Widerstand und Widerstandsrecht
Transcript of Widerstand und Widerstandsrecht
I. Widerstand im 21. Jahrhundert..................3
II. Wiederstand und Widerstandsrecht..............4
1. Grundsätzliche Fragen und Vorgehensweise................4
2. Definitionen der zentralen Begriffe.....................4
2.1. Der (politische) Widerstand...........................42.1.1. Herleitung..........................................52.1.2. Politisierung des Begriffs..........................52.2. Das Widerstandsrecht und seine Wurzeln................62.2.1 Konzeption im germanischen Recht.....................62.2.2. Ideengeschichtliche Wurzeln.........................7
3. Im Kontext des Widerstandes.............................7
3.1. Politischer Wesenskern: Bewahren oder Widerherstellen einer Ordnung..............................................83.2. Widerstandsrecht im Staat.............................83.3. „Unrichtiges Recht“ und Unrecht......................103.4. Widerstand und Gewalt................................123.6. Widerstand und Macht.................................133.5. Widerstandsrecht bei Thomas Hobbes...................13
4. Widerstandsrecht im Grundgesetz........................16
4.1. Widerstand im Artikel 20.............................164.2. Ursprung und Funktion................................17
III. Wandel und Relevanz.........................18
IV. Literaturverzeichnis.........................20
I. Widerstand im 21. Jahrhundert
Am 17. Dezember 2010 zündete sich der tunesischer
Gemüsehändler Mohamed Bouazizi selbst an1. Diese Tat gilt als
Funke, der den Widerstand und die Revolutionen des
arabischen Frühlings entfachte 2 3. In den folgenden Monaten
leisteten vor allem junge Menschen in Lybien, Marokko,
Ägypten und anderen Staaten der arabischen Welt Widerstand
gegen Machthaber, Militär und ganze Systeme. Mit
unterschiedlichen Erfolgen kämpften sie gegen die
verkrusteten autoritären Strukturen und die ungerechten
Verhältnisse in ihren Heimatländern. Politikwissenschaftler
hatten bereits in den 1990er Jahren darüber geschrieben, wie
sich Wellen der Demokratisierung über die Landkarten
ausbreiten sollten. Sie waren für diesen Moment enttäuscht
worden. Erst jetzt hatte es in den Kreisen junger gebildeter
Menschen in der arabischen Welt begonnen zu brodeln. Sie
sahen keine Zukunft für sich und fanden, wie viele andere
1 http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/unruhen-im-maghreb-generation-ohne-luft-zum-atmen-1577601.html2 http://www.freitag.de/autoren/abid/es-begann-mit-mohamed-bouazizi3 http://www.time.com/time/magazine/article/0,9171,2044723,00.html3
vor ihnen, zu vergangenen Zeiten in entfernten Ländern nur
einen Ausweg: Widerstand. Die Form des Widerstands, die
Rolle des Internets und vieles mehr beschreiben eine neue
Geschichte. Aber im innersten Kern der Sache und im
Selbstverständnis der Widerstandskämpfer waren alte Muster
erkennbar: Widerstand gegen Willkür, Unterdrückung und
Ungerechtigkeit. Einstehen für Recht, Freiheit und Fairness.
Dieses aktuelle Beispiel soll hier exemplarisch für das
Leisten von Widerstand in unserer Zeit stehen. Zahlreiche
weitere Ereignisse aus Südamerika, Indien, Südafrika,
Deutschland und fast der ganzen Welt könnten ebenso
geschildert werden. Jedoch können alle diese Beispiele auch
in einem weiteren, ideengeschichtlichen Kontext gesehen
werden. Theorien von Widerstand und Widerstandsrecht sollen
nun in ihrem Wandel und ihrer Entwicklung betrachtet werden.
Ebenso sollen Begriffe wie Macht, Gewalt oder Recht im
Kontext diskutiert werden um ein möglichst ganzheitliches
Bild zu zeichnen.
II. Wiederstand und Widerstandsrecht
1. Grundsätzliche Fragen und Vorgehensweise
Ebenso alt wie die Idee des modernen Staates ist der Gedanke
gegen ihn Widerstand zu leisten. Diese beiden Ideen gehen4
geschichtlich gesehen oft Hand in Hand4. Das Widerstandsrecht
in Gesellschaftsverträgen und Verfassungen hat über die
Jahrhunderte verschiedene Phasen erlebt und Veränderungen
gemacht. Ebenso erging es dem Widerstand selbst, der sich in
seinen Formen stark wandelte, da er sich politischen
Systemen, Gesellschaften und unterschiedlichen historischen
Situationen anpassen musste. Nur einige Fragen blieben
gleich: Was geschieht, wenn ein Staat Unrecht an den eigenen
Bürgern begeht, die er doch eigentlich schützen sollte?
Dürfen Bürger sich dem Unrecht widersetzen? Was ist Unrecht?
Was ist Widerstand? Welche Rollen spielen Recht und Gesetz? Im
Folgenden soll versucht werden die Linien, die sich durch
die Ideengeschichte winden und die aufgeworfenen Fragen
miteinander verbinden, zu suchen.
2. Definitionen der zentralen Begriffe
Zunächst sollen die maßgebenden Begrifflichkeiten geklärt
und definiert werden. Diese Definitionen sollen
vorangestellt werden um später klare Grundlagen zu haben. Es
wird im späteren Verlauf deutlich werden, dass letztlich nur
eine Gesamtschau aller Begriffe, Ideen und Theorien ein
zufriedenstellend stimmiges Bild ergibt. Trotz des
inhaltlichen Wandels und der Fortentwicklung der Begriffe
4 Staatstheoretiker wie Hobbes, Locke und Rousseau befassten sichtrotz unterschiedlicher Ansichten mit der Idee, dass womöglichWiderstand gegen Staaten geleistet wird oder sogar werden muss.5
scheint es sinnvoll, eine fundierte Basis zu schaffen und
inhaltliche Verbindungen aufzuzeigen.
2.1. Der (politische) Widerstand
Da die Betrachtung des Widerstandsrechts und damit direkt
verbunden auch des Widerstands an sich hier zentrales Thema
seien soll scheint es nur konsequent diesen Begriff als
erstes herauszuarbeiten. Klar ist, dass der Widerstand in
Form und Ausprägung in den untersuchten Texten durchaus
andere Dimensionen aufweist. Die Darstellung des
Widerstandsrechts im Grundgesetz der BRD soll aus
didaktischen Gründen erst an späterer Stelle unternommen
werden. Dennoch soll nun eine erste Definition folgen:
2.1.1. Herleitung
Rein grammatikalisch handelt es sich bei Widerstand
schlichtweg um die substantivierte Form des Verbes
widerstehen. Der Widerstand hat an sich in diesem Moment
keineswegs einen aggressiven Charakter sondern beschreibt
nur das Beharren oder Bestehen auf einen fix gewählten Stand
gegen eine zweite Kraft. Ohne einen Gegenstand ist
Widerstand unmöglich5. Hieraus folgt, dass bei der abstrakten
Betrachtung des Widerstandes stets der Dualismus aus dem
Widerstand an sich und dem zweiten Stand, dem entgegen gewirkt
wird beachtet werden6.
5 Vgl. Wührer , Das Widerstandsrecht in den deutschen Verfassungennach 1945, S.27.6 Konkret ist hier nun das Verhältnis zw. Staat oder Souverän unddem Widerstand gemeint.6
2.1.2. Politisierung des Begriffs
Im politischen Sinne muss der Begriff des Widerstandes
konkreter gefasst werden. Hier bezeichnet Widerstand ein
„Verhalten, das sich gegen eine als bedrohlich und nicht
legitim empfundene Herrschaft richtet7“. Widerstand kann sich
gegen herrschende Personen, gegen Herrschaftsformen oder
gegen einzelne politische Maßnahmen richten8. Grundsätzlich
beschreibt der Begriff also das Ergreifen eines frei
gewählten Standpunktes, der nicht dem herrschenden oder
dominierenden entspricht, bzw. ihm sogar entgegensteht. Es
kann sogar sein, dass die Existenz des Widerstands ohne den
zweiten Stand gar nicht möglich ist, da er sich über dessen
Ablehnung definiert und formiert. Das Widerstehen selbst kann
sich nun aktiv oder passiv gestalten geht aber sicherlich
mit der Ablehnung oder Negation des meist herrschenden
Standpunktes einher. Ursprung und Ziel des Widerstandes sind
also gleichsam vom Gegenstand abhängig und werden durch
diesen bedingt.
„Das Wort Widerstand deckt ganz unterschiedliche Verhaltensweisenund Handlungsformen ab. Sie reichen von Alltagstugend über rechtlicherlaubten Protesthandlungen bis zu Verstößen gegen geltendes Recht.Sie umfassen den Boykott von Gesetzen aber auch gewaltsameHandlungen bis hin zum „Tyrannenmord“.9“
7 Schubert/Klein, Das Politiklexikon, S. 289.8 Vgl. ebd.9 Reuter, Zur ethischen Problematik des Widerstandsrechts, S. 2.7
Durch sein Wesen definiert also der Gegenstand auch direkt
das Wesen des Widerstands. Unter Umständen kann also zum
Beispiel das Gewaltpotential des Gegenstands die
Gewaltbereitschaft oder Gewalttätigkeit des Widerstands
beeinflussen. Der „Tyrannenmord“ kann selbstverständlich nur
an einem Tyrannen begangen werden, wobei der Boykott von
Gesetzen auch in einem demokratisch verfassten Staat möglich
ist. Unabhängig davon wie genau der Begriff ausgelegt und
verwendet wird, beschreibt Widerstand immer das Ende der
Folgebereitschaft gegenüber den Herrschenden und ihren
Gesetzten10, falls diese überhaupt je bestanden haben sollte.
2.2. Das Widerstandsrecht und seine Wurzeln
Der Begriff des Widerstandsrechts beschreibt formal die
rechtliche Legitimation zum und die Bedingungen unter denen
Widerstand geleistet werden kann. So kann es beispielsweise,
wie es später gezeigt werden wird positivrechtlich in einer
Verfassung verankert seien11. Nun sollen die allgemeinen
Ursprünge in Philosophie und Rechtstheorie aufgezeigt
werden.
2.2.1 Konzeption im germanischen Recht
Der Begriff des Widerstandsrechts lässt sich historisch
bereits in der germanischen Rechtspraxis verorten, wo es die
10 Ebd.11 Siehe hierzu die Ausführungen ab Seite 16 (Widerstandsrecht imGrundgesetz).8
Abwehr von Unrechtsherrschaften beschrieb12. Hier wird es aus
der Gefolgschaftsidee des germanischen Rechts abgeleitet13.
Zwischen Lehensherr und Lehensnehmer besteht ein
Treueverhältnis dass im Falle eines Bruchs von beiden Seiten
her aufgekündigt werden kann14. Selbiges galt nun analog für
das Verhältnis zu einem König. Durch willkürliche
Gewalttaten oder ähnliches kann ein Treueverhältnis durchaus
beschädigt werden.
2.2.2. Ideengeschichtliche Wurzeln
Insgesamt lassen sich ideengeschichtlich zwei Ideen als
Grundlage des Widerstandsrechts ausmachen15: Hierbei handelt
es sich zum einen um die Idee der Volkssouveränität. In
diesem, bereits im Mittelalter aufgebauten Konzept geht z.B.
ein Königtum aus dem Willen des Volkes hervor um einen Staat
seinem Zweck nach zu regieren16. Wenn der eingesetzte
Herrscher Vertragspartner des Gesellschaftsvertrages ist,
kann Widerstand gegen seine Herrschaft in dem Moment legitim
werden, in dem er den Vertrag bricht17. Ein die Verletzung
vertraglicher Pflichten könnte durch Unrechtsherrschaft oder
Willkür begründet sein. Unrechtmäßige Enteignungen oder
Gewalt gegen die Bürger könnten sodann als Grund und Anlass
gelten, gegen den Souverän und sein Handeln Widerstand zu12 Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre desWiderstandsrechts des Volkes gegen rechtswidrige Ausübung derStaatsgewalt, S. 6 .13 Reuter, Zur ethischen Problematik des Widerstandsrechts, S. 5.14 Reuter, Zur ethischen Problematik des Widerstandsrechts, S. 5.15 Min, Gewissensfreiheit und Widerstandsrecht, S. 4.16 Ebd.17 Ebd.9
leisten. Entscheidend hierbei ist im Bezug auf die
Rechtmäßigkeit des Widerstandes aber die Frage, ob der
Souverän tatsächlich Vertragspartner oder nur Produkt des
Vertrages ist18. Ein Gesellschaftsvertrag bindet nur die
Vertragsparteien an seine Regeln und Bedingungen.
Eine weitere Wurzel des Widerstandsrechts stellt das
(rationale) Naturrecht dar. In diesem Zusammenhang kann der
Niederländer Hugo Grotius genannt werden, der auch das
moderne Völkerrecht prägte. Grotius machte das Naturrecht
zur Wurzel des Widerstandsrechts19. Hier wird das
Widerstandsrecht aus der Vernunft abgeleitet. Wenn hier
Handlungen oder Gesetze eines Herrschers die Schranken des
Naturrechts überschreiten sind sie als unverbindlich
anzusehen. Das Naturrecht gilt dann sowohl als Maßstab für
die Gültigkeit von Herrschaftsakten als auch als
Rechtsgrundlage des Widerstandsrechts20.
3. Im Kontext des Widerstandes
Verschiedene Begriffe sind direkt mit dem Widerstand
verbunden. Einige weil sie ihn bedingen oder auslösen,
andere weil sie mit ihm einhergehen oder aus ihm folgen.
Diese Begriffe wie Macht oder Unrecht sollen im Folgenden
18 Siehe hierzu die Ausführungen zu Thomas Hobbes. Wenn derSouverän nicht Vertragspartner ist, kann er durch keine HandlungVertragsbruch begehen.19 Scholler, Das Gewissen als Gestalt der Freiheit, S. 6.20 Vgl. Min, Gewissensfreiheit und Widerstandsrecht, S. 7.
10
untereinander und mit dem Widerstandsrecht in Verbindung
gebracht werden. Alle diese Begriffe und Themen schwirren
häufig nicht losgelöst im Raum umher sondern wurden von
Philosophen und Juristen in gesellschaftliche Debatten und
den wissenschaftlichen Diskurs eingebracht. Deshalb sollen
die Beiträge der entscheidenden Personen zur Thematik mit
illustriert werden.
3.1. Politischer Wesenskern: Bewahren oder Widerherstellen einer
Ordnung
Nun gilt es das politische Wesen des Widerstandsrechts zu
erschließen. Intuitiv könnte gemutmaßt werden, dass es sich
um ein liberales Recht handelt. Assoziationen sind Kritik,
Freiheitskampf und Revolution. Herrschaft die von Willkür
und Gewalt bestimmt wird soll beendet werden um wieder
Sicherheit herzustellen. Nun stößt man hier bereits aber
unter Umständen auf den tatsächlichen Wesenskern: Das
Widerstandsrecht weißt in seiner Denkweise durchaus
konservative Züge auf. Es ist ein „erhaltendes Notrecht“ und
zielt darauf ab eine Ordnung widerherzustellen21 oder zu
bewahren. Entweder wurde durch das Verhalten des Herrschers
die Rechtsordnung gebrochen oder es bemühen sich fremde
Kräfte darum die vorhandenen Regeln abzuschaffen und zu
ersetzten. Diese Vorgänge rückgängig zu machen oder zu
unterbinden entspricht absolut einer ursprünglichen,
konservativen Denkweise. Das geltende Recht zu schützen und
das System zu erhalten, auch Mittels Widerstand gegen die
21 Reuter, Zur ethischen Problematik des Widerstandsrechts, S. 5.11
Autorität, muss eigentlich konservativ genannt werden. Der
Bundesgerichtshof urteilte 1966 im Bezug auf das
Widerstandsrecht auch so, dass es sich sicherlich um ein
Mittel zur Widerherstellung der staatlichen Ordnung handle,
aber in einem konservierenden, nicht revolutionären Sinne22.
3.2. Widerstandsrecht im Staat
Die Frage, ob es ein Widerstandsrecht geben kann ist
maßgeblich davon abhängig, welche Auffassung des Staates der
Betrachtung zu Grunde liegt. So kann spannender Weise nicht
nur vom Staat auf das Widerstandsrecht sondern auch
konsequenter Weise im Umkehrschluss vom Widerstandsrecht auf
den Staat geschlossen werden:
„Von einem Widerstandsrecht – dem Recht eines Einzelnen oder einerGruppe, Widerstand gegen die Staatsgewalt zu leisten, sei es passivdadurch, daß einem Befehl nicht Folge geleistet wird, sei es aktivdadruch, daß der Gewalt mit Gewalt geantwortet wird, kann dann nichtgesprochen werden, wenn der Staat als der schlechthin gerechte Staataugefaßt wird. Jede Widerstandshandlung müßte unter dieserVoraussetzung als ungerechte Handlung qualifiziert werden. Wie könnteman sich auf ein Recht berufen, dem gerechten Willen des Staats unddamit der Gerechtigkeit zu widerstehen.23“
Die weitreichende Bedeutung dieser logischen Folgerung lässt
sich sehr anschaulich mit einem bekannten Beispiel aus der
Ideengeschichte verdeutlichen: Platon erklärte die22 Creidfels, Rechtswörterbuch, S. 1508., siehe hierzu auchGanseforth, S. 12 23 Schneider, Widerstandsrecht und Rechtsstaat, in: Kaufmann (Hg):Widerstandsrecht, S. 363.12
Herrschaft der Philosophenkönige zur besten Herrschaftsform.
Falls dieser Weg nicht eingeschlagen würde stand für ihn
fest, „... so wird es ... mit dem Elend kein Ende haben“24.
Da durch einen Philosophenkönig, der durch große Vernunft
und Weisheit ausgezeichnet ist, praktische direkt
„vernünftige Gerechtigkeit“ herrscht, scheint Widerstand
hiergegen fragwürdig. An diesem Punkt wird wieder der
Dualismus aus Gegenstand und Widerstand bedeutsam: Wenn der
Gegenstand, hier in Person des Philosophenkönigs, Vernunft
und Gerechtigkeit symbolisiert, was bleibt dann für den
Widerstand? Konsequent fortgedacht kann es sich beim
Widerstehen nicht um die Ausübung eines Rechtes handeln.
Unvernunft und Ungerechtigkeit sind vielmehr das einzige,
das einem gerechten Philosophenkönig entgegenstehen kann25.
So wird als in Platons Staat nicht nur die bloße Idee eines
Widerstandsrechts schon durch das System unsinnig, die
Ausübung scheint automatisch, völlig unabhängig von der
tatsächlich realen Situation, grundsätzlich gegen
Gerechtigkeit und Vernunft gerichtet. Das Widerstandsrecht
kann folglich nur in einem solchen Staat rechtlich
verwirklicht werden, in dem die Herrschenden nicht per se
die Rolle der Vernunft und Gerechtigkeit für sich
beanspruchen. Vielmehr verleiht das Widerstandsrecht dem
Bewusstsein und Ausdruck, dass stets die Gefahr besteht,
dass Herrschende die ihnen anvertraute Macht missbrauchen.
Eine rechtliche Grundlage für das Widerstehen zu schaffen
24 Zitiert aus 5. Buch der Politea, Kap. 18, S.294.25 Schneider: Widerstandsrecht und Rechtsstaat, in: Kaufmann (Hg):Widerstandsrecht, S. 36413
verdeutlicht dass gesunde Misstrauen in die Autorität und
steht als ultima ratio des mündigen Bürgers zur Verteidigung
seiner Freiheit und des Allgemeinwohls gegen einen eben
unvollkommenen Herrscher. Es ist absoluter Ausdruck kritischen
Denkens, der Volkssouveränität und Symbol erkämpfter
Freiheitsrechte.
3.3. „Unrichtiges Recht“ und Unrecht
Widerstand richtet sich also, wie bereits erläutert, stets
gegen etwas. Nun muss geklärt werden, wie Unrecht gegen das
sich gewehrt werden kann gefasst wird. Den Sinn und die
Berechtigung des Widerstandes gegen willkürliche Gewalt und
grobes Unrecht zu erkennen kann relativ einfach sein.
Schwieriger wird es, wenn das Unrecht sich in positiv
gesetzten und vielleicht sogar formell rechtmäßigen
Gesetzten manifestiert.
Aus der Perspektive des Rechtspositivismus ist dies
schwierig, da hier die Formel „Gesetz ist Gesetz“ gilt. Ein
überpositives Naturrecht, dem unter Umständen ein höherer
Rang in der Normenhyrarchie einzuräumen ist, ist undenkbar,
da es für den Rechtspositivismus keine rechtlich erhebliche
Erscheinung außerhalb der fixierten Normen gibt26. Der
Rechts- oder Gesetzespositivismus lässt schon formale
Kriterien der Rechtsetzung genügen27. Andersgesagt ist die
rechtliche Geltung eines Gesetzes schon dadurch erwiesen,
26 Wührer, Das Widerstandsrecht in den deutschen Verfassungen nach1945, S.1527 Vgl. Schubert/Klein, Das Politiklexikon, S. 248.14
dass es sich im Gesetzgebungsprozess durchsetzen konnte28.
Hier steht also die Rechtssicherheit im Vordergrund.
Materielle Anforderungen werden nicht gestellt, denn Gesetz ist
Gesetz. Einer der entschiedensten Gegner dieser Auffassung
ist wahrscheinlich der Jurist und Rechtsphilosoph Gustav
Radbruch29. Er kann wohl als strikter Verfechter des
Naturrechts begriffen werden. Seine Auffassungen zu der
behandelten Thematik lassen sich wohl bestens mit einem
seiner bekanntesten Zitate illustrieren. Es entstammt einem
Artikel Radbruchs der in der bereits 1946 in der
Süddeutschen Juristenzeitung veröffentlicht wurde und
beschreibt den Stellenwert, den er formell rechtmäßigem,
aber ungerechten und vor allem naturrechtswidrigen Gesetzen
einräumt:
„wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die denKern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechtsbewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur „unrichtigesRecht“, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kannRecht, garnicht anderes definieren denn als eine Ordnung oder Satzung,die ihrem Sinn nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.30“
Wo der Rechtspositivismus also nur Anforderungen für das
Zustandekommen an ein Gesetzt stellt, verlangt der
Naturrechtler Radbruch also auch materielle Kriterien.28 Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in:Kaufmann (Hg): Widerstandsrecht, S. 355.29 Gustav Radbruch (1878-1949) war u.a. Reichsjustizminister in der Weimarer Republikund beeinflusste die Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts stark. Seine Theorienverloren nicht an Relevanz und beeinflussten rechtstheoretisch selbst noch die sog.Mauerschützenprozesse (1991-2004).30 Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht , in:Kaufmann (Hg): Widerstandsrecht, S. 35615
Radbruchs Konzept wird besonders im Zusammenhang mit der
nationalsozialistischen Gesetzgebung und des dadurch
verursachten Unrechts bedeutsam. Seine Definition von Recht
würde so zum Beispiel dem nationalsozialistischen
Reichbürgergesetz (RGB) und den davon ausgehenden
Verordnungen die Rechtsnatur verneinen, da hier in
krassester Weise Gleichheitsgrundsätze missachtet wurden.
Auf Grund der elften Verordnung zum RGB vom 25.11.1941
verloren Juden „mit der Verlegung des gewöhnlichen
Aufenthalts ins Ausland“ umgehend die deutsche
Staatsangehörigkeit31. Die Verordnung sah auch vor auf diesem
Wege zu enteignen:„Das Vermögen des Juden, der die deutsche
Staatsangehörigkeit auf Grund dieser Verordnung verliert,
verfällt mit dem Verlust der Staatsangehörigkeit dem Reich.
(…) Das verfallene Vermögen soll zur Förderung aller mit der
Lösung der Judenfrage im Zusammenhang stehenden Zwecke
dienen.32“ Diese Verordnung im Besonderen, wie das gesamte
RGB im Allgemeinen entbehren mit Radbruchs Worten jeder
Rechtsnatur. Gleiche, in diesem Fall Bürger des Deutschen
Reiches werden in äußerstem Maße ungleich behandelt. Diese
Ungleichheit ist zudem völlig beabsichtigt um
Ungerechtigkeit zu erzeugen. Hier sollte die Verordnung
ausschließlich dazu dienen Juden im Zuge der anstehenden
Deportationen zusätzlich noch um ihr Eigentum zu bringen.
Unabhängig vom Zustandekommen des Gesetztes und dem Erlassen
der Verordnung steht beidem auf Grund des materiellen
Inhalts nicht die Rechtsnatur zu.
31 RGB l. I 1941, S. 723.32 Ebd.16
3.4. Widerstand und Gewalt
Widerstand wendet sich oft gegen Willkür und Gewalt eines
Staates. Da die Gewalt aber gerade, das ist, was der
Widerstand beseitigen möchte, muss gefragt werden in wie
weit die Gewalt für die Widerständischen selbst ein
legitimes Mittel seien kann. Für den Philosophen Karl
Popper33 gibt es grundsätzlich nur zwei Momente, in denen er
Gewalteinwirkung für rechtmäßig hält. Beide stehen in
Verbindung mit dem Begriff des Widerstandes. Der erste
beschreibt klassischer Weise den bereits erwähnten
„Tyrannenmord“. Für Karl Popper ist dieser annehmbar, da „es
in einer Tyrannei vielleicht wirklich keine andere Möglichkeit gibt und daß eine
gewaltsame Revolution gerechtfertigt sein kann34.“ Gewalt, sogar im
Sinne eines Mordes kann also in der Tyrannei gerechtfertigt
sein wenn kein anderer Ausweg ersichtlich ist. Beachtlich
hierbei ist aber Poppers außerordentlich vorsichtige und
gewaltskeptische Formulierung, die die Tragweite der
Äußerung hervorhebt und die Stellung der Gewalt als ultima
ratio unterstreicht.
In nur einem weiteren Moment ist für Popper die
Gewaltanwendung ein gangbarer weg:
„Ich meine den Widerstand – nach Errichtung der Demokratie – gegenjeden Angriff (ob von innen oder von außen) auf die demokratischeVerfassung und auf die Verwendung demokratischer Methoden. Jederderartige Angriff – und insbesondere ein Angriff, der von der Regierunggeführt wird, die sich gerade an der Macht befindet, oder der von ihr
33 Sir Karl Raimund Popper (1902-1994) war ein britisch-österreichischer Philosoph undBegründer des kritischen Rationalismus.34 Popper: Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde, Teil 2, S. 28417
geduldet wird – sollte von allen loyalen Bürgern, selbst unterAnwendung von Gewalt, zurückgewiesen werden.“
Hier wird also ein Vorgang in einer vormals funktionierenden
Demokratie beschrieben. Nach Popper müssen die Bürger keine
Angriffe auf „ihre“ Demokratie dulden. Für Popper muss diese
Gewalt aber einen defensiven Charakter haben. Er klagt
beispielweise Karl Marx an der mit einer „Gegentyrannei“ zu
drohen und hält dies für den gänzlich falschen Weg.35
3.6. Widerstand und Macht
Der französische Poststruktualist Michel Foucault36 fasste
Widerstand als Angriff auf Machtverhältnisse und
Herrschaftsformen auf. Auch er stellte den Befund, dass sich
Widerstand als Gegenpol mit der herrschenden Macht
wechselseitig bedingt. Bei Foucault stehen sich Macht und
Widerstand gegenüber: Der Macht steht grundsätzlich eine
potentielle Verweigerung oder eine Aufruhr entgegen37. Also
ist ein möglicher Widerstand stets präsent, sobald es
irgendeine Macht gibt. Jeder Regierung oder Herrschaft steht
für Foucault also ab dem Zeitpunkt der Einsetzung eine
gegensätzliche Kraft gegenüber. Für den Philosophen ist die
Heterogenität und Vielschichtigkeit des Widerstands von
entscheidender Bedeutung:
35 Popper: Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde, Teil 2, S. 28536 Michel Foucault (1926-1984) war französischer Philosoph und gilt unter anderem alsBegründer der Diskursanalye37 Ruffing, Michel Foucault, S. 109.18
„Darum gibt es im Verhältnis zur Macht nicht den einen Ort der GroßenWeigerung - die Seele der Revolte, den Brennpunkt der Rebellionen, dasreine Gesetz des Revolutionärs. Sondern es gibt einzelne Widerstände.(…) Und wie der Staat auf der institutionellen Integration derMachtbeziehungen beruht, so kann die strategische Codierung derWiderstandspunkte zur Revolution führen.38“
Hier werden die Verbindungen zwischen Widerständen und
Machtbeziehungen sowie Staat und Revolution deutlich. Sie
definieren sich wieder durch die Abhängigkeiten voneinander.
Schließlich gilt somit im Rückschluss: „Wo kein Widerstand
mehr möglich ist, handelt es sich um keine Macht mehr.39“
3.5. Widerstandsrecht bei Thomas Hobbes
Abschließend soll in diesem Teil noch kurz das Recht auf
Widerstand bei Hobbes dargestellt werden. Dies scheint in
soweit sinnvoll, da Hobbes die moderne Staatstheorie wie
kaum ein zweiter prägte und daher auch wohl seine Ansichten
zum Widerstands relevant sind. Um den Begriff des
Widerstandsrechts im Kontext mit und Bezug auf Thomas
Hobbes40 diskutieren zu können ist es notwendig, das
Gesamtpanorama aus seiner Konstruktion des Naturzustands und
des Gesellschaftsvertrags zu berücksichtigen. Eben diese
Grundlagen seiner Staatsphilosophie formulierte Hobbes im
1642 erstmals erschienenen „De Cive“. Hierbei ist seine
besondere Anthropologie maßgebend, wonach er Menschen38 Foucault, Der Wille zum Wissen, S. 117.39 Ruffing, Michel Foucault, S. 109.40 Tomas Hobbes (1588-1679) war britischer Staatstheoretiker und Philosoph. Er gilt alseiner de bedeutendsten Vertragstheoretiker.19
vorerst als gleiche und vernunftbegabte Wesen darstellt41. In
ihren Handlungen und Verhaltensweisen beschreibt der
Staatstheoretiker sie jedoch als vornehmlich von ihren
Leidenschaften, Begierden und ihrem Egoismus geleitet42. Im
Bezug auf das zu behandelnde Thema ist Hobbes „Leviathan“43
einschlägiger. In Hobbes Naturzustand haben alle „ein Recht
auf alles“ und können ihre Bedürfnisse schrankenlos stillen,
da es in diesem vorstaatlichen Zustand keine gesetzlichen
Regeln für das Handeln geben kann. So stellt auch der Besitz
eines Dritten kein Hinderniss für die Befriedigung der
Bedürfnisse dar: Gehört ein ,,Gut" einem anderen Menschen,
kann das nicht störend sein, denn es ist im
Naturzustand ,,...jedem erlaubt zu tun, was er wollte und
gegen wen er es wollte, und alles in Besitz zu nehmen, zu
gebrauchen und zu genießen, was er wollte und konnte...44".
Hieraus entwickelt Hobbes das „Recht aller auf alles“, da im
Naturzustand jeder alles haben kann und tun darf."45
Um dem Naturzustand, in dem der Krieg aller gegen alle
herrscht, entkommen zu können muss ein Gesellschaftsvertrag
geschlossen werden. Dieses Entkommen erscheint auf Grund der
Vernunftbegabtheit möglich und ohnehin durchaus
erstrebenswert, da Hobbes das Leben in ihm als „einsam,
41 Hobbes, Vom Menschen Vom Bürger, S. 75 f.42 ebd.43 Hobbes staatstheoretische Schrift aus dem Jahr 1651 gilt alseines der bedeutendsten Werke der politischen Philosophieüberhaupt, dessen Titel sich an ein biblisches Seeungeheueranlehnt.44 Hobbes, Vom Menschen Vom Bürger, S. 82.45 ebd.20
armselig, ekelhaft, tierisch und kurz" beschreibt46. Durch
den Gesellschaftsvertrag treten alle ihre Rechte ab. Dieser
Akt des Verzichts aller, besonders auf das Recht auf alles,
diese ,,...wechselseitige Übertragung von Recht nennt man
Vertrag."47 Hobbes stellt als natürliches Gesetz den
Grundsatz auf: ,,Abgeschlossene Verträge sind zu halten48“.
Jeder schließt also einen Vertrag mit jedem, der zu halten
ist. Entscheidend ist hier nun, das Hobbes genau im Bezug
auf den Widerstand zwei Ausnahmen macht: In Kapitel 14 des
Leviathan weist er ausdrücklich darauf hin, dass es zwei
besondere Rechte gibt, die von jedweder Übertragung,
Abtretung oder Aufgabe ausgeschlossen sind.Erstens das Recht
auf Selbstverteidigung bei Gefahr durch Verletzung oder
Gefangenschaft. Zweitens das Recht auf Widerstand im Falle eines
Angriffs auf das eigene Leben.49 Auf diese grundlegenden
natürlichen Rechte kann sich ein Mensch also immer berufen.
Grundsätzlich treten die Bürger aber durch den erwähnten
Vertrag ihre Rechte ab und übertragen sie auf den Leviathan,
der durch den Gesellschaftsvertrag geschaffen wird. Er ist
nun alleiniger Träger der Staatsgewalt und hat somit das
Recht, diese frei zu gebrauchen. Gewaltenteilung ist
undenkbar. Er selbst ist aber nicht an die von ihm
erlassenen Gesetze gebunden.Allein dem Leviathan stehen die
Entscheidungen über Recht und Unrecht zu50. Trotzdem zeigen
sich hier partiell liberale Ansätze, da zu Beginn keine
46 Hobbes, Leviathan, S. 96.47 Ebd. S. 102.48 Ebd. S. 110.49 Hobbes, Leviathan, S. 101.50 Ebd. S. 255.21
Handlung der Bürger verboten ist. Oberstes Ziel des
Leviathan soll die Sorge sein für die Sicherheit und das
Wohl des gesamten Volkes zu sorgen.51 Dies scheint nur
konsequent, da der Vertrag ja genau zu diesem Zwecke
geschlossen und der Leviathan deshalb eingesetzt wurde.
Wichtig ist nun, dass er nur Produkt des
Gesellschaftsvertrages. Dieser Punkt ist im Bezug auf das
Widerstandsrecht besonders interessant. Der Leviathan selbst
kann keinen Vertragsbruch begehen, da er kein
Vertragspartner ist. Er kann auch keinen Gesetzesbruch
begehen oder dessen angezeigt werden52. Durch
Autorisierungsvorgang seitens der Individuen zu ergibt sich
das Recht des Leviathan die Untertanen zum Gehorsam zu
verpflichten53. Gehorsamsverweigerung, also auch Widerstand,
gegenüber dem Leviathan ist gleichbedeutend mit
Vertragsbruch mit den anderen Individuen. Durch den
Vertragsbruch fällt der Widerständische automatisch in den
Naturzustand zurück worauf ihn der Gesellschaftstrag nicht
mehr vor der Gewalt anderer schützt. Trotz des Einwilligens
in den Gesellschaftsvertrag kann ein Mensch nie das Recht
aufgeben, sein eigenes Leben zu schützen. Trotzdem schließt
diese, womöglich intuitive Schutzhandlung das Individuum aus
dem Vertrag mit den anderen aus. Auch wenn der Leviathan
willkürlich Gewalt anwendet, ja sogar wenn er mordet, bleibt
Widerstand gegen ihn stets gleichbedeutend mit Hochverrat.
51 Ebd. S. 264.52 Ebd. S. 13953 Dix, Lebensgefährdung und Verpflichtung bei Hobbes, S. 46.22
4. Widerstandsrecht im Grundgesetz
Schließlich soll nun noch ein Beispiel für ein positives
Widerstandsrecht in einer modernen Verfassung dargestellt
werden. Hier zeigen sich sowohl die Spuren der Geschichte,
ideengeschichtliche Wurzeln und eine moderne Normierung des
Rechts auf Widerstand.
4.1. Widerstand im Artikel 20
Laut Artikel 20 IV des Grundgesetzes (GG) der Bundesrepublik
Deutschland gibt es, unter besonderen Bedingungen, ein
Widerstandsrecht gegen jeden, der versucht die
verfassungsmäßige Ordnung abzuschaffen. Der Gesetzestext
lautet wörtlich:
„Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, habenalle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nichtmöglich ist.54“
Das Recht zum Widerstand des Art. 20 IV war nicht von Beginn
an Teil des Grundgesetzes sondern wurde erst 1968 vom
Gesetzgeber verfassungsrechtlich normiert55. Verschiedene
Länderverfassungen, wie die von Berlin (Art. 23 III), Bremen
(Art.19) und einige weitere sehen ähnliche Bestimmungen
vor56. Im Fall des Art. 20 IV des GG handelt es sich um sein
so genanntes „Deutschengrundrecht“. Diese stehen im
54 Art. 20 IV GG.55 Ganseforth, Das Widerstandsrecht im Art. 20 Abs. 4 im Systemdes Verfassungsschutzes, S. 11.56 Vgl. Creidfels, Rechtswörterbuch, S. 1508.23
Gegensatz zu den Menschenrechten oder „Jedermannsrechten“
(z.B. Art I) im GG. Nur wer Deutscher im Sinne des
Grundgesetztes ist kann sich also auf dieses
Widerstandsrecht berufen. Ausländer werden hier als explizit
ausgeschlossen, während Deutsche über den Artikel 116 des GG
eingegrenzt werden. Gleiches gilt z.B. auch für aktives und
passives Wahlrecht. Diese Analogie lässt sich durch den
Wortlaut des Art. 20 II erklären. Hiernach geht alle
Staatsgewalt vom Volke aus. Wahlen und Abstimmungen werden
im weiteren als Wege genannt, dem Willen der Bürger Ausdruck
zu verleihen. Das Volk ist also Souverän. Im Umkehrschluss
kann das Widerstandsrecht auch nur von Staatsbürgern
ausgeübt werden, nicht aber von Ausländern. Hier schließt
sich nun der Kreis zur ersten ideengeschichtlichen Wurzel
des Widerstandsrechts, der Volkssouveränität.
4.2. Ursprung und Funktion
Die Volkssouveränität ist in Art. 20 II GG legalisiert und
wird ebenso kanalisiert57. Sie ist somit als eine
Rechtssetzungsquelle in der Verfassung normiert und durch
den Wortlaut des Art. 20 III rechtlich gebunden58.
Der Gesetzestext enthält, im Gegensatz zur § 53 II StGB
(Notwehrrecht) keine Definition. Allerdings wurde der
Begriff des Widerstands aus dem Grundgesetz durch einige
gerichtliche Entscheidungen konkretisiert. 1961 kam der BGH
im Rahmen einer Entscheidung zu folgender Definition:
57 Vgl. Ganseforth, Das Widerstandsrecht im Art. 20 Abs. 4 imSystem des Verfassungsschutzes, S. 27.58 Ebd.24
„Ein gegen die bestehende Unrechtsherrschaft geleisteter Widerstandkann nur dann rechtmäßig und demgemäß eine diesen Widerstandahndende staatliche Maßnahme nur dann als Unrecht im Rechtssinneangesehen werden, wenn die Widerstandshandlung in ihrenBeweggründen, Zielsetzungen und Erfolgsaussichten als ein ernsthafterund sinnvoller Versuch gewertet werden kann, den bestehendenUnrechtszustand zu beseitigen und in Bezug auf dessen Übel eineallgemeine Wende zum Besseren herbeizuführen.59“
Hierbei steht nun also nicht mehr das Unrecht, dass
gegenüber einem einzelnen verübt wird im Fokus. Stattdessen
wird eine Verbesserung der Situation der Allgemeinheit als
Ergebnis gefordert. Klar ist, dass diese Entscheidung sich
nicht mit philosophischen Konstruktionen wie Naturzustand
und abstrakten Gesellschaftsverträgen beschäftigt, sondern
von den Erfahrungen aus dem sog. Dritten Reich geprägt ist.
Desweitern kann die Funktion des Art. 20 IV GG teilweise
eingegrenzt werden, da es für Handlungen wie Demonstrationen
oder Kriegsdienstverweigerung, Meinungsfreiheit u.a. eigene
Rechte gibt. Die Nutzung dieser Rechte beschreibt eine
verfassungsrechtliche Normallage und sind Bestandteil eines
geordneten Verhältnisses zwischen Staat und Bürger60.
Beachtlich und bedeutend für jede Interpretation ist hierbei
auch die Position im Gesetz: Das Recht auf Widerstand wurde
nicht den Menschen- und Bürgerrechten angehängt, sondern in
59 Urteil des IV. Senats des BGH vom 14.07.1961 (Az: IV ZR 71/61)in: NJW 1962, S. 195 f.60 Ganseforth, Das Widerstandsrecht im Art. 20 Abs. 4 im Systemdes Verfassungsschutzes, S. 11.25
Art. 20 – neben Staatszielbestimmungen und anderem – den
Grundprinzipen der Verfassungsstruktur zugeordnet61.
Das Recht auf Widerstand im Grundgesetz weicht in
Schutzfunktion und Rechtfertigung deutlich den
naturrechtlich, menschenrechtlich fundierten Überlegungen zu
einem überpositiv begründeten Recht ab, da ein
individualistischer Bezug der persönlich-existentiellen
Notwehr fehlt62. Dies lässt sich anhand einer Entscheidung
des BVerfG erläutern, in der die Ansicht zum Ausdruck kommt,
dass Widersetzlichkeit im Sinne der Wahrnehmung persönlicher
Interessen von Widerstand im politischen Sinne zu
unterscheiden ist63. Wie mit den Worten des BGH dargestellt,
muss eine Verbesserung für die Allgemeinheit im Fokus
stehen. Eine Verteidigung des eigenen Lebens kann, wie es
z.B. bei Hobbes möglich ist, nicht als politischer
Widerstand gewertet werden. Somit können derartige
Handlungen auch nicht mit der Schutzfunktion der Art. 20 IV
in Verbindung gebracht werden.
III. Wandel und Relevanz
Das Widerstandsrecht hat sich durch die Jahrhunderte – vom
germanischen Ständestaat über den abstrakten
Gesellschaftsvertrag bis in eine der modernsten Verfassungen
der heutigen Welt entwickelt. Aber es war von Beginn an61 Ebd., S. 13.62 Ebd.63 Ebd.26
präsent. Das Widerstandsrecht hat unzählige Facetten und
kennt vielfältige Argumentationsweisen. Obwohl wir gerade in
diesen Tagen sehen, wie Menschen in Syrien, Weißrussland
oder anderen Staaten Widerstand leisten, wirkt der Gedanke
dies selbst tuen zu müssen weit entfernt und abwegig.
Staatlich Institutionen kontrollieren sich gegenseitig,
werden von Medien und NGOs oder einfach von engagierten
Bürgern beobachtet. Die Mechanismen sind gut, vernünftig,
funktionell und demokratisch. Trotzdem sollte der Gedanke
vielleicht eines Tages Widerstand leisten zu müssen kein zu
abstrakter sein. Im 20. Jahrhundert wurde in Deutschland
gleich mehrmals Widerstand geleistet. Das Erinnern an diese
Ereignisse ist teil einer demokratischen Denkkultur
geworden. Wir können uns mehr als glücklich schätzen, nicht
in einer Situation zu seien, in der über Sinn und
Notwendigkeit eines Widerstands debattiert werden muss.
Trotzdem muss die grundsätzliche Bereitschaft eine
freiheitliche demokratische Grundordnung zu verteidigen ein
Gesprächsthema sein. Eine wehrhafte Demokratie basiert vor
allem auf einer klug konstruierten Verfassung. Trotzdem ist
es notwendig, dass diese Verfassung von mündigen Bürgern mit
Leben erfüllt wird. Liberale Demokratie und Rechtsstaat sind
nur dann stark und geschützt, wenn Demokraten in ihr leben.
Unabhängig von parteipolitischer Zugehörigkeit und
tagespolitischen Interessen sollte es gemeinsame
grundlegende Interessen und Anschauungen geben. Das
Widerstandsrecht, egal ob überpositiv erdacht oder in Art.
20 IV des GG normiert sind keine Gedankenspiele, sondern die
Lehrern aus den dunkelsten Stunden der Geschichte. Die27
Revolutionen des arabischen Frühlings sollten aufmerksam
machen und daran erinnern, dass das Ende der Geschichte noch
lang nicht geschrieben ist.
IV. Literaturverzeichnis
1. Übersetzte Primärliteratur:
- Foucault, Michel: „Der Wille zum Wissen“. Frankfurt am Main 1977.28
- Hobbes, Thomas: „Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen undbürgerlichen Staates“. Frankfurt am Main 2008
- Hobbes, Thomas: „Vom Mensch. Vom Bürger. Elemente der Philosophie II/III“.Hamburg 1956
- Platon: „5. Buch der Politea“. Zürich 1950.
2. Sekundärliteratur:
- Creidfelds Rechtswörterbuch, München 1997.- Dix, Bruno: „Lebensgefährdung und Verpflichtung bei Hobbes“ Diss.
Würzburg 1994.- Ganseforth, Heinrich: „Das Widerstandsrecht des Art. 20 Abs. 4
Grundgesetz im System des Verfassungsschutzes“. Frankfurt am Main 1971.- MIN, Young OK: „Gewissensfreiheit und Widerstandsrecht“, Diss.
Konstanz 1989.- Schneider, Peter: „Widerstandsrecht und Rechtsstaat“, in: Kaufmann,
Arthur: „Widerstandsrecht“. Darmstadt 1972.- Scholler, Heinz: „Das Gewissen als Gestalt der Freiheit: Das Gewissen als
Sinngestalt und Strukturprinzip im Verfassungsrecht“. München 1962.- Schubert, Klaus/Martina Klein: „Das Politiklexikon“. Bonn 2011.- Radbruch, Gustav: „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“ “,
in: Kaufmann, Arthur: „Widerstandsrecht“. Darmstadt 1972.- Ruffing Rainer: „Michel Foucault“. Paderborn 2008.- Wührer, Sophia: „Das Widerstandsrecht in den deutschen Verfassungen nach
1945“. Frankfurt am Main 1973.
3. Zeitschriften:
- Neue Juristische Wochenschrift, Heft 21/1962 vom 24.05.1962
4. Online:
- http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/unruhen-im-maghreb-generation-ohne-luft-zum-atmen-1577601.html, aufgerufen am 28.08.12.
- http://www.freitag.de/autoren/abid/es-begann-mit-mohamed-bouazizi, aufgerufen am 28.08.12.
- http://www.time.com/time/magazine/article/0,9171,2044723,00.html, aufgerufen am 28.08.12.
29