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Radikale Neutralität als rechtmäßiger Widerstand? Zivile Friedensinitiativen in den Konfliktregionen Kolumbiens Von Philipp Naucke und Ernst Halbmayer Die Konfliktregionen Kolumbiens zeichnen sich durch eine von ver- schiedenen legalen und illegalen bewaffneten Akteuren umkämpfte öf- fentliche Ordnung, eine begrenzte Form von (Rechts-)Staatlichkeit und weitreichende Praktiken der Gewaltanwendung aus. Die Zivilbevölke- rung hat häufig nur die Möglichkeit mit einem bewaffneten Akteur zu kollaborieren oder die Region zu verlassen. Eine Ausnahme bilden die vereinzelt entstandenen gemeinschaftlich organisierten, friedlichen Widerstandsinitiativen, die für sich in Anspruch nehmen, eine neutrale Position gegenüber den Konfliktparteien zu beziehen. Mit der Frie- densgemeinde San José de Apartadó wird ein Fallbeispiel in den Fokus der Untersuchung gestellt, das exemplarisch für diese Form des Wider- standes stehen kann. Im Jahr 1997 in der Region Urabá gegründet, war es die erste friedliche Widerstandsinitiative ihrer Art in Kolumbien, die seit ihrer Entstehung elaborierte Strategien und Strukturen entwickelt hat, um in einem der meist umkämpften Gebiete des kolumbianischen Gewaltkonfliktes zu bestehen. Diese Friedensinitiative bekam im Jahr 2007 den Aachener Friedenspreis verliehen und wurde für den Frie- densnobelpreis nominiert. Dieser Artikel basiert einerseits auf den empirischen Ergebnissen einer Feldforschung in der Friedensgemeinde San José de Apartadó, die von Philipp Naucke 2008 durchgeführt wurde, und andererseits auf einer anhaltenden theoretischen Reflexion der Fragestellung dieses Beitrags durch die beiden Autoren im Kontext der Widerstandsfor- schung. Da es an dieser Stelle an notwendigem Raum mangelt, um ne- ben der in diesem Beitrag ausgearbeiteten analytisch-theoretischen Reflexion das Fallbeispiel mit der gebührenden ethnographischen Gründlichkeit darzustellen, verweisen wir auf Naucke (2011), wo diese Friedensinitiative detailliert beschrieben und der zu Grunde liegende Forschungsprozess reflektiert wird. Ziel des vorliegenden Beitrages ist es, die eingangs beschriebene, unerwartete empirische Form des Wider- standes theoretisch zu reflektieren und mit ausgewählten Konzepten der Widerstandsforschung zu konfrontieren.

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Radikale Neutralität als rechtmäßiger Widerstand?Zivile Friedensinitiativen in den Konfliktregionen Kolumbiens

Von Phil ipp Naucke und Ernst Halbmayer

Die Konfliktregionen Kolumbiens zeichnen sich durch eine von ver-schiedenen legalen und illegalen bewaffneten Akteuren umkämpfte öf-fentliche Ordnung, eine begrenzte Form von (Rechts-)Staatlichkeit undweitreichende Praktiken der Gewaltanwendung aus. Die Zivilbevölke-rung hat häufig nur die Möglichkeit mit einem bewaffneten Akteur zukollaborieren oder die Region zu verlassen. Eine Ausnahme bilden dievereinzelt entstandenen gemeinschaftlich organisierten, friedlichenWiderstandsinitiativen, die für sich in Anspruch nehmen, eine neutralePosition gegenüber den Konfliktparteien zu beziehen. Mit der Frie-densgemeinde San José de Apartadó wird ein Fallbeispiel in den Fokusder Untersuchung gestellt, das exemplarisch für diese Form des Wider-standes stehen kann. Im Jahr 1997 in der Region Urabá gegründet, wares die erste friedliche Widerstandsinitiative ihrer Art in Kolumbien, dieseit ihrer Entstehung elaborierte Strategien und Strukturen entwickelthat, um in einem der meist umkämpften Gebiete des kolumbianischenGewaltkonfliktes zu bestehen. Diese Friedensinitiative bekam im Jahr2007 den Aachener Friedenspreis verliehen und wurde für den Frie-densnobelpreis nominiert.

Dieser Artikel basiert einerseits auf den empirischen Ergebnisseneiner Feldforschung in der Friedensgemeinde San José de Apartadó,die von Philipp Naucke 2008 durchgeführt wurde, und andererseits aufeiner anhaltenden theoretischen Reflexion der Fragestellung diesesBeitrags durch die beiden Autoren im Kontext der Widerstandsfor-schung. Da es an dieser Stelle an notwendigem Raum mangelt, um ne-ben der in diesem Beitrag ausgearbeiteten analytisch-theoretischenReflexion das Fallbeispiel mit der gebührenden ethnographischenGründlichkeit darzustellen, verweisen wir auf Naucke (2011), wo dieseFriedensinitiative detailliert beschrieben und der zu Grunde liegendeForschungsprozess reflektiert wird. Ziel des vorliegenden Beitrages istes, die eingangs beschriebene, unerwartete empirische Form des Wider-standes theoretisch zu reflektieren und mit ausgewählten Konzeptender Widerstandsforschung zu konfrontieren.

I. Zum analytischen und theoretischen Gebrauch von Widerstand

Widerstand ist ein weitgefasstes Konzept, das sich in den Geistes-und Sozialwissenschaften eines häufigen Gebrauchs erfreut, wobeiallerdings eine genaue Klärung des Begriffes nicht selten fehlt. So all-gegenwärtig das Thema Widerstand ist, so volatil wird es auch als Kon-zept genutzt (Brown 1996: 729; Sahlins 2002: 23). Beinahe jede Hand-lung kann zu einem Beispiel kulturellen Widerstandes umgedeutet wer-den. Die Gefahr dieses inflationären Gebrauches ist offensichtlich:Widerstand als analytische Kategorie und als theoretisches Konzeptverliert an Schärfe und Bedeutung. Der Begriff wird zunehmend trivia-lisiert und mehrdeutig, seine wissenschaftliche Anwendbarkeit er-schwert.

Warum Widerstand als analytisches Konzept deshalb trotzdem nichtverworfen werden sollte, verdeutlichen die Soziologinnen Hollanderund Einwohner. In einem Vergleich einer Vielzahl verschiedener Veröf-fentlichungen zum Thema Widerstand identifizieren sie die Elementeder oppositionellen Haltung und der aktiven Handlung als konstitutivfür Widerstand. Ihren Ausführungen folgend lässt eine (dichte) Be-schreibung der Ziele, Ausmaße, Intentionen, Anerkennung, Austra-gungsmodi und Objekte des Widerstandes am ehesten eine analytischeAnnäherung an den konkreten Fall zu (Hollander & Einwohner 2004:536–542). Diese Operationalisierung von Widerstand nehmen wir alsAusgangspunkt für eine Analyse ausgewählter Dimensionen der Frie-densgemeinde, um sie im Folgenden anderen Widerstandsformen wiedem ‚rechtmäßigen Widerstand‘ von O’Brien (1996) gegenüberzustellen.Die ‚rightful resistance‘ beinhaltet im Kern den innovativen Gebrauchgeltender Gesetze, Grundsätze und Werte, um politischen und ökono-mischen Eliten zu trotzen.

II. Konfliktanalytische Einordnung

Kolumbien ist seit über 40 Jahren Schauplatz eines bewaffnetenKonfliktes zwischen verschiedenen Guerillabewegungen, paramilitäri-schen Gruppen und dem Militär. Der Drogenhandel spielt dabei einebedeutsame Rolle, da er einerseits die illegalen bewaffneten Gruppenfinanziert und andererseits als Organisierte Kriminalität einen eigen-ständigen Gewaltakteur konstituiert. Der kolumbianische Staat hattezu keinem Zeitpunkt seiner Existenz das Gewaltmonopol über das ge-samte kolumbianische Territorium inne und nie eine effektive Gebiets-herrschaft ausgeübt. In dieser Gemengelage sind unterschiedliche For-men von Gewalt eng miteinander verbunden. In Kolumbien entwickelte

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sich so eine Vielfalt von bewaffneten Akteuren, in deren Handlungsfel-dern sich die Grenzen zwischen allgemeiner Kriminalität, politisch mo-tivierter Gewalt, organisierter Kriminalität, terroristischen Aktionenund Verletzungen der Menschenrechte sowie des humanitären Völker-rechts auflösten und je nach politischem Interesse der Akteure neu de-finiert und re-interpretiert wurden. Das politische System Kolumbiensist dabei weiterhin prekär und instabil. Die öffentliche Sicherheit undOrdnung ist nicht flächendeckend garantiert, das Gewaltniveau auchin der Zivilbevölkerung beunruhigend hoch. Vertreibung und Mord,Armut und Korruption, Entführung und Erpressung sind genauso all-täglich wie Salsa und Sancocho. Die Ursachen hierfür sind vielfältigund vielschichtig.

In Anlehnung an Kurtenbach (2004) zählen wir neben der sozialenUngleichheit und dem traditionell relativ geschlossenen politischenSystem, in dem nur begrenzte Möglichkeiten der legalen Partizipationam politischen Willensbildungsprozess existieren, die unvollendeteStaatsbildung sowie die Verselbstständigung der politischen Gewalt zuden vier zentralen strukturellen Ursachen.

Die staatliche Entwicklung Kolumbiens ist gekennzeichnet durch ei-nen langwierigen Staatsbildungs- und Konsolidierungsprozess. Trotzder Bemühungen kolumbianischer Regierungen der vergangenen Jahre,die Situation im Lande anders darzustellen, ist der Staat sowohl hin-sichtlich seiner strukturellen Dimension, was klassisch als Einheit vonStaatsvolk, Staatsmacht und Staatsterritorium verstanden wird (Jelli-nek 1959), als auch in seiner funktionalen Dimension, was als govern-ance-Leistung von Sicherheit, Wohlstand und Rechtsstaatlichkeit ver-standen wird (Schneckener 2006), nicht vollständig ausgebildet. Derräumliche Einflussbereich seiner Institutionen und die effektive Ge-bietsherrschaft sind begrenzt, weshalb man den kolumbianischen Staatin den letzten Jahrzehnten durchaus schon kurz vor einem „funktionel-len Staatszerfall“ (Heinz 1997: 138) sah.

Die politische Gewalt ist in der Entwicklung des kolumbianischenStaates zu einem ordnungsgebenden, strukturierenden Element gewor-den. Bereits im 19. Jahrhundert kam es zwischen den zwei traditionel-len Parteien zu mehreren Gewaltkonflikten, in die die Zivilbevölkerungtrotz sonst begrenzter politischer Partizipationsmöglichkeit erfolgreicheingebunden wurde. Politische Interessen mit Gewalt durchzusetzenund Zivilisten zur Parteinahme in diesen Auseinandersetzungen zuzwingen wurde zu einer allgemein anerkannten Strategie, die auch im20. und 21. Jahrhundert Anwendung fand und findet (Waldmann 1997).So beschreibt Raul Zelik (2009) in seiner Untersuchung der Entwick-lung des Paramilitarismus in Kolumbien den Einsatz von Terror durchden Staat als einen Teil der kolumbianischen Regierungsführung.

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Vor dem Hintergrund der vier genannten Faktoren gründeten sich abden 1960er Jahren mehrere Guerillabewegungen und ab den 1980erJahren paramilitärische Gruppen. Der sich ebenfalls in den 1980er Jah-ren stark entwickelnde Drogenhandel konstituierte nicht nur eineneigenständigen Gewaltakteur, sondern bildete darüber hinaus einemehr als ausreichende Finanzierungsgrundlage für die kriegerischenAktivitäten der illegalen bewaffneten Gruppen (Mertins 2001: 50).Nach über 40 Jahren gewaltsamer Auseinandersetzungen, die auchweltpolitische Veränderungen (wie das Ende des Kalten Krieges) über-dauerten, sind die Handlungsmotivationen und -ziele nicht mehr soeindeutig zu bestimmen. Der Konflikt hat über die Zeit an Komplexitätzugenommen, ohne dass ein Ende der Kampfhandlungen in Aussicht zustehen scheint.

III. Zur Entstehung ziviler Friedensinitiativen

Das im Nordwesten Kolumbiens gelegene Urabá wurde bis in die1990er Jahre von verschiedenen Guerillagruppen dominiert. Als Mitteder 1990er Jahre paramilitärische Gruppen sich vornahmen, die Regioneinzunehmen, kam es zu einer Eskalation der Gewalt, die sich insbe-sondere gegen die Zivilbevölkerung richtete. In diesem Kontext zu-nehmender Gewalt und drohender Vertreibung erklärte sich das DorfSan José de Apartadó 1997 zu einer Friedensgemeinde. In ihrer Dekla-ration definieren sich seine Bewohner als Teil der nicht-kämpfenden,zivilen Bevölkerung und verpflichten sich, keinen bewaffneten Akteurdirekt oder indirekt zu unterstützen (CdP San José de Apartadó 1997).In einem gemeinschaftlichen Prozess entwickelte die Gemeinde eine or-ganisatorische Struktur, die die politische Partizipation der Bewohnerförderte und die ökonomische Subsistenz und Unabhängigkeit sicherte(CdP San José de Apartadó o.J.). Darüber hinaus wurden Strategienzum Selbstschutz etabliert, die die Existenz der Gemeinde trotz massi-ver Repression1 durch die bewaffneten Akteure bis in die Gegenwartermöglicht (Hernández Delgado 2004: 371–398).

Es ist eher die Ausnahme, dass sich Dorfbewohner in einer Konflikt-region mit bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen verschiedenenlegalen und illegalen Gewaltakteuren, in denen sie das Ziel gewaltsa-mer Übergriffe sind und nicht auf staatlichen Schutz vertrauen kön-nen, dazu entscheiden an dem Ort zu bleiben ohne mit einem Gewalt-akteur zu kollaborieren. Unter diesen Umständen ist es wesentlich häu-

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1 Seit ihrer Gründung zählt die Gemeinde, der heute etwa 1350 Personen ange-hören, ca. 200 Tote, 11 Massaker, sowie über 700 Verletzungen der Menschen-rechte und des humanitären Völkerrechts (CdP San José de Apartadó 2009).

figer zu beobachten, dass die Bevölkerung ‚gezwungen‘ ist, die Regionzu verlassen2 oder aber mit einem Gewaltakteur zu kollaborieren. Wel-ches sind also die Faktoren, die die Entscheidung von Zivilisten, einefriedliche Widerstandsinitiative in einer gewaltsamen Konfliktregionzu gründen, begünstigen? Diese Frage soll im Folgenden sowohl theore-tisch als auch empirisch gestützt auf die Untersuchung der Friedensge-meinde San José de Apartadó beantwortet werden.

Für die Beantwortung dieser Frage ist es zunächst entscheidend, wieder unmittelbare Kontext, also der Gewaltkonflikt, konzipiert und wel-che Entscheidungsmacht dabei der Zivilbevölkerung zugeschriebenwird. Krieg und Frieden werden hier nicht als exklusive, sich gegen-seitig ausschließenden Zustände, sondern als Teile sozialer Prozesseverstanden. Auch während eines bewaffneten Konfliktes, in dem derGewaltakt ein dominantes Element ist, existieren alle anderen Dimen-sionen des gesellschaftlichen Zusammenlebens (Lubkemann 2008).Richards bezeichnet Krieg und Frieden als kongruierende und rivalisie-rende Modi der Existenz, die zeitlich nicht determiniert, sondern auf ei-nem Kontinuum angesiedelt sind (Richards 2005). Ein Verständnis derlokalen Konfliktdynamik und ihrer spezifischen Ausformungen sowiedes Verhaltens der Zivilbevölkerung und ihrer Entscheidungen bedarfder Berücksichtung sozio-historischer Prozesse, die über den Zeitraumder konkreten Gewaltanwendung hinausgehen.

Entscheidend ist darüber hinaus, wie viel Handlungsmacht der ‚Zi-vilbevölkerung‘ in Gewaltkonflikten zugeschrieben wird. Besonders inVeröffentlichungen von Menschenrechtsorganisationen und journalis-tischen Publikationen werden Zivilisten vornehmlich als passive Opferkonzipiert (Lubkemann 2008). Dieser Viktimisierungsdiskurs sprichtden Zivilisten implizit eine aktive Haltung gegenüber ihrer Situationab und thematisiert nur Handlungsmöglichkeiten, die sich mit dem Bilddes Opfers zu decken scheinen, wie z. B. Zwangskollaboration oderVertreibung. Dabei wird vernachlässigt, dass der Kollaboration häufigeine bewusste Entscheidung vorausgeht, die mit den inneren Hand-lungsmotivationen des Kollaborateurs korrespondiert, dieser alsohandlungsmächtig agiert (Löfving 2005). Auch in der Vertreibung zeigtsich ein gewisser Grad an Handlungsmacht der Vertriebenen, wennz. B. der Entschluss zum Verlassen der Region gefasst, der Zielort derFlucht festgelegt, die Flucht selbst organisiert und ein Leben am Ziel-ort etabliert werden muss. Wir gehen davon aus, dass den Zivilisten –

trotz des äußeren Zwangs und des durch die Gewaltakteure, derenOpfer sie zweifelsohne sind, erfahrenen Leids – ein gewisser Grad an

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2 In Kolumbien sind nach Angaben des UNHCR ca. 4 Mio. Menschen vertrie-ben.

Handlungsmacht erhalten bleibt, der sie zu aktiven Akteuren in einerschwierigen sozialen Situation macht.

Warum versuchen nun Zivilisten ausgerechnet eine unabhängige,neutrale Position in der gewaltsamen Auseinandersetzung zu beziehen –

eine Handlungsmöglichkeit, die den Interessen der Gewaltakteure imGegensatz zu Kollaboration und Flucht am wenigsten entgegenkommt?3 Auf Grundlage der eben dargelegten Ausführungen soll an-hand der Friedensgemeinde San José de Apartadó gezeigt werden, dasserstens langfristige sozio-historische Prozesse, die von einer staatlichenAbwesenheit geprägt sind, und zweitens Erfahrungen der Zivilbevölke-rung in der politischen und ökonomischen Selbstorganisation Faktorendarstellen, die die Gründung friedlicher Widerstandsinitiativen be-günstigen. Das Zusammenspiel beider Faktoren führte zu einer weit-gehenden lokalen Autonomie jenseits staatlicher Strukturen. Beide hieranalytisch getrennten Faktoren4 sind eng miteinander verknüpft, wasdurch die folgende alternierende Form der Darstellung der Prozessezum Ausdruck gebracht wird.

Sozio-historische Prozesse der Gewalt und Flucht. Dieses Argumentgründet in der Tradition der politischen Gewalt in Kolumbien. Das Ge-biet um San José wurde in den 1950er und 1960er Jahren von Menschenbesiedelt, die vor den bewaffneten Auseinandersetzungen während desBürgerkrieges der ‚Violencia‘ (1948 – 53) aus anderen Regionen desLandes geflüchtet sind. Die meisten von ihnen waren Anhänger derliberalen Partei, die vor den Gewaltübergriffen der KonservativenSchutz suchten. Durch die Flucht teilten die Menschen die gemeinsameMigrationserfahrung des Verlustes und des Neuanfangs. Die Ankunftin dem neuen Gebiet verband sich mit der Hoffnung auf ein geschütztesLeben mit ökonomisch gesichertem Auskommen, was eine verbinden-de, identitätsstiftende Wirkung hatte und die Entwicklung einer hohensozialen Kohäsion förderte.

Selbstorganisatorische Erfahrungen der Besiedlung und Gemeinde-gründung. Die äußeren Bedingungen des Gebietes waren zunächst we-

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3 Bewaffnete Gruppen erwarten eine Parteinahme, weil die physische Unter-stützung einer Partei durch die Zivilbevölkerung den Sieg bedeuten kann und alsEntscheidung, wer Wahrheit, Recht und Moral auf seiner Seite hat, gesehen wird(Robben 2004). Bauman argumentiert, dass eine neutrale Position in den Augender Gewaltakteure nicht existieren darf, weil ein dritter Standpunkt nicht nurdie bestehende Opposition, sondern das Prinzip der Opposition, die Plausibilitätder Dichotomie hinterfragt und so die geordnete Lebenswelt der bewaffneten Ak-teure zerstört (Bauman 1990).

4 Mit der Unterscheidung in zwei Faktoren soll sowohl einer strukturellen alsauch einer akteursorientierten Untersuchung der Entstehungsbedingungen sol-cher Widerstandsinitiativen Genüge getan werden.

nig geeignet für die Ansiedlung von Menschen. Zu Beginn lebten dieAnsiedler unter Planen im Wald und ernährten sich von wild wachsen-den Pflanzen sowie vom Fischen und Jagen. Notwendige Produkte undBaumaterialien wurden auf Grund fehlender Straßen auf den Schul-tern aus der nächsten, zwölf Stunden entfernten Stadt herangetragen(Lanchero 2002: 44). Die Urbarmachung der Böden war wegen der üp-pigen Fauna des Gebietes, welches zu den regenreichsten Regionen derWelt gehört, mit großen Kraftanstrengungen verbunden. Die Initiie-rung eines sozioökonomischen Neuanfangs verlangte eine hohe kollek-tive Organisationsfähigkeit der Bevölkerung und solidarische Bezie-hungen zwischen den Bewohnern.

Die Kontinuität staatlicher Abwesenheit. Diese Organisationsfähig-keit der Bevölkerung war für die lokale Entwicklung auch noch auflange Sicht notwendig, denn bis auf die spärlichen Patrouillen des Mili-tärs, waren in dieser Region keine staatlichen Institutionen präsent.Weder gab es einen staatlich initiierten Aufbau der sozialen Infrastruk-tur, noch wurde eine funktionierende Verwaltung eingerichtet oder ei-ne staatlich kontrollierte öffentliche Ordnung etabliert. Nicht zuletztauf Grund der staatlichen Absenz machte ab den 1970er Jahren dieGuerilla Farc diese Region zum Standort einer ihrer Einheiten. Mit ih-rer Präsenz substituierte sie zu einem gewissen Grad den Staat, indemsie Regeln und eine Ordnung aufstellte oder in Konflikten vermittelte.Die Bewohner mussten sich mit ihrer Anwesenheit arrangieren.

Die selbstorganisatorische Erfahrung eigenständiger Entwicklung.Nachdem das Dorf San José de Apartadó im Jahr 1970 offiziell gegrün-det wurde, rief man die sogenannten ‚Räte der kommunalen Aktion‘(Juntas de Acción Comunal) ins Leben. Damit schuf man einen politi-schen Raum, der die Entwicklung der Gemeinschaft förderte, und indem unter großer Partizipation der Bewohner Projekte zur Verbesse-rung der Lebensbedingungen in der Region umgesetzt wurden. Dieökonomische Entwicklung wurde durch die Gründung der Kooperative‚Balsamar‘ im Jahr 1976 forciert. Die Kooperative verfolgte das Ziel,die Probleme der Kommerzialisierung und Verarbeitung von landwirt-schaftlichen Produkten zu lösen und die Bauern durch Kredite und In-frastruktur zu unterstützen. Infolge dieser Initiativen der bäuerlichenSelbstorganisation wurde in Ansätzen eine soziale Infrastruktur aufge-baut und die Lebensumstände wurden kontinuierlich verbessert.

Der Prozess staatlicher Verfolgung. Während der punktuellen Prä-senz des Militärs in der Region kam es immer wieder zu Übergriffenauf Zivilisten, die man bezichtigte mit der Guerilla zu kollaborieren.Bereits im Jahr 1977 wurden zwölf Bauern von einer Armeepatrouillefestgenommen, zwei Wochen gefoltert und anschließend umgebracht(Lanchero 2002: 45). Die Verfolgung der Bevölkerung durch die staatli-

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chen Sicherheitskräfte verschlimmerte sich im Laufe der 1980er Jahreim Zuge der Etablierung der linksorientierten Partei ‚Unión Patriótica‘in der Region. Diese setzte sich für die ländliche Entwicklung ein, wes-halb sie schnell gute Ergebnisse bei Wahlen erzielte, was sie wiederumzu einer Bedrohung für die beiden etablierten Parteien werden ließ. DieBeziehungen zu den staatlichen Institutionen in dieser Region warenund sind seitens der Bevölkerung durch Misstrauen, Vorsicht und Zu-rückhaltung geprägt. Der Staat wurde nie als wohlwollend oder schüt-zend wahrgenommen, sondern als repressiv.

Abkehr und Opposition als Resultat selbstorganisatorischer Erfah-rung. Die beschriebene staatliche Verfolgung hatte eine Abkehr der Be-völkerung vom Staat zur Folge. Viele Bewohner der Region sahen inder eben erwähnten Partei ‚Unión Patriótica‘ eine Option sich politischzu organisieren und die ländliche Entwicklung voranzutreiben. Diewachsende Zustimmung in der Bevölkerung und der damit einherge-hende Machtzuwachs der Partei führte zu Verfolgung und letztendlichin einem historisch einmaligen Prozess zu der Auslöschung der ‚UniónPatriótica‘. Nachdem ihre Mitglieder nacheinander ermordet wurden,hörte sie auf zu existieren.5 Die Erfahrung der Bewohner des DorfesSan José de Apartadós mit der ‚Unión Patriótica‘ als Opposition gegendie staatlichen Herrschaftsstrukturen war letztendlich die Fortsetzungder bereits zuvor gemachten Erfahrungen in noch extremerer Form.Diese Oppositionserfahrung zeigte sehr deutlich, wie der kolumbiani-sche Staat reagieren kann, wenn man sich entgegen den Interessenderer organisiert, die ihn konstituieren. Die Distanzierung zwischenBevölkerung und Staat führte bei den Bewohnern zu einer zunehmen-den Politisierung, einer zunehmend kritischen Haltung gegenüber demStaat und dem absoluten Vertrauensverlust in selbigen. Die Möglich-keit sich politisch und ökonomisch selbst zu organisieren gewann da-durch weiter an Bedeutung.

Die hier beschriebenen Prozesse und Erfahrungen erstreckten sichüber einen Zeitraum von etwa 50 Jahren, bevor es Mitte der 1990erJahre zu einer Gewalteskalation kam, als paramilitärische Gruppen indie Region eindrangen, um die Dominanz der Guerilla zu beenden. InFolge dessen deklarierte sich das Dorf San José de Apartadó als Frie-densgemeinde. Die wenigen Forschungsarbeiten zu diesen Wider-standsinitiativen reduzieren ihre Entstehung auf ahistorische, singu-läre und unmittelbare Umstände. Mitchell und Ramirez erklären dieEntstehung solcher Friedensgemeinden erstens durch die Zunahmeeiner wenig konkretisierten, äußeren Bedrohung, zweitens durch ein

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5 In diesem ‚Parteiozid‘ wurden von 1986 bis 1994 zwischen 1.500 und 5.000Mitglieder dieser Partei getötet (Zelik 1999: 67).

unbestimmtes ausschlaggebendes Ereignis und drittens durch den et-was diffusen Willen zur Veränderung (Mitchell & Ramirez 2009: 266).Spezifischer als mit Mitchell und Ramirez halten wir vielmehr (1)langfristige sozio-historische Prozesse, die sich insbesondere durch dieAbwesenheit des Staates charakterisieren, und (2) einen hohen Gradan selbstorganisatorischen Erfahrungen der Bevölkerung für die ent-scheidenden Faktoren, die die Entstehung solcher Friedensinitiativenbegünstigen.

IV. Friedensinitiativen als Widerstand?

Ist die Friedensgemeinde San José de Apartadó ein Widerstandspro-jekt? Wenn ja, gegen wen richtet es sich, mit welchen Zielen und wieträgt es seinen Widerstand aus? Im Folgenden nutzen wir die bereits ge-nannten Dimensionen von Hollander und Einwohner (2004: 536–542)um die Friedensgemeinde zu analysieren.6

Die Ziele des Widerstandes der Friedensgemeinde können in dreiPunkten zusammengefasst werden: (1) Die (il-)legalen bewaffnetenAkteure sollen den Status der Bewohner der Friedensgemeinde als Zi-vilbevölkerung respektieren und nicht gegen verfassungsmäßig garan-tierte Bürgerrechte, Menschenrechte und das humanitäre Völkerrechtverstoßen. (2) Die Bewohner fordern eine Beziehung zu den bewaffne-ten Akteuren und zum Staat, die ein würdevolles Leben auf ihrem Landermöglicht, ohne der Gefahr einer potenziellen bzw. einer tatsächlichenVertreibung ausgesetzt zu sein. (3) Die Gemeinde fordert Gerechtigkeitfür die Straftaten, die gegen sie und ihre Bewohner von Seiten der Gue-rilla, der paramilitärischen Gruppen und der öffentlichen Streitkräftedes kolumbianischen Staates begangen wurden.

Das direkte Ausmaß dieses Widerstandes geht über die regionalenGrenzen nicht hinaus. Die zunehmenden Solidaritätsbeziehungen zunationalen und internationalen Nichtregierungs- und Menschenrechts-organisationen7 erhöhen jedoch das indirekte Ausmaß dieses Wider-standes und seine Vorbildfunktion für andere Dörfer.8

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6 Für die ausführliche Darstellung der Analyse des Widerstandes der Friedens-gemeinde siehe Naucke (2011: 79–98).

7 Zum Beispiel Justicia y Paz, CINEP, International Peace Brigades und dasInternationale Komitee des Roten Kreuzes.

8 Nach der Friedensgemeinde San José de Apartadó haben sich unterschiedli-chen Angaben zur Folge zwischen 15 und 59 solcher Friedensgemeinden gegrün-det (Cuartas zählt 52; Cuartas & Montoya 2007: 31; Sanford gibt 59 an; Sanford2004: 258).

Die bewusste Intention der Friedensgemeinde, Widerstand zu leisten,zeigt sich in dem kollektiven, selbstbestimmten und demokratischenOrganisationsprozess, der den Entscheidungen über Handlungen undStrategien der Gemeinschaft vorausgeht.

Die Anerkennung des Widerstandes ist abhängig von seiner Sicht-barkeit und seiner Wahrnehmung durch die am Konflikt Beteiligtenund durch außenstehende Dritte (Hollander & Einwohner 2004: 540).Die Friedensgemeinde hat im Gegensatz zum Alltagswiderstand (Scott1987) kein Interesse daran, ihren Widerstand zu verstecken. Die Aner-kennung des Widerstandes offenbart sich in den gewaltsamen Über-griffen der bewaffneten Akteure und in den staatlichen Maßnahmengegen die Gemeinde (juristische Prozesse, mediale Propaganda etc.).Die Beziehungen zu internationalen Organisationen, Urteile des Inter-amerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte9 und die internatio-nalen Auszeichnungen sind Hinweise dafür, dass dieser Widerstandauch von Seiten Dritter Anerkennung findet.

Der Austragungsmodus des Widerstands ist im Fall der Friedensge-meinde San José de Apartadó ein friedlicher, da die Anwendung vonGewalt und der Besitz von Waffen streng untersagt sind. Des Weiterenlassen sich die oppositionellen Aktionen in aktive Handlungen, unter-lassene Handlungen und Handlungen des ‚Alltagswiderstandes‘ unter-teilen.

Die aktiven Handlungen des Widerstandes zeigen sich in diversensozialen, juristischen und symbolischen Bereichen. Unmittelbar vor Ortsind die Organisation einer partizipatorischen politischen Struktur mitinternem Rat, Vollversammlung und verschiedenen Komitees sowieeiner solidarischen Ökonomie mit einer Kooperative, organisiertenArbeitsgruppen und Gemeinschaftsarbeit zu nennen, die zu einer Ver-besserung der politischen, ökonomischen und sozialen Infrastrukturbeitragen. Mittelbar werden Klagen vor dem InteramerikanischenMenschenrechtsgerichtshof sowie dem kolumbianischen Verfassungs-gericht eingereicht, und in regelmäßigen Abständen demonstrierenGemeindemitglieder vor der Staatsanwaltschaft der nächstgelegenenStadt, um auf begangene Verbrechen aufmerksam zu machen und ju-ristische Sanktionen gegen die Gewaltakteure zu erwirken. Die symbo-lischen Handlungen umfassen beispielsweise den Rückzug der Gemein-demitglieder auf eigenes Land, welches sie umzäunten, beschilderten,zu welchem sie den Ein- und Austritt limitierten, welches sie mit einereigene Flagge beflaggten und für welches sie eine eigene Hymne kom-

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9 Die Urteile des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte fin-den sich auf: http: //www.corteidh.or.cr/docs/comunicadosCP_08_10_esp_resu.pdf(Zugriff: 30. 07. 2011).

ponierten. Des Weiteren etablierte sich eine ausgeprägte Erinnerungs-kultur und -symbolik, die sich in Liedern, Gedenktagen, Mahnmalenetc. ausdrückt. Auch die Einbindung der internationalen Solidarität inlokale Strategien des Selbstschutzes ist eine Form der aktiven Hand-lung des Widerstandes.

Dass das Unterlassen von Handlungen ebenfalls ein Akt des Wider-standes sein kann, zeigt sich am deutlichsten bei dem Verbot der Kolla-boration mit den bewaffneten Akteuren. Indem keine Informationenweitergegeben werden, keine logistische Unterstützung gebilligt undden bewaffneten Akteuren ausgewichen wird, verlieren diese einewichtige Basis ihrer lokalen Existenz. Die Nicht-Kollaboration mit denbewaffneten Akteuren ist eine der wirkungsvollsten Aktionen desWiderstandes, weil durch sie die binäre Opposition der Akteure aufge-brochen und die Konstituierung einer dritten Position in der lokalenKonfliktkonstellation ermöglicht wird. Die Weigerung an Wahlen teil-zunehmen und den Wehrdienst zu leisten sind weitere unterlasseneHandlungen, in denen ein Widerstand gegen politische und militärischeProzesse zum Ausdruck kommt.

Alltägliche Handlungen, die aber auf Grund der bedrohlichen Situa-tion zu einer Aktion des Widerstandes werden, sind z. B. das kollektiveBearbeiten der Felder trotz Androhung von Repression durch die be-waffneten Akteure. In einer konkreten Gefahrensituation, z. B. wennGemeindemitglieder auf Soldaten treffen, verstummen sie, täuschenNichtwissen vor oder verleugnen. Auch die diskursive und symbolischeStärkung des eigenen Widerstandes durch eine Vielzahl von Liedern,Gedichten, Anekdoten und Witzen, die die Erfahrungen des Widerstan-des thematisieren und die Scott als ‚hidden transcript‘ bezeichnet(Scott 1990), sind in der Friedensgemeinde zu finden.

In Bezug auf das Objekt widersteht die Friedensgemeinde der mili-tärischen Logik und Praxis der bewaffneten Akteure, indem sie durchihre Neutralität das binäre Freund/Feind-Schema unterläuft und da-durch die Position der Zivilbevölkerung rekonstituiert. Die Aktivitätenwenden sich aber auch gegen die politische Logik und Praxis des ko-lumbianischen Staates, die u. a. aus Klientelismus, Korruption, Stim-menkauf, Wahlmanipulation, Nepotismus und der historisch weitge-henden Exklusion der Bevölkerung vom politischen Willensbildungs-prozess bestehen. Der Organisationsprozess der Friedensgemeindebasiert dagegen auf Partizipation, Meinungsvielfalt und einem Dialog,der demokratische Entscheidungen fördert. Der existierenden Margi-nalisierung der Bauern setzt die Gemeinde eine lokale Wirtschaftsformentgegen, die sich an einer ‚solidarischen Ökonomie‘ (Giegold 2008)orientiert. Die gegründete Kooperative, die Arbeitsgruppen und dieGemeinschaftsarbeit ermöglichen eine Entwicklung der sozialen Infra-

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struktur der Gemeinde, die sich gegen die stark neoliberal geprägteökonomische Logik und Praxis Kolumbiens wendet. Bei der Friedens-gemeinde San José de Apartadó handelt es sich somit um eine äußerstkomplexe und kontextgebundene Form von Widerstand, was die Frageaufwirft, wie diese theoretisch erfasst werden kann.

V. Die Friedensgemeinde als „rightful resister“?

Wenn in der Forschungsliteratur der Versuch unternommen wird,Widerstand zu klassifizieren, dann wird diese Klassifizierung anhandeiner der genannten Dimensionen (Austragungsmodus, Ausmaß, Ob-jekt, Intention, Anerkennung und Ziel) von Widerstand vorgenommen,zumeist ohne dass das jeweilige Ordnungsprinzip explizit benannt ist.Diese Einteilung erlaubt eine gewisse Systematisierung der unter-schiedlichsten Phänomene, die als Widerstand bezeichnet werden, ihreanalytische Funktion hinsichtlich theoretischer Wirkungszusammen-hänge von Widerstand scheint allerdings begrenzt. Im Folgendenmöchten wir kurz auf Klassifikationen in Bezug auf den Austragungs-modus eingehen und einen Vorschlag zur Systematisierung von Wider-stand entlang seiner Ziele entwickeln.

Bezüglich des Austragungsmodus, also der Form der Aktionen desWiderstandes, finden sich die meisten Unterscheidungen in der Litera-tur, die zunächst allgemein zwischen gewaltsam10 und friedlich tren-nen, und beispielsweise den ‚prinzipiellen gewaltfreien Widerstand‘und den ‚pragmatischen gewaltfreien Widerstand‘ unterscheiden. Der‚prinzipiell gewaltfreie Widerstand‘ basiert auf religiösen, ideologi-schen oder philosophischen Überzeugungen und geht auf die Schriftenund das Wirken von Gandhi (1950) zurück, die u. a. von Bondurant(1988) und Gregg (1965) weiterentwickelt wurden. Der ‚pragmatischegewaltfreie Widerstand‘ rückt die strategische Dimension der Gewalt-freiheit in das Zentrum der Analyse und basiert auf den Überlegungenvon Sharp (1973), die in der Gegenwart u. a. von Ackermann und Rodal(2008) und Stephan und Chenoweth (2008) weiterentwickelt werden.Diese beiden einflussreichen, viel diskutierten und für viele Fällefruchtbaren Ansätze thematisieren allerdings überwiegend landesweitepolitische Bewegungen und ignorieren kleine Widerstandsprojekte oderFormen des Alltagswiderstandes (Dudouet 2008). Ihr Erklärungspoten-tial hinsichtlich der Friedensgemeinde ist deshalb begrenzt.

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10 Zur jüngeren wissenschaftlichen Auseinandersetzung über gewaltsame Wi-derstandsbewegungen und Revolutionen siehe Goldstone (2003), Pizarro Leongó-mez (1996), Skocpol (2006) und Wickham-Crowley (1993).

Die Gewaltlosigkeit der Friedensgemeinde lässt sich nicht auf einewie auch immer geartete prädispositionierte Überzeugung zurückfüh-ren, sondern leitet sich in erster Linie aus der unmittelbaren Erfahrungvon Gewalt ab, was allerdings von individuellen, religiösen, morali-schen oder politischen Vorstellungen unterstützt werden kann (Naucke2011: 108–111). Auch wäre eine Reduzierung der Gewaltlosigkeit aufdie strategische Dimension eine Simplifizierung der komplexen Ge-schichte, Erfahrung und Situation, in der die Bewohner der Friedens-gemeinde ihren Widerstand entwickeln. Neben diesen beiden Ansätzengehören zum Austragungsmodus auch die Strategien der ‚everydayresistance‘ (Scott 1987) oder nicht-physische, symbolische Formen vonWiderstand (bspw. Weitz 2001), die wie oben beschrieben zumindesteinen Ausschnitt des Widerstandes der Friedensgemeinde erklärenkönnen.

Was nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung fehlt, ist eineEinteilung von Widerstand hinsichtlich seiner Ziele. Hier möchten wirvon einer Unterscheidung von Widerstand anhand von zwei Zieldimen-sionen ausgehen: das Vorhandensein bzw. Fehlen eines politischenHerrschaftsanspruchs und das Ziel, existierende normative Ordnungenzu überwinden, zu reformieren oder aber auch de facto zu realisieren.

Zu den Widerstandsformen, die politische Herrschaftsansprüchestellen, zählen viele Varianten politischer Oppositionsbewegungen, vonUnabhängigkeitsbewegungen und bewaffneten Guerillabewegungenbis hin zu den klassischen revolutionären Bewegungen Frankreichsund Russlands. Wenn sich der Herrschaftsanspruch nicht auf den ge-samten Staat bezieht, kann es sich um die Schaffung autonomer undpolitisch weitgehend unabhängiger Räume (z. B. indigener Territorienoder autonomer Gesetzgebung) oder sogar eindeutig separatistischerZiele handeln. Es existieren aber durchaus auch Formen von Wider-stand ohne politischen Herrschaftsanspruch. Dabei handelt es sichhäufig um Widerstand zur Durchsetzung partikularer Interessen wiebei gewerkschaftlich organisierten Arbeitskämpfen, Studierenden-Pro-testen oder Widerstandsformen gegen Atomkraft oder den Umbau vonBahnhöfen.

Widerstand kann aber auch in Bezug auf sein Verhältnis zur beste-henden normativen Ordnung differenziert werden.11 Das Ziel, beste-hende normative Ordnungen zu verändern, kann von politischen Re-formbestrebungen bis zur Überwindung des politischen Systems rei-

Radikale Neutralität als rechtmäßiger Widerstand? 141

11 Eine normative Ordnung kann in einem politischen Sinne die schriftlich fi-xierten Gesetze und Regeln beinhalten, aber auch – beispielsweise in einem sozio-kulturellen Sinne – durch tradierte Praktiken verstetigte Wertvorstellungen undVerhaltensmuster zum Gegenstand haben.

chen. Dass mit einem politischen Herrschaftsanspruch aber nicht eineVeränderung der normativen Ordnung einhergehen muss, zeigt sich anvielen politischen Oppositionsbewegungen oder teilweise auch an denErgebnissen der farbigen Revolutionen in Osteuropa12. Andererseitskönnen Widerstandsformen ohne politischen Herrschaftsanspruchdurchaus die Veränderung der normativen politischen, wie der sozio-kulturellen und moralischen Ordnung zum Ziel haben.

Wie aber kann ein Widerstand aussehen, der keinen politischen Herr-schaftsanspruch stellt und dessen Ziel die Realisierung einer formellbestehenden normativen Ordnung ist? Ein Beispiel für eine solche Formdes Widerstandes ist O’Brien’s ‚rightful resistance‘, welche Strategiender ländlichen Bevölkerung Chinas beschreibt, die Gesetze und Direk-tiven der kommunistischen Partei innovativ einzusetzen, um der Will-kür politischer und ökonomischer Eliten zu widerstehen (O’Brien 1996).Chinesische Bauern verweisen demnach auf Direktiven der kommunis-tischen Partei, um lokale Kader gegen deren Willen dazu zu bringen,zustehende Vergünstigungen zu gewährleisten. Rechtmäßiger Wider-stand ist also eine Form von Widerstand,

that (1) operates near the boundary of an authorized channel, (2) employs therhetoric and commitments of the powerful to curb political or economicpower, and (3) hinges on locating and exploiting division among the powerful.(O’Brien 1996: 33)

Die ‚rightful resistance‘ basiert auf bestehenden Rechtsnormen undformuliert ihre Umsetzung als Ziel. ‚Rightful resistance‘ setzt also eineformal und praktisch existierende staatliche oder organisatorischeOrdnung (z. B. in Betrieben oder Gefängnissen) voraus, wobei Wider-stand unter Bezug auf und Anerkennung von existierenden Direktivenund Gesetzen formuliert wird. Inwieweit lässt sich diese Widerstands-form auf die hier untersuchte Friedensgemeinde übertragen?

Festhalten lässt sich zunächst, dass die Friedensgemeinde nicht da-rauf abzielt, politische Herrschaftsansprüche durchzusetzen, und auchnicht die Überwindung des politischen Herrschaftssystems anstrebt.Auch wenn sie innerhalb der Konfliktsituation zivile Nischen etabliert,so ist das Ziel des Widerstandes auf den Staat gerichtet und fordert inGewaltkonflikten die Umsetzung der Rechte der Zivilbevölkerung, dieim Humanitären Völkerrecht festgehalten sind, sowie die Respektie-rung der verfassungsmäßig garantierten Bürger- und Menschenrechte.Ziel dieser Initiativen ist also die Realisierung einer normativ existier-enden Rechtslage, die die Gesamtbevölkerung betrifft und die sich auf

142 Philipp Naucke und Ernst Halbmayer

12 So war z. B. der Auslöser der Orangenen Revolution in der Ukraine 2004 derWahlbetrug bei den Präsidentschaftswahlen, ihr Ergebnis – die Durchführungvon Neuwahlen – ließ die bestehende normative Ordnung allerdings unberührt.

das in der Verfassung verankerte politische System stützt, ohne dabeipolitische Ämter anzustreben. Diese Strategie der Einforderung vonZielen unter Verweis auf eine normative Rechtslage steht jener der‚rightful resistance‘ sehr nahe.

Im Gegensatz zum rechtmäßigen Widerstand im zentralistischen chi-nesischen Staat, der an der Grenze zwischen populären Widerstandund institutionalisierter Partizipation angesiedelt ist (O’Brien 1996:33), besteht die Strategie der Friedensgemeinde darin, sich zwar aufvom Staat anerkannte Normen zu berufen, aber gleichzeitig die institu-tionalisierte Kollaboration mit diesem wie mit den anderen bewaffne-ten Akteuren soweit wie möglich zu meiden13, da der Staat vor Ort inder Praxis „nur“ als ein weiterer bewaffneter Akteur agiert. Die Abwe-senheit ziviler staatlicher Institutionen fördert den Aufbau der Selbst-organisation des Widerstandes der Friedensinitiative, und die Weige-rung mit staatlichen und anderen bewaffneten Akteuren zu kooperie-ren ist ein zentrales Mittel des Widerstandes.

Der rechtmäßige Widerstand der chinesischen Arbeiter ist opportu-nistisch und dosiert. Sie verfügen fast nie über die organisatorischenRessourcen und das kollektive Bewusstsein von gut organisiertenGruppen (O’Brien 1996). Im Gegensatz dazu ist die Friedensgemeindesehr gut organisiert und dieser hohe Organisationsgrad ist eine Voraus-setzung dafür, dass Zivilisten es schaffen, den bewaffneten Akteurenund ihren Logiken zu widerstehen. Während die rechtmäßigen Wider-ständler in China die Risiken der Konfrontation durch die Verkündungihrer Treue zu zentralen Werten mindern, bejaht und stützt sich dieFriedensinitiative zwar auf grundlegende Rechte, die den Zivilisten inKriegssituationen zustehen und auch vom kolumbianischen Staat aner-kannt werden, aber wendet sich bewusst gegen alle bewaffneten Ak-teure vor Ort. Somit haben wir es mit einer spezifischen Form vonrechtmäßigem Widerstand zu tun, die nicht auf opportunistischerTreue und Nähe zum System, sondern auf der normativen Einfor-derung geltenden Rechts und einer radikalen Neutralität und Nicht-Kooperation mit den Gewaltakteuren beruht. Rechte einzufordernbedeutet im untersuchten Fall nicht strategische Loyalität und Treuezum System, sondern demonstriert sichtbar und öffentlich dessen Ver-sagen und legitimiert die Nicht-Kooperation. Es geht also nicht darum,Widerstand rechtmäßig und systemkonform erscheinen zu lassen, son-dern um die Einsetzung nicht realisierter aber formal existierenderNormen, um das Versagen des Systems publik zu machen. Beide For-men des Widerstandes haben gemein, dass sie möglichst sichtbar und

Radikale Neutralität als rechtmäßiger Widerstand? 143

13 Zur Meidung als Form der Konfliktaustragung siehe Elwert (2004) und inweiterer Folge Eckert (2004) und Alber (2004).

publik sein wollen, und unterscheiden sich dadurch von der ‚everydayresistance‘ (Scott 1987).

Die Friedensgemeinde praktiziert also keinen opportunistischenrechtmäßigen Widerstand, da dieser letztendlich wieder zu Kollabora-tion und Unterstützung der bewaffneten Gruppen führen würde undwohl kaum rechtmäßig wäre. Vielmehr handelt es sich um einen selbst-verwalteten Widerstand, welchem es erst durch die Nicht-Kooperationgelingt, eine zivile Position außerhalb des Konfliktes zu reaktualisierenund Rechtsnormen einzufordern. Während die Wurzeln des opportunis-tischen Widerstands in der zentralen Politik eines mächtigen Staatesoder mächtiger Organisationen liegen, liegen die Wurzeln des normativorientierten und selbstverwalteten Widerstandes in der Abwesenheitdes Staates, der Präsenz multipler Gewaltakteure und in internatio-nalen Normen, die zumindest formal auch vom Staat übernommenwurden.

VI. Zum Begriff der Rechtmäßigkeit

Die Rechtmäßigkeit bezieht sich auf die normative Grundlage desWiderstandes und wird besonders in jenen Staaten interessant, in de-nen eine Diskrepanz zwischen der nationalen Verfassung bzw. Gesetz-gebung und internationalen Erklärungen bzw. Verträgen existiert14.Wie rechtmäßig kann Widerstand sein, der die Einhaltung von inter-nationalen Normen zum Ziel hat, die von dem Staat, in dem sich derWiderstand formiert, aber nicht anerkannt sind? Ein Widerstand, dersich auf internationale Rechtsnormen bezieht, die in der nationalenGesetzgebung nicht integriert sind, ist aus internationaler Perspektivezwar ebenfalls rechtmäßig und kann deshalb auch mit internationalerUnterstützung und Solidarität rechnen. Aus nationaler Perspektivewird ein solcher Widerstand aber oft als gegen den Staat und seine In-teressen gerichtet interpretiert werden. Seine Vertreter werden zu Dis-sidenten oder Agenten ausländischer oder feindlicher Interessen erklärtund kaum als ‚rightful resisters‘ anerkannt werden.

Hinsichtlich der Rechtsgrundlage, auf die sich die Friedensgemeindebezieht, ist die Gesetzgebung in Kolumbien eindeutig: Der kolumbiani-sche Staat hat sowohl die Allgemeine Erklärung der Menschenrechteals auch die wesentlichen internationalen Konventionen des Humanitä-ren Völkerrechts, das Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen dieMenschlichkeit definiert, ratifiziert und in die Verfassung integriert.

144 Philipp Naucke und Ernst Halbmayer

14 Aber auch im Sinne der Problematik des Rechtspluralismus z. B. intern zwi-schen Gewohnheitsrecht und nationalem Recht.

Deshalb korrespondiert die Forderung der Friedensgemeinde nach Ein-haltung der Verfassung, der Menschenrechte und des HumanitärenVölkerrechts mit der Verantwortung des kolumbianischen Staates.

Wenn internationale Rechtsnormen in die nationale Gesetzgebungintegriert sind, können Klagen vor nationalen Gerichten eingereichtwerden. Wenn dies nicht der Fall ist, können Klagen vor internationa-len Gerichtshöfen eingereicht werden, sobald sich das entsprechendeGericht zuständig fühlt oder wenn die Durchführung von Verfahrenvom Staat durch die Unterzeichnung des Gerichtsstatutes legitimiertwurde.15 Bei Verletzungen des Humanitären Völkerrechts können nurlegale bewaffnete Akteure angeklagt werden, da illegale bewaffneteAkteure streng genommen nicht an die Normen des Humanitären Völ-kerrechts gebunden sind, was sie aber nicht moralisch davon befreit,die besagten Normen einzuhalten. Werden illegale bewaffnete Gruppenals terroristische Vereinigung klassifiziert, dann fallen ihre Straftatenebenfalls nicht unter die Normen des Humanitären Völkerrechts, son-dern unter die allgemeinen Tatbestände der nationalen Gesetzgebungwie z. B. Terrorismus, Mord etc. Formal-juristisch ist dann der Staatdafür verantwortlich, seine Bürger gegen Übergriffe von Terroristen zuschützen und kann bei einer systematischen Unterlassung des Schutzesdafür juristisch zur Verantwortung gezogen werden. Genau diesenSchutz hat die Friedensgemeinde mehrfach über den Interamerikani-schen Menschenrechtsgerichtshof eingeklagt. Dieser wiederum hat denkolumbianischen Staat aufgefordert, Sofortmaßnahmen zum effek-tiven Schutz der Zivilbevölkerung in den Konfliktregionen gegen dieÜbergriffe von legalen und illegalen bewaffneten Akteuren zu ergrei-fen. Diese formal-juristischen Aktionen können sich also nur gegenlegal anerkannte Akteure wenden.

Die Anklage legaler Akteure führt natürlich nicht automatisch zuihrer Verurteilung. In Kolumbien steht dieser häufig der fehlende poli-tische Wille zur Sanktion von Straftaten der öffentlichen Streitkräfte,die unabhängige Verfahren gegen Militärangehörige verhinderndeMilitärgerichtsbarkeit sowie mangelnde finanzielle und personelleAusstattung der Gerichte im Wege. Da internationale Gerichte (mitAusnahme des IStGH Den Haag) keine Sanktionen verhängen dürfen,können Klagen vor diesen dagegen von vornherein nur eine symboli-sche bzw. eine sogenannte juristische Drittwirkung (Mijangos y Gonzá-lez 2007) erreichen, die allerdings auch auf illegale Akteure abzielt.Eine solche Drittwirkung entfaltet sich, wenn z. B. die Friedensgemein-de nationale Gerichte übergeht und sich direkt an den Interamerikani-

Radikale Neutralität als rechtmäßiger Widerstand? 145

15 Das bekannteste Beispiel hierfür ist der Internationale Strafgerichtshof inDen Haag.

schen Menschenrechtsgerichtshof wendet. Diktiert der Interamerikani-sche Menschenrechtsgerichtshof dem kolumbianischen Staat Sofort-maßnahmen, um die Zivilbevölkerung vor Übergriffen legaler und ille-galer bewaffneter Gruppen zu schützen, attestiert er gleichzeitig, dassdieser dem Schutz der Menschenrechte und des Humanitären Völker-rechts nicht im gebührenden Maße nachkommt. Da der kolumbianischeStaat aber ein vitales Interesse haben sollte, vor der internationalenStaatengemeinschaft als ein Staat zu erscheinen, der die Menschen-rechte und das Humanitäre Völkerrecht schützt, ist davon auszugehen,dass solche internationalen Urteile in diesem Sinne einen positivenEinfluss auf die nationale Rechtsprechung haben können. Eine ähnli-che Wirkung hat es, wenn internationale Menschenrechtsorganisatio-nen auf die Verletzungen der Menschenrechte und des humanitärenVölkerrechts durch die illegalen Akteure aufmerksam machen, da dieseein Interesse daran haben, als politische Akteure anerkannt zu werden.Rechtmäßiger Widerstand kann somit symbolische Sanktionen überDrittwirkungen erzielen, wenn die Rechtsverstöße der Akteure interna-tional öffentlich gemacht werden.

VII. Zusammenfassung

Auf den vorangegangenen Seiten wurden die Entstehungsbedingun-gen und die Klassifizierung von friedlichen zivilen Widerstandsinitiati-ven in Gewaltkonflikten anhand der Friedensgemeinde San José deApartadó in Kolumbien untersucht. Ausgehend von der Annahme, dassdie Zivilbevölkerung in Gewaltkonflikten einen eigenständigen Akteurkonstituiert, konnte gezeigt werden, dass langfristige sozio-historischeProzesse, die sich durch die Abwesenheit des Staates bzw. von Staat-lichkeit auszeichnen, und ein hoher Grad der selbstorganisatorischenErfahrung der Zivilbevölkerung in politischen und ökonomischenBereichen die Gründung und Entstehung solcher zivilen, friedlichenWiderstandsinitiativen begünstigen. Insbesondere die Analyse des Aus-tragungsmodus mit seinen diversen widerständigen Handlungen zeigtedie organisierte Komplexität der angewandten Strategien, die von denbekannten theoretischen Konzepten wie z. B. der ‚everyday resistance‘Scotts (1987) nicht erfasst werden.

Da die Friedensinitiative keinen Herrschaftsanspruch formuliert,sich auf die Verfassung beruft, die Interessen der Zivilbevölkerung ver-tritt und als Ziel die Realisierung bestehender Rechtsnormen der Men-schenrechte und des Humanitären Völkerrechts benennt, wurde sie hierals eine spezifische Form ‚rechtmäßigen Widerstandes‘ analysiert. Da-bei wurde deutlich, dass es sich um eine nicht-opportunistische Formdes rechtmäßigen Widerstandes handelt, welche dazu nötigt, O’Briens

146 Philipp Naucke und Ernst Halbmayer

Konzept zu differenzieren und der opportunistischen und dosiertenVersion der ‚rightful resistance‘ eine normativ ideelle, auf radikalerNeutralität und Verweigerung gegenüber den bewaffneten Akteurenbasierende Version entgegenzusetzen, die gleichzeitig auf Öffentlich-keit und Verfahren vor internationalen Rechtsinstanzen setzt.

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Radikale Neutralität als rechtmäßiger Widerstand? 149

Zusammenfassung

Dieser Artikel untersucht die Handlungsmöglichkeit von Zivilisten friedli-chen Widerstand in gewaltsamen Konfliktregionen zu leisten. Grundlage derhier entwickelten Überlegungen ist eine feldforschungsgestützte Untersuchungder Friedensgemeinde San José de Apartadó, Kolumbien. Der analytische undtheoretische Rahmen, der den Gebrauch des Widerstandsbegriffes in diesem Ar-tikel eingrenzt, knüpft einerseits an die konzeptionellen Überlegungen von Hol-lander und Einwohner (2004) und andererseits an das theoretische Konzept desrechtmäßigen Widerstandes von O’Brien (1996) an. Ausgehend von einer kon-fliktanalytischen Einordnung des Fallbeispiels werden die langfristigen, sozio-historischen Prozesse und selbstorganisatorischen Erfahrungen der Zivilbevöl-kerung beschrieben, die die Entstehung dieser Widerstandsinitiative begünstig-ten. Die analytische Annäherung an die Dimensionen und Ziele des Widerstan-des dieser Friedensgemeinde führen zur Differenzierung des Konzepts der„rightful resistance“ von O’Brien. Der opportunistischen und dosierten Versionder ‚rightful resistance‘ wird eine normativ ideelle, auf radikaler Neutralität undVerweigerung gegenüber den bewaffneten Akteuren basierende Version entge-gengesetzt.

Summary

This article explores the opportunities of civilians to peacefully resist violentconflicts or civil wars. The argument developed here is based on a field-based re-search on the peace community San José de Apartadó in Colombia. The analyti-cal and theoretical framework, which delimits the use of the term resistance inthis article, builds on the conceptual considerations of Hollander and Einwohner(2004) and on the theoretical concept of ‘rightful resistance’ developed byO'Brien (1996). Beginning with a conflict-analytical classification of the casestudy, we will describe the long-term socio-historical processes and the organi-zational experiences of the civilian population, which favoured the emergence ofthis resistance initiative. The analytical approach to the dimensions and aims ofthe resistance of this peace community leads to the differentiation of O`Brian’sconcept of ‘rightful resistance’. The opportunistic and measured version of‘rightful resistance’ is contrasted with a normative and idealistic one, based onradical neutrality and the avoidance of armed protagonists.

Philipp NauckeErnst Halbmayer

Institut für vergleichende Kulturforschung –

Kultur- u. Sozialanthropologie und ReligionswissenschaftKugelgasse 1035032 MarburgE-Mail: [email protected]

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