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Wie funktioniert Sicherheit ohne (viel) Staat? Befunde aus Nordostafghanistan und Pakistan Von Jan Koehler und Boris Wilke 1. Einleitung Grundsätzlich gilt: Die Bereitstellung von Sicherheit funktioniert in Räumen begrenzter Staatlichkeit anders als in den entwickelten Gesellschaften der OECD-Welt, weil die politischen und sozialen Kontextbedingungen andere sind. Nach wie vor gilt, dass in den Gesellschaften der „Dritten Welt“ das Gewaltproblem nicht gelöst ist. Es gibt dort generell weder ein faktisches Gewaltmonopol des Staates noch ein flächendeckend durchgesetztes Monopol legitimer Gewalt durch den Staat. In vielen von Bürgerkriegsgewalt betroffenen Regionen existiert noch nicht einmal rudimentärer Landfrieden (vgl. Brunner 1959). Die typischen Produzenten von Sicherheit wie Polizei oder Militär agieren hier anders als aus der OECD-Welt vertraut: Die Polizei ist mit ihrer Aufgabe insbesondere in urbanen Kontexten chronisch überfordert und investiert einen erheblichen Teil ihrer Tätigkeit in den Selbstschutz. Da das zumeist besser ausgestattete Militär zusätzlich als Bereitsteller innerer Sicherheit auftritt, wird äußere Sicherheitspolitik unter diesen Bedingungen häufig zu einer Funktion der inneren Sicherheitserfordernisse, was weit reichende Folgen für die Bereitschaft zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit auf Seiten der Regierenden hat (vgl. Ayoob 1995). Für die Konsumenten von Sicherheit bedeutet dies nicht nur, dass sie im Alltag in einem weit größerem Maße von krimineller Gewalt betroffen sind, als dies in der OECD-Welt üblich ist. Hinzu kommt, dass auch politisch motivierte Gruppierungen und sogar die Polizei und das Militär als relevante Quellen von Unsicherheit der Bevölkerung in Frage kommen. Verlässlichen, wenn auch nicht allzu weit reichenden Schutz bietet dann nur das unmittelbare soziale Umfeld: die Familie, der Clan, die Nachbarschaft oder – seltener – die ethnische Gruppe. Das ungelöste Gewaltproblem ist nicht das Resultat der „Globalisierung“ oder anderer rezenter Entwicklungen, sondern ein Strukturmerkmal der „Gesellschaften des Südens“ (vgl. Elwert 1997, Gantzel/Schwinghammer 1995). Zwar ist es möglich, einzelne aufständische Gruppierungen und Rebellenbewegungen mit militärischer Gewalt zu eliminieren, doch beweisen sie als soziales Phänomen eine große Hartnäckigkeit. Vor diesem Hintergrund sind für die Beantwortung der Frage, welche Rolle der Staat in der Nicht-OECD-Welt bei der Bereitstellung von Sicherheit spielt, drei Problematiken zu beachten: 1) das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, 2) der Sicherheitsbegriff und 3) die Untersuchungsebene. Ad 1) Da sich das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in der Dritten Welt anders darstellt als in den entwickelten Industriegesellschaften, verschiebt sich die Fragestellung: Während sich in der OECD- Welt in Anbetracht der Globalisierung die Frage stellt, was vom Staat als Ordnungsprinzip des Politischen übrig bleibt, lautet in den anderen Weltregionen die Frage: Welche gesellschaftlichen Sphären hat der Staat als Institution sich überhaupt schon einverleiben, welche durchdringen und welche für sich nutzbar machen können? Die Präsenz des Staates ist in Räumen begrenzter Staatlichkeit stets im Wandel begriffen und regional unterschiedlich stark ausgeprägt, weil der Prozess der gegenseitigen Durchdringung von Staat und Gesellschaft hier andauert. Da Sicherheit

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Wie funktioniert Sicherheit ohne (viel) Staat? Befunde aus Nordostafghanistan und Pakistan

Von Jan Koehler und Boris Wilke

1. Einleitung

Grundsätzlich gilt: Die Bereitstellung von Sicherheit funktioniert in Räumen begrenzter Staatlichkeit anders als in den entwickelten Gesellschaften der OECD-Welt, weil die politischen und sozialen Kontextbedingungen andere sind. Nach wie vor gilt, dass in den Gesellschaften der „Dritten Welt“ das Gewaltproblem nicht gelöst ist. Es gibt dort generell weder ein faktisches Gewaltmonopol des Staates noch ein flächendeckend durchgesetztes Monopol legitimer Gewalt durch den Staat. In vielen von Bürgerkriegsgewalt betroffenen Regionen existiert noch nicht einmal rudimentärer Landfrieden (vgl. Brunner 1959). Die typischen Produzenten von Sicherheit wie Polizei oder Militär agieren hier anders als aus der OECD-Welt vertraut: Die Polizei ist mit ihrer Aufgabe insbesondere in urbanen Kontexten chronisch überfordert und investiert einen erheblichen Teil ihrer Tätigkeit in den Selbstschutz. Da das zumeist besser ausgestattete Militär zusätzlich als Bereitsteller innerer Sicherheit auftritt, wird äußere Sicherheitspolitik unter diesen Bedingungen häufig zu einer Funktion der inneren Sicherheitserfordernisse, was weit reichende Folgen für die Bereitschaft zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit auf Seiten der Regierenden hat (vgl. Ayoob 1995). Für die Konsumenten von Sicherheit bedeutet dies nicht nur, dass sie im Alltag in einem weit größerem Maße von krimineller Gewalt betroffen sind, als dies in der OECD-Welt üblich ist. Hinzu kommt, dass auch politisch motivierte Gruppierungen und sogar die Polizei und das Militär als relevante Quellen von Unsicherheit der Bevölkerung in Frage kommen. Verlässlichen, wenn auch nicht allzu weit reichenden Schutz bietet dann nur das unmittelbare soziale Umfeld: die Familie, der Clan, die Nachbarschaft oder – seltener – die ethnische Gruppe.

Das ungelöste Gewaltproblem ist nicht das Resultat der „Globalisierung“ oder anderer rezenter Entwicklungen, sondern ein Strukturmerkmal der „Gesellschaften des Südens“ (vgl. Elwert 1997, Gantzel/Schwinghammer 1995). Zwar ist es möglich, einzelne aufständische Gruppierungen und Rebellenbewegungen mit militärischer Gewalt zu eliminieren, doch beweisen sie als soziales Phänomen eine große Hartnäckigkeit. Vor diesem Hintergrund sind für die Beantwortung der Frage, welche Rolle der Staat in der Nicht-OECD-Welt bei der Bereitstellung von Sicherheit spielt, drei Problematiken zu beachten: 1) das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, 2) der Sicherheitsbegriff und 3) die Untersuchungsebene.

Ad 1) Da sich das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in der Dritten Welt anders darstellt als in den entwickelten Industriegesellschaften, verschiebt sich die Fragestellung: Während sich in der OECD-Welt in Anbetracht der Globalisierung die Frage stellt, was vom Staat als Ordnungsprinzip des Politischen übrig bleibt, lautet in den anderen Weltregionen die Frage: Welche gesellschaftlichen Sphären hat der Staat als Institution sich überhaupt schon einverleiben, welche durchdringen und welche für sich nutzbar machen können? Die Präsenz des Staates ist in Räumen begrenzter Staatlichkeit stets im Wandel begriffen und regional unterschiedlich stark ausgeprägt, weil der Prozess der gegenseitigen Durchdringung von Staat und Gesellschaft hier andauert. Da Sicherheit

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eine zentrale Funktion gesellschaftlicher Ordnung ist, korreliert das Fortschreiten des Staates in diesem Prozess mit dem Anteil, den der Staat vor Ort an der Bereitstellung von Sicherheit hat. Deswegen ist bei der Frage nach der Bereitstellung von Sicherheit im Nicht-OECD-Kontext wichtig, auch die historische Entwicklung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, also den Staats- und Nationenbildungsprozess, zu berücksichtigen.

Ad 2) Ebenso wichtig ist der Sicherheitsbegriff. Unter Sicherheit verstehen wir in diesem Aufsatz stets physische Sicherheit, also den Schutz vor (willkürlicher) physischer Gewalt. Dieser enge Sicherheitsbegriff hat im Unterschied zu unscharfen Begriffen wie beispielsweise das Konzept der „menschlichen Sicherheit“ einen klar umrissenen Gegenstand: Die Abwesenheit von oder den Schutz vor physischer Gewaltanwendung. In sozialen Kontexten wie Afghanistan oder Pakistan, in denen eine Vielzahl nichtstaatlicher Gewaltakteure agiert, steht die physische Sicherheit auch in der Praxis im Vordergrund: Denn hier ist das von jeder festen sozialen Gruppe zu lösende Problem, wie sie sich vor der „Aktionsmacht“ (Popitz 1992) eines jeden, dem anderen körperlichen Schaden zufügen zu können, schützen kann, nicht gelöst. Ohne verbindliche Regeln, welche die Ausübung physischer Gewalt begrenzen, sind politische Gemeinschaften nicht überlebensfähig. Die Frage der Gewaltkontrolle (Elias 1983) steht deshalb im Folgenden im Mittelpunkt, wenn die Frage untersucht wird, wie und von wem in Nordostafghanistan und Südpakistan Sicherheit bereitgestellt wird.

Ad 3) Hinzu kommt das Ebenenproblem: Klassische sicherheitspolitische Ansätze unterscheiden zwischen Sicherheitsbedrohungen jenseits der Staatsgrenzen, denen im Rahmen der Außen- und Sicherheitspolitik durch eigens hierzu ausgebildete Spezialisten, den Diplomaten und Militärs, begegnet wird, und der Abwehr innerer Gefahren, die in die Zuständigkeit von Polizei und Gerichten fällt. In den Regionen begrenzter Staatlichkeit schlägt sich die funktionale Trennung von innerer und äußerer Sicherheit jedoch nicht in der Arbeitsteilung der Akteure nieder: Armeestreitkräfte sorgen regelmäßig für die innere Sicherheit, wenn Polizeikräfte versagen, während umgekehrt die Handlungskompetenz der Polizeikräfte unmittelbar Auswirkungen auf die Stabilität und Verteidigungsfähigkeit des Landes hat. Seit dem Ende des Ost-Welt-Konfliktes kommen internationale Truppenverbände als potentielle Produzenten von Sicherheit hinzu. Will die Politik in solchen Ländern für innere oder äußere Sicherheit sorgen, so ist sie zu einem grenzübergreifenden Regieren unter Beteiligung nichtstaatlicher Akteure gezwungen. Ein Teil der Forschung versucht, diesen Zusammenhang mit dem Begriff Sicherheitsgovernance zu analysieren (vgl. Wood & Dupont 2006).

Sicherheit in Afghanistan und in Pakistan

Räume begrenzter Staatlichkeit unterscheiden sich in den Kontextbedingungen der Bereitstellung von Sicherheit nicht nur stark von den entwickelten Gesellschaften der OECD-Welt, sondern auch untereinander. Die entscheidende Variable ist hier die das Maß an Durchstaatlichung (vgl. Nettl 1968), das die betreffenden Gesellschaften im Zeitalter der europäischen Kolonialherrschaft oder danach erfahren haben. Empirisch ist zu beobachten, dass die dauerhafte Bereitstellung von Sicherheit als Governanceleistung einer Mindestsanktionsfähigkeit durch den Staat oder einen anderen zentralen Zwangsstab bedarf. Diese wird nachgefragt, wenn horizontal strukturierte, lokale Konfliktregelungsmechanismen versagen. Ohne diesen minimalen staatlichen oder staatsäquivalent erbrachten Beitrag ist effektive Sicherheitsgovernance auch in Räumen begrenzter Staatlichkeit großräumig nicht dauerhaft möglich.

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Im Folgenden wird anhand von Fallstudien zu Afghanistan und Pakistan gezeigt, dass eine Beschränkung auf diesen minimalen staatlichen Beitrag eher die Ausnahme denn die Regel ist. Der Schwerpunkt der empirischen Analyse liegt auf Nordostafghanistan (Provinz Kundus und Takhar) bzw. auf der südlichen Provinz Belutschistan sowie der Millionenmetropole Karatschi. Gemeinsam ist beiden Fällen, dass die staatliche Zentralgewalt zumindest dem Anspruch nach die Prärogative besitzt. Doch es gibt auch Unterschiede, die durch verschiedenartige Pfade der Staatsbildung (im Sinne von state-formation) (vgl. Krohn-Hansen & Nustad 2005) bedingt sind: Im Falle Afghanistans handelt es sich um einen sehr schwachen „Pufferstaat“ ohne kolonialstaatliche Tradition, der in der Vergangenheit stets von Hilfe abhängig war und seit über dreißig Jahren zudem Schauplatz eines Bürgerkrieges und zahlreicher Interventionen von Nachbarstaaten und internationalen Mächten ist. Es gibt kein durchgesetztes legitimes Gewaltmonopol und auch keine staatliche Rechtshoheit. Die Handlungsfähigkeit des Staates nimmt mit der Nähe zu den administrativen Zentren konzentrisch zu, bleibt aber insgesamt vergleichsweise schwach, was eine starke Selektivität des Regierungshandelns mit sich bringt. Nach außen hin geriert sich der afghanische Staat auch in Sicherheitsfragen wie ein Rentierstaat, indem er mit Dritten (Nachbarn oder Interventen) von Fall zu Fall die Herstellung und Finanzierung des Gewalt- und Rechtvorteils aushandelt. Pakistan hingegen ist ein inzwischen defekter postkolonialer Entwicklungsstaat, der über eine eigensinnige zivile wie militärische Bürokratie verfügt und bisher nur lokal begrenzt von Bürgerkriegsgewalt betroffen gewesen ist. Die äußere Souveränität ist schon aufgrund der Verfügungsgewalt über Nuklearwaffen, die bei den landeseigenen Streitkräften liegt, deutlich weniger eingeschränkt. Auch nach innen ist der pakistanische Staatsapparat handlungsfähiger als Afghanistan, wobei die staatliche Gewalt- und Rechtsordnung durch großräumige Exklaven gekennzeichnet ist, in denen nichtstaatliche Autoritäten de facto über die Gewaltkontrolle verfügen und ihre eigene Rechtsordnung durchsetzen. Wie bei anderen großen Entwicklungsländern ist die Abhängigkeit von internationalen Gebern zwar quantitativ gering (Anteil der Hilfe am Bruttoinlandsprodukt bei 1,5%), wird aber aufgrund manifesten Governanceversagens in vielen Politikbereichen qualitativ immer bedeutender. Hinzu kommt der informelle Einfluss internationaler Mächte im Rahmen der US-geführten Intervention im Nachbarland Afghanistan. Dass Afghanistan und Pakistan von den Interventen inzwischen als eine Region behandelt werden („AFPAK“), gibt den ausgewählten Fällen besondere politische Relevanz.

Wir befassen uns im Folgenden zunächst jeweils mit den Governance-Akteuren und mit den Governance-Funktionen (2.), um anschließend fallübergreifend die Governance-Konstellation (3.) zu analysieren.

2. Welche Akteure erbringen welche Sicherheitsleistungen und übernehmen dabei welche Governance-Funktionen?

In beiden Fällen haben wir es mit einer enormen Vielfalt von Akteuren zu tun, die Governanceleistungen im Bereich Sicherheit erbringen. Die folgende Darstellung konzentriert sich deshalb auf einige typische Akteure, über die wesentliche Unterschiede und Gemeinsamkeiten markiert werden können: internationale gouvernementale Akteure, nationale gouvernementale Akteure sowie nationale charismatische und traditionale Akteure. Dabei ist zu bedenken, dass funktional differenzierte Governancefelder, auf denen gouvernementale, zivilgesellschaftliche und privatwirtschaftliche Akteure agieren, in Afghanistan und auch weiten Teilen Pakistans noch gar nicht vorhanden sind, sondern im Rahmen der Intervention durch modernistische „Reinigungsarbeit“

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(Rottenburg 2002: 120) erst etabliert werden. Daher ist es hilfreich, vor allem Afghanistan als eine Interventionsgesellschaft (Bonacker, Thorsten; Daxner, Michael; Free, Jan H.et al. 2010)) zu begreifen, in der Sicherheitsgovernance auf drei miteinander verschränkten Ebenen erbracht wird: die externe Steuerungsebene der zivilen wie militärischen bilateralen und multilateralen Präsenz vor Ort (dies ist die Ebene, auf der internationalen gouvernementalen Akteure), die vor Ort in die Gesellschaft hineinwirkenden staatlichen Institutionen (hier dominieren nationale gouvernementale Akteure), und die lokalgesellschaftlichen Institutionen, über die Menschen zur Bewältigung ihres Alltages Sicherheit beanspruchen, Konflikte austragen und Ordnung herstellen (hier sind in erster Linie nationale traditionale und nationale charismatische Akteure relevant). Im Falle Afghanistans ist die zentrale Frage: Wie greifen internationale, nationale und lokale Ebene mit ihren jeweiligen Institutionen ineinander?

Im Falle Pakistans hingegen gibt es die typischen ausdifferenzierten Felder mitsamt ihren Habitus und Rollenverteilungen zwar im Grundsatz, doch wird ihr Funktionieren durch kolonialherrschaftliche Praktiken und den regionalen sicherheitspolitischen Kontext modifiziert. Die Governancemodi divide and rule sowie indirect rule haben mit den halbstaatlichen Gewaltspezialisten hier einen Akteurstypus hervorgebracht, der zu einer Binnendifferenzierung der nationalen charismatischen und traditionalen Akteure zwingt. Hier besteht kein Ebenen- und Interaktionsproblem, sondern ein Relationsproblem: In welcher Beziehung stehen halbstaatliche und nichtstaatliche Akteure zum Staat?

2.1. Nordostafghanistan

Afghanistan ist seit dem Zusammenbruch des Ancien Regime in den siebziger Jahren (vgl. Rubin 2002) und den folgenden Revolten, Revolutionen, Invasionen und Bürgerkriegen ein auffälliges Beispiel für Unsicherheit in gewaltoffenen Räumen, in denen von einem legitimen staatlichen Gewaltmonopol keine Rede sein kann. Selbst weniger ambitionierte Sicherheitsfunktionen von Staatlichkeit wie effektive Gebietsherrschaft und Landfrieden wurden in den vergangenen dreißig Jahren, wenn überhaupt, nur räumlich eingeschränkt und episodenhaft durchgesetzt. Mit dem Sturz des relativ handlungsfähigen Taliban-Regimes im Zuge der US-geführten Militärintervention 2001/02 wurde dann von der internationalen Staatengemeinschaft ein Regime- und Systemwechsel erzwungen. Die reale Macht lag jedoch weniger bei den Interventen als bei den Kommandeuren, Kriegsherren und politischen Führern – also jenen Kräften, die das Land nach dem Abzug der sowjetischen Truppen in das Bürgerkriegschaos gestürzt hatten, gegen das die Taliban ursprünglich angetreten waren und gegenüber dem sie ihre religiös und anti-modernistisch begründete Herrschaft zunächst recht erfolgreich legitimieren konnten. Um eine Wiederholung von politischer Fragmentierung und Bürgerkrieg zu verhindern, stellten die Interventen zumindest in der Theorie von Anfang an den Aufbau von Staatlichkeit als berechenbare institutionalisierte Herrschaft in den Vordergrund (vgl. Wimmer & Schetter 2002). Zum ersten Mal in der politischen Geschichte des Landes sollte ein handlungsfähiger, demokratisch legitimierter Rechtstaat den Afghanen Sicherheit, Stabilität und nachhaltige Entwicklung bescheren.1

1 Dieser Prioritätensetzung entspricht auch der sog. Bonn-Prozess, der auf dem Petersberger Abkommen aufbaut und einen Fahrplan für diese Schaffung grundlegender staatlicher Institutionen in Afghanistan vorsah (siehe UN 05.12.2001). Allerdings weist Rashid (2008) zu Recht darauf hin, dass zumindest von Seiten der US-Regierung unter George W. Bush der international priorisierte Aufbau von Staatlichkeit nie mit dem nötigen Nachdruck und Ressourcen betrieben wurde; Nation-Building war der Bush-Regierung vor dem 11.09.2001

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Was in diesem Kontext Sicherheit ausmachen und wer Sicherheit produzieren bzw. konsumieren soll, wurde jedoch nicht eindeutig festgelegt (vgl. Münch 2009). Der Begriff „Sicherheit“ meint mal die Selbstsicherung der Interventen, z. B. die Schaffung eines sicheren Umfeldes für Entwicklungs- und Wiederaufbaumaßnahmen, mal zielt er ab auf die Stabilisierung von staatlicher Herrschaft, und mal meint er den nachfrageorientierten Schutz der Bevölkerung.2 Das von westlichen Interventen durchdrungene Afghanistan ist zu einer Arena geworden, in der eine Vielzahl von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren an der Erbringung oder Verknappung des Gutes „Sicherheit“ beteiligt ist. Deshalb können die verschiedenen Dimensionen des Begriffes Sicherheit in Widerspruch zueinander stehen. Der Selbstschutz der Interventen kann die Autorität nationaler Herrschaft untergraben und im Falle von militärischem Selbstschutz zum Sicherheitsproblem für die lokale Bevölkerung werden; Stabilisierung von staatlicher Herrschaft kann im Falle korrupter oder repressiver Regierungsführung zum Sicherheitsproblem sowohl der Interventen, als auch der eigenen Bevölkerung werden; und separat hergestellte Sicherheit von Lokalgesellschaften kann, sofern sie aus eigener Kraft oder durch staatsferne lokale Akteure erwirkt wird, Feindseligkeit gegenüber der Einmischung des Staates oder der Interventen in lokale Angelegenheiten nach sich ziehen.

2.1.1. Akteure und Sicherheitsleistungen

Militärische und zivile Intervention durch internationale Akteure

In Afghanistan sind internationale Akteure für die Sicherheit zentral. Dabei müssen zwei militärische und eine zivile Interventionen voneinander unterschieden werden. Zunächst zu den militärischen Interventionen: Die Operation Enduring Freedom (OEF) im Rahmen des US-geführten Krieges gegen den Terror und die seit 2003 von der NATO geführte International Security Assistance Force (ISAF) stützen sich auf internationales Recht: OEF auf das in der UN-Charta festgelegte Recht souveräner Staaten zur militärische Selbstverteidigung im Angriffsfalle, und ISAF auf ein Mandat des UN-Sicherheitsrates, fußend auf der Sicherheitsratsresolution 1401 vom 28. März 2002. Aus dieser Zweigleisigkeit ergibt sich ein für das ganze Land signifikanter Widerspruch zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen militärischen Zielen: dem Selbstschutz einer NATO-Macht, die durch Erklärung des Bündnisfalls Unterstützung anderer NATO-Partner erhält, in Form von Terroristenbekämpfung in einem militärisch eroberten Land; und die UN-mandatierte militärische Absicherung des politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbaus nach international anerkannten Normen.

Der zivile Teil der Intervention legitimiert sich zunächst über die Wiederaufbaukomponente des UN-Mandates für die internationale Intervention in Afghanistan. Hier ist die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) federführend. Hinzu kommen bi- oder multilaterale Vereinbarungen mit den seit dem Petersberger Abkommen geschaffenen afghanischen Regierungsstellen, welche die Entwicklungszusammenarbeit betreffen. Für die zivile Intervention gilt

suspekt und nach dem kurzen Afghanistan-Feldzug unter dem Vorzeichen des erklärten „War on terror“ rückte schnell der Irak-Krieg in den Vordergrund. 2 Zu den Sicherheitsbegriffen, die es im afghanischen Interventionskontext zu differenzieren gilt, vgl. Daxner, Free & Schüßler et al. (2008: 35-36); zur Sicherheit als sicheres Umfeld für Interventen und entstehende staatliche Herrschaftsorganisationen, vgl. ISAF PRT Office 2006: 10 (PRT Terms of Reference); zur Sicherheit als Schutzverantwortung der Intervenierenden sowie des intervenierten Territorialstaates, vgl. Schorlemer (2007); siehe für den afghanischen Kontext auch Oxfam (2008: 16-18).

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seit dem Petersberger Abkommen die Devise des light footprint3 der Interventen, die sich im Rahmen der Petersberger Konferenz im Dezember 2001 darauf geeinigt hatten, Reformen und staatlichen Wiederaufbau unter internationalem Schutz mit „einem afghanischen Gesicht zu versehen“ und Afghanen möglichst rasch in Steuerungspositionen zu bringen. Diese Prioritätensetzung bedeutete zunächst eine Konzentration des internationalen Engagements in der Hauptstadt Kabul, um entstehende zentralstaatliche afghanische Institutionen zu schützen und zu unterstützten. Von 2003 bis 2005 wurde das Land dann sukzessive in die Regionalkommandos Nord, Süd, West und Ost und Kabul unterteilt und unter ein ISAF-Schutzmandat gestellt. Das Regionalkommando Nord übernahm Deutschland. Neben dem Regionalkommando unterhält die Bundeswehr zwei Provincial Reconstruction Teams (PRT) in Kunduz und Badakhshan und seit 2007 ein kleineres Provincial Assistance Team (PAT) in Taloqan.

Militärischer Schutz und zivile Wiederaufbau- und Entwicklungsmaßnahmen sollen ineinander greifen, um Sicherheit und Stabilität in Afghanistan zu schaffen.4 Entscheidend für die Analyse der Zuständigkeiten für die Herstellung von Sicherheit im Rahmen der Intervention im Untersuchungsgebiet ist die Tatsache, dass die militärische Komponente in der (deutschen) Auslegung des Mandates nicht für innere Sicherheit, also für die Sicherheit der Bevölkerung, zuständig ist.5 Aufgabe des Militärs im Rahmen von ISAF ist es, ein sicheres Umfeld für die entstehenden staatlichen afghanischen Institutionen und die externen, mit Wiederaufbau und Entwicklung betrauten Organisationen zu schaffen. Außerdem ist das Militär für die Eigensicherung zuständig. Aufgabe der militärischen Intervention ist es nicht, flächendeckend gewaltfreie Räume über die Durchsetzung eines Gewaltmonopols selbst zu schaffen. Diese Aufgabe kommt afghanischen Sicherheitskräften zu, die durch ISAF, OEF und andere externe Akteure aufgebaut und militärisch abgesichert werden sollen. Damit sind die PRT im Rahmen von ISAF an der Herstellung von militärischem Landfrieden beteiligt, nicht aber dafür verantwortlich.

Die Entfaltung einer Sicherheitswirkung im Sinne von Landfrieden setzt dabei allerdings voraus, dass in der ersten Reihe afghanische staatliche Partner (Sicherheitsdienste) stehen, die fähig und willens sind, Sicherheit im Sinne der extern gestützten Zentralregierung vor Ort durchzusetzen. Dass dies nicht immer vorausgesetzt werden kann, werden wir im folgenden Abschnitt zeigen.

Der Staat vor Ort

Alle internationalen Anstrengungen in Afghanistan zielen darauf ab, tragfähige nationale Institutionen aufzubauen. Das gilt selbst für die OEF, die seit 2006 verstärkt auf die Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte in der Bekämpfung von als Terroristen identifizierten bewaffneten Gegnern setzt.

Der afghanische Staat ist seit Abschluss des Petersberger Prozesses in allen Provinzen etabliert und mit Distriktverwaltungen sowie einigen Fachministerien auch in den meisten6 Distrikten präsent. Dies

3 „Die frühzeitige und weitgehende Übernahme der Verantwortung für alle Aufbauprozesse durch die Afghanen selber wird nach einem Ausdruck Lakhdar Brahimis, des ehemaligen UN-Sondergesandten (SRSG) in Afghanistan, als light footprint-Ansatz des internationalen Engagements bezeichnet“ (Hett 2005: 6). 4 Siehe Bundesregierung (2007); kritisch zu der unterstellten Wechselwirkung auch Koehler (2010). 5 Diese enge Interpretation des Mandates ändert sich mit den neuen, auf Counter Insurgency Strategien aufbauenden Vorgaben durch die US-Kommandeure McChrystal und Petreaus (vgl. McChrystal 2009a, 2009b). 6 Der Staat ist mitunter gezwungen, sich aus einigen Distrikten temporär zurückzuziehen, wenn der militärische Druck der Aufständischen zu hoch wird. Bisher ist es bei kurzzeitigen taktischen Rückzügen geblieben.

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heißt allerdings nicht, dass der Staat auch immer jenseits der Provinz- und Distrikthauptstädte handlungsfähig oder handlungswillig ist. Die zentrale Herausforderung aus der Perspektive der Interventionskräfte ist, funktionsfähige zuständige Partner auf Seiten des afghanischen Staates aufzubauen. Dabei erweist sich die unzureichend trennscharfe Aufteilung von Kompetenzen zwischen Fachministerien auf Provinzebene einerseits und der Provinzadministration andererseits als besonderes institutionelles Problem (siehe Lister March 2005, White, Lister 2007 July). Außerdem vermindern Inkompetenz und Korruption innerhalb der Fachministerien und in den Provinz- und Distriktadministrationen die Wirksamkeit dieser Institutionen. In der Untersuchungsregion Nordostafghanistan (Provinzen Kunduz und Takhar) geht das Problem der Leistungsfähigkeit der Lokalverwaltungen über die angesprochenen Aspekte von Inkompetenz und Korruption hinaus. Hier werden von den externen Kräften führende Vertreter der Verwaltungen als unzuverlässige Partner eingeschätzt, weil ihre Verbindungen zur Drogenkriminalität und teilweise auch zu bewaffneten oppositionellen Kräften bekannt sind.

Aus der Perspektive afghanischer staatlicher Akteure in den Provinzen und Distrikten stellt sich die Sicherheitsproblematik anders, nämlich weniger formalistisch an das funktionsfähige Rechtstaatsmodell geknüpft, dar. Wir wollen dies am Beispiel des Gouverneurspostens (wali) verdeutlichen. Die Position des Gouverneurs mit seiner ihm direkt untergeordneten Administration ist, anders als viele Fachministerien oder andere zentralstaatlich dominierten Organisationen, eine weitgehend afghanische Unternehmung, auf die externe Akteure wenig Einfluss haben.7 Der Gouverneur muss sich gegenüber Kabul und in seiner Provinz eigenständig behaupten. Die ihm zur Verfügung stehenden staatlichen Ressourcen sind gering, und die Ressourcenströme externer Geber werden entweder über die Budgets der Fachministerien oder direkt, im Regelfall aber an den Provinz- und Distriktverwaltungen vorbei, umgesetzt.8 Der Provinzgouverneur, wie auch der Distriktgouverneur (woliswol), muss sich an die lokalen Besonderheiten seiner administrativen Einheit anpassen, sich also auf seine eigenen Fähigkeiten und Ressourcen verlassen, um Handlungsfähigkeit zu erlangen, seine Position sowohl gegenüber Kabul als auch lokal zu behaupten und – nicht zuletzt – um seine persönliche Sicherheit zu garantieren.

Eine wichtige Ressource ist in diesem Zusammenhang ein glaubwürdiges Destabilisierungspotenzial vor Ort. Hierfür ist die Penetrationstiefe klientelistischer Abhängigkeitsnetzwerke wichtig, die möglichst viele einflussreiche gesellschaftliche Gruppen erfassen sollte. Dazu zählen auch kriminelle und oppositionelle bewaffnete Gruppen9, da Einfluss auf diese der impliziten Drohung mit Instabilität im Falle eines Positionsverlustes Nachdruck verleiht. Weitere Ressourcen, die nicht alleine aus (offiziellen oder abgezweigten) staatlichen Budgets stammen können, fließen in den Aufbau klientelistischer Netzwerke, die über die unmittelbare Machtbasis hinausreichen, und in die Finanzierung eigener, persönlich loyaler Zwangsstäbe in Form von Leibwächtern; hinzu kommt die finanzielle Absicherung von Posten in Kabul. Zurecht unterstellen daher afghanische und Vertreter

7 Wenn ein Gouverneur nach Ansicht externer Akteure ausgewechselt werden soll – wie auf Betreiben der Briten 2005 in Kandarhar (siehe BBC World 25.01.2008) – geht dies nur über den Staatspräsidenten. 8 In einem Interview im Herbst 2006 machte der Gouverneur von Kunduz klar, dass er an einer ihm formal zukommenden Koordinationsfunktion für Entwicklungsprogramme in seiner Provinz nicht interessiert sei, weil er dafür keine ausreichenden administrativen Ressourcen hätte; er vertrat die Ansicht, dass die UN und Geberorganisationen diese Aufgabe besser wahrnehmen könnten. Ganz anders äußerte sich hierzu der neu berufene Gouverneur Takhars: er pochte im September 2007 darauf, dass alle Entwicklungsprojekte über seinen Schreibtisch zu gehen hätten und finanziell durch die Provinzadministration abgewickelt werden sollten. 9 Hierzu zählen der islamistische Widerstand und ausgemusterte Kommandeuren der ehemaligen Nordallianz.

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der internationalen Beobachter den Gouverneuren geschäftliche Beziehungen zur informellen Wirtschaft, insbesondere der Drogenökonomie.10

Die Anwesenheit internationaler Akteure ist trotzdem eine wichtige und anerkannte, wenn auch zweischneidige Ressource für die Sicherheit, die für die Gouverneure zählt. Die Gouverneure gewinnen dadurch Handlungsspielräume, dass die ehemaligen Kommandeure durch die Anwesenheit internationaler Akteure wie der ISAF in ihren militärischen Gewaltoptionen begrenzt sind. In einem minimalistisch-normativen Sinne sind die Pflege klientelistischer Netzwerken und korrupte politische Praktiken, in denen Interessen ausbalanciert werden müssen, im Vergleich zu einem Gewaltmarkt der Kriegsherren und Kleinkommandeure ein Governance-Fortschritt (vgl. Koehler, Zürcher 2004). Zumindest in Takhar erschwert das von offizieller Stelle gedeckte kriminelle Netzwerk auch das Einsickern und die Operationsfähigkeit von ideologisch motivierten bewaffneten oppositionellen Kräften. Hier gilt der aufwendige Jihad für die gerechte Sache (noch) als geschäftsschädigend.

Zweischneidig ist die Koexistenz von internationalen Präsenz und afghanischem Staat vor allem deshalb, weil die Spielregeln, nach denen Gouverneure ihre Provinzen regieren, den Vorstellungen von Rechtstaatlichkeit und gutem Regieren widersprechen, auf die sich die internationale Intervention in Afghanistan festgelegt hat.

Trotz der eklatanten Leistungsschwächen ist die Distriktverwaltung für den überwiegenden Anteil der afghanischen Bevölkerung das relevante Gesicht des Staates. Die Nachfrage nach staatlichen Leistungen kann man in jedem Distriktzentrum am Vormittag der Werktage anhand des Besucherandrangs sehen (Nachmittags kümmern sich die Angestellten und Funktionäre in der Distriktadministration um die wirtschaftlichen Belange ihrer Haushalte – meist handelt es sich dabei um landwirtschaftliche Arbeit). Der Staat wird dabei einerseits als Amt für den Erhalt von Dokumenten, Zertifikaten und Urkunden aufgesucht; andererseits wird die Distriktverwaltung auch von Konfliktparteien als Anlaufstelle genutzt, wenn die lokalen, informellen Streitschlichtungsformen versagen (Koehler 2008; vgl. für andere Teile Afghanistans: Koehler 2005).

Gesellschaft und lokale Selbstregierung

Wenn weder auf internationaler noch auf nationaler Ebene Sicherheitsleistungen ausreichend erbracht werden und wenn willkürliche Gewalt und Machtmissbrauch durch die zentralstaatliche Ebene in den Haushalten und dörflichen Gemeinschaften für alltägliche Unsicherheit sorgen, dann liegt die Frage nach der Leistungsfähigkeit lokaler Institutionen auf der Hand. Diese Funktionsfähigkeit lokaler, sich oft im Rekurs auf Tradition legitimierender Institutionen ist dabei in der Regel nicht unabhängig von externen institutionellen Rahmenbedingungen und Machtverhältnissen. Die Wirkungschance und Reichweite lokaler Institutionen und Verfahren hängt auch davon ab, inwieweit es gelingt, diese vor willkürlichen Machtinterventionen von außen zu schützen. Die externe Herstellung von basaler Sicherheit durch staatliche oder staatsäquivalente Zwangsstäbe kann damit entscheidend zum Funktionieren lokaler Problemlösungen beitragen.

Im Nordosten Afghanistans ist in den meisten Distrikten seit 2002 ein klarer Rückgang des unmittelbaren Machteinflusses von lokalen Gewaltunternehmern festzustellen, sofern sie sich nicht

10 In dieser Einschätzung waren sich Vertreter des PRT, Vertreter der Counter Narcotics Police Afghanistan (CNPA), Vertreter des US-Department of Justice und Vertreter der Grenzpolizei in informellen Hintergrundgesprächen einig.

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in das entstehende staatliche Rahmenwerk einfügt haben.11 Ein Wandel von roher Durchsetzungsgewalt hin zu zumindest pro forma an den Staat angegliederte Positionen und Ämter ist eindeutig nachweisbar.12 Waren Polizeiuniformen 2003 auch in den Provinzzentren noch skurrile Einzelerscheinungen, so haben inzwischen viele informelle Lokalkommandeure ihre Milizen in staatliche Positionen eingegliedert. Die Chancen, die Entwaffnungs- und Demobilisierungsprogramme gegen Widerstand durchzusetzen, sind zwar recht gering; doch viele lokale Gewaltunternehmer reizt das Prestige, am neuen „Staatsspiel“ zu partizipieren. Der Preis dafür ist, dass Milizführer und ihre Anhängerschaft mit ihren Partikularinteressen zumindest temporär in die staatlichen und staatlich anerkannten privaten Sicherheitsdienste absorbiert werden müssen (vgl. Wilder 2007; The Human Rights Research and Advocacy Consortium 2004).13

Der Rückgang offener Machtwillkür durch lokale Kommandeure hat zur Aufwertung lokaler Institutionen geführt, die einen entscheidenden Beitrag zur alltäglichen Konfliktverregelung ländlicher Gemeinden leisten können. Die wichtigste soziale Einheit, die lokal Sicherheit konsumiert und deren physischer Bestand zu schützen ist, stellt der Haushalt dar. Die nächsthöhere Einheit ist die Nachbarschaft, die ein ganzes Dorf umfassen kann, oder lediglich einen Siedlungsteil. Nachbarschaften können durch eigene Moscheen, also institutionalisierte öffentliche Treffpunkte, markiert sein; sie können einen eigenen Sprecher oder Ältesten haben oder nur informell, im Rahmen von Gemeinschaftsarbeiten (hashar), miteinander verbunden sein. Ganze Dörfer haben in Kunduz und Takhar oft, aber bei weitem nicht immer, einen mehr oder weniger repräsentativen Dorfrat (shura). Dieser kann gewählt, aus anerkannten Ältesten (z.B. der Nachbarschaften) „natürlich“ gewachsen, oder auch von einem lokalen Kommandeur oder anderem Machthaber autorisiert worden sein kann. Die Dorfräte sind ein zentrales Instrument, mit dem die Gemeinden kollektive Probleme, einschließlich lokaler Konflikte, zu lösen versuchen. Seitdem Dorfräte im Rahmen des National Solidarity Programme (NSP) als Community Development Councils (CDCs) vielerorts über ein von der Weltbank entwickeltes Wahlverfahren formalisiert wurden, sind sie die wichtigste Anlaufstelle für NGOs und EZ Organisationen geworden, die im ländlichen Raum Projektarbeiten durchführen.

Den gesellschaftlich eingebetteten lokalen Governance-Institutionen gemeinsam ist, dass sie zwar viele Probleme auf Gemeindeebene durch Konsensentscheidungen, durch Mediation und durch Aushandlungsprozesse lösen können; sie sind aber in ihrer Reichweite auf die Gemeinde beschränkt und versagen dann, wenn Konfliktparteien oder deren externe Patrone mehr Macht ins Spiel bringen als die lokalen Verfahren aushalten.

11 Ein bekanntes Beispiel für Kriegsherren, die sich in den neuen Staat hinein und damit weg von ihrer regionalen Machtbasis kooptieren lassen haben, ist Ismail Khan aus Herat, der in der Regierung Karzai Energieminister wurde. Ein Gegenbeispiel ist General Dostum, der es bisher abgelehnt hat, seine regionale Machbasis im Norden des Landes für eine Position in Kabul aufzugeben. 12 Dieser Trend wird sowohl von Umfragen, die nach der Relevanz und Dominanz von lokalen informellen Kommandeuren fragen, als auch von Beobachtungen und Interviews seit 2003 für den Nordosten bestätigt. Die durchgängig häufigste Erklärung von Afghanen, die angaben, dass sich ihre Sicherheit in den vergangenen Jahren verbessert hat, war ein Verweis auf den Rückgang der lokalen Gewaltwillkür durch bewaffnete Gruppen. Siehe Koehler & Zürcher (2007a) zur Statistik und Koehler (2008) zu den qualitativen Daten. 13 Die Wahrscheinlichkeit von „very bad governance“ lokaler Sicherheitsdiensten wird durch das von der US-amerikanischen Militärführung eingeführte und durch das afghanische Innenministerium unterstützte Programm der selektiven Wiederbewaffnung ehedem marginalisierter Milizen, die zur lokalen Bekämpfung der Taliban eingesetzt werden, noch erhöht (vgl. Ayub, Kouvo & Wareham 2009: 12f).

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2.1.2. Entscheidungskompetenz und Organisationskompetenz der Akteure

Die oben beschriebene komplexe Anordnung von Akteuren, die auf internationaler, nationaler und lokaler Ebene an der Herstellung oder Verknappung von Sicherheit beteiligt sind, legt die Vermutung nahe, dass eine klare Zuordnung von Entscheidungskompetenz, Organisationskompetenz und Legitimationsfähigkeit in Afghanistan (und anderen Interventionsgesellschaften) nicht möglich ist. In der Tat beobachten wir eine Verschränkung von Entscheidungs- und Organisationskompetenz, welche sich am Fall eines für die Region typischen Konfliktes um Ackerland veranschaulichen lässt:

Im Distrikt Kalay Zal (Provinz Kundus) eskalierte in den Jahren 2005 und 2006 zwischen dort ansässigen Turkmenen und aus Pakistan zurückkehrenden Usbeken ein Konflikt um Ackerland. Die Usbeken hatten ihre Ländereien im Zuge der sowjetischen Besatzung in den frühen 80er Jahren zwar verlassen, aber ihre Landtitel nie veräußert oder aufgegeben. Das fruchtbare, bewässerte Ackerland wurde in den Jahren nach dem Sturz der Taliban für den sehr lukrativen Schlafmohnanbau genutzt. Durch die so erwirtschafteten Gewinne war es den turkmenischen Bauern gelungen, sich die Patronage des Distriktkommandeurs (informeller Jihadi-Kommandeur oder Sicherheitskommandeur, der zwischenzeitlich auch in offizieller Funktion Polizeikommandeur war) zu sichern. Der Distriktkommandeur war seinerseits ein Sub-Kommandeur des mächtigsten Jihadi-Kommandeurs in Kundus, der bis zu seiner Absetzung 2005 auch eine offizielle Position als Polizeichef von der Nachbarprovinz Baghlan bekleidete. Beide Kommandeure profitierten von der Drogenwirtschaft. Nachdem es zu ersten tödlichen Zusammenstößen zwischen Turkmenen und Usbeken gekommen war, wandten sich die Rückkehrer an den UNHCR und die Menschenrechtskommission in Kundus, und die Turkmenen aktivierten ihre Patrone. Der Gouverneur unterstützte die Ansprüche der Rückkehrer, konnte sich aber nicht gegen die Kommandeure durchsetzen. Der Fall kam vor das Provinzgericht (Court of Appeal) in Kundus, wurde von dort an das Oberste Gericht in Kabul verwiesen und von dort zurück auf die Provinzebene. Letztlich entschied der Gouverneur im Einvernehmen mit dem UNHCR, dass die Rückkehrer in ein Flüchtlingszeltlager evakuiert werden müssten. Dort lebten sie, als diese Fallstudie im Frühjahr 2007 erhoben wurde, noch immer.

Dieser Fall zeigt am Beispiel eines gewaltsam eskalierenden Rechtsstreites, dass es zwar staatliche Organe mit verfassungsmäßiger Entscheidungskompetenz gibt: nämlich Gerichte in verschiedenen Instanzen; gleichzeitig aber existieren entscheidungskompetente Parallelstrukturen: Distrikt- und Provinzverwaltungen, die nach afghanischer Rechtspraxis durchaus befugt sind, in Konflikte zu intervenierten und zur außergerichtlichen Streitbeilegung beizutragen; auch die sich an internationalen Menschenrechten orientierenden internationalen und nationalen Akteure, UNHCR und Menschenrechtkommission, beanspruchen de facto einen Teil der Entscheidungskompetenz für sich.

Sicherheit, die von der Lokalbevölkerung als relevant angesehen wird und physische Sicherheit im Besonderen sind in Konflikt- oder Nachkriegsgesellschaften in gesteigerter Form auch eine Funktion von geregelter, zuverlässiger Konfliktaustragung. Die Entscheidungskompetenz für geregelte Konfliktaustragung ist in Afghanistan nicht eindeutig zwischen Staat, lokaler Rechtsordnung und internationalen Interventen mit Anspruch auf Entscheidungskompetenz in bestimmten Konfliktfeldern aufgeteilt.

Das Beispiel zeigt weiter, dass der Staat und die internationalen bzw. zivilgesellschaftlichen Akteure zwar über (einen Teil der) Entscheidungskompetenz verfügen, aber nicht unmittelbar über Organisationskompetenz zu Durchsetzung der Entscheidungen. Hier kommen die strategischen Interessen anderer Akteure ins Spiel, deren Durchsetzungsmacht nicht nur die Umsetzung der Entscheidung verhindern (und damit den Ausgang des Konfliktes beeinflussen) kann, sondern schon den Entscheidungsprozess der Gerichte lähmt. Außerdem schränken diese Akteure die

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Provinzadministration und die zuständige Internationale Organisation in ihrer Entscheidungskompetenz ein. Letztlich wird eine Entscheidung entlang der realen Machtverhältnisse getroffen, und der UNHCR begnügt sich damit, die Folgen von vermachteter Konfliktaustragung abzufedern. In anderen Worten: Die Organisationskompetenz des internationalen Governance-Akteurs wird in den Dienst eines informellen, durch Realmacht entscheidungsfähigen Akteurs gestellt.

Dies ist ein extremes, aber nicht untypisches Beispiel dafür, wie in der Untersuchungsregion Sicherheit selektiv und situativ hergestellt wird. Es steht exemplarisch für miteinander nur ad hoc koordinierende Parallelstrukturen unterschiedlicher institutioneller Ebenen, für unklar verfasste und umstrittene Entscheidungskompetenzen staatlicher Akteure und für die Machtanfälligkeit der offiziellen Verfahren. Im Ergebnis wird Sicherheit nicht nach den Regeln staatlicher oder gesellschaftlicher Institutionen hierarchisch durchgesetzt, sondern zwischen Konsumenten und Produzenten nach machtanfälligen lokalen Regeln ausgehandelt.

Die für zuverlässig verregelte Konfliktaustragung notwendige Sicherheit existiert nicht als ein öffentliches Gut. Es mangelt im vorliegenden Beispiel aber nicht nur an öffentlicher Sicherheit, sondern auch an lokal über soziale Kontrolle durchgesetzter, die Streitparteien einschließender Sicherheit als Gemeinschaftsgut, weil die Reichweite des Konfliktes die Grenzen der sozialen Kontrolle und die Zuständigkeit lokaler Institutionen durchbricht. Die Entscheidungs- und Organisationsfähigkeit der staatlichen und diese unterstützenden externen Governance-Akteure beeinflusst die Bereitstellung von Sicherheit eher vermittelt. Die trotz Konflikteskalation relativ geringe Gewaltintensität und die Tatsache, dass die unterlegene Partei nicht wieder gänzlich vertrieben wurde, ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass im Nordosten (bis ins Jahr 2008) rudimentärer Landfrieden etabliert war und Kommandeure nicht ungehindert mit kriegsfähigen Waffen ihre Interessen verfolgen konnten. Ihr durchaus erhebliches Droh- und Destabilisierungspotenzial können sie im Schatten der NATO-geführten ISAF nur dosiert und unter Inkaufnahme erheblicher persönlicher Risiken einsetzen. Offene kriegerische Auseinandersetzungen waren ihnen durch die internationale Truppenpräsenz und vermehrt auch durch die afghanischen Sicherheitskräfte unmöglich geworden.

Legitimationsfähigkeit

Im Kontext einer Intervention, die funktionstüchtige Staatlichkeit landesweit durchsetzen möchte, interessiert aus der Warte der Bevölkerung, inwieweit die entstehenden Institutionen des Staates vor Ort besser Probleme lösen als lokal verfügbare gesellschaftliche Instanzen oder ob sie sogar eher neue Probleme schaffen.

Unsere Erhebungen zeigen, dass das Image des Staates im Kernbereich Sicherheit im Nordosten besser ist als seine tatsächlich festzustellende Leistungsfähigkeit. In Umfragen der Jahre 2007 und 2009 wird der Staat als wichtigster Faktor für eine überwiegend positiv eingeschätzte Sicherheitslage genannt. Die Angst vor einem neuen Bürgerkrieg oder der Rückkehr der Taliban überwiegt; man sieht den neuen Staat (noch) als wichtigste Alternative zu einer Rückkehr der Gewaltwillkür. Nicht zuletzt

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aufgrund seiner tatsächlichen Machtdefizite wird der Staat dabei zumindest im Nordosten Afghanistans nicht als Teil des Sicherheitsproblems wahrgenommen.14

Dieser Befund galt bis Mitte 2008 auch für die Truppen der ISAF. Diese überwiegend positive Beurteilung hat sich allerdings durch die Eskalation von aufständischen Anschlägen und Gegenmaßnahmen der Sicherheitskräfte in der Provinz Kunduz und Takhar abgekühlt.15 Auch die Diskussion um eine Wiederbewaffnung von Milizen, die Bollwerk gegen Talibaninfiltration dienen sollen, trägt selbst in entlegenen Gebieten zu einer verschlechterten Sicherheitswahrnehmung bei. Zentral ist dabei die Angst vor bewaffneten Gruppen jenseits der Kontrolle des Staates und jenseits der sozialen Kontrolle der Dörfer.

Es ist die Effektivität und Legitimität der vorhandenen gesellschaftlichen Strukturen, die als funktionale Äquivalente von Staatlichkeit fungieren können, die darüber entscheidet, ob die Intervention willkommen ist oder als illegitime Einmischung in lokale Angelegenheiten aufgenommen wird. Wenn Interventen, wie die Taliban auf ihrem Siegeszug gegen die Kriegsherren in den Jahren 1994 bis 1996, gegen Gewaltwillkür und Anarchie antreten, ist der Schutz vor der willkürlichen Gewalt der Kommandeure und die zuverlässige Regelung solcher Konflikte, die mit lokalen Institutionen nicht in den Griff bekommen werden konnten, ausreichend. Dies reichte für die Taliban aus, um zumindest vorläufig von weiten Teilen der Bevölkerung als wünschenswertere Ordnungsalternative zum Gewaltmarkt der Kommandeure akzeptiert zu werden. Die Situation von Interventen ist hingegen ungleich schwieriger, wenn diese gegen eine handlungsfähige politische Ordnung antreten, wie die von den USA geführte Invasion in 2001 in Afghanistan. Diese Intervention löste das Regime der Taliban mit militärischen Mitteln ab und etablierte eine neue Ordnung, in der der militärisch unterworfenen Talibanelite kein Platz eingeräumt wurde. Aus dieser Ausgangssituation folgt, dass die von den USA geführte Intervention deutlich größere Anstrengungen unternehmen muss, um breite Akzeptanz für die neue, extern gestützte Ordnung zu erlangen.

Grundsätzlich gilt, dass der Staat dann in seiner Sicherheitsfunktion nachgefragt wird, wenn lokale Problemlösungen versagen. Allerdings sieht er sich Konkurrenz ausgesetzt. Nicht die Nachfrage, auch das Angebot von Sicherheit ist umkämpft, weil sie Legitimation verspricht. Trotzdem werden Sicherheitsleistungen in den zentralen Bereichen innere Sicherheit (Polizei) und institutionalisierte Konfliktaustragung (Recht) nur selektiv und unzuverlässig erbracht. Gerade in diese durch Inkompetenz, Missbrauch und Willkür entstehende Legitimationslücke drängen Aufständische mit ihrem Versprechen für eine gerechtere und effektivere, religiös legitimierte politische Ordnung.

2.2 Pakistan

Bis Anfang der neunziger Jahre galt Pakistan als ein gegenüber anderen sozialen Institutionen „überentwickelter Staat“ (Alavi 1979), der auf Kosten der ihn konstituierenden gesellschaftlichen Organisationen lebt. Spätestens seit der Serie von Selbstmordattentaten, die das Land seit dem Herbst 2007 erschüttert, kann davon jedoch nicht mehr die Rede sein. Die latenten

14 Dies gilt nicht für die Distriktpolizei, die eher zu den externen bewaffneten Gruppen jenseits der sozialen Kontrolle des Dorfes gerechnet wird und in den Umfragen 2009 als ähnlich bedrohlich wie andere „Gunmen“ eingeschätzt wird.

15 Im Jahr 2007 sahen nur knapp 5 Prozent der Befragten die ISAF als Sicherheitsbedrohung an, wohingegen dieser Anteil im Frühjahr 2009 auf etwa 30 Prozent gestiegen war.

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sicherheitspolitischen Probleme Pakistans sind evident geworden. Doch trotz Terrorismus in den Metropolen und Bürgerkrieg in den Federally Administered Tribal Areas (FATA) sowie in Teilen der Nordwestgrenzprovinz ist noch kein failed state. Gewaltsame Auseinandersetzungen und terroristische Attentate sind bisher räumlich und zeitlich derart begrenzt gewesen, dass sie den aus der britischen Kolonialherrschaft hinübergeretteten Staatsapparat (zivile Bürokratie, Armee, Gerichte) nicht im Kern treffen konnten (Lieven 2008). Eine für Bürgerkriege typische Auflösung des Staatsapparates entlang politischer, ethnischer oder religiöser Loyalitäten entlang einer master cleavage (Kalyvas 2003) ist bisher nicht absehbar.

Pakistan ist also im Gegensatz zu Afghanistan keine Interventionsgesellschaft, in der state-building zu leisten ist, sondern ein Dritte-Welt-Staat, dessen Governance (nicht nur) im Bereich Sicherheit defizitär und reformbedürftig ist.16 Staatliche Strukturen sind vorhanden, nur funktionieren sie anders als erwartet. Die Gewaltkompetenz des Zentralstaates, insbesondere die seiner mit Nuklearwaffen ausgerüsteten Armee, ist im Vergleich mit anderen Entwicklungsländern noch recht groß. Trotzdem üben internationale Akteure indirekt und direkt Einfluss auf die innere Sicherheit aus: sei es durch die Präsenz der internationalen Truppenverbände in Afghanistan, sei es durch Luftangriffe mit Predator-Drohnen der CIA und der US-Streitkräfte. Auch weist die Sicherheitskompetenz des Zentralstaates und auch der vier Provinzen faktisch erhebliche Lücken auf: In großräumigen ländlichen Exklaven und in dynamischen urbanen Räumen der Metropolen verfügen nicht staatliche, sondern andere gesellschaftliche Gruppen über die entscheidende Gewaltkompetenz: traditionale Führer wie Khans oder Sardars, oder charismatische Gewaltunternehmer religiöser, ethnischer oder politisch-krimineller Provenienz.

Die Bandbreite der für die Sicherheit (oder Unsicherheit) relevanten Akteure ist beträchtlich: Sie reicht von den Jihadis genannten islamistischen Aufständischen und Söldnern oder den als Dacoits bezeichneten marodierenden Banden, bis hin zu rechtsstaatlichen Institutionen wie Militär oder Polizei, deren gesellschaftliche Akzeptanz jedoch heikel ist. Da diese Akteure allesamt ebenso gut für Unsicherheit wie für Sicherheit sorgen können, bezeichnen wir sie im Folgenden als Gewaltspezialisten.17 Dabei unterscheiden wir für Pakistan zwischen staatlichen, halbstaatlichen und nichtstaatlichen Gewaltspezialisten Zur Veranschaulichung werden im Folgenden die Beispiele der 15-Millionen-Metropole Karatschi im Süden des Landes und der flächengrößten, aber mit 10 Millionen Einwohnern bevölkerungsärmsten Provinz Belutschistan im Südwesten herangezogen. In beiden Fällen kann sich die Darstellung auf qualitative Datenerhebungen stützen, die in den Jahren 2008 und 2009 durchgeführt wurden (Sheikh 2008; Takhleeq Foundation 2009).

16 Zu diesem Schluss kommt auch der neueste Transformationsindex der Bertelsmann-Stiftung (2009: 67), der Pakistan als autoritäres Regime, Afghanistan hingegen – zusammen mit der Zentralafrikanischen Republik, der Demokratischen Republik Kongo und Somalia) – als failed state einstuft. 17 Gewaltspezialisten sind Akteure, die über die Kompetenz verfügen, ziel- und zweckgerichtet physische Gewalt einzusetzen, und zwar unabhängig davon, ob sie Sicherheit oder Unsicherheit verbreiten wollen. Diese neutrale Begriff bietet sich an, weil der Wechsel von der staatlichen zur nichtstaatlichen Seite, also vom gesetzlichen zum ungesetzlichen Gewalteinsatz, in der Dritten Welt keineswegs die Ausnahme ist (vgl. dazu Tilly 2003).

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2.2.1. Akteure und Sicherheitsleistungen

Staatliche Gewaltspezialisten

Pakistan ist qua Verfassung ein föderales Staatswesen mit vier Provinzen (Nordwestgrenzprovinz, Punjab, Sindh, Belutschistan). Seine Verfassungswirklichkeit ist indes durch kolonialherrschaftliche Züge geprägt, die im politischen Alltag zentralistischen Tendenzen Vorschub leisten – dies gilt auch und gerade für die Bereitstellung von Sicherheit. Auch über sechzig Jahre nach der Unabhängigkeit lebt die als viceregal state bezeichnete Realverfassung in den Köpfen vieler Bürger und erst recht in den Habitus der Staatsbeamten fort (vgl. Sayeed 1968) – zumal auch viele Rechtsnormen aus dieser Zeit datieren: So wurde etwa das Polizeigesetz von 1861 erst kürzlich und vorläufig durch eine neue, äußerst umstrittene Verordnung ersetzt. Auch das bürokratische Gerüst des Kolonialstaates, der Indian Civil Service (ICS), lebt in modifizierter Form als District Management Group (DMG) fort: Bei diesem elitären Beamtenkader ist das für die Bereitstellung von Sicherheit in einer sich rasch urbanisierenden Gesellschaft notwendige Wissen des Staates über Territorium, Bevölkerung und Wirtschaft konzentriert. Die zentrale Figur war hier über lange Zeit auf der Distriktebene der zum ICS (heute DMG) gehörende Deputy Commissioner (DC), mit Zuständigkeit für allgemeine Verwaltung, Steuererhebung, Sozialleistungen, Katasterwesen, Katastrophenschutz und innere Sicherheit (vgl. Callard 1957: 284ff.). Die Übermacht der zentralen Bürokratie zeigt sich auch an dem kolonialstaatlichen Dualismus zwischen den gewählten Provinzregierungen einerseits und den Präsidenten ernannten Provinzgouverneuren andererseits. Dabei liegt die politische Prärogative manchmal auf Seiten des Präsidenten, manchmal auf Seiten des Premierminister. Stets geht es dabei um die Frage, wer de lege bzw. de facto der „Chief Executive“ ist – wessen Befehlen also der Beamtenapparat zu folgen hat.

Der Bereitstellung von Sicherheit ist die kolonialstaatliche Tradition inzwischen abträglich, denn die Urbanisierung und Semiurbanisierung der ländlichen Regionen stellen die alten Herrschaftsmodi infrage (Qadeer 2006). Geblieben vom Kolonialstaat ist ein Mangel an effektiver politischer und richterlicher Kontrolle, der den Korpsgeist und das institutionelle Eigenleben fördert. Das gilt schon für die Polizei, die den Provinzregierungen (Innenministerium) untersteht, und erst recht für die Streitkräfte (550.000 Armeesoldaten, dazu Marine und Luftwaffe) und Paramilitärs (u. a National Guard, Frontier Corps, Pakistan Rangers), die formal von der Zentralregierung beaufsichtigt werden (Verteidigungs- bzw. Innenressort). Der Chief of Army Staff (COAS), dessen Generalhauptquartier (GHQ) in Rawalpindi nur wenige Kilometer von der Hauptstadt Islamabad entfernt liegt, wird zwar vom Präsidenten oder vom Premierminister ernannt, doch die reale militärische Aktionsmacht hat in Verbindung mit der fast schrankenlosen inneren Autonomie (Beförderungen, Versetzungen, Haushalt) dafür gesorgt, dass der Armeechef politisch eigenständig agiert (vgl. Cloughley 2008). Hinzu kommt, dass mit dem Inter-Services Intelligence (ISI) und der Military Intelligence (MI) zwei Nachrichtendienste de facto unter der Kontrolle des COAS stehen.18 An Bedeutung gewonnen haben für die innere Sicherheit auch die Spezialeinheiten der Armee wie die Special Services Group (SSG), der auch einmal der ehemalige Präsident Musharraf angehörte, sowie besondere Abteilungen innerhalb des Apparates, wie etwa die Anti Terror Unit des ISI, die ebenfalls dem COAS nahe stehen.

18 De lege berichtet der Generaldirektor (DG) des ISI dem Premierminister, de facto setzt er sich mit dem COAS ins Benehmen. Lediglich das dem Innenministerium unterstellte Intelligence Buerau (IB) unterliegt auch in der Praxis ziviler Kontrolle.

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Auch wenn Pakistan (nicht zu unrecht) als Militärstaat gilt, bekommen die Bürger die Armee im Alltag nur recht selten zu Gesicht. Bedeutender ist hier die Polizei, die zumindest in den urbanen Zentren von jeher zum Straßenbild gehört. So unterschiedlich die Erfahrungen im Alltag sein mögen, so gilt sie doch insgesamt als korrupt und wird nicht selten als Sicherheitsbedrohung empfunden. Ihre Ausstattung ist schlecht und mit ein Grund für ihre Ineffizienz (vgl. ICG 2008). Die Paramilitärs sind besser ausgestattet und ob ihres kriegerischen Habitus gefürchtet(er). Sie rücken bei länger andauernden lokalen Unruhen aus, was nicht selten mit der Übernahme der politischen Verantwortung durch die Bundesebene verbunden ist. Die Schwelle zum Einsatz regulärer Streitkräfte im Innern ist relativ hoch und auf Bürgerkriege beschränkt, wie zur Zeit in der Grenzregion zu Afghanistan.

Da der alte Kolonialapparat den neuen Herausforderungen kaum mehr gerecht wird, hat die im Jahr 2001 unter General Musharraf durchgeführte Kommunal- („Devolution of Power“) und Polizeireform („Police Order 2002") einige Aufmerksamkeit erfahren. Federführend war das hierzu eigens ins Leben gerufene National Reconstruction Bureau (NRB), das durch Weltbank und (kooptierte) lokale NGOs unterstützt wurde. Im Ergebnis wurden die von der Zentralregierung eingesetzten DC faktisch durch indirekt von der Bevölkerung gewählte Bürgermeister (Nazim) ersetzt, dem auch die Polizei unterstehen soll (vgl. Shafqat & Wahlah 2006, Zaidi 2005). Die Militärregierung verfolgte hiermit den doppelten Plan, sich mit größerer accountability mehr Legitimität zu verschaffen und auf lokaler eine ihr ergebene Gegenelite aufzubauen, die sie gegen die demokratischen Parteien in Stellung bringen kann. Beide Reformen werden von den etablierten Parteien abgelehnt und sind mittlerweile zum Teil wieder zurückgenommen worden. Zivilgesellschaftliche Akteure kritisieren, dass die Polizeiwillkür durch den Einfluss der Lokalpolitik eher noch zugenommen habe.

Halbstaatliche Gewaltspezialisten

In rückständigeren Regionen setzt der pakistanische Staat in britischer Tradition von jeher auf indirect rule: Damit sind indirekte Herrschaftsbeziehungen gemeint, die auf gemeinsamen Interessen beruhen und sich mittels institutionalisierter Aushandlungsprozesse bilden. So werden die FATA und große Teile der Provinz Belutschistan noch heute aufgrund gesetzlicher Bestimmungen, die aus der Kolonialzeit datieren, indirekt beherrscht: Während die FATA einen verfassungsrechtlichen Sonderstatus als teilautonome Region besitzen und ohne staatliche Institutionen auskommen müssen, reicht der Arm der staatlichen Polizeiverwaltung in den betreffenden Teilen Belutschistans nur bis zur Distriktebene. Wo nicht Privatarmeen der Sardars (Grundherren) das Feld beherrschen, vertraut die Regierung dort auf die halbstaatlichen Levies, die aus Stammesangehörigen gebildet werden. Da bei den halbstaatlichen Gewaltspezialisten prinzipiell Selbstequipierung vorliegt und Sardars und Maliks als Intermediäre agieren, ist Gewaltkontrolle damit de facto eine Sache einer stark vermachteten Selbstverwaltung. In den FATA ist die Staatsgewalt sogar nur durch political agents vertreten, die vermittelnd zwischen anerkannten lokalen Führer (Maliks) und die Zentralregierung treten. Da diese Formen indirekter Herrschaft und lokaler Gewaltkontrolle dauerhaft auf nationalstaatlicher Ebene institutionalisiert sind, erscheint es uns angemessen, die beteiligten nicht nichtgouvernementalen Akteure als halbstaatlich zu charakterisieren.

Diese Arrangement wird seit einigen Jahren zumindest prima facie von durch Gewaltkonflikte infrage gestellt. In der FATA stellen sich die jungen, charismatischen Führer islamistischer Rebellengruppen ostentativ gegen die Abmachungen der indirect rule, indem sie traditionale Führer und Vermittler mit direkter Gewalt angreifen und die Furcht vor einer „Talibanisierung“ des Landes schüren (vgl. Rana 2004). Scheinbar ohne Rücksicht auf die Bevölkerung setzen diese Jihadis Sicherheit mit ihrem

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Überleben als militante Gruppe gleich und garantieren allenfalls den Schutz ihrer (potentiellen) Anhänger, die sich entweder über die Zuordnung zu einer religiösen Rechtsschule oder die (erzwungene) Unterstützung der militanten Gruppe definieren. Nicht nur mit ihren zahlreichen Terrorangriffen gegen die Staats- und Regierungsspitze, das GHQ und die im Einsatz befindlichen Truppen haben charismatische nationale Akteure wie die Tehrik-i-Taliban dem Staat inzwischen offen den Kampf angesagt – offensichtlich ist auch, dass sie in Teilen der FATA (Waziristan) und einigen Distrikten der Nordwestgrenzprovinz (Swat) Gebietsherrschaft anstreben.

Allerdings ist die Macht dieser Gruppen territorial und sachlich stark begrenzt. Jihadis unterscheiden sich schon in ihrer Genese signifikant von typischen antistaatlichen Rebellengruppen (vgl. Wilke 2003, 2006a, 2006b). Gegründet und ausgebildet wurden diese Gruppen in den frühen achtziger Jahren unter staatlicher Schirmherrschaft für den „Auslandseinsatz“ in Afghanistan. Während die Federführung dieser Operation beim GHQ und beim ISI lag, besorgten religiöse und nichtreligiöse Parteien (darunter die Pakistan People’s Party unter der Premierministerin Benazir Bhutto) die notwendige politische Unterstützung im In- und Ausland – allen voran durch die USA und Saudi-Arabien (vgl. Coll 2005). Seit den führen neunziger Jahren wurden die Gruppen dann gegen den Willen der internationalen Unterstützer im indischen Kaschmir eingesetzt. Es folgte zum Ende der neunziger Jahre die teilweise Verselbständigung auch gegenüber den nationalen Patronen in ISI und GHQ, als etwa ein Anschlag auf den damaligen Premierminister Nawaz Sharif verübt wurde. Seit 2002 agieren einige Gruppen, wie etwa die Jaish-I-Muhammad, offen gegen Staat und Militär.

Trotz dieser offenen Konfrontation sind die islamistischen Netzwerke, denen die Jihadis entwachsen sind, weiterhin umfassend vom staatlichen Sicherheitsapparat infiltriert. So ist es dem Sicherheitsapparat wiederholt gelungen, „aus dem Ruder gelaufene“ Jihad-Kommandeure auszuschalten – sei es durch Förderung von Konkurrenten, sei es durch US-Drohnenangriffe. Zudem gibt es weiterhin Gruppen wie die Lashkar-I-Toiba, die sich gegenüber ihren Patronen weiterhin loyal verhalten. Das Beziehungsmuster zwischen Apparat und Jihadis knüpft an kolonialherrschaftliche Zeiten an, als die Staatsgewalt sich taktisch gegenüber diesen Gruppen verhielt und versuchte, sie für eigene strategische Interessen einzuspannen. Der Jihadismus wiederum steht in einer sozialrevolutionär-antikolonialen Tradition, die reich an Verrat und faulen Kompromissen ist (vgl. Jalal 2008). Aus diesem Grund werden die Jihadis hier zu den halbstaatlichen Gewaltspezialisten gezählt.

Nichtstaatliche Gewaltspezialisten

Neben den halbstaatlichen gibt es nicht-staatliche Akteure, die sich gestützt auf Tradition bzw. Charisma als Sicherheitsakteure betätigen. Nichtstaatliche Gewaltspezialisten haben sich in Pakistan sowohl in ländlichen wie in urbanen Räumen herausgebildet. In Ballungsräumen, wie etwa in Karatschi, treten einige dieser Gruppen im Zuge der Urbanisierung an die Stelle von dörflichen Gemeinschaften. Die Legitimation dieser Gruppen ist primär charismatisch, d. h. erfolgsabhängig. Hinzu treten „primordiale“ Bindungen, wie Verwandtschaft und gemeinsame Herkunft vor der Migration. Die meisten dieser Milizen funktionieren wie Rackets, die Eigentum und Besitz schützen: von der illegalen Lehmhütte bis zur Fabrik. Sicherheit heißt für die Rackets: die Unversehrtheit ihrer qua Gewaltandrohung gestifteten Überlebenseinheit garantieren (vgl. Horkheimer 1985). Sie rekrutieren sich vorwiegend aus „zornigen jungen Männern“, die Ehrvorstellungen aus dem ländlichen Raum in die Stadt transferieren. Sie sorgen für Schutz der Familie (Alte, Frauen, Kinder) und der eigenen Gruppe (lokale Herkunftsverbände, ethno-linguistische Gruppen). Ihre Klienten (und Abhängigen) sind Neuankömmlinge, Kranke und anderweitig Unterprivilegierte. Da in Südasien schon

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zu Zeiten der britischen Kolonialherrschaft in einigen Randzonen große Mobilität anzutreffen war, besteht hier eine gewisse Tradition im Sinne des indirect rule. Prominentestes Beispiel ist nicht von ungefähr die Partei der Flüchtlinge in Karatschi: die MQM (vgl. Frotscher 2005).

Die Rackets müssen sich nicht nur mit der Polizei ins Benehmen setzen, sondern ggf. auch mit privaten Sicherheitsdiensten, die in Kooperation mit der Polizei aktuelle „Lagen“ für den jeweiligen Block (Wohn- oder Geschäftsviertel) erstellen und von Fall zu Fall vorbeugend eingreifen, um Besitz und Eigentum zu schützen. Sie bieten die Sicherheit primär dem lokalen boss an, ob Malleigentümer, Fabrikdirektor oder Drogenhändler. Private Sicherheitsdienste versuchen, die Polizei in Sinne dieser Herrn zu beeinflussen. Ihre Angehörigen sind zumeist ungebildet, ohne Training und arbeiten als Ortfremde für einen sehr geringen Lohn. Ihre Bewaffnung ist teils nur vorgetäuscht. Auch die politischen Parteien unterhalten in vielen Teilen Pakistans leicht bewaffnete Frontorganisationen, die meist nicht mehr sind als bessere Schlägertrupps; ihre Bedeutung liegt in der Radikalisierung der Jugend auf den Campussen und in der Einschüchterung von Kandidaten, ähnlich wie in Indien („muscle politics“). Da sie alle unter den Augen der Nachrichtendienste agieren, ist ihre jeweilige Stärke auch ein Ausdruck des divide and rule.

Die nichtstaatlichen Gewaltspezialisten in ländlichen Regionen können unterschieden werden nach (sub-) nationalistischen Widerstandsgruppen in Belutschistan und in Teilen des Sindh, die für Autonomie oder Eigenstaatlichkeit kämpfen, und den bereits erwähnten Privatarmeen der lokalen Grundherren. Bei den Gruppen handelt es sich um relativ kleine, ins benachbarte und fernere Ausland vernetzte, zumeist von traditionalen (und nicht: charismatischen) Führern geleitete Ad-hoc-Einheiten, die in der Regel erst bei nach bewaffneten Zusammenstößen mit der Staatsmacht einen institutionellen Unterbau entwickeln.

2.2.2. Governance-Funktionen: Entscheidungs-, Organisations- und Legitimationskompetenz

In der inneren Sicherheit liegt in Pakistan, wie auch in den meisten anderen Politikfeldern, die legislative und exekutive Entscheidungskompetenz bei der Zentralregierung, während den Provinzen die Umsetzung der Entscheidungen (Organisationskompetenz) zusteht. Durchbrochen wird diese Anordnung (bis vor kurzem) schon de lege durch die oben erläuterte Konzentration der Organisationskompetenz auf der Distriktebene (Deputy Commissioner). Vor allem aber steht die Aktionsmacht des Militärs, vor allem der Armee, sowie die fehlende fiskalische Unabhängigkeit der Provinzen der Verfassungstheorie entgegen. Die pakistanische Staatspraxis ist durch Militär- statt Zivilherrschaft und durch Zentralismus statt Föderalismus geprägt. Hinzu kommt die Aktionsmacht gesellschaftlicher Akteure. Um diese besser zu illustrieren, werden wir im Folgenden jeweils exemplarisch auf die Verhältnisse in Pakistan rückständigster Provinz (Belutschistan) und modernster Großstadt (Karatschi) eingehen.

Entscheidungskompetenz:

Sicherheitspolitische Entscheidungen von nationaler oder erheblicher regionaler Bedeutung werden von der Zentralregierung getroffen. Der Inhalt der Entscheidung hängt vom Stand der politischen Machtkämpfe ab. Dabei geht es nicht allein um die Frage, welche Partei in der Nationalversammlung über die Mehrheit verfügt und den Premierminister stellt, sondern auch darum, wie das militärische Establishment (GHQ) zur Regierungsmehrheit steht und ob die Regierungsmehrheit neben der Bundesregierung auch noch über die Regierungsgewalt im Punjab verfügt: Hier lebt mehr als die

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Hälfte der pakistanischen Bevölkerung, und auf dem Gebiet des Punjab befindet sich die Doppelhauptstaft Islamabad-Rawalpindi. Gegen die Mehrheit im Punjab und die Mehrheit im GHQ kann keine noch so populäre Regierung langfristig überleben. Dabei ist die Armee mit dem COAS an der Spitze nicht nur wegen ihrer Verfügungsgewalt über die militärischen Mittel, sondern auch wegen der in der viceregal tradition stehenden Alltagssuprematie der Bürokratie der wichtigste innenpolitische Akteur. Der auch aus der OECD-Welt vertraute Wissensvorsprung des Staatssekretärs gegenüber seinem Minister nimmt vor allem in den Machtministerien (Innen, Verteidigung, Finanzen) nicht selten die Form einer Entmündigung des gewählten politischen Personals an.

Der COAS ist jedoch kein Alleinherrscher, sondern auf Verbündete in Exekutive und – im Falle extralegalen Mitteleinsatzes – auch der Judikative angewiesen. Vor allem aber benötigt er die Zustimmung, mindestens aber den Konsens der regelmäßig tagenden Konferenz der Korpskommandeure und Stabsoffiziere (CCC), deren Vorsitz er inne hat. Hier wird nicht nur über innermilitärische Organisationsfragen entschieden, sondern auch über die Richtlinien der Außen- und Sicherheitspolitik sowie alle innenpolitischen Fragen, die wichtig für das Überleben des Staates sind. Die Armee verfügt als korporativer Akteur über eigene Ausbildungseinrichtungen und Stiftungen, die sie zum größten Unternehmer des Landes gemacht haben (vgl. Siddiqa 2007). So kommt der Armeeführung nach wie vor die Funktion der Regimekrisenlösung zu. Sie – und nicht der ISI – ist der sprichwörtliche „Staat im Staate“, was immer heißen muss: der COAS, das GHQ und die CCC.

Durchbrochen wird die zentralstaatliche Entscheidungsprärogative lokal begrenzt in einigen urbanen (Rackets) und vielen ländlichen (Grundherren) Regionen sowie zeitlich begrenzt im Falle von Bürgerkriegen (Jihadis, Aufständische). Sehr deutlich zeigt sich dies in der Provinz Belutschistan, die zu den am geringsten durchstaatlichten Regionen Südasiens zählt. Hier ist das Verhältnis der lokalen Bevölkerung zur Zentralgewalt maßgeblich über die Sardars, die belutschischen Stammesführer, geregelt, die zugleich als unmittelbare lokale Herrscher und politische Intermediäre fungieren und auch für Sicherheitsfragen entscheidungskompetent sind. Während ihre Entscheidungsgewalt lokal auf der Geltung des rawaj („Überlieferung“) genannten Rechtssystems beruht, wird die für die Teilnahme am politischen Betrieb erforderliche ökonomische Abkömmlichkeit durch die Aufrechterhaltung der Renten tragenden grundherrenähnlichen Rechte und durch die staatlicherseits garantierten royalties, die sie für die auf seinem „Hoheitsgebiet“ befindlichen Bodenschätze, etwa das Erdgas in der Sui-Region, erhalten, garantiert. Diese Machtfülle, die vom pakistanischen Staat über Jahrzehnte stillschweigend anerkannt wurde, wird vielerorts genutzt, um alte Privilegien gewaltsam gegenüber den Hintersassen zu verteidigen. Im Ergebnis hat sich also die entscheidungskompetente Zentralmacht in Belutschistan (ähnlich wie in Afghanistan) lange Zeit mit Blick auf die erwarteten Implementationswiderstände mit Entscheidungen zurückgehalten. Seit sie anders verfährt und auf lokaler Ebene Polizeistationen errichten will, hat sich die Sicherheitslage jedoch deutlich verschlechtert (Wilke 2009).

Ein anderer Fall ist Karatschi. In der 15-Millionen-Einwohner-Stadt ist der Staat zwar prinzipiell als entscheidungskompetent anerkannt, doch hat sich die Gewaltordnung seit den achtziger Jahren faktisch privatisiert, so dass politische Maffias nicht nur die Sicherheitsdienstleistungen, sondern auch das Transportwesen und die Entsorgungswirtschaft unter sich aufgeteilt haben. Entscheidungen gegen diese Gruppen zu treffen ist der Stadtverwaltung kaum möglich, die Stadtentwicklung war über Jahre blockiert, die Sicherheitslage prekär. Seit der oben beschriebenen Kommunalreform, die der Stadt erstmals einen (indirekt) gewählten Bürgermeister bescherte, und der Machtübernahme Musharrafs hat(te) sich die Situation (vorübergehend) gebessert. Das Muttahida Qaumi Movement

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(MQM), die führende Maffia aus Indien abstammender Einwanderer (Muhajirs), einigten sich mit der Militärführung unter Musharraf (ebenfalls einem Muhajir) auf einen Burgfrieden: Regierungsgewalt für die MQM gegen Frieden für die Stadt und die Provinz Sindh. Seither floriert die Wirtschaft, und sogar der Ausbau der Infrastruktur macht Fortschritte. Nach dem Abtritt Musharrafs hat der neue Präsident Zardari zunächst recht erfolgreich versucht, diesen Deal zu erneuern (Wagner & Wilke 2008). Da Zardaris Pakistan People’s Party (PPP) in Karatschi traditionell mit der MQM verfeindet ist und er als Präsident auf die Kooperation des COAS angewiesen ist, handelt es sich allerdings um ein heikles Arrangement.

Organisationskompetenz

So sehr die zivile und die militärische Bürokratie der Doppelhauptstadt auf Bundesebene die sicherheitsrelevanten Entscheidungskompetenzen für sich beanspruchen können, so schwer fällt beiden die Umsetzung der Entscheidungen. Auch die politischen Parteien, die schon bei der Entscheidungskompetenz kaum ins Gewicht fallen, können aufgrund ihrer defizitären Binnenorganisation hier nicht punkten. Zentralstaatliche Organisationskompetenz ist ein Mangel in Pakistan, seit die alten Mittel und Wege der Distriktverwaltung in einer urbanisierten Welt nicht mehr gangbar sind. Dass die Armeeführung Probleme bei der Umsetzung ihrer Entscheidungen hat, liegt in der Natur der Sache. Gilt doch generell, dass Militärs in Ausnahmesituationen zwar die Macht an sich reißen und für Ruhe und Ordnung sorgen können, sie aber an komplizierten Staatsgeschäften scheitern (vgl. Nordlinger 1977). Schon bei der faktischen Bereitstellung von Sicherheit tritt die Armee in den Hintergrund – sie spielt im Alltag (Straßenbild) nur eine untergeordnete Rolle. Wichtiger sind in diesem Zusammenhang die Rangers und das Frontier Corps, die als paramilitärische Einheiten in urbanen bzw. ländlichen Räumen in bürgerkriegsähnlichen Szenarien eingesetzt werden.

Die den Provinzregierungen unterstellte Polizei ist in ihrer Fachkompetenz den föderalen Sicherheitsorganen (Militär) zwar unterlegen, doch ihre Amtsführung beeinflusst den politischen und gesellschaftlichen Alltag in urbanen Räumen maßgeblich. Ihre Beamten sind zwar schlechter bezahlt und arbeiten teils unter erbärmlichen Bedingungen, und sie ist außerdem anfälliger für partikulare Sicherheitsstrategien, wie vor allem von der Politik (Regierung) formuliert werden; doch dies alles ändert nichts an ihrer Bedeutung für die Bereitstellung von Sicherheit im Alltag. Eine außeralltägliche Funktion erfüllt demgegenüber die Polizei im Punjab, die, da sie die Wege zur Hauptstadt kontrolliert, ähnlich der preußischen Polizei in der Weimarer Republik der Schlüssel zur Macht im Land ist (sofern das Militär nicht eingreift).

Auf lokaler Ebene ist die Verfügungsmacht über Organisationskompetenzen für die Implementierung zentralstaatlicher Entscheidungen noch wichtiger. Im Falle Belutschistans beruht Governance als indirect rule auf der Grundregel, dass den lokalen Normen im Grundsatz der Vorrang vor der geschriebenen Verfassung gebührt. So unterstehen die Levies genannten Polizei- und Verwaltungseinheiten zwar nominell staatlicher Führung, setzen sich aber in der Regel aus lokalen Kräften zusammen (vgl. Scholz 2002). Dies gilt erst recht für die Privatarmeen unter dem Oberkommando der Sardars, welche die „Hauptlast“ an der Aufrechterhaltung der Gewaltordnung tragen. Dabei ist die von diesen Ad-hoc-Milizen ausgeübte Gewalt nicht immer auf den Erhalt der Ordnung ausgerichtet, sondern dient auch dem Privatinteresse einzelner Sardars, was dem Stabilitätsinteresse zuwiderlaufen kann: Es ist also nicht der Staat oder ein anderweitig legitimierter, spezialisierter Stab von Spezialisten, der die Gewaltkontrolle ausübt, sondern jeder männliche Belutsche eines gewissen sozialen Ranges ist gleichsam auf Abruf hierzu willens und in der Lage. Schon die Häufigkeit und die Intensität der militärischen Auseinandersetzungen zwischen den

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belutschischen Stämmen legen es nahe, nahezu alle männlichen Belutschen als Gewaltspezialisten zu begreifen (Darlinski 2008).

In Karatschi zeigte sich die Macht nichtstaatlicher Gewaltakteure am 12. Mai Jahr 2007, als der in einen erbitterten Machtkampf mit dem damaligen Präsidenten Musharraf verwickelte – und seinerzeit von Musharraf suspendierte – Oberste Richter Chaudhry einen Demonstrationszug anführen wollte. Quer stehende Sattelzüge und marodierende Mobs (mutmaßlich) der MQM setzten den Richter am Flughafen fest, während Sniper auf unbewaffnete Demonstranten feuerten. Die Polizei und die Rangers hielten sich ganz im Sinne des oben erläuterten Burgfriedens zurück. Das über Jahre relativ friedliche Karatschi fiel zurück in seinen „Naturzustand“ der neunziger Jahre: Die öffentliche Sicherheit brach völlig zusammen und bewaffnete Gruppen kontrollierten für einen Tag lang die Stadtviertel (vgl. HRCP 2007).

Legitimationsfähigkeit

Die Delegitimierung der entscheidungsfreudigen und durchsetzungsschwachen Staatsgewalt ist das schwierigste Governanceproblem in Pakistan. Dies zeigen erneut die Fälle Belutschistan und Karatschi. In Belutschistan brachte Musharraf wenige Monate nach seiner Machtübernahme mit der Intensivierung der Ressourcenextraktion (vor allem Erdgas), der Fortentwicklung der Transitwege (Überlandstraßen, Eisenbahnlinien) und der Einrichtung eines Tiefseehafens (Gwadar) eine ambitionierte Entwicklungsstrategie auf den Weg, mit der die zentralstaatliche Herrschaft neue Legitimation bekommen sollte (vgl. Wirsing 2008). Hinzu trat jedoch eine Sicherheitskomponente, die aus dem mit dem Aufbau von drei neuen Cantonments (Garnisonen) und der Einführung der Polizei unterhalb der Distriktebene die zentralstaatliche Durchdringung verbessern sollte. Doch die erhöhte Armeepräsenz und die Abschaffung der halbstaatlichen Levies wurden von der Provinzbevölkerung als Kriegserklärung aufgefasst. Die Levies besitzen, gestützt auf den kriegerischen Habitus der belutschischen Oberschicht, offenbar größere Legitimität als die moderne Polizei. Das Bestreben, die Provinz mittels Infrastrukturprojekten, ausländischen Direktinvestitionen und Militärbasen zu entwickeln, verstärkt darüber hinaus die Furcht vor Fremdbestimmung und provoziert militanten Widerstand (Sheikh 2008; vgl. Akhtar 2007).

Auch in Karatschi besteht ein massives Legitimationsdefizit. So wird die messbare Besserung der Sicherheitslage nach den Vorfällen vom 12. Mai 2007 rundheraus in Abrede gestellt (TakhleeqFoundation 2009). Insgesamt herrscht mit Blick auf die Verbesserung der objektiven Sicherheitslage die zynische Auffassung vor, die Rackteers von einst seien nun an der Regierung. In den Tageszeitungen des Landes entlud sich nach dem 12. Mai eine Hasswelle gegen die MQM, auch und gerade von Seiten der liberalen Intelligenz. Dabei ist die MQM – neben der islamistischen Jamaat-i Islami – hinsichtlich ihrer Organisationsstrukturen die moderne Partei des Landes. Auch ihre Programmatik ist durchaus liberal und fortschrittlich zu nennen; außenpolitisch unterstützte sie als einige Partei in Pakistan auf einer ihrer Massendemonstrationen den Krieg gegen den Terror. Was den Unmut erregt, ist die Tatsache, dass diese Partei der Einwanderer mutmaßlich mit Unterstützung des ISI gegründet wurde mit dem Ziel, die Parteien der Alteingesessenen zu schwächen. Sie gilt als Partei des sicherheitspolitischen Establishments, obwohl auch viele ihrer Aktivisten während des Bürgerkrieges in den neunziger Jahren Opfer von Militärgewalt wurden. Aufgrund dieser sicherheitspolitischen Kontaminierung der MQM wird die langfristige Verbesserung in Karatschi in Abrede gestellt, mit dem Ergebnis, dass vor Ort inzwischen sogar einer Machtübernahme durch das Militär (ohne Musharraf) das Wort geredet wird. Als legitim gelten hingegen lokale nachbarschaftliche Honoratioren, aber auch karitative Organisationen wie die Edhi Foundation.

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Die Legitimation des pakistanischen Zentralstaates in Sicherheitsfragen ist also insgesamt schwach, und dies exakt zu jenem Zeitpunkt, wo (ehedem) halbstaatliche Jihadis die Sicherheit der Bevölkerung bedrohen. Die Rückfalloption lokal legitimierter sozietaler Sicherheit besteht aufgrund des schnellen sozialen Wandels in der Theorie allenfalls in den verbliebenen rückständigen Gebieten Belutschistans und der FATA – faktisch herrscht aber gerade hier Bürgerkrieg.

3. Fazit: Governancearchitektur Sicherheit

in diesem Papier getroffenen Aussagen zu Governance-Akteuren und -Funktionen im Sachbereich Sicherheit sind strikt fallbezogen. Inwieweit sie sich verallgemeinern lassen, werden andere Fallanalysen zeigen müssen. Empirische Studien, die das Material sprechen lassen, sind aus Sicht der Autoren der einzige Weg, um den dürftigen Forschungsstand zu Staat und Politik in Räumen begrenzter Staatlichkeit zu verbessern. Um Anschlüsse für verallgemeinernde Aussagen zu bieten, sollen hier dennoch einige fallbezogene Thesen aufgestellt werden.

Bei allen Unterschieden zeigen die Fällen eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Das gilt schon für die Genese der Sicherheitsgovernanceproblematik, die bis in die sechziger und siebziger Jahre zurückreicht: Das ancien régime (Afghanistan) bzw. der viceregal state (Pakistan) wird durch sozialen Wandel, der nicht institutionell kanalisieren werden kann, infrage gestellt. Soziale Akteure unterschiedlichen Zuschnitts wagen dann den Griff zur Gewalt, auf den der Staat seinerseits mit Gewalt reagiert. In der Folge bricht dann in Afghanistan die gesellschaftliche Ordnung zusammen, und das Land versinkt in einem Bürgerkrieg unter Intervention verschiedener Staaten, der bis zum heutigen Zeitpunkt andauert. In Pakistan hingegen treten kommerzielle und kommunalisierte Formen der Gewaltverwaltung an die Seite der weiterhin leidlich funktionierenden staatlichen, was im Zusammenhang mit dem Krieg in Afghanistan (und in Kaschmir) zur erwähnten Proliferation von Gewaltspezialisten geführt hat.

Auch in struktureller Hinsicht lassen sich einige Gemeinsamkeiten im Umgang mit (Sicherheits-) Governanceproblemen herausarbeiten. Es stechen drei Prinzipien hervor, nach denen in beiden Fällen, wenn auch in unterschiedlichem Maße und mit unterschiedlichem Erfolg, regiert wird: Erstens die teils legal-bürokratische, teils willkür-bürokratische direkte Herrschaft und Gewaltkontrolle durch Real- und Aktionsmacht, die im Sinne des Bandes als Verfügung über Organisationkompetenz gewertet werden kann. Zweitens das Prinzip des Teilens und Herrschens (divide and rule) und drittens das Prinzip der indirekten Herrschaft und der lokalen Selbsthilfe, was zu konkurrierenden und potentiell konfliktträchtigen Verhältnissen hinsichtlich der Entscheidungskompetenzen führt.

Was Afghanistan und Pakistan aber unterscheidet, ist die Verbindung dieser drei Prinzipien und die Rolle, die der Staat bei der Bereitstellung von Sicherheit spielt:

- Das afghanische Prinzip besteht aus dem periodisch scheiternden Versuch des Staates, den bürokratisch-administrativen Einfluss über Kooptation, divide and rule und indirect rule in die ländlichen Regionen auszudehnen. Hier ist die eigenständige, segmentäre oder hierarchische gesellschaftliche Gewaltkontrolle immer wieder auf Augenhöhe mit den staatlichen Versuchen, die eigene Autorität durchzusetzen. Dieses Fließgleichgewicht zwischen schwacher Zentralmacht und starker Lokalgesellschaft bricht in den siebziger Jahren zusammen.

- Beim britischen Prinzip, das Pakistan prägt, steht die legal-bürokratische Herrschaft als viceregal state im Zentrum der Governancearchitektur, ist aber in der Praxis auf divide and rule

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angewiesen. Indirect rule spielt vor allem in peripheren Regionen eine Rolle. Das System gerät in den letzten drei Jahrzehnten immer mehr in die Krise.

Vor, nach und während der Krise, deren Anfang in beiden Fällen zu Beginn der siebziger Jahre liegt und die in beiden Fällen (wenn auch aus unterschiedlichen Gründen) zur Jahrtausendwende eine neue Wendung nimmt, ist die Rolle des Staates in Pakistan deutlich stärker ausgeprägt als in Afghanistan. Damit korreliert jedoch offenbar nur scheinbar eine deutlich bessere Sicherheitslage: Denn das Mehr an Sicherheit, das die pakistanischen im Vergleich zu den afghanischen Bürgerinnen und Bürgern genießen, wird zumindest subjektiv kaum dem Staat zugeschrieben. Vielmehr zeigen unsere Untersuchungen, dass die bevölkerungsfernen staatlichen Institutionen in Afghanistan den Staat in besserem Licht erscheinen lassen als die der Bevölkerung näheren in Pakistan, wo der Staat in Gestalt seiner Sicherheitskräfte zumindest in urbanen Räumen allgegenwärtig, aber verrufen ist. Auch wenn es paradox klingt: Die objektiv bessere Entscheidungs- und Organisationskompetenz des pakistanischen Staates im Bereich Sicherheit macht sich subjektiv in geringerer Legitimationsfähigkeit bemerkbar. Lässt sich also nach afghanischem Prinzip besser regieren als nach britischem Prinzip? Liegt die Zukunft des Staates also wenn vielleicht auch nicht in Afrika (vgl. Trotha 2000) , dann doch in Afghanistan?

Ganz sicher nicht. Der gute Ruf des Staates und auch der staatsäquivalente Leistungen erbringenden Interventen gründet sich nämlich nicht eigentlich, so zumindest unsere Vermutung, auf seine Abwesenheit, sondern auf die Macht der Staats als Idee und die Hoffnung, ein funktionierender Staat möge sich nach mehr als dreißig Jahren Bürgerkrieg wieder etablieren. Umgekehrt ist die Staatsverachtung, die wir bei Befragungen in Pakistan angetroffen habe, das Ergebnis einer ganz bestimmten Regierungsform, die nirgendwo populär zu sein scheint: der Militärdiktatur. Dennoch können Interventen (nicht nur in Afghanistan) und Reformer (nicht nur in Pakistan) aus den Ergebnissen eines lernen: In Räumen begrenzter Staatlichkeit wird mit dem Staat keineswegs ausschließlich oder auch nur primär Sicherheit assoziiert. Der gute Ruf, welcher der modernen Staatlichkeit mit ihren Leitbildern der Demokratie und Rechtssicherheit zukommt, muss im Einzelfall hart erarbeitet werden und ist schnell wieder verspielt.

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