Von Rapa Nui zur Isla de Pascua und zurück: Sprachliche Akkulturation und Distinktion auf der...

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Steve Pagel Von Rapa Nui zur Isla de Pascua und zurück: Sprachliche Akkulturation und Distinktion auf der Osterinsel 1. Auftakt Wie die Osterinsel von ihren ersten polynesischen Siedlern genannt wurde, das gehört zu ihren kleineren, aber nicht weniger interessanten Rätseln 1 . In einem grundlegenden Aufsatz zum Thema weist Fischer (1993a, 63) darauf hin, dass die migrierenden Polynesier häufig den Namen ihrer alten Heimat einfach auf die neue übertrugen. Bei der Osterinsel deute jedoch vieles darauf hin, dass in einer langen Phase der Isolation auch dieser (mehr oder weniger) distinktive Name aufgegeben wurde, und die Insel bei ihren Bewohnern fortan nur noch kāinga hieß – Polynesisch für ‘Land’ oder ‘Territorium’ (Fischer 1993a, 63; 2005, 21) 2 . Sicher scheint nach der Lektüre von Fischer (1993a) jedenfalls, dass sämtliche Bezeichnungen, die heute im Gebrauch sind, erst in jüngerer Zeit eingeführt worden sind. Das gilt ganz augenscheinlich für die Prägungen Osterinsel/ Isla de Pascua/ Easter Island etc., die zurückgehen auf die Begeg- nung des Holländers Jacob Roggeveen mit der Insel am Ostersonntag 1722; es gilt aber genauso für die heute als “autochthon” verstandenen polynesischen Be- zeichnungen Rapa Nui und Te Pito ’o te Henua, die letztlich sogar deutlich “jün- ger” sind als die genannten europäischen Denominationen 3 . Es lohnt sich, auch 1 Die zu Chile gehörende Osterinsel liegt etwa 3.500 km vom chilenischen Festland und rund 4.200 Kilometer von Tahiti entfernt. Der nächste bewohnte Ort ist das kleine Pitcairn, ca. 2.000 Kilometer im Westen gelegen. 2 Die isolierte Lage der Insel war für ihre Bewohner wenigstens in den ersten Jahrhunderten nach der Besiedlung (die vermutlich zwischen 700 und 1200 stattgefunden hat) weniger problematisch, als man es gemeinhin vermutet. Regelmäßige Kontakte mit der Mangareva-Henderson-Pitcairn-Inter- aktionszone im Westen, von der aus die Osterinsel wahrscheinlich auch besiedelt wurde, müssen angenommen werden (Green 1998). Spätestens mit dem Zusammenbruch bzw. der Verlagerung dieser Interaktionszone im 16. Jahrhundert wurde die Isolation aber konsequenter. 3 Rapa Nui/ Rapanui ist der gängigere und bezeichnet sowohl die Insel als auch ihre indigene Ethnie und deren Sprache. Konventionalisiert sind inzwischen die Schreibweisen Rapa Nui für die

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Steve Pagel

Von Rapa Nui zur Isla de Pascua und zurück: Sprachliche Akkulturation und Distinktion auf der Osterinsel

1. Auftakt Wie die Osterinsel von ihren ersten polynesischen Siedlern genannt wurde, das gehört zu ihren kleineren, aber nicht weniger interessanten Rätseln1. In einem grundlegenden Aufsatz zum Thema weist Fischer (1993a, 63) darauf hin, dass die migrierenden Polynesier häufig den Namen ihrer alten Heimat einfach auf die neue übertrugen. Bei der Osterinsel deute jedoch vieles darauf hin, dass in einer langen Phase der Isolation auch dieser (mehr oder weniger) distinktive Name aufgegeben wurde, und die Insel bei ihren Bewohnern fortan nur noch kāinga hieß – Polynesisch für ‘Land’ oder ‘Territorium’ (Fischer 1993a, 63; 2005, 21)2. Sicher scheint nach der Lektüre von Fischer (1993a) jedenfalls, dass sämtliche Bezeichnungen, die heute im Gebrauch sind, erst in jüngerer Zeit eingeführt worden sind. Das gilt ganz augenscheinlich für die Prägungen Osterinsel/ Isla de Pascua/ Easter Island etc., die zurückgehen auf die Begeg-nung des Holländers Jacob Roggeveen mit der Insel am Ostersonntag 1722; es gilt aber genauso für die heute als “autochthon” verstandenen polynesischen Be-zeichnungen Rapa Nui und Te Pito ’o te Henua, die letztlich sogar deutlich “jün-ger” sind als die genannten europäischen Denominationen3. Es lohnt sich, auch

1 Die zu Chile gehörende Osterinsel liegt etwa 3.500 km vom chilenischen Festland und rund 4.200

Kilometer von Tahiti entfernt. Der nächste bewohnte Ort ist das kleine Pitcairn, ca. 2.000 Kilometer im Westen gelegen.

2 Die isolierte Lage der Insel war für ihre Bewohner wenigstens in den ersten Jahrhunderten nach der Besiedlung (die vermutlich zwischen 700 und 1200 stattgefunden hat) weniger problematisch, als man es gemeinhin vermutet. Regelmäßige Kontakte mit der Mangareva-Henderson-Pitcairn-Inter-aktionszone im Westen, von der aus die Osterinsel wahrscheinlich auch besiedelt wurde, müssen angenommen werden (Green 1998). Spätestens mit dem Zusammenbruch bzw. der Verlagerung dieser Interaktionszone im 16. Jahrhundert wurde die Isolation aber konsequenter.

3 Rapa Nui/ Rapanui ist der gängigere und bezeichnet sowohl die Insel als auch ihre indigene Ethnie und deren Sprache. Konventionalisiert sind inzwischen die Schreibweisen Rapa Nui für die

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die Umstände ihrer Entstehung kurz anzureißen – anekdotisch und in den Wor-ten Fischers (2005, 91; vgl. Thomson 1891/ 2008, 10):

In December 1862 the Peruvian schooner Cora had taken several Easter Islanders, among them Mau Rata’s son Manu Rangi (‘Heavenly Bird’) – the next atariki or ‘heir apparent’, who was then about eight years of age – and then sailed to Rapa in the Australs to recruit more ‘immigrants’. But the Rapans had seized the Cora and sailed in her to Tahiti. Under way, Manu Rangi and the other Easter Islanders had apparently compared geographical notes with their Rapan saviours and hosts, thereby discovering that Rapa (‘Extremity’) was indeed only Rapa ’Iti (‘Lesser Extremity’), whereas Easter Island was Rapa Nui (‘Greater Extremity/ Land’s End’). The name being incomprehensible as such in the Easter Island language, it was simultaneously translated into this as Te Pito ’o te Henua (‘The End of the Land’). (Fischer 2005, 91)

Kontakt, nicht mehr Isolation ist hier der entscheidende Faktor. Ein peruanisches Schiff auf der Jagd nach Zwangsarbeitern im Pazifik wird zur unfreiwilligen Begegnungsstätte zwischen Osterinsulanern und Rapaern, und diese Begegnung könnte eine (erneute) Selbstidentifikation der Osterinsulaner im polynesischen Kontext überhaupt erst notwendig gemacht haben (McCall 1994, 57). Die Insel Rapa im äußersten Südosten der Australgruppe im heutigen Französisch-Polyne-sien hat aus der Perspektive dieses Archipels zweifellos einen treffenden Namen (‘Extremität, Ende’), doch wird sie auf einer imaginären Reise zur Osterinsel schnell zum ‘kleineren Ende’ – Rapa ’Iti –, dem nun ein ‘größeres Ende’ – Rapa Nui – gegenübersteht. Das Verfahren ist sowohl plausibel als auch im polynesi-schen Kontext bekannt (Fischer 1993a, 64). Die sozio-spirituelle Macht (mana) des heimkehrenden Thronerben Manu Rangi hätte dann dafür gesorgt, dass sich die Bezeichnung Rapa Nui, ebenso wie das semantisch analoge Te Pito ’o te He-nua (‘Ende des Landes’), innerhalb kurzer Zeit bei den Osterinsulanern durch-setzt.

Die Selbstverortung und die daraus resultierende Namensgebung lässt sich auch als Auftakt zu den massiven demografischen, gesellschaftlichen und kul-turellen Umbrüchen lesen, mit denen die Osterinsel nach 1860 konfrontiert ist. Organisierter Menschenraub, tödliche Krankheiten, Missionare und ein skrupel-loser Geschäftsmann bringen die autochthone Bevölkerung innerhalb weniger Jahre bis an den Rand des Untergangs: Von ca. 4.100 Insulanern im Jahr 1862 leben 1871 nur noch etwa 500 (Maude 1981, 192). Damit verbunden ist ein Kol-laps der Gesellschaftsstruktur sowie, längerfristig, das Verschwinden ganzer Makrokomplexe der alten Osterinselkultur (Fischer 2005, 63-64; 1997, 355-362; Insel und Rapanui für Ethnie und Sprache – auch ich werde sie im Folgenden so verwenden. Zur sprachpolitisch aufgeladenen Debatte um die “richtige” Schreibweise vgl. z. B. Fischer 1993b.

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Makihara 1999, 169-172). Ein Großteil der Überlebenden geht 1871 in die Dias-pora nach Tahiti oder Mangareva, wo sich die Essenz dessen herausbilden sollte, was heute als autochthon für die Osterinsel gilt: der Rapanui-Komplex – eth-nisch, kulturell und sprachlich ein osterinsulanisch-tahitianisch-mangarevaisch-europäisches Hybrid (Fischer 2005; 2007; 2008; Pagel 2008; 2010).

Wenn der Titel des vorliegenden Beitrags also lautet “Von Rapa Nui zur Isla de Pascua und zurück...”, setzt er chronologisch ein, als kāinga (d. h. die alte Osterinsel) sich bereits in Rapa Nui (die moderne Osterinsel) transformiert hatte. Er setzt ein inmitten eines alle sozialen und kulturellen Bereiche berührenden Hybridisierungsprozesses4, dessen Anfänge an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden sollen (vgl. dazu Fischer 2005; Pagel 2010), der aber in der Annektie-rung der Insel durch Chile im Jahr 1888 und deren unmittelbaren und mittelba-ren Folgen eine nahtlose Fortsetzung fand. Um diese, wenn man so will “zweite Phase” der umfassenden Umwälzung auf der Osterinsel, die sich bis in die unmittelbare Gegenwart zieht, soll es in diesem Beitrag gehen. Kreolisierung im engen sprachwissenschaftlichen Sinne (verstanden als die mehr oder weniger abrupte Emergenz eines bestimmten Kontaktsprachentyps) wird dabei keine essentielle Rolle spielen – wohl aber wird es um Kreolisierung in dem Sinne ge-hen, in dem der Begriff von den Sozialwissenschaften adaptiert wurde (vgl. Ludwig, in diesem Band), wie er sich in der von Martinique ausgehenden literarischen Bewegung der Créolité wiederfindet (exemplarisch Bernabé & Chamoiseau & Confiant 1989), und wie er – in diesem Fall implizit – auch von einem Vordenker der Créolité, Édouard Glissant, in einem kürzlich erschiene-nen Buch (La terre magnétique: Les errances de Rapa Nui, l’île de Pâques, 2007) schon auf die Osterinsel übertragen wurde. Der folgende Ausschnitt verbindet eine zentrale Überlegung Glissants mit der im vorliegenden Beitrag zu diskutierenden Hybridisierungsproblematik5:

4 Der Begriff Hybridisierung ist in der empirischen Sprachwissenschaft hinreichend definiert (vgl.

dazu die Beiträge von Gugenberger und Ludwig in diesem Band). Ich verwende Hybridisierung hier ausdrücklich als neutrales Hyperonym für alle Formen situativer, konventionalisierter oder systemi-scher “Vermischung” bzw. “Durchdringung”. Begriffe wie Mestizisierung, Kreolisierung, Inter-kulturalisierung etc. bezeichnen spezifische Formen der so verstandenen Hybridisierung. Aufgrund der Unschärfe der genannten Hyponyme und der kaum eindeutig zu definierenden Perspektive ihrer Signifikate (Was genau wurde bei der Entstehung einer Kreolsprache kreolisiert? Was mischt sich bei der Mestizisierung [von Spätlatein mixticius ‘gemischt’] in was?) halte ich ein solches Hyperonym aus methodischen Gründen für dringend notwendig. Ähnlich motiviert war die Konsolidierung des Begriffes Varietät in der Sprachwissenschaft (Chambers & Trudgill 1998) als einen noch nicht näher bestimmten sprachlichen Code (also potentiell Sprache, Dialekt, Soziolekt, Idiolekt etc.) – dieser Begriff ist für die scientific community heute unverzichtbar.

5 Zur Rolle Polynesiens und auch der Osterinsel in den Denkmodellen der Créolité und Glissants trägt Dash 2008 interessante Gedanken vor.

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Il avait fallu atteindre la quasi-perfection de la désintégration la plus poussée pour assister enfin à une modification appréciable, et celle-ci imprévisible, et donc imprédictible : la transformation de cet absolu trés opaque des profondeurs en une résolution tranquille et banale des accordailles les plus imaginables, des métissages les plus communs, de tous les mélanges à portée, mais il n’est pas vrai que ces mélanges aient dénaturé la force première, celle-ci visait à partage et sens commun, la force magnétique de la terre est pour protéger ceux qui viennent et comprennent, et ceux qui viennent et mettent ensemble, sans que l’absolu soit absolument perdu, sans qu’aussi l’eau d’en dessous soit tarie ni souillée, sans que les perdus et les défaits soient marqués par leur défaite, ils étaient au contraire désignés pour une nouvelle errance et une soudaine union avec les diversités du monde, vous reprenez là votre souffle, ils s’étaient mariés partout, d’au près et d’au loin, avec des Allemands et des Français et des Polynésiens d’abord et surtout, et des Étasuniens et des gens du Chili, et ils avaient mis en commun, pas seulement les corps et les esprits, mais plus au loin l’herbe plate et la mousse, les sextants de pierre alignés sur les bords de mer comme des veilleurs à revers de la lumière, la lecture des étoiles et l’arrivée des oiseaux, sans qu’aujourd’hui le monde, ni non plus le triangle immense du Pacifique là autour, repousse désormais l’île visible et invisible. (Glissant 2007, 60-61)

Zentral ist der Gedanke der prinzipiellen Unvorhersehbarkeit und Unvorher-sagbarkeit (“imprévisible, et donc imprédictible”) jener umfassenden Modifi-zierung (“modification appréciable”), die in der Gedankenwelt Glissants auch unter dem Begriff créolisation/ Kreolisierung geführt wird (vgl. Ludwig 2008, 115-125), und die nun auf die Osterinsel appliziert wird. Das konzeptuelle Ge-genstück zur créolisation bildet für Glissant der métissage, dessen Resultate folglich berechenbar sind:

La créolisation exige que les éléments hétérogènes mis en relation “s’intervalo-risent”, c’est-à-dire qu’il n’y ait pas de dégradation ou de diminution de l’être, soit de l’intérieur, soit de l’extérieur, dans ce contact et dans ce mélange. Et pourquoi la créolisation et pas le métissage? Parce que la créolisation est imprévisible alors que l’on pourrait calculer les effets d’un métissage. (Glissant 1996, 18-19)

Ich möchte auf den folgenden Seiten die “umfassende Modifizierung” auf der Osterinsel (eigentlich Modifizierungen: wie der Titel dieses Beitrags andeutet, lassen sich mehrere Richtungen unterscheiden) aus einer sprachwissenschaftli-chen Perspektive verfolgen und dabei zeigen, dass die ihr von Glissant zuge-schriebenen Attribute “unvorhersehbar, und daher unvorhersagbar” – und mit ihnen das implizite Prädikat créolisation – voreilig gewählt sind. Ich argumen-tiere damit allerdings weniger für einen Wechsel des Prädikats zu dem was Glissant mit métissage bezeichnet, als vielmehr für anthropologische Grundli-nien, die auch in Kultur- und Sprachkontakten nicht, oder höchstens im Aus-

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nahmefall verlassen werden. Auf solchen Grundlinien aufbauend, bzw. den Raum zwischen ihnen füllend, gibt es theoretische Modelle in der Sprach- wie auch in der Kulturwissenschaft, in deren Rahmen auch umfassende Modifi-zierungen sichtbar, ihre Handlungsrichtungen vorhersehbar und vorhersagbar gemacht werden können.

Fokus meiner Ausführungen ist die autochthone Gemeinschaft der Osterinsel, präziser die Kontaktsituation zwischen ihrer ethnischen Sprache, ebenfalls Rapanui genannt, und dem Chilespanischen, das seit etwa Mitte des 20. Jahrhunderts die dominierende Sprache auf der Insel darstellt. Von den aktuell ca. 4.000 Bewohnern der Insel machen ethnische Rapanui ungefähr die Hälfte aus6, alle haben gute, die meisten sogar primärsprachliche Kompetenz im Spani-schen. Weniger als die Hälfte von ihnen hat daneben auch eine sichere Kompe-tenz im Rapanui (vgl. Fischer 2007). Von allen Aspekten dieser insgesamt sehr komplexen Kontaktsituation (ausführlich in Pagel 2010) werde ich nur auf zwei näher eingehen, das sind die fortschreitende Hispanisierung des Modernen Rapanui und die interaktionale “Rapanuisierung” des lokalen Chilespanischen7. 2. Zur Hispanisierung des Modernen Rapanui Modernes Rapanui 8 ist ein Isolat in der ostpolynesischen Subfamilie der austronesischen Sprachen und hat damit enge historische und typologische Be-züge zum, beispielsweise, Tahitianischen, Hawaiianischen oder neuseeländi-schen Maori. Alle genannten haben – als Erbe der Kolonialzeit – lange und intensive Kontakte mit einer oder mehreren europäischen Kolonialsprachen vorzuweisen, doch ist die Situation auf der Osterinsel in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Erstens, Rapanui ist die einzige polynesische Sprache in einer Kontaktsituation mit dem Spanischen, und zweitens, dieser Kontakt hat sich erst dann etabliert, als die koloniale Epoche in Ozeanien bereits weitgehend Ge-schichte war 9 . Der Kontakt ist deshalb deutlich rezenter (intensiv erst nach 1950), aber auf eine Art auch dynamischer und intensiver als beispielsweise der zwischen Englisch und Maori in Neuseeland oder zwischen Französisch und Tahitianisch in Französisch-Polynesien.

6 Zur Frage nach der gegenwärtigen Essenz dieser ethnischen Rapanuität vgl. Fischer 2005 und Pa-

gel 2010. 7 Ich verwende folgende Abkürzungen: ChSp. = Chilespanisch, Eng. = Englisch, Lat. = Latein, Rn.

= Rapanui, RnSp. = Rapanui-Spanisch, Sp. = Spanisch, Tah. = Tahitianisch. 8 Es ist sinnvoll, hier einen modernen Sprachstand von einem alten abzuheben. Altes Rapanui

bezeichnet dann die Varietät, die vor dem demografischen Kollaps, also vor ca. 1860, auf der Osterin-sel gesprochen wurden, Modernes Rapanui den aktuellen Sprachstand, der seine wesentliche Ausprä-

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Als ein Ergebnis stellt sich die Hispanisierung des Modernen Rapanui vorder-gründig als interaktionale Modalisierung dar. Das bedeutet, dass Rapanui-Sprecher zwischen mehr oder weniger hispanisierten Sprechakten wählen, wo-bei Faktoren wie Kommunikationskontext und auch Sprachkompetenz aus-schlaggebend sind. In informellen Kontexten ist unterschiedlich stark hispa-nisiertes Rapanui heute die unmarkierte Sprachwahl. Demgegenüber stehen Sprechakte, in denen Hispanismen bewusst vermieden werden, und die in den letzten Jahrzehnten gerade in formelleren Domänen wie Lokalpolitik und Sprachunterricht sehr populär geworden sind. Durch seine besondere kulturell-politische Semantik ist dieses “puristische Rapanui” aber auch stark markiert10.

Das folgende Transkript gibt einen eher unmarkierten und deutlich hispani-sierten Sprechakt wieder. Es soll als Basis für eine knappe Analyse dienen (His-panismen sind fett markiert): Beispiel 1: Modernes Rapanui (Rn.Konu.3)

01 I: bueno... he tao’a ta’ana vānanga nei... also, was er gesagt hat, ist ziemlich gut…

02 eh:: te ngā poki... ko rē ’ā pe mu’a ähm die Kinder gewinnen auf lange Sicht,

03 e oho nei āvanza sie machen Fortschritte,

04 e oho nei ki=ta’aku u’i… es geht voran, aus meiner Sicht…

05 o sea hai ito-ito=’o kōrua pe tū kī nei ’a’aku das heißt, mit eurer Unterstützung, wie ich meine,

06 ojala a mātou te nu’u nei o haho… ana puai... (nur) hoffentlich haben wir, die wir nicht dabei sind... (noch) die Kraft...

07 mo o’o mai ki roto i te::/ da hineinzukommen in diesen/

gung erst nach 1870 bekam (vgl. Makihara 1999, 169; Fischer 1992; 1997, 359-60; Schuhmacher 1993, 169).

9 Andere nachhaltige Sprachkontakte mit dem Spanischen im Pazifik gab es auf den Marianen und den Philippinen. Die intensive Phase fällt dort in die Kolonialzeit (beide Archipele waren von 1565 bis 1898 spanische Kolonien). Ausführlich zum Spanischen in Asien und Ozeanien siehe Pagel 2010.

10 “[P]urist Rapa Nui [is] an emerging speech style characterized by the conscious avoidance of Spanish mixing especially of lexical items and other surface-segmentable parts of language. Purist Rapa Nui has been elaborated in recent years by cultural and political leaders who use it strategically in oratories in public political domains to index the ethnic group’s claims to heritage and resources.” (Makihara 2004, 535)

“All public events now feature, alongside Spanish, a ‘perceived puristic’ Rapanui: a Rapanui-Tahitian hybrid devoid of Spanish elements and grammatical borrowings.” (Fischer 2008, 157)

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08 ki mu’a mo kī penei <!hey>... <!haka kore te me’e ena ’o kōrua> nach vorn um zu sagen: Hey! Hört endlich auf damit!

09 mīta hora11 mo vānanga=’o te nu’u era die Hälfte der Zeit für ihre Sprache,

10 mīta hora mo vānanga=(’o) te re’o ena… die andere Hälfte für unsere Sprache...

11 te probrema... ko u’i a=au ta’aku ngā poki nei das Problem ist... wenn ich mir meine Kinder anschaue,

12 ’ina e tahi poki ta’e ’ite i te=vānanga Rapanui dann ist da nicht eins, das kein Rapanui kann,

13 atā ki a Tonga=ai marite12 e hāpi mai era sogar Tonga, der drüben in Amerika studiert,

14 e vānanga nei māua=’a=roto=i=te:: terefono hai vānanga Rapanui wir zwei unterhalten uns am Telefon auf Rapanui,

15 <!totalmente> ausschließlich!

16 ’ina e tahi:: me’e penei ē he vānanga marite es kommt gar nicht in die Tüte, dass wir da Englisch sprechen

17 <!e vānanga, e vānanga Rapanui> wir sprechen, wir sprechen Rapanui!

18 ya... te probrema ’o mātou ’o te puebro te probrema ja... unser Problem, das Problem unserer Leute ist,

19 ’ina he angi-angi te me’e nei e necesita nei dass sie nicht verstehen, dass das (mit dem Rapanui) so wichtig ist,

20 te ngā poki nei e noho mai nei necesita ki te rāua arero mo ’ite die Kinder hier müssen ihre eigene Sprache können,

21 ki te arero extranjero mo ’ite mo te=rāua anga und sie müssen für ihre Jobs die andere Sprache (Spanisch) können,

22 V: hmhm hmhm

23 I: ya he va’ai te importante he kī ki te:: profesora era o mu’a jefe era also, es ist wichtig, dass man das ihrem Lehrer oder zukünftigen Chef sagt:

24 te me’e importante mo te ngā poki nei he=aumento=haka’ou=i te=hora das wichtige für die Kinder ist, dass ihre Unterrichtszeit wieder mehr wird,

25 <!mīta mīta> Hälfte-Hälfte!

11 Rn. hora ist kein Hispanismus, sondern ein wahrscheinlich via Tahitianisch introduzierter Lati-

nismus: Lat. hora (> Tah. hora) > Rn. hora. 12 Bei Rn. marite handelt es sich um einen über Tahitianisch vermittelten Anglizismus: Eng. Ameri-

can > Tah. *meritane > Tah. merite > Rn. marite.

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26 V: ē ho’i richtig!

Auffällig ist bereits die Verwendung spanischer Diskurspartikel wie bueno ‘ok, also’ (01), ya ‘ok’ (18, 23), o sea ‘das heißt’ (05) und ojala ‘hoffentlich’ (06), die hier auch weitestgehend identische Funktion wie im Chilespanischen erfül-len. Diskurspartikel gehören im Sprachkontakt zu den eher unproblematisch integrierbaren und daher häufig kopierten sprachlichen Elementen, mit denen allerdings eine vergleichsweise große Wirkung erzielt werden kann: Kopierte gesprächs- und turneinleitende bzw. -überleitende Partikel geben der Rede schnell eine dezidiert “andere”, und das heißt in diesem Fall eine chilespanische Note.

In Bezug auf die Wortart der Kopien überwiegen im Beispiel Nomina, eine Tendenz die sowohl für den Kontakt Spanisch-Rapanui zu verallgemeinern als auch auf die meisten anderen Sprachkontaktsituationen übertragbar ist (vgl. z. B. Hekking & Bakker 2007). Hispanogene Nomina sind im Beispiel probrema ‘Problem’ (11, 18; Sp. problema), puebro ‘Volk’ (18; Sp. pueblo), mīta ‘Hälfte’ (10, 25; Sp. mitad), terefono ‘Telefon’ (14; Sp. teléfono), profesora ‘Lehrerin’ (23), jefe ‘Chef’ (23) und aumento ‘Anstieg’, Letzteres in verbaler Funktion mit der Bedeutung ‘ansteigen’ (24). Die lautliche Adaptation mancher Kopien lässt sich entweder über das phonologische Inventar des Rapanui (z. B. hat Rn. traditionell kein [l], deshalb Sp. [l] > Rn. [r], im Bsp. probrema, terefono, pue-bro) oder aber durch phonetische Charakteristika des Chilespanischen erklären (z. B. Ausfall von silbenfinalen Konsonanten wie [s] oder [d], im Bsp. mīta, vgl. ChSp. mitá(h)). Deutlich weniger frequent sind im Beispiel spanische Verben – hier āvanza ‘fortschreiten’ (3) und necesita ‘benötigen’ (19, 20) –, die meist in der finiten Form 3. Person Singular Präsens Indikativ ins Rapanui kopiert wer-den, wo sie dann die infinite oder Grundform stellen (vgl. Makihara 2001a, 197). Dazu kommen zwei Kopien in adjektivischer Form, importante ‘wichtig’ (23, 24) und extranjero ‘fremd’ (21), sowie ein kopiertes Adverb, totalmente ‘völlig, ausschließlich’ (15). Wortklassenwechsel ist in diesem Sprachkontakt eine häu-fige Begleiterscheinung des Kopierprozesses. Grund dafür ist die im Rapanui oft schwer bestimmbare Zugehörigkeit eines Elements zu einer für die Morphologie europäischer Sprachen als grundlegend angenommenen Wortklassen. Denn die Funktion eines Lexems – ob verbal, nominal oder adjektivisch – hängt hier weniger von morphologischen als vielmehr von syntaktischen Gesichtspunkten ab; anders gesagt: nicht die Form, sondern die Position zeigt im Rapanui seine Funktion an. Im Beispiel fungiert das spanische Nomen aumento (24) zwischen Tempus/ Aspekt-Marker he und Adverb haka’ou als Verb, und das Adjektiv im-portante mit präponiertem definiten Artikel te als Nomen (23).

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Diesen primär lexikalischen Hispanismen stehen schließlich zwei grammati-sche gegenüber: die disjunktive Konjunktion o ‘oder’ (23) und die Partikel atā ‘sogar’ (13; Sp. hasta). Beide sind freie und keine gebundenen grammatischen Morpheme, was ihr Kopieren aus dem Spanischen – trotz erhöhter Grammatizi-tät – sicher erleichtert hat.

Die Hispanisierung der Rede im Beispiel ist durchaus als umfangreich zu betrachten. Dennoch könnten fast alle Hispanismen in einem intendiert puristi-schen Kontext auch durch polynesische Äquivalente ersetzt oder, wie die in polynesischen Sprachen traditionell wenig bedeutsamen Diskursmarker (Fischer 2007, 396), schlicht ausgelassen werden (vgl. Makihara 2001a, 204). Die His-panisierung des Modernen Rapanui muss deshalb in der Essenz als pragmatische Modalität und nicht (oder wenigstens noch nicht) als systemisches Phänomen verstanden werden13. In den Worten Fischers:

Spanish expressions are commonly used interchangeably with Rapanui expressions. […] In purely Rapanui contexts – that is, in those situations not involving foreign objects, introductions or situations – not one word of Spanish need be spoken at all. (2007, 398)

Fischer ist dabei bewusst, dass der Begriff Hispanisierung mehr beinhalten kann als die Ebene der tatsächlich “gesprochenen” Wörter (im weitesten Sinne also lexikalische Kopien): Hispanisierung kann sich auch auf Bereiche ausweiten, die dem Sprecher weit weniger transparent, weniger zugänglich sind – auf die Grammatik. So lassen sich auch in der rapanuischen Morphosyntax in gleich mehreren Kategorien (etwa Wortstellung, Tempus/ Aspekt, Diathese) Tenden-zen der Konvergenz zum Chilespanischen entdecken (Fischer 2001; 2007; Pagel 2008). Ich beschränke mich auf die Darstellung einer solchen Konvergenz, die allerdings in einem für polynesische Sprachen sehr distinktiven Bereich stattfin-det: der grammatischen Markierung von Nomina in Hinsicht auf eine (vorge-stellte) Unveräußerlichkeit/ Veräußerlichkeit ihrer Referenten.

Einfach gesagt unterscheiden die Sprecher der meisten polynesischen Spra-chen grammatisch zwischen Referenten, die von ihnen generell oder situativ kontrolliert werden, und solchen, deren Kontrolle sie unterworfen sind14. Mar-

13 Dazu passt eine Beobachtung von Stolz & Stolz (1996; 1997), nach der es “bei den Hispani-sierungsprozessen in erster Linie darum geht, der indigenen Rede einige markante Signale zu geben, die den Eindruck einer Anpassung an den Redestil der dominanten Kultur wenigstens oberflächlich vermitteln wollen.” (1997, 17).

14 In diesem System sind möglicherweise die komplementären urpolynesischen Konzepte tapu und mana grammatikalisiert (Thornton 1998). Mana ist eine sozio-spirituelle Macht, die Personen, aber auch nicht-lebendigen Dingen innewohnen kann. Über diese Personen oder Dinge kann ein Normal-sterblicher nicht frei verfügen, weil sie, z. B. um ihr mana vor der Profanität zu schützen, mit tapu, einem spirituellen Verbot, belegt sind.

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kiert ist diese Dichotomie u. a. bei der Possession durch einen Wechsel der Vo-kale [o] und [a] an Possessivpartikeln (Rn. ’o/ ’a) und Possessivattributen im Singular (Rn. to’oku/ ta’aku ‘mein’, to’o/ ta’a ‘dein’‚ to’ona/ ta’ana ‘sein, ihr’). Der Vokalwechsel ist regelmäßig, weshalb man auch von O- gegenüber A-Serie oder -Kategorie spricht (z. B. Fischer 2000). Zur (unmarkierten) O-Serie der unveräußerlichen Referenten werden z. B. Verwandte der gleichen und älterer Generationen, Haus und Möbel, Transportmittel inklusive dem Pferd, Klei-dungsstücke, Land, Geld, Gefühle, Träume und Körperteile gezählt. Zur A-Serie der veräußerlichen Referenten gehören dagegen beispielsweise der Partner und Verwandte jüngerer Generationen, Essen, Arbeit, alle Tiere außer dem Pferd, Werkzeuge und bestimmte Krankheiten.

Der folgende Text demonstriert einige Markierungen in Bezug auf diese Nominalklassen: Beispiel 2: Modernes Rapanui (Rn.Konu.3)

01 V: he ’aroha ich habe geweint,

02 he riri ’o’oku mo to’oku tangata mich für meine Leute geschämt,

03 mo te pa’ari für mein Volk,

04 ’o te tu’u ’o tū ngā poki era wegen dieser Kinder, die reinkamen,

05 ka kī e vānanga ’ā i te vānanga ’o kona kē und [zu meinen Kindern] in der Sprache eines anderen Landes sprachen,

06 he kī ’o’oku ich sagte:

07 <!ē, hai re’o Rapanui kōrua ana vānanga ki ta’aku ngā poki nei> hey, wenn ihr mit meinen Kindern sprecht, tut das auf Rapanui!

Die Nominalphrasen to’oku tangata ‘meine Leute’ (02) und ta’aku ngā poki ‘meine Kinder’ (07) sind jeweils für O- bzw. A-Serie markiert, die “eigenen Leute” tangata (hier in pluralischer Bedeutung, aber ohne entsprechende Mar-kierung) gehören also zu den als unveräußerlich, die Kinder ngā poki dagegen zu den als veräußerlich gedachten Referenten. Die den Emotionen bzw. dem Körper zugeordneten Akte des Schämens (he riri ’o’oku, 02) und Sagens (he kī ’o’oku, 06) sind grammatisch ebenso als unveräußerlich markiert wie die berichtete Bewegung der Kinder in den Raum hinein (te tu’u ’o tū ngā poki, 04)

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und die zu einem anderen Land gehörende Sprache, die sie verwendeten (te vānanga ’o kona kē, 03).

Interaktional ins Rapanui kopierte Hispanismen werden grundsätzlich nach denselben semantischen Parametern (d. h. Dominanz und Aktivität) im Sinne dieser Nominalklassen differenziert, und bei Possessivkonstruktionen gramma-tisch im Sinne des o-/ a-Wechsels markiert. Beispiele aus meinem Korpus mit als unveräußerlich verstandenen Referenten umfassen etwa he probrema ’o’ou ‘dein Problem’ oder to’ona via ‘sein/ ihr Leben’ (Sp. vida), mit als veräußerlich verstandenen z. B. ta’aku señora ‘meine Frau’ und ta’aku kartera ‘meine Schultasche’ (vgl. auch Makihara 2001a, 202).

Darüber hinaus induziert der Kontakt mit dem Spanischen aber möglicher-weise eine Dynamik in die Veräußerlichkeitsdistribution, denn die Nominalklas-sen scheinen sich zunehmend in Richtung der unmarkierten O-Kategorie zu generalisieren – offenbar, so Fischer (2001b, 2007), weil eine Unterscheidung, die im Spanischen nicht gemacht wird, auch für Rapanui-Sprechakte nicht län-ger als notwendig empfunden wird. Einen möglichen Ursprung dieser Demar-kierung sieht Fischer in einer Reanalyse des Possessivpartikels (unveräußer-lich) ’o als Präposition nach dem Muster von Spanisch de in Strukturen wie te hare ’o ia ‘sein Haus’ (vgl. Sp. la casa de él). Im Rahmen dieser Reanalyse wird der Partikel eine wichtige Eigenschaft spanischer Präpositionen zugeschrieben: sie bleibt unveränderlich. Das Ergebnis ist eine Verwendung von (unveräußer-lich) ’o auch mit solchen Referenten, die im Sinne der polynesischen Nominal-klassen als “veräußerlich” markiert sein sollten, etwa te poki ’o (statt ’a) ia ‘sein Kind’ (vgl. Sp. el hijo de él). Die Demarkierung wird analog auch auf Possessiv-attribute übertragen, so dass heute eine Phrase wie to’o (statt ta’a) poki ‘dein Kind’ durchaus möglich ist. In der zweiten Person Singular zeichnet sich zusätz-lich noch eine lautliche Assimilation an das Spanische ab: to’o wird im gespro-chenen Rapanui auch zu tu’u und sogar tū poki, und ist dann weitgehend homophon mit dem spanischen Possessivum zweite Person Singular tu, etwa in Sp. tu hijo.

Diesen kurzen Einblick noch einmal resümierend können wir sagen, dass, als Begleiterscheinung eines universalen Bilingualismus in der Rapanui-Sprecher-gemeinschaft, das Moderne Rapanui in den letzten Jahrzehnten vorwiegend im interaktionalen Rahmen, also im einzelnen Sprechakt (oder, in der coseriuschen Unterscheidung [1975], auf der Ebene von Rede und Norm), aber nicht so sehr in der der Gesamtheit der Sprechakte zugrundeliegenden Struktur (bei Coseriu wie auch Saussure System) hispanisiert worden ist. Der entsprechende Prozess lässt sich (mit Johanson 2002 und Ludwig & Kriegel & Henri 2009) als inter-aktionales (gegenüber konventionalisiertem) Kopieren von mehrheitlich freien lexikalischen und freien grammatischen Morphemen verstehen. Es sind jedoch

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auch Konvergenzen nachweisbar, durch die sich Rapanui in morphosyntakti-schen Belangen dem Chilespanischen anzunähern scheint. 3. Von Rapa Nui zur Isla de Pascua: Sprachliche Akkulturation Wie lässt sich nun, um zu Édouard Glissants einleitenden Worten zurückzukeh-ren, eine modification appréciable, wie sie im letzten Abschnitt für Modernes Rapanui umrissen wurde, vorhersehen oder vorhersagen? Schließlich wollte der vorliegende Beitrag die Attribute imprévisible/ imprédictible, die Glissant die-sem Wandel zuschreibt, herausfordern!

Hier kann zum Beispiel ein Modell des Ägyptologen und Kulturwissenschaft-lers Jan Assmann weiterhelfen. In seiner Theorie des kulturellen Gedächtnisses (2005, Erstauflage 1992) beschäftigt sich Assmann u. a. mit Prozessen der Ethnogenese, also der Ausbildung kollektiver Identität. Von einigem Interesse sind dabei Ethnogenesen als Ergebnis von sogenannten Steigerungen der Grund-strukturen kollektiver Identität. Denn

[a]uf der Ebene der Grundstrukturen herrscht eine vollkommene Kongruenz zwi-schen sozialen (ethnischen), politischen und kulturellen Formationen. Die Mitglie-der leben in Face-to-face-Kommunikation, d. h. – soweit sie seßhaft sind – in Siedlungsgemeinschaft. Ihre soziale Zugehörigkeit ist durch Heiratsregeln organi-siert. Damit ist eine bestimmte Größenordnung vorgegeben, die selten einige Tau-send überschreitet. Noch immer haben die meisten sprachlichen, kulturellen und ethnischen Formationen auf der Erde diesen gewissermaßen “naturwüchsigen” Zu-schnitt. Alles was darüber hinaus geht, ist das Ergebnis von Steigerungen. Sie sind als solche instabil und bedürfen besonderer Stabilisierungen. Daraus ergibt sich, wie wir noch sehen werden, ein typischer Ansatzpunkt für die Ausbildung kollektiver Identitäten. Allgemein gesprochen ist es wohl vor allem die Inkongruenz zwischen ethnischen, kulturellen und politischen Formationen, die auslösend wirkt für jene Reflexivität, die einen Verlust an Selbstverständlichkeit und eine Bewußtwerdung des verbindenden und verbindlichen kulturellen Sinns herbeiführt. Auf der Ebene der Steigerungsformen tendiert die primäre Allianz zwischen ethnischer, kultureller und politischer Formation dazu, sich aufzulösen und problematisch zu werden. Die Probleme, die aus solcher Inkongruenz resultieren, lassen sich in zwei Gruppen zusammenfassen: Probleme der Integration und Probleme der Distinktion. (ibid., 144).

Beide angesprochenen Problemgruppen sind in der Praxis, wie Assmann an anderer Stelle betont, meist kombiniert anzutreffen (ibid., 152-153). Dennoch lohnt sich ihre Unterscheidung aus theoretischer und methodischer Sicht, denn oft sind die “Probleme” zu einer Seite hin dominant:

Von Rapa Nui zur Isla de Pascua und zurück 143

Wenn ethnische Verbände sich zu einem größeren ethnopolitischen Gebilde zusammenschließen oder durch Wanderung, Überlagerung oder Eroberung in einen anderen ethnopolitischen Verband hineingeraten, ergeben sich Probleme der Inte-gration oder Akkulturation. Die dominierende Kultur – die kulturelle Formation der dominierenden Ethnie – erhält nun transethnische Geltung und wird zur Hochkultur gesteigert, die die überlagerten kulturellen Formationen marginalisiert. […] Die symbolische Sinnwelt dieser solcherart gesteigerten kulturellen Formationen hat nun nicht mehr allein die primären anthropologischen Funktionen der Ermögli-chung von Alltags- und Umweltdistanz, Kommunikation und Interaktion zu erfüllen, sondern darüber hinaus die zusätzlichen Aufgaben, die hochgradig instabile politi-sche Formation zu stabilisieren und eine Vielzahl mehr oder weniger heterogener soziokultureller Formationen zu integrieren. (ibid., 145)

Sprache besetzt im symbolischen Inventar jeder kulturellen Formation eine der prominentesten, wenn nicht die prominenteste Stelle (ibid., 147; Ludwig 1995). Jede Akkulturationen an das vermeintlich “Andere” wird und muss daher immer auch im Sprachgebrauch vollzogen werden – und das ist auch einer der zentralen Ansatzpunkte von Modellierungen kontaktbedingten Sprachwandels, in denen soziohistorische Faktoren gegenüber typologischen im Vordergrund stehen (z. B. Thomason & Kaufman 1988; Van Coetsem 2000; Thomason 2008). Man könnte sagen, der heuristische Wert solcher Modelle besteht gerade darin, dass sie gesellschaftliche, soziale und kulturelle Wandel unter Rekurs auf konkrete sprachliche Entwicklungen sichtbar, und umgekehrt von solchen Wandelprozes-sen ausgehend sprachliche Entwicklungen vorhersehbar machen können.

Dann würde sich von den in Abschnitt 2 angerissenen Tendenzen der Hispanisierung im Modernen Rapanui problemlos auf gewisse Akkulturations- bzw. Integrationsprozesse der Rapanui an/ in das chilenische Nationenkonstrukt schließen lassen. In der Tat lassen sich diese Prozesse ab spätestens den 1960er Jahren belegen, als der bis dahin koloniale Status der Osterinsel aufgehoben wurde, die Rapanui (nach einem für ihre kulturelle Identität desaströsen Jahr-hundert) Bürgerrechte zugesprochen bekamen, zugleich eine massive Migration nach und vor allem von Chile einsetzte, und Spanisch binnen kurzer Zeit zur dominanten Sprache der Insel wurde. Auf der symbolischen Ebene verlangte eine solche Akkulturation die Übernahme großer Teile der chilenischen Kultursymbolik – in linguistischen Dimensionen die Aneignung des Spanischen, die in diesem Fall in einem gemeinschaftsweiten Sprachwechsel (von wenigen Ausnahmen abgesehen wächst zwischen ca. 1970 und 1990 eine ganze Genera-tion von Rapanui nur mit Spanisch und ohne ihre ethnische Muttersprache auf), begleitet von der im letzten Abschnitt besprochenen Hispanisierung der au-tochthonen Sprache ihren Ausdruck fand. Hispanisiertes Rapanui, als heute unmarkierter Sektor des Modernen Rapanui, und eine universale Kompetenz der

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Rapanui im Spanischen sind konkrete synchronisch-linguistische Resultate die-ses Akkulturationsprozesses. 4. …und zurück: Sprachliche Distinktion Primär durch Verfahren der Distinktion gesteigerte kollektive Identitäten sind nun, so fährt Assmann fort, hinreichend anders zu fassen als solche der Akkul-turation/ Integration:

Distinktiv gesteigerte Identität ist eine “Gegen-Identität” (“counter-identity”), eine Widerstandsbewegung. Gegen-Identitäten werden nicht gegen das kulturlose Chaos, sondern gegen die dominierende Kultur ausgebildet und aufrechterhalten, wie es der typische Fall von Minderheiten ist. (Assmann 2005, 154) Kultur im Zustand ihrer distinktiven Steigerung oder “limitischen Aufrüstung” ist notwendigerweise mit einem besonderen Zugehörigkeits- und Zusammengehörig-keitsbewußtsein verbunden, ein Wir-Bewußtsein, das seine Intensität durch die Ab-grenzung gegen ein “sie” gewinnt, und das seinen Anhalt und Ausdruck in einer primär “limitischen” Symbolik findet. (ibid., 156)

Die Frage drängt sich auf – und ihre Antwort ist in der Kapitelüberschrift quasi vorweg genommen – ob konkrete linguistische Wandelprozesse in der Gemein-schaft der Rapanui auch aus dieser Sicht gedeutet werden können, und wenn ja, ob und wie sie sich in solchen gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklungen spiegeln, wie sie von Assmann beschrieben werden. Ein Indiz für durch Distinktion motivierten Sprachwandel haben wir in der Existenz des bereits angesprochenen “puristischen” Rapanui, einer linguistischen Modalität also, die bewusst die Hispanismen der unmarkierten Interaktion zu vermeiden versucht, auch um maximal distinktiv gegenüber dem dominierenden Spani-schen zu wirken. Puristisches Rapanui ist noch ein relativ junges Phänomen, das vor den 1990er Jahren nirgendwo beschrieben wurde (ausführlich dann Maki-hara 1999; 2007). Auch seine Entstehung müsste sich folglich mit rezenten identitäts-modifizierenden Prozessen in der Rapanuigemeinschaft in Verbindung bringen lassen, wollen wir nicht Glissants Charakterisierung der osterinsulani-schen Modifizierungen als “unvorhersehbar, und deshalb unvorhersagbar” wie-der argumentativen Boden gewinnen lassen.

Ab etwa Mitte der 1990er Jahre, und offenbar präzise unter dem Eindruck der rapiden Akkulturation/ Integration ihrer Ethnie an/ in das chilenische Nationen-konstrukt, begannen die Rapanui wieder verstärkt eigene Bedürfnisse zu artiku-lieren (vgl. Fischer 2005). Forderungen nach Rückgabe der Landrechte wurden

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dabei ebenso laut wie die nach Selbstverwaltung des (mittlerweile touristisch und damit auch ökonomisch sehr bedeutsam gewordenen) kulturellen Erbes, das – keineswegs an letzter Stelle – auch die eigene Sprache umfasst. Rapanui wurde nach einer Phase der Marginalisierung nun wieder selbstbewusst auf der Straße und auch in der Lokalpolitik verwendet. Es wurden neue Nachschlage- und Lehrwerke konzipiert, die ein vermeintlich traditionelles, von Hispanismen unbescholtenes Rapanui (re)konstruierten, und im Jahr 2000 wurde an der Inselschule sogar eine Immersionsklasse ins Leben gerufen, in der alle Fächer auf Rapanui unterrichtet werden. In diesen und vergleichbaren Kontexten wird “puristisches” Rapanui geformt – als Gegenentwurf zu den linguistischen Sym-bolen der Akkulturation an Chile und im Rahmen einer Widerstandsbewegung im assmannschen Sinne, die noch einmal eine Gegen-Identität zum chilenischen Modell aufstellt. Auch hier ist es Aufgabe der Symbolwelt, diese Gegen-Identität zu gestalten und zu kommunizieren, auch hier fällt der Sprache eine eminente Rolle dabei zu.

Dass es sich hier um keinen Rückgriff auf ganz und gar traditionelle Parame-ter, sondern um eine neue, renovierte Identität handelt, dürfte aus Sicht der Sprache unmittelbar einleuchten, war doch ein Ergebnis des Akkulturations-prozesses, dass eine ganze Generation von ethnischen Rapanui mit Spanisch statt Rapanui als Muttersprache aufgewachsen ist15. Die sich als Gegen-Identität formierende “neue Rapanuität” musste ihre sprachliche Symbolik folglich derart konstituieren und konventionalisieren, dass sie nicht nur limitisch-distinktiv nach außen (dazu wäre eine Weiterführung und/ oder Purifizierung des Rapanui ausreichend gewesen), sondern auch zu einem Teil integrativ nach innen wirken kann. Mit anderen Worten: diese “Rapanui-Renaissance” musste einen Weg finden, wie sie auch die monolingual spanischsprachigen Rapanui integrieren und dabei trotzdem eine sprachliche Symbolik wahren konnte, die limitisch-distinktiv gegenüber der chilenischen ist.

Die Legitimierung des Spanischen als zweite “autochthone” Sprachwahl ist deshalb eine weitere sichtbare Transformation der sprachlichen Symbolik der Rapanui, die als Symptom einer distinktiven Steigerung im Sinne Assmanns gedeutet werden muss. Nicht nur “die Chilenen”, sondern auch “die ethnischen Rapanui” sprechen im Sinne dieser Symbolik nun Spanisch. Nur so können auch die Rapanui, die allein mit Spanisch und ohne ihre ethnische Sprache aufge-wachsen sind, schnell an der neuen Rapanuität partizipieren.

Wie aber kann eine solcherart integrierende Symbolik gleichzeitig limitisch, also ab- oder ausgrenzend sein? Besser sollte man vielleicht fragen, wie kann sie

15 Insofern ist der Titel des Beitrags, und auch dieses Kapitels, etwas polemisch: Einen “Weg zu-rück” gibt es für die Rapanui streng genommen nicht, nur eine primär retrospektiv ausgerichtete Modifizierung, die in jedem Fall etwas “Neues” erreicht (vgl. Pagel 2010).

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limitisch werden? Ein Blick auf das in Kapitel 2 Gesagte gibt einen einfachen Lösungsansatz: hier konnte die autochthone Sprache auch nicht per se integrie-rend in das chilenische Nationenkonstrukt wirken, aber sie konnte problemlos zu einem Symbol der Integration/ Akkulturation gemacht werden. Mittel dazu war (und ist bis heute) die interaktionale Hispanisierung von Sprechakten – damals übrigens auch seitens der Sprecher, die (noch) wenig oder keine Kompetenz im Spanischen hatten. Eine analoge und mithin erwartbare Lösung des Distinkt-heitsproblems der neuen Rapanuität besteht also in einer interaktionalen “Au-tochthonisierung” oder “Rapanuisierung” des Chilespanischen, wie sie heute besonders bei jüngeren Rapanui mit (als Resultat des gemeinschaftsweiten Sprachwechsels) nur passiver, rudimentärer oder keiner Kompetenz im Rapanui anzutreffen ist. Auch dieses “Rapanui-Spanisch” vermag das zu symbolisieren, was Assmann am Beispiel gänzlich anderer Kontaktsituationen theoretisch erarbeitet hat, und was wir sozialgeschichtlich auch für die Osterinsel konstatie-ren konnten: eine Widerstandsbewegung gegen eine dominierende Kultur, ein neues “Wir-Gefühl”, das ein hohes Maß seiner Intensität aus der expliziten Abgrenzung gegenüber den “Anderen” bezieht.

Beispiel 3 gibt einen Einblick in diese Varietät. Es handelt sich um einen Ausschnitt aus einem (weder sehr formellen noch ganz informellen) Gespräch zwischen Schülern und Lehrern an der Schule der Insel; fett markiert sind hier Rapanuiismen bzw. Sequenzen auf Rapanui. Beispiel 3: Rapanui-Spanisch (Rn.Konu.3)

01 V:

ku hoki mai ’ā und da haben wir es wieder,

02

eh: te ati ’o angarinā he re’o mau nei ia ’o tātou äh, das Problem heute sind unsere vielen Sprachen

03 A: pero si uno se fija ahora en la generación que ehtá saliendo ahora aber wenn man an die jetzige Generation denkt,

04 por ejemplo la/ la de nosotroh zum Beispiel die/ an unsere,

05 yo pienso que tooh tienen la idea de ponerle:: nombreh Rapanui a su poki ich denke, dass jeder seinem Kind einen Rapanui-Namen geben will,

06 de=enseñarle Rapanui ihm Rapanui beibringen will,

07 de=ensenarle too lo me’e Rapanui ihm alle Dinge über die Rapanui zeigen will,

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08 por lo menoh con mi poki yo quiero que mi poki… ich zumindest mit meinem Kind, ich möchte dass mein Kind...

09 sea too Rapanui ganz Rapanui ist,

10 que recién iho cuando se vaya al conti dass es erst dann, erst wenn es nach Chile geht,

11 aprenda too lo que=eh el contine:nte alles über Chile lernt,

12 s/ toa su hihtoria die ganze Geschichte,

13 pero recién cuando se vaya=a ir aber eben erst dann, wenn es nach Chile gehen wird,

14 o sea ahora que aprenda (lo) su cultura primero das heißt, dass es erstmal seine eigene Kultur kennenlernt,

15 lo que a mí no me enseñaron das, was mir keiner beigebracht hat,

16 <!que mi hijo lo aprenda> mein Kind soll es lernen!

17 V: ya ok,

18 A: ┌esa eh la idea das steckt dahinter

19 V: └roa/ roa hau ha’a (ein) bleibender/ bleibender Wert

Es sind vor allem spontane interaktionale Kopien aus dem Lexikon des Rapanui, die das dem Sprechakt zugrunde liegende Chilespanische zu dem machen, was wir mit Makihara (z. B. 1999; 2001b; 2004; 2005a; 2005b) als Rapanui-Spa-nisch bezeichnen können. Dazu fällt auf, dass es sich bei Lexemen wie poki ‘Kind’ (05, 08) und me’e ‘Ding, Sache’ (07) um Basiskonzepte handelt, die auch für Rapanui mit marginaler Kompetenz in ihrer ethnischen Sprache verfügbar und also verständlich sein dürften. Darüber hinaus geht im Beispiel nur Rn. iho ‘kürzlich, gerade eben’ (10), das allerdings das synonyme Sp. recién dupliziert – vielleicht um den vorgestellten Zeitraum pragmatisch hervorzuheben. Das Re-sultat ist eine dynamische, systemisch oberflächliche “Rapanuisierung” der Rede, die als limitisches Symbol und in Bezug auf eine darüber zu markierende ethnische Distinktheit aber ihr Ziel nicht verfehlt: die Schülerin im Beispiel spricht zwar Spanisch, doch ist dieses Spanisch hinreichend verschieden vom Chilespanischen des Kontinents. Hinzu kommt in diesem Fall eine wenigstens

Steve Pagel 148

passive Kompetenz im Rapanui, die es der Schülerin ermöglicht, den vorher und danach (vgl. Zeilen 01, 02, 19) konsequent auf Rapanui geführten Sprechakten ihrer Lehrerin zu folgen und an den richtigen Stellen einzusetzen: auf Spanisch allerdings. Auch dieses Phänomen, das Makihara “nicht-reziproke Sprachwahl” nennt (unreciprocal oder unreciprocated code choice in Makihara 1999, 249-253; 2005a, 121-122; 2005b, 742-746), ist heute gerade im intergenerationellen Diskurs der Rapanui typisch und kann als weitere, limitisch motivierte Modi-fizierung des sprachlichen Symbolapparats dieser, wie Assmann es nennt, Formation verstanden werden. 5. Schluss Kehren wir noch einmal zurück zu Glissants eloquenter Beschwörung des Wan-dels auf der Osterinsel und zu meiner Behauptung, dieser Wandel lasse sich – in Bezug auf die Sprache wenigstens – vorhersehen und vorhersagen. Es ist deut-lich geworden, dass aktuelle Sprachwandelprozesse in der ethnischen Gemein-schaft der Rapanui die immensen sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Umwälzungen der letzten Dekaden auf der Osterinsel widerspiegeln, und, wenn dieses Faktum nicht als akzidentell interpretiert werden soll (wofür es keinen Anlass gibt), die sprachliche und die außersprachliche Ebene folglich in einer unmittelbaren Beziehung zueinander stehen. Im Rahmen dieser Beziehung sollte es möglich sein, aus Entwicklungen auf der einen Ebene solche auf der anderen abzuleiten, wie es eine Vielzahl von Modellierungen in der Sprach- und der Kulturwissenschaft seit Längerem tun. An einem kulturtheoretischen Modell Jan Assmanns konnte deshalb (wohl eher exemplarisch) nachvollzogen werden, wie verschiedene sprachliche Wandel auf der Osterinsel fundamentale Wandel in Bezug auf die kulturelle Identität der Rapanui reflektieren und sich somit – im Rahmen des Modells, das heißt unter Setzen solcher Parameter wie primär duch Akkulturation/ Integration vs. durch Distinktion gesteigerte Formation – vor-hersehen lassen.

Eine exakte semantische Differenzierung zwischen den Attributen (un)vor-hersehbar und (un)vorhersagbar ist meines Erachtens zwar schwierig, doch deutet die syntaktische wie auch die kausale Beziehung, in die Glissant sie setzt (“imprévisible, et donc imprédictible”), darauf hin, dass für ihn das Letztere das Erstere voraussetzt, ja impliziert (um etwas vorhersagen zu können, muss ich es vorhergesehen haben). Dies aufgreifend wäre nun eine letzte Frage, wie sich das Sichtbar- und Vorhersehbar-Werden sprachlicher Modifizierungen im Rahmen sprach- und kulturwissenschaftlicher Modelle in eine prognostische Qualität übersetzen lässt. Mit anderen Worten, und Glissant hier in eine qualitative Rich-

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tung auslegend: inwieweit lassen sich bestimmte Formen kontaktbedingten Sprachwandels tatsächlich vorhersagen, sind einmal die zentralen außersprach-lichen Parameter bekannt?

Einer zu detaillierten Prognostizität ist zweifelsohne eine Absage zu erteilen; es gilt, was Sarah Thomason jüngst erst wieder betont hat:

We can make rough predictions about types of changes to be expected under differ-ent social conditions […] and we can often predict the direction of change; but we can’t even be sure that contact-induced change will occur in any given contact situa-tion, much less predict what form it will take if it does occur. (Thomason 2008, 54)

Was Modellierungen aber leisten können, ist die Richtung, den Typus von Sprachwandel anzugeben, der unter den gesetzten Umständen zu erwarten ist. Sie können es, weil sich an dem orientiert werden kann, was ich eingangs als anthropologische Grundlinien bezeichnet habe. Dazu gehören ohne Frage auch Konventionen in Bezug auf die kollektive Identität, unter der sich ein Indivi-duum zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort findet und definiert. Dass in den Existenzerfahrungen der sogenannten Postmoderne und der Globalisierung ein Individuum verschiedenen kollektiven Identitäten angehören, es diese verschiedentlich wechseln und kombinieren kann, wie von Glissant und (unter etwas anderen Vorzeichen) auch den Protagonisten der Créolité prokla-miert wird, ist richtig. Dass eine créolisation oder ein “gelebter Tout-Monde”16, eine in den “Zustand der Kreolität” überführte Welt (“Le monde va en état de créolité”, Bernabé & Chamoiseau & Confiant 1995, 51), eine “dynamique con-stante” (ibid., 50) oder eine “identité mosaïque”17 – um einige Schlagwörter aus den Schriften der Genannten zu zitieren (siehe auch Ludwig 2008, 116-128, 144-163) – aber ganz ohne Konventionen sein könnten, ist zu kurz gedacht. Die Konventionen bleiben, denn keine der möglichen kollektiven Identitäten kann die hier immer wieder offen anklingende Beliebigkeit akzeptieren, wenn sie gleichzeitig spezifisch sein will – und letztlich spezifisch sein muss. Wandel, Kreolisierung, “Chaos” in Bezug auf die identitäre Symbolwelt kann ein perma-

16 “C’était assurément oublier que vivre une créolité complexe revenait à vivre le monde, ou (pour

reprendre une expression de Glissant) le Tout-monde.” (Bernabé & Chamoiseau & Confiant 1995, 50; vgl. Glissant 1993; 1997)

17 “Penser le monde aujourd’hui, l’identité d’un homme, le principe d’un peuple ou d’une culture, avec les appréciations du dix-huitième ou du dix-neuvième siècle serait une pauvreté. De plus en plus émergera une nouvelle humanité qui aura le caractéristiques de notre humanité créole: toute la com-plexité de la Créolité. Le fils, né et vivant à Pékin, d’un Allemand ayant épousé une Haïtienne, sera écartelé entre plusieurs langues, plusieurs histoires, pris dans l’ambiguïté torrentielle d’une identité mosaïque.” (Bernabé & Chamoiseau & Confiant 1995, 52)

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nenter Wandel von einer Stasis zur nächsten sein, aber niemals nur permanenter Wandel18.

Konkret lassen sich aus Assmanns Modell schließlich zwei Typen, oder Modi, kontaktinduzierten Sprachwandels mit den folgenden Modifikationsrichtungen ableiten:

1. Kontaktbedingter Sprachwandel im Rahmen einer sich integrativ steigern-den Formation. Dieser ist gekennzeichnet durch eine Akkulturation der dominierten Varietät(en) an die dominante Varietät.

2. Kontaktbedingter Sprachwandel im Rahmen einer sich distinktiv steigern-

den Formation. Dieser ist gekennzeichnet durch die Autochthonisierung/ Indigenisierung der dominanten Varietät, und der Wieder- oder Neubele-bung der dominierten.

Jeweils einer dieser Modi war für die indigene Sprechergemeinschaft der Oster-insel auf dem Weg von Rapa Nui (dem “Autochthonen”) zur Isla de Pascua (dem “Chilenischen”) und wieder zurück richtunggebend. Sie haben den Rah-men gestellt auch für entsprechende sprachliche Konventionen als Symbole der sich wandelnden kollektiven Identität der Rapanui. Die Modifizierung dieser sprachlichen Konventionen – Sprachwandel – wird mithin, in den von Thoma-son beschriebenen Grenzen, vorhersagbar. Offen bleibt am Ende lediglich, ob dies auch für die “echten” Fälle von créolisation/ Kreolisierung, sei es im engen kontaktlinguistischen oder im weiter gefassten glissantschen Sinne, gelten kann. Literatur Assmann, Jan 2005: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische

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meine Sprachwissenschaft: 5 Studien, München, Fink, 11-101 (Erstveröffentlichung

18 Ludwig zitiert Glissant aus einem bislang unveröffentlichten Interview: “Le Tout-monde, c’est le

mouvement tourbillonnant par lequel changent perpétuellement – en se mettant en rapport les uns avec les autres – les cultures, les peuples, les individus, les notions, les esthétiques, les sensibilités etc.” (Ludwig 2008, 121, Hervorhebung S. P.)

Von Rapa Nui zur Isla de Pascua und zurück 151

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