung gültig war, konnte derüberlieferte Wissenskanon erworben und zum Besitz werden, was auch sehrschön durch Begriffe wie tener letras bzw. avoir de la littérature zum Ausdruckgebracht wird. Sein Erwerb war bedingt durch den sozialen Stand und wurdedurch Geburt und Entscheidung der Eltern gegeben, z. B. in dem es einemJüngling bestimmt war, Theologe oder Advokat zu werden. Dementsprechendlag es in der Regel nicht im Interesse der Literatur der Epoche, den prozess-haften Erwerb von Wissen und damit verbundende Reifungsprozesse beschrei-bend darzustellen.

Vor diesem literaturgeschichtlichen Hintergrund tritt die Revolution desWis sensbegriffs in der Epoche der Aufklärung umso deutlicher vor Augen.Während zuvor (entsprechend der stärkeren Typisierung von literarischenFiguren) Verhalten und mögliche Verläufe des Lebensweges sozial determinierterscheinen, erwacht im 18. Jahrhundert ein Bewusstsein für die Bedeutung vonWissensinhalten und Lebenserfahrungen für die Entwicklung der Persönlich -keit. Dies wird aber nicht nur als Chance und Glückserfahrung begriffen, son-dern gleichermaßen als Gefahr und Herausforderung. So ist es zu verstehen,dass der Erziehungsroman, der narrative Modelle für die Lösung des Problemsbietet, seit Fénelons (1651–1715) Télémaque (1696) zum Modegenre avancier-te. In vielen Erziehungsromanen des 18. Jahrhunderts besteht ein Spannungs -ver hältnis zwischen dem Ziel der Aufklärung hin zu geistiger Mündigkeit unddem (autoritären) Erziehungsgedanken, die Entwicklung des Menschen unterUmständen um den Preis einer permanenten Überwachung vor negativen Ein -flüssen zu schützen.28

Auch in Schlüsseltexten der Epoche, die nicht direkt dem Erziehungsromanzuzurechnen sind, kann ein Interessenkonflikt festgestellt werden zwischen derBefürwortung persönlicher Individualität und Entfaltung und dem Gedankeneiner Erziehung zum integrationsfähigen Mitglied der Gesellschaft. So bemerktThoma (1996), dass in Rousseaus Nouvelle Héloïse “die Utopie von Clarenseinen Preis hat, der auf Kosten der Individualität geht. […] Ziel ist die Nivel -lierung der Charaktere und damit auch die Auflösung von Intimität in Sozia -

gen teil nahe. Im oben angesprochenen Sinn bemerkt sie, dass Cervantes sich in seinemRoman bezüglich seiner Ansichten und Persönlichkeit “maskiert”. Eine damit in Ver -bindung gebrachte These ist die möglicherweise jüdische Herkunft des Autors des DonQuijote.

28 Dies ist die von Masseau (2007) vertretene These, die er durch eine Analyse desRomans Adèle et Théodore von Mme de Genlis untermauert. Vgl. dazu auch Thoma(1996), der Texte mit pädagogischer Komponente als einen der beiden Grundtypen “nor-mativen, gesellschafts-modellierenden Erzählens” erachtet: “In diesen Texten werden dieProtagonisten […] von einem Fehlverhalten abgebracht und zu einem ‘richtigen’ Ver hal -ten erzogen (a.a.O. 57f).”

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lität.”29 Das Ziel, die Entwicklung des Zöglings zu steuern, steht zwar der ten-denziell ausgeprägteren Bedeutung von Autonomie und Selbsterkenntnis derentsprechenden Romane des 19. Jahrhunderts entgegen, zeigt aber ein ähn -liches Interesse für die narrative Repräsentation von Reifungs- und Bildungs -pro zessen. Möglicherweise resultiert die im deutschen Bildungsroman tenden-ziell stärker akzentuierte Autonomie des Individuums aus der Bedeutung derselbstverantworteten geistigen Entwicklung für das soziale und ökonomischeFortkommen, wie sie erst mit dem Aufschwung der Bürgertums gegeben ist.Erklären lässt sich diese Entwicklung durch Luhmanns Modell der Ausdiffe -renzierung, nach dem um 1800 der bereits in der Renaissance beginnendeUmbau von der stratifizierten zur funktional ausdifferenzierten Gesellschaftweitgehend vollzogen ist. Zum einen verliert dadurch der Einzelne, der nichtmehr in einem der homogenen Lebensräume einer stratifizierten Gesellschaftaufgehoben ist, den Ort, “wo er als gesellschaftliches Wesen existieren kann”,30

und ist somit gezwungen, sich in einer neuartigen Privat- und Intimsphäreselbst zu definieren. Zum anderen ist seine Partizipation an einem oder mehre-ren der einzelnen Funktionssysteme wie Wirtschaft, Wissenschaft, Politik etc.grundlegend von seinem durch Bildung und Ausbildung erworbenen Wissenund Können abhängig.31

Unter den bedeutenden Autoren des 18. Jahrhunderts verkörpert dies wohlniemand besser als Denis Diderot, der mehr als andere namhafte Autoren per-sönlich davon betroffen war, verdankt er doch seinen Platz in der Geschichteund verdankt doch die Geschichte seine maßgebliche Leistung einer veritablenBildungsgeschichte. Während ein Voltaire – bei allem Engagement und Ernst –sich Philosophie und Schriftstellerei, abgesichert durch seinen Grundbesitz,mit Muße widmen konnte, war Diderot von der Aneignung von Wissen unddes sen kritischer Evaluation und Fortschreibung als einer der ersten Ange -stellten des Wissensbetriebes existenziell abhängig.32 Dynamik und Prozesshaf -tig keit des Wissens erfährt er somit primär in seiner eigenen Lebenswelt, wasauch in seinen philosophischen und literarischen Werken Niederschlag findet.Nicht von ungefähr sind diese stark durch die Dialogform geprägt, was denProzess des “Lernens” signifikant verdeutlicht. In der Erkenntnis, dass allesWissen nur relativ ist, wurzelt die Bereitschaft, sich stets eines Besseren beleh-

29 A.a.O. 64f.30 Luhmann (1989): 158.31 Vgl. hierzu Klinkert (2002), der die Thesen Luhmanns und Foucaults (1966) zu -

sammenführt und dadurch die Bedeutung der hier nur umrissenen Dynamik für die Lie -bessemantik der Romantik darstellt. Zur Ausdifferenzierung vgl. vor allem a.a.O. 18–31.

32 Vgl. die nach wie vor lesenswerte Studie Prousts (1962), die detailliert die sozialenund materiellen Umstände der Unternehmung Encyclopédie, der Existenz ihres Direk -tors Diderot und der Mitarbeiter nachzeichnet. Dort wird auch aufgezeigt, wie sich diesozioökonomischen Umstände auf Weltbild und Werk Diderots auswirken.

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ren zu lassen, ebenso wie das Bemühen um mehr Klarheit durch Konfrontationund Befruchtung verschiedener Sichtweisen, Konzepte und Modelle. Wissenbzw. Bildung verstehen sich in Diderots Schriften prinzipiell als nicht ab -zuschließender Prozess mit offenem Ausgang. Allerdings hat dies keine Rück -wir kung auf die Gestaltung der Figuren seiner narrativen Texte. Der Hand -lungs zeit raum seiner beiden bedeutendsten literarischen Texte Le Neveu deRameau und Jacques le fataliste et son maître ist der einer Reihe von Unterhal -tun gen, die insgesamt einige Stunden dauern bzw. sich auf einige Tage vertei-len.33 Während in ihnen Wissen und Werte verhandelt werden, agieren dieFigu ren im Sinne von festen Prinzipien. Nicht ihre Entwicklung innerhalbeines fortdauernden Erkenntnisprozesses interessiert, sondern die konkreteKonfrontation verschiedener gedanklicher Perspektiven und Positionen.Trotz dem deutet sich eine neue Bedeutung des Wissens für das Individuum an.In einer Gesellschaft, deren Ordnung nicht mehr durch ein kanonisches Wissenlegitimiert ist und die das Absolutheit beanspruchende religiöse Wissen nichtmehr fraglos anerkennt, stellen sich Fragen ethischer Natur, die zu beantwor-ten in der Verantwortung des Einzelnen liegt. So beschreibt Thoma (2000)Jacques le fataliste in Hinblick auf die eingeschobenen Geschichten als “eineArt Experimentalphysik in bezug [sic] auf das menschliche Handeln.”34 DerLeser wird vor unlösbare Aporien gestellt. Kommt es in der real erlebten Weltzu einem ähnlichen Konflikt, muss notwendigerweise eine Entscheidung fallen,auch wenn sie sich nicht mit letztendlicher Sicherheit moralisch legitimierenlässt. Mit der Eigenverantwortlichkeit solcher Entscheidungen hat das moder-ne Individuum seine persönliche Entwicklung bis zu einem gewissen Gradeselbst in der Hand. Im Roman des 19. Jahrhunderts findet die literarische Ver -arbei tung dieser Thematik in der Regel eingebettet in die Entwicklung exem-plarischer Figuren statt, die entsprechenden Entscheidungen markieren Weg -gabe lungen von Lebenswegen.

Die vorangehenden Überlegungen zeigen: auch und gerade in Frankreichkommt es im Spannungsfeld von Wissen und Moral während des 18. Jahrhun -derts zu einem Wandel, der sich trotz eines unterschiedlichen Bildungsbegriffsals Ausgangspunkt der hier in die Nähe des deutschen Bildungromans gestell-ten Texte erweist.35 Dies soll nun im Hinblick auf Balzacs Roman Illusions per-dues näher ausgeführt werden.

33 Die Reise von Jacques le fataliste et son maître dauert etwa 8–10 Tage, ist allerdingsan sich eher ereignisarm. Tiefendimension und Dynamik enstehen durch das vor allem inDialogen zum Ausdruck kommende Verhältnis von Herr und Knecht, ihre Gesprächemit weiteren Figuren der Handlung, die Rolle des Erzählers und die eingefügten Ge -schichten. Vgl. Thoma (2000): 215ff.

34 A.a.O. 241.35 Es versteht sich, dass unsere Ausführungen im Rahmen dieses kurzen Artikels nur

schemenhaft bleiben können. Ansonsten wäre es angezeigt, nun die sozioökonomischenVoraussetzungen der sozialen Mobilität und die Bedeutung des aufkommenden Kapita -

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Zum Spannungsverhältnis von Bildungsideal und Determinismus in Illusions perdues

Die einzelnen Teile von Balzacs großangelegter Romantrilogie wurden unterden Titeln Illusions perdues, Un grand homme de province à Paris und Les souf-frances de l‘inventeur jeweils 1837, 1839 und 1843 veröffentlicht. Entstehungs -zeit raum und Ausdehnung lassen bereits die Komplexität des mehrere Hand -lungsstränge und Schauplätze aufweisenden Werks erahnen. Im Mittelpunktsteht die Figur des jungen Literaten Lucien, dessen Schicksal durch Freund -schaft und Familienbande mit dem Protagonisten des zweiten Handlungs -strangs, dem Drucker und Erfinder David Séchard verbunden ist. Die durchHerkunft, Charakter und Erziehung Luciens bestimmte Ausgangslage ist voneinem Konfliktpotential durchwirkt, das sich als Quelle der im Titel genanntenIllusionen und ihres unsanften Zerschellens an der Wirklichkeit erweist. Ihmzugrunde liegt die Diskrepanz zwischen der Bescheidenheit der sozialen undökonomischen Situation und den künstlerischen und gesellschaftlichenAspirationen Luciens:

Zum einen hofft er, sein im Kreis von Familie und Freunden attestiertes lite-rarisches Talent in Paris in bare Münze zu verwandeln und dabei Ruhm undEhre zu erringen, zum anderen ist er davon besessen, den bürgerlichen Namenseines Vaters, des früh verstorbenen Apothekers und Erfinders Chardon ab -zulegen und durch königliche Legitimierung den Adelstitel de Rubempré sei-ner Mutter führen zu dürfen. Zunächst treiben ihn diese Kräfte in den SalonMme de Bargetons, der Primadonna des Provinzadels seiner HeimatstadtAngoulême. Dort erwecken zwar seine literarischen Prätentionen und seineansprechende Person die Leidenschaft der Hausherrin, gleichzeitig erfährt erjedoch die Verachtung der hohen Gesellschaft gegenüber dem bürgerlichenEmporkömmling. Nachdem das aufkeimende Verhältnis der ungleichen Lie -benden zum Eklat geführt hat, lässt sich Lucien von Mme de Bargeton über -reden, ihr nach Paris zu folgen. (Hier beginnt der zweite Teil.) Da dort die Ge -fahr einer gesellschaftlichen Ächtung ungleich schwerwiegender ausfällt, lässtdie Adlige ihren jungen Verehrer jedoch schnell fallen. Lucien wird nun mit derharten Wirklichkeit der Hauptstadt konfrontiert und muss lernen, dass derErfolg nicht auf der Straße liegt. Nachdem ihn zunächst die Bekanntschaft desebenso genialen wie integeren jungen Schriftstellers Daniel D’Arthez motiviert,sich durch eine arbeitsame, asketische Existenz die Grundlagen für verdientenliterarischen Ruhm zu erarbeiten, versinkt er durch den Einfluss des opportu-nistischen Journalisten Lousteau und die Liebe zur Schauspielerin Coralie imSumpf des von Intrigen und Korruption geprägten Tagesjournalismus. Seine

lis mus aufzuzeigen. Diesbezüglich kann auf den ersten Teil der Studie Morettis verwie-sen werden, die allerdings die Faktoren Wissen und Bildung nahezu vollständig vernach -lässigt.

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naive Nachahmung der zynischen Prinzipien dieses Metiers lässt ihn ohne ent-sprechenden Rückhalt nach einem glänzenden Debüt bei der liberalen Pressezu den Monarchisten wechseln. Anstatt damit die Anerkennung seines Adels -titels zu erreichen, setzt er sich zwischen alle Stühle und verliert jeden Rück -halt. Durch einen falschen Wechsel auf den Namen seines Freundes DavidSéchard, der inzwischen seine Schwester geheiratet hat, kann er zwar nicht seinen Bankrott verhindern, ruiniert jedoch auch seinen Schwager. Dessengeschei terte Bemühungen, seine Erfindung eines günstig herstellbaren Papiershoher Qualität zu patentieren und finanziell fruchtbar zu machen, sind Schwer -punkt des dritten Teils. Lucien, dessen Schicksal weiterhin mitverfolgt wird,steht am Ende des Romans vor dem Scherbenhaufen seiner Existenz. DieBegeg nung mit dem als spanischer Geistlicher verkleideten VerbrechergenieVautrin hält ihn vom Selbstmord ab und schafft die Ausgangslage für sein wei -teres Schick sal, das jedoch erst in Splendeurs et misères des courtisanes geschil-dert wird.

Luciens Bildungsgeschichte: l’amour-propre contre le Travail

Gleich mehrere Entwicklungsgeschichten spielen im Rahmen dieser Handlungeine Rolle. Im Zentrum steht zweifelsohne diejenige Luciens vom hoffnungs-vollen jungen Künstler zur willenlosen menschlichen Konkursmasse, die sichdem Verwalter Vautrin übergibt. Im Folgenden gilt es, die einzelnen Stationendieser Entwicklung und die Faktoren, die auf sie Einfluss nehmen, vor demHintergrund der bisher getroffenen Überlegungen genauer zu analysieren. Ver -gleiche mit Goethes Wilhelm Meister werden dabei helfen, den besonderenStellenwert von Wissen und Bildung hervorzuheben.

Die zu Beginn des Romans erzählte Vorgeschichte lässt erkennen, dass dieBeschäftigung mit Kunst und Wissenschaft für den Werdegang der beiden Pro -ta gonisten zentrale Bedeutung hat. Sie unterziehen sich gewissermaßen einemumfassenden Bildungsprogramm, dessen Grundlage die anspruchsvollstenNeu hei ten aus beiden Wissensgebieten bilden:

Depuis environ trois ans, les deux amis avaient donc confondu leurs destinées si brillantes dans l’avenir. Ils lisaient les grandes œuvres qui apparurent depuis lapaix sur l’horizon littéraire et scientifique, les ouvrages de Schiller, de Goethe, delord Byron, de Walter Scott, de Jean-Paul, de Berzélius, de Davy, de Cuvier, deLamartine etc. Ils s’échauffaient à ces grands foyers, ils s’essayaient en des œuvresavortées ou prises, quittées et reprises avec ardeur. Ils travaillaient continuellementsans lasser les inépuisables forces de la jeunesse. Également pauvres, mais dévoréspar l’amour de l’art et de la science, ils oubliaient la misère présente en s’occupantà jeter les fondements de leur renommée.36

36 Balzac (1976): V, 147, Zitate aus der Comédie Humaine im Folgenden immer nurmit Band und Seitenzahl.

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Das Verhältnis der beiden Protagonisten zu Wissen und Bildung, wie es hierzum Ausdruck kommt, kann als exemplarisch für die gesamte ComédieHumaine angesehen werden.37 Es zeigt zum einen, dass das Themengebiet inBalzacs Romanwerk ebenso relevant ist wie in deutschen Bildungsromanen,zum anderen lässt es aber auch signifikante konzeptuelle Unterschiede erken-nen. Zunächst wird Wissen in diesem Textausschnitt unter dem Gesichtspunktder Ausbildung, des Erwerbs von Kenntnissen als Grundlage späterer Tätig -keiten und Verdienste angesprochen. So wird die intellektuelle Aktivität derProtagonisten im genannten Zeitabschnitt “trois ans” direkt mit ihrer zukünf-tigen Bestimmung, “leurs déstinées si brillantes dans l’avenir”, in Verbindunggebracht und als Grundlage für die zu erstrebende öffentliche Anerkennunggenannt (“les fondements de leur renommée”). Dementsprechend gibt ihnendie Beschäftigung mit Vorbildern Impulse zur Nachahmung (“ils s’essaient endes œuvres […]. Ils travaillaient continuellement”). Dieser Aspekt wird auch in Goethes Wilhelm Meister beständig thematisiert, so in der Auseinander -setzung Wilhelms mit den Werken Shakespeares, die ihm ganz konkrete Ein -sich ten in die praktischen Belange des Theaterwesens geben, seinen Kunstsinnschärfen und seine eigene Kreativität stimulieren. Der entscheidende Unter -schied liegt allerdings in der Rückwirkung auf die Persönlichkeit. WährendWilhelm durch seine Bildungsbestrebungen eine Veredelung seines innerenWesens erhofft,38 erscheinen die erworbenen Kenntnisse bei Lucien mehr wieein anzuwendendes Werkzeug. Zwar wird auch ihnen ein seelisch-geistigpositi ver Wert zugesprochen, indem sie Trost und Ansporn spenden (“ilss’échauffaient à ces grands foyers”),39 doch wird die Möglichkeit einer Ausfor -mung von Persönlichkeit und Charakter nicht erwähnt. Auch wenn nicht inAbrede gestellt, kann die Charakterbildung nicht als das eigentliche Ziel derBildungsbestrebungen Luciens genannt werden.

Die vom Erzähler verantwortete Wertung der genannten Werke als “grandesœuvres” lässt erkennen, dass hier dessen Bildungsideal präsentiert wird. Fürdiejenigen Leser, die mit dem Avant-propos der Comédie Humaine vertrautsind, lässt sich überdies leicht die Verbindung zum Autor Balzac herstellen, derdort ebenfalls seine Vorbilder aus Literatur und Wissenschaft Revue passierenlässt und den Leser wissen lässt, dass die bei ihrem Studium durch Fleiß undAusdauer angeeigneten Kenntnisse einen nicht geringen Teil zum Fundamentseines Monumentalwerks beigetragen haben.40 Auch deutet sich dort der

37 Besonderer Stellenwert kommt allerdings dem religiösen Wissen bzw. der mysti-schen Schau zu, wie sie beispielsweise in Louis Lambert thematisiert wird.

38 “[…] mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend aufmein Wunsch und meine Absicht” (Goethe 2003: 301).

39 Vgl. auch die die Einführung der Protagonisten abschließende Lektüre der Ge -dichte von André Chenier.

40 I, 7ff.

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Wunsch nach sozialem (und finanziellem) Erfolg als zentrales Motiv für denErwerb von Kenntnissen und Fähigkeiten an.41

Insofern reiht sich Lucien mit seinen Bestrebungen (ebenso wie Balzacselbst) in die lange Liste der Figuren der Comédie Humaine ein, die versuchen,auf die eine oder andere Art und Weise zu Macht und Wohlstand zu gelangen.Künstlerischen mit sozialem und finanziellem Erfolg zu verbinden, erscheintunter diesem Gesichtspunkt eine Möglichkeit unter vielen. (Mit David Séchard,der auf die Vermarktung einer bahnbrechenden Neuerung der Papierproduk -tion setzt, ist in Illusions perdues eine weitere Möglichkeit vertreten. Wiebekannt ist, versuchte Balzac selbst sich neben der Literatur erfolglos auf ver-schiedensten Gebieten.) Wissen, Bildung und Kunst sind von dieser Warte ausgesehen Macht und Geld untergeordnet und nur Teilaspekte eines komplexenGesellschaftssystems. So muss Lucien in Paris die Erfahrung machen, dass dieKunst sich vor dem Kapital geradezu prostituiert. Dass Wissen, Bildung undkünstlerischer Erfolg auch von sozioökonomischen Faktoren abhängen, klingtfreilich gleich zu Beginn des Romans an. Dort wird auf Voraussetzungen ver -wie sen, die eine Bildungsgeschichte wie die Luciens überhaupt erst möglichmachen.: “[…] le pharmacien n’avait rien négligé pour l’éducation de son fils et de sa fille, en sorte que l’entretien de sa famille dévora constamment les produits de sa pharmacie.”42 Nur durch Schaffung einer kapitalen Grundlagevermittels Ausübung eines bürgerlichen, kommerziell ausgerichteten Berufs isteine Investition in Luciens Bildung möglich, und diese wiederum wird ausökonomischer Perspektive als eine Art Kapitalbildung betrachtet.

Kontrastiv wird die Bedeutung von Wissen und Bildung im damaligenFrank reich auch an der Bildungsgeschichte einer anderen Romanfigur sichtbar,nämlich der Mme de Bargetons, die in ihrer Ausführlichkeit eine kleine Bin -nen erzählung darstellt. Während Lucien sich im bereits funktional ausdifferen-zierten Teilbereich des Literaturbetriebs bewähren muss und dort von Bildungund Ausbildung direkt abhängig ist, gehört Mme de Bargeton im Sinne Luh -manns dem Adel als Relikt der alten, stratifizierten Gesellschaft an. Die umfas-senden sprachlichen, literarischen und musikalischen Kenntnisse, die sie durchihren Erzieher, den Abbé Niollant, vermittelt bekommen hat, wirken sich inihrem Fall schädlich aus, da sie für ihre gesellschaftliche Position nutzlos sind,ja sie sogar daran hindern, sich standesgemäß zu benehmen. Dabei kommt zurSprache, dass Wissen und Bildung durchaus Einfluss auf die Persönlichkeits -bildung haben. So spricht der Erzähler vom “esprit particulier aux artistes quicomporte plusieurs prisables qualités, mais qui s’élève au-dessus des idéesbourgeoises par la liberté des jugements et l’étendue des aperçus.”43 Indem der

41 “[…] pour mériter les éloges que doit ambitionner tout artiste, ne devais-je pas étudier les raisons ou la raison de ces effets sociaux […]?” (I, 11).

42 V, 140.43 V, 155.

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Abbé diese Qualitäten auf seinen Zögling überträgt, entfremdet er Mme deBargeton ihrem sozialen Milieu und den entsprechenden Aufgaben, sodass siedurch die folglich empfundene Distanz zur Banalität ihrer Umwelt hochmüti-ge und kapriziöse Züge annimmt. Wissen und Bildung sind also auch hier funk-tional eingebunden, und unter den gegebenen Umständen erreichen sie beiMme de Bargeton einen gegenteiligen Effekt als die bei Wilhelm Meister ange-strebte Veredelung des inneren Wesens.

Bis hierher kann also resümiert werden, dass in Illusions perdues von Beginnan ein Bildungsideal zum Ausdruck kommt, das im Gegensatz zum idealisti-schen Bildungskonzept (etwa in Wilhelm Meister) nüchterner und mehr aufgesellschaftlichen Nutzen gerichtet ist. Nun verhält es sich aber so, dass Lucienzum Beginn der Handlung diesem Bildungsideal sehr wohl entspricht, sichaber zunehmend davon entfernt und anstatt seine Ansprüche auf “renommée”und eine “destinée brillante” einzulösen, abdriftet, verkommt und letztlich nurdurch Zufall vom Selbstmord abgehalten wird.

Welche Erklärungen lassen sich im Text für diese Entwicklung des Prota go -nisten finden? Um diese Frage zu erörtern, ist es dienlich, zunächst einen Blickauf Balzacs Anthropologie zu werfen, wie er sie im Avant-propos seinerComédie Humaine darlegt. So wie im Tierreich die Natur die Lebensformenbestimmt, so ist im Sinne der Milieutheorie Saint-Hilaires die Gesellschaft alsdeterminierender Nährboden für die menschliche Existenz anzusehen.44 Wäh -rend nun im Vergleichsfeld der Tierwelt dem allen Lebenserscheinungen zu -grunde liegenden “courant de vie” enge Grenzen gesteckt sind, erlaubt demMen schen ein “plus ou moins d’intelligence” die Verfügungsgewalt über seineLebensenergie. Dadurch erklärt sich (neben anderen Gründen) auch das für dieComédie Humaine so wichtige Faszinosum der sozialen Mobilität.45 Eineambi valente Rolle spielt die “passion”, die von Balzac ebenso als “élément social” wie als “élément déstructeur” bezeichnet wird.46 Die aus dem Zusam -menwirken dieser Faktoren resultierende “infinie variété de la nature humaine”bezeichnet Balzac als “hasard”. Aufgabe des Schriftstellers sei es, ihn zu stu -dieren und da durch zu einer Klassifizierung der sozialen Typen und den Ge -setz mäßigkeiten ihres Verhaltens zu kommen: “Le hasard est le plus grandromancier du monde: pour être fécond, il n’y a qu’à l’étudier.”47 Dieser Theoriezufolge entspricht die Gesellschaft einem Kaleidoskop unterschiedlicher Typen,

44 “[…] ne fait-elle pas de l’homme, suivant les milieux où son action se déploie,autant d’hommes différents qu’il y a de variétés en zoologie?” (I, 8) Vgl. dazu auch Cur -tius’ Anmerkungen über die nature sociale: “Die Gesellschaft ist die wahre und sogar dieeinzige Natur des Menschen” (Curtius 1952: 200f).

45 Vgl. I, 9.46 I, 12. Die “passion” ist mit dem von Warning (1998) hervorgehobenen Phänomen

des amour-propre in Verbindung zu bringen.47 A.a.O. 11.

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die alle ihre eigene Dynamik aufweisen. Das Verhältnis von Lebenskraft, Intel -li genz und Lei den schaften entscheidet (neben dem Zufall) dabei von vorn -herein über den Aus gang des Lebenskampfes, über Erfolg oder Misserfolg.

Dieses als deterministisch zu bezeichnende Menschenbild steht hinter demSchicksal Luciens in Illusions perdues. Dessen Veranlagung mit ihren latentenDiskrepanzen wird dem Leser im Rahmen einer ausführlichen Charakterisie -rung in Form einer für Balzacs Menschenbild typischen physiognomischenAnalyse vorgeführt.48 Die dominanten Merkmale verweisen auf ein empfind -sames, aristokratisches Wesen mit Sinn für Schönheit: “[…] son visage avait ladistinction des lignes de la beauté antique. […] Une incomparable noblesse étaitempreinte dans son menton court […].”49 Damit einher geht allerdings einePrädisposition für Genusssucht und Laster, die durch seine “pose gracieuse deBacchus indien” angedeutet wird.50 Dass er Versuchungen nicht mit viel Wil -lens stärke wird begegnen können, symbolisiert sein ausnehmend femininesWesen: “À voir ses pieds, un homme aurait été d’autant plus tenté de le prendre pour une jeune fille déguisée […], il avait les hanches conforméescomme celles d’une femme”.51 Die angedeutete Charakterschwäche wird vomErzähler gleich angesprochen, indem er auf die “mit weiblichen Hüften ge -wöhnlich einhergehende Geisteshaltung der Diplomaten verweist, die glauben,der Zweck heilige die Mittel”.52

Somit muss die Macht der schicksalhaften Veranlagung über die Willensan -strengung zur Selbstverwirklichung als Künstler dominieren, was von Beginnan durch zahlreiche Erzählerkommentare angedeutet wird.53 Die charakter -liche Veranlagung beeinflusst den Lern- und Entwicklungsprozess, den Lucienebenso durchläuft wie Wilhelm Meister. Deleuze (1969), der Prousts Recherchedu temps perdu als “récit d’apprentissage” untersucht, definiert den Lernpro -zess folgendermaßen:

Apprendre concerne essentiellemente les signes. Les signes sont l’objet d’unapprentis sage temporel, non pas d’un savoir abstrait. Apprendre, c’est d’abordconsidérer une matière, un objet, un être comme s’ils émettaient des signes àdéchiffrer, à interpréter.54

48 Zur Bedeutung der Physiognomik bei Balzac vgl. Grivel (1980).49 V, 145.50 Ebenda.51 Ebenda. 52 A.a.O. 147f.53 “L’un des malheurs auxquels sont soumises les grandes intelligences, c’est de

compren dre forcément toutes les choses, les vices aussi bien que les vertus” (V, 146) oder“[…] la lâcheté des hommes, qui est un fatal exemple pour les esprits mobiles” (ebenda)und “[…] il était si séduisant ! […] Ce fatal privilège perd plus de jeunes gens qu’il n’ensauve” (a.a.O. 233) etc.

54 Zitiert nach Klinkert (2008): 206f.

Im Unterschied zum kanonischen Wissen, einem “savoir abstrait”, ist also inder ausdifferenzierten Gesellschaft ein Großteil des für die Lebensgestaltungund Persönlichkeitsentwicklung relevanten Wissens “temporel” bzw. dyna-misch, insofern als dass es sich um eine (vorläufige) Interpretation nach erfolg-tem Dechiffrieren handelt. Dies schließt ein, dass ein und dasselbe Zeichenbzw. derselbe Gegenstand oder dieselbe Person bei einem zweiten Mal unter-schiedlich interpretiert bzw. bewertet werden kann.

Ein in narrativen Texten der Moderne häufig verwendetes Sinnbild diesesLernprozesses, der auch die Desillusionierung miteinschließt, ist das Theater.In Wilhelm Meister durch Wilhelms prägendes Kindheitserlebnis mit dem Pup -pen spiel zu Beginn des Romans und in Illusions perdues bei Luciens erstemTheaterbesuch in Paris werden die glänzende Illusionierung des Bühnenspielsund der darauffolgende, ernüchternde Blick hinter die Kulissen vorgeführt. ImUnterschied zu Lucien aber, der sich der theatralischen Illusion ebenso hingibtwie Wilhelm, möchte letzterer das Theater, eine “Simulation” alltagssprach-lichen Handelns, als Übungsstätte und Erkenntnismodell nutzen. Goethe the-matisiert damit Ideen, die von der Antike (in der Poetik des Aristoteles) bis zurGegenwart (z. B. in Lotmans Modellbegriff literarischer Texte)55 immer wiederaufgegriffen wurden.

Die unterschiedlichen Reaktionen und der jeweils andersartige Verlauf derLernprozesse der beiden Protagonisten lassen sich sehr schön an einem ver-gleichbaren Moment der beiden Lebensläufe verdeutlichen. Es handelt sich umdie erstmalige Erkenntnis der Abhängigkeit des künstlerischen Erfolgs vonGeld und Macht.

Eine ähnliche Rolle wie für Lucien Paris spielt für Wilhelm das Schloss desGrafen, wo dieser hofft, “die große Welt näher kennenzulernen.”56 Währendanfangs die Aufnahme durch die adlige Gesellschaft seinem Selbstwertgefühlschmeichelt – auch Deutsche haben einen amour-propre –, muss er bald erken-nen, welcher wirkliche Stellenwert dort der Theaterkunst beigemessen wird:

Auch wurde die Gesellschaft [d. h. die Theatergesellschaft] manchmal samt undsonders nach Tafel vor die hohen Herrschaften gefordert. Sie schätzten sich es zurgrößten Ehre und bemerkten es nicht, daß man zu eben derselben Zeit durch Jägerund Bediente eine Anzahl Hunde hereinbringen und Pferde im Schloßhofe vor-führen ließ.57

Ähnlich drastisch muss Lucien in Paris feststellen, wie sich die Muse, wennnicht vor adligen Gönnern, so doch vor Journalisten und Verlegern pro -stituiert.58 Anstatt sich wie Wilhelm desillusioniert abzuwenden, versucht

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55 Vgl. Lotman (1972): 21.56 Goethe (2003): 157.57 A.a.O. 283.58 Vgl. hier vor allem die Szene in den Galeries de Bois, V, 355ff. Zur Darstellung von

Journalismus und Literaturbetrieb in Illusions perdues vgl. Klinkert (2007: 81–87) undzum Metaphernfeld der Prostitution Thérenty (2005).

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er, die Spielregeln zu lernen und selbst an dem perfiden Treiben teilzuneh-men.59

Verhängnisvoll für Luciens instabilen Charakter wirkt sich auch der Einflussschlechter Ratgeber aus, zunächst der seiner adligen Gönnerin Mme de Barge -ton und dann der des korrupten Journalisten Lousteau. Es kann ruhig zugege-ben werden, dass die unmoralische Handlungsweise, “die ärgsten Verkommen -heiten” Luciens, mit denen Balzac “ohne Verwundern, ja ohne Anklage han-tiert”, das eigentliche Faszinosum für den Leser ausmachen.60 Daneben wirdjedoch ständig die von David Séchard, Daniel D’Arthez und dem Erzähler ver-tretene Tugend des “Travail” hervorgehoben. Sie schließt Askese und morali-sche Integrität mit ein und wird als oberster Wert einer Künstler- bzw. Wissen -schaftlerexistenz dargestellt, gleichbedeutend mit dem Schlüssel zu artistischemErfolg und sozialem Aufstieg. Auch wenn Lucien sich also absehbar demAbgrund nähert, ist in dieser Entwicklung, ganz im Sinne von MorgensternsDefi nition der Beziehung zwischen Erzähler, Protagonisten und Leser, einpäda gogischer Hintersinn des Erzählers und ein Erfahrungsgewinn für denLeser gegeben.61 Dieser muss (im Sinne von Deleuzes Definition des Lernpro -zesses) ebenfalls umdenken und umwerten, was seine Erkenntnis befördert, sovor allem in Hinblick auf den Protagonisten, für den zu Beginn der Handlungein beträchtliches Identifikationspotential besteht und dessen Entwicklunggegen Ende der Handlung vor allem kritische Distanzierung hervorrufen dürf-te.

Fazit

Wer möchte, mag in Balzacs pädagogischer Attitüde eine subtile Fortschrei -bung des für das 18. Jahrhundert so typischen Erziehungsgedankens sehen.Zugleich jedoch – hierin Diderots Roman Le Neveu de Rameau ähnlich –erhält mit dem Protagonisten der Illusions perdues das Individuum sein vollesRecht zur Selbstbestimmung – selbst wenn dies auch nur bedeuten mag, seinemNaturell (“courant de vie”) freien Lauf zu lassen, ohne von anderen Instanzen

59 Moretti (1986: 266) bemerkt: “[…] l’illusione […] nel mondo di Balzac significa:non conoscere il giusto prezzo delle cose.” Die Desillusionierung für Lucien ist dement-sprechend eine doppelte. Zunächst muss er einsehen, dass den schönen Künsten nicht dieheilige Verehrung entgegengebracht wird, die ihnen eigentlich geschuldet wäre. Dannmuss er erkennen, dass er auch den Preis seines Einsatzes im zynischen Spiel der Intrigenverkannt hat, an dem er nach erster Ernüchterung bedenkenlos teilnimmt.

60 Friedrich (1980): 92. Weiterhin heißt es dort: “Er treibt das Böse bis zur Monu -men ta lität, mit dem Drang des Künstlers, nicht aufzuhören, ehe eine menschliche Exi -stenzform nicht bis zum Ende durchgeführt ist.”

61 Interessant in diesem Hinblick sind die Überlegungen Laforgues (2006) zur Rolledes Lesers bei Balzac. Er spricht dort von einer “[…] stratégie narrative dont le but estd’inventer le lecteur – c’est-à-dire aussi bien le découvrir que le créer – pour mieuxl’inscrire dans un processus globale de transmission” (a.a.O. 222).

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daran gehindert zu werden. Man könnte sagen, dass auf diese Weise das deter-minierende Moment von außen nach innen verlagert wird.

Wie weitere Bausteine der Comédie Humaine mit Zügen eines “récitd’appren tissage” zeigen, allen voran Le Père Goriot mit seinem ProtagonistenRastignac, muss diese Freiheit nicht zwangsläufig in einen Abgrund führen.Allerdings geht sie in der Regel einher mit einer nüchternen Beurteilung: Dersoziale Aufstieg kann nur mit einer “machiavellistischen Pragmatik” in mora-lischen Fragen erkauft werden. Um die entsprechenden Spielregeln zu erlernen,ist auf jeden Fall ein Bildungsweg, sind Lehrjahre zurückzulegen, deren Dar -stellung denn auch das Rückgrat der entsprechenden Romane bildet.

Diese Umstände rufen die zuvor umrissenen Tendenzen der französischenAufklärung in Erinnerung, nämlich auf der einen Seite das Bemühen um einenbesseren, aufgeklärten Menschen, zu dessen Erziehung einer gewissen Auto -rität nicht entbehrt werden kann, und auf der anderen Seite die Unmöglichkeit,vor dem Hintergrund einer neuen Freiheit des Individuums, das nicht mehr anabsolute Werte gebunden ist, definitive Antworten in moralischen Fragen zufinden. In diesem Sinne kann die bei Balzac oft bemerkte Diskrepanz zwischenmoralischem Anspruch und der Vorliebe für “ärgste Verkommenheiten” er -klärt werden. Das Genre des “roman d’apprentissage” wäre somit der Versuch,das Dilemma zwischen dem Wunsch nach sozialem Aufstieg in einer neuen,offenen Gesellschaft ohne absolute moralische Autoritäten und dem gleichzei-tigen Bedürfnis nach sinnvoller und ethisch verantwortungsvoller Lebensge -stal tung narrativ zu verarbeiten.

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