Vom „Favela Effekt“ zum „UPP-Effekt“?
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Vom Favela-Effekt zum UPP-Effekt? Steffi Müller 2014
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1. Einleitung
Seit der Ernennung zum Austragunsgort der Weltmeisterschaften im Fussball 2014 und
der Olympischen Spiele 2016 war Brasilien das Land mit der grössten Wertsteigerung
im Immobiliensektor. Laut dem Forbes-Magazine stiegen die Preise von Oktober 2011
bis Dezember 2012 um ganze 13,7 % im Landesdurchschnitt (Rapoza 2013).
Auch Rio de Janeiro, die „Cidade Maravilhosa” (die wundervolle Stadt) ist von diesem
Prozess betroffen, sogar mehr als andere Städte des Landes. (Neri et al. 2013). Doch
während die Immobilienpreise in den Luxusvierteln Ipanema, Copacabana und Leblon
in die Höhe steigen und ähnliche Quadratmeterpreise wie in den nördlichen Metropolen
New York und London verzeichnen (Paiva 2013), fehlt es in der Stadt an
schätzungsweise 200.000 Sozialbauwohnungen für weniger privilegierte
Bewohner_innen. Und auch die Favelas, die einige Aktivisten als Antwort der
Bewohner_innen auf fehlende Sozialbauwohnungen betrachten (ebd.), scheinen einem
Wandel unterworfen zu sein, durch den sie bei weitem nicht nur für weniger
privilegierte Menschen als Wohnraum in Frage kommen. So stiegen die
Immobilienpreise in den innerstädtischen Favelas praktisch über Nacht stark an,
nachdem die Favelas von neu eingerichteten Sondereinheiten der Polizei gestürmt und
langfristig bestetzt wurden.
Gentrification ist nicht nur in der angelsächsisch-europäischen Forschung ein
umstrittender Begriff, er wird auch seit einiger Zeit im Rahmen anderer Geografien
(Lees 2008) diskutiert und auf seine Potentiale und Anwendbarkeit hin untersucht
(Janoschka et al. 2013). Ein besonderer Stellenwert in der lateinamerikanischen
Gentrificationdebatte kann dem 2012 gegründeten internationalen Forschungsverbund
„Contested Cities/ Ciudades en Disputa“ eingeräumt werden. Mit der vorliegenden
Arbeit orientiere ich mich an genau diesem Projekt und ihrem Vorchlag einer Definition
von Gentrification, um die Prozesse, die seit Beginn der Besetzung in den Favelas
beobachtet werden können, zu diskutieren. Im Zentrum der Analyse stehen dabei
folgende Fragen: Liefern die steigenden Immobilienpreise in den Favelas Rocinha und
Santa Marta, die ich als Fallbeispiele betrachten möchte, einen ersten Hinweis darauf,
dass dort Gentrification stattfindet oder stattfinden wird? Sind die Favelas Rocinha und
Santa Marta infolge dessen gentrificationgefährdete Gebiete der Stadt? Was bedeutet
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das für die Bewohner_innen der Favelas? Welche neuen Impulse für die hiesige
Gentrificationdebatte können die Ergebnisse aus Lateinamerika liefern?
2. Gentrification in Lateinamerika
„Therefore, while gentrification may pose interesting questions about the emergence of
converging patterns in cities with diverse urbanization processes, it is also important
to question the straight forwarded importation of theories
and concepts for the Brazilian urban reality.”
(Siqueira 2012)
Gentrification stellt im Sinne Thomas Kuhns (1967) ein wahres Paradigma dar. Als
solches wird es vielerorts herangezogen, um sozialräumliche Tranformationprozesse
(Kirschenmann 2011) und städtische Aufwertungsprozesse zu erklären. Im Sinne eines
wissenschaftlichen Paradigmas ist die Bedeutung des Konzeptes Gentrification seit
seiner „Erfindung“1 durch die englische Soziologin Ruth Glass im Jahr 1964 in der
hiesigen Stadtsoziologie und Urbanistik sehr stark gewachsen. Doch nicht nur im
anglophonen Entstehungkontext und angrenzenden europäischen Räumen ist es zu
einem zentralen Erklärungsmodell für sozialräumliche Transformationsprozesse
geworden. In der jüngsten Vergangenheit erklärten Wissenschaftler und Angehörige der
europäischen und nordamerikanischen Debatte das Phänomen der Gentrification zu
einem globales Phänomen (Smith 2002, Lees et all. 2008, Atkinson und Bridge 2005).
“(…) the process of gentrification, (…) is now thoroughly generalized as an urban
strategy that takes over from liberal urban policy. No longer isolated or restricted to
Europe, North America, or Oceania, the impulse behind gentrification is now
generalized; its incidence is global, and it is densely connected into the circuits of
global capital and cultural circulation.(Smith 2002:427)
Zwar sei dies eine nachvollziehbare Annahme, jedoch, so Janoschka und Casgrain
(2013:20), mangelt es momentan noch an empirischen Belegen auβerhalb des
europäischen und nordamerikanischen Raumes, um diese Behauptungen hinreichend zu
belegen und um so zur Analyse der unterschiedlichen „geograph(ies) of contemporary
gentrification“ (Lees et al. 2008: 187) beizutragen.
1 Wortneunildung in Anlehnung an das englische Wort „gentry“ für Landadel
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2.1. Dezentrierung von Gentrification im Lateinamerikanischen Kontext
Vor allem in Lateinamerika bemüht man sich momentan um eine Standortbestimmung
in der aktuell aufkommenden Debatte über Gentrification in lateinamerikanischen
Groβstädten als Teil des sich ausweitenden globalen Phänomens:
„Die Adaptation des Begriffs Gentrification kann nicht linear stattfinden,
sondern es müssen die lokalen, regionalen und nationalen Besonderheiten sowie
die sozialen, politischen und ökonomischen Bedingungen betrachtet werden,
innerhalb derer sich die Prozesse der Gentrification entwickeln.“2
Demnach bedarf es zunächst einer Dezentrierung des Begriffs und seiner Dimensionen
im Kontext einer postkolonialen (Selbst-)Verortung, um über Gentrification in
Lateinamerika forschen zu können.3. Dezentrierung beinhaltet eine den Postcolonial
Studies4 entlehnte theoretische Operation, die das europäisch-nordamerikanische
Monopol der Wissensproduktion (im Sinne des vom „Westen“ hervorgebrachten
„Universalwissens“) dekonstruiert und schlieβlich dessen Gültigkeit widerlegt. Es gibt
kein westliches Universalwissen, dass von hier aus auf den Rest der Welt angewendet
werden kann. Einmal abgesehen von einer ganzen Reihe von Unterschieden und
Spezifika, wie sie im oben angeführten Zitat genannt werden, die einen unmittelbaren
Einfluβ auf die Anwendbarkeit und Gültigkeit des Konzeptes haben, ist die reine
Übertragbarkeit aus dem hiesigen Kontext auf lateinamerikanische Realitäten
schlichtweg nicht gegeben.
Als Herangehensweise zur Umsetzung der Dezentrierung erweist sich der kritische
Dialog (Janochka et al. 2013) zwischen der Stadtforschung aus Lateinamerika und der
hiesigen als absolut sinnvoll, nicht nur um Daten zu Belegung von Smiths These der
globalen Gentrification zu gewinnen, sondern auch um die aktuellen hier verorteten
Debatten um weitere, in anderen Geografien und Kontexten entwickelten Konzepte zu
bereichern. Die heutige kritische Stadtforschung in Lateinamerika beispielsweise
entspringt einer vollkommen anderen historischen, linguistischen und geografischen
Einbettung der Theoriebildung als die des anglophonen Sprachraums in Amerika und
Europa (Janoschka/ Sequera/ Salina 2013:3). In Lateinamerika und dem hispanischen
Sprachraum allgemein gelten Theoretiker wie Manuel Castells, Milton Santos,
2 Janoschka und Casgrain 2013:20, eigene Übersetzung der Autorin.
3 Zur Bedeutung der Dezentrierung siehe auch Masterarbeit Samuel Kirschenmann
4 Als Gründungswerk der Postcolonial Studies gilt allgemein Edward Saids Arbeit „Orientalism“ von 1978
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Boaventura de Sousa Santos, Raúl Zibechi und Marcelo Lopes de Souza als klassische
Vertreter der gegenhegemonialen, kritischen Stadtforschung (in mehr oder weniger
marxistischer Tradition), auf die sich aktuelle Gentrificationforschung aus
Lateinamerika bezieht (ebd.).
“In this regard, any graduate course on critical urban studies in Spain and Latin
America differs markedly from the (re-)production of canonical knowledge taking place
in Anglophone universities. This is due in part to the ways that knowledge is embedded
in the respective languages, but it also results from the epistemological logics of
scientific knowledge production” (ebd.)
Im Sinne des kritischen Dialogs über Gentrificationprozesse in Lateinamerika und
Europa geht es also auch darum, zwischen den sich historisch, sprachlich und
geografisch eingebetteten Traditionen der jeweiligen Stadtforschung zu vermitteln.
Diesen Vorüberlegungen folgend greife ich in der vorliegenden Arbeit auf ein aktuelles,
international und interdisziplinär aufgestelltes Forschungsprojekt zurück, das momentan
intensiv daran arbeitet, sich das Konzept der Gentrification für eine Analyse
sozialräumlicher Transformationsprozesse im Kontext lateinamerikanischer Städte und
Regionen anzueignen und zwischen den lateinamerikanischen und europäischen
Debatten zu vermitteln: das Projekt Contested_Cities/ Ciudades en Disputa - Contested
Spacialities of Urban Neoliberalism: Dialoges between Emerging Spaces of Citizenship
in Europe and Latin America.
Besagtes Projekt präsentiert sich selbst explizit als postkoloniales Unterfangen,
wodurch es den vorangestellten Anspruch der Dezentrierung erfüllt, ja sogar als zentrale
Prämisse formuliert. (Janoschka/ Casgrain 2013)
Im folgenden Kapitel werde ich den analytischen Rahmen und die Konzeptualisierung
von Gentrification, die diesem spezifischen Projekt entstammen, als Grundlage für
meine eigene Forschung über die Transformationsprozesse in den zu untersuchenden
Favelas entwickeln. Als Material hierfür dienen mir zum einen die Inhalte der
Homepage des Projektes, u.a. Beschreibung, Zielsetzung sowie Forschungsausrichtung,
und andererseits die drei bisher veröffentlichten Texte, die dem Forschungsverbund
entstammen (Janoschka/ Sequera/ Salina 2013, Janoschka/ Casgrain 2013, Red
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Contested Cities/ Ciudades en Disputa 2013, eine Kollektivveröffentlichung des
Netzwerkes.)5
2.2. Politics of Gentrification: Das Projekt Contested_Cities/ Ciudades en Disputa6
Das Projekt untersucht sozialräumliche Transformationsprozesse in
lateinamerikanischen Groβstädten, u.a. Santaigo de Chile, Rio de Janeiro und Buenos
Aires und hat zum Ziel, die angelsächsisch-eurozentristische Debatte über urbane
Prozesse mit einem postkolonialen Fokus zu dezentrieren um zu „vielgestaltigen und
multiplen Geografien der neoliberalen Gentrification“ 7
zu gelangen. Darüber hinaus
geht es dem Forschungsverbund explizit darum, die Gentrificationdebatte zu
repolitisieren. (Janoschka/ Casgrain 2013:19). Theoretisch gerahmt werden die
Forschungen zu Gentrification von folgender Prämisse:
„Obwohl die Forschung über die Auswirkungen der globalen Finanzkrise noch
begrenzt ist, ist man sich relativ einig, dass die Ursachen der Krise verknüpft sind mit
einer Verschiebung hin zu einer Unternehmensform der Stadtregierung, der
Liberalisierung von Planungsprozessen und der Ökonomisierung des Wohnungraums
und des öffentlichen Raumes. Der Prozess kann unter dem Begriff "urbaner
Neoliberalismus“ zusammengefasst werden."8
Klar benannt wird der Hintergrund, vor dem Gentrification untersucht werden soll: die
aktuelle globale Finanzkrise, deren Auwirkungen mit einem Wandel hin zur
unternehmerischen Stadt (Harvey 1998)9 in Verbindung gebracht wird.
5Siehe http://contested-cities.net/investigacion/, eigene Übersetzung der Autorin
6 Contested_Cities ist ein internationales Forschungsprojekt angelegt auf ingesamt vier Jahre, von
Oktober 2012 bis September 2016, das u.a. durch die Europäische Union gefördert wird. Beteiligt sind Wissenschaftler_innen und Angehörige der Universität Buenos Aires (UBA), dem Institut für Geografie, der Nationalen Autonomen Universität Mexiko (UNAM), Institut für Geografie, der Universität Querétaro Mexiko (UAQ), Fakultät für Sozialwissenschaften und Politikwissenschaften, Universität Federal do Rio de Janeiro (UFRJ), Institut für Geografie, Universität Chile (UCH), Fakultät für Architektur und Urbanistik, der Katholischen Universidad Chile (UC), Fakultät für Geschichte, Geografie und Sozialwissenschaften und schliesslich der Universitäten Madrid UAM, Institut für Politikwissenschaften und Internationale Beziehungen und der Universität Leeds, Institut für Geografie. 7 Siehe http://contested-cities.net/investigacion/, eigene Übersetzung der Autorin
8 Siehe http://contested-cities.net/investigacion/, eigene Übersetzung der Autorin
9 Der Begriff der Unternehmerichen Stadt kommt von“The Entrepreneurial American City“ (1986), das
auf Deutsch als „Die Stadt als Unternehmer“ erschienen ist (Duckworth 1987) In diesem Buch werden Vorschläge für verwaltungsinterne Restrukturierungen gemacht, so dass Behörden selbst wie ein Unternehmen agieren, die Stadt als Ressource und BürgerInnen als KundInnen begreifen. Die explizite Bezeichnung von Städten als Unternehmen wurde damit zunächst von Akteuren aus Politik und
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Dieser Wandel wiederum ist eine bestimmte Artikulation eines umfangreichen
Prozesses, den das Projekt als „urbanen Neoliberalismus“ kennzeichnet, der maβgeblich
als ursächlich für Gentrificationprozesse gilt. Doch auch Neoliberalismus artikuliert sich
geografisch innerhalb und durch verschiedene Prozesse, so Janoschka und Casgrain
(2013), Ausdruck der „unterschiedlichen Geografien des Neoliberalismus“ 10
(Brenner
et al 2010 zitiert nach Janoschka und Casgrain 2013). Folglich spielen politische,
administrative und soziale Strukturen eine entscheidende Rolle vor dem Hintergrund
verschiedener geographischer Szenarien der praktischen Anwendung der neoliberalen
Politik, die wiederum neue Formen von Governance schaffen und die Verteilung der
politischen, sozialen und wirtschaftlichen Macht in der Stadt reorganisieren (Janochka/
Casgrain 2013). Besonders hervorzuheben ist hierbei die Rolle des Staates: Trotz der
Rhetorik vom freien Markt ist der Staat ein aktiver Agent neoliberaler Prozesse und ihm
muss in der Analyse von Gentrificationprozessen entprechende Aufmerkamkeit zuteil
werden. Erst duch eine staatliche Politik der Liberalisierung, Deregulierung und
Privatisierung - Kernelemente neoliberaler Politik - kann es zu zur Schwächung des
sozialen Bandes zwischen den Individuen kommen, folglich zur Kommodifizierung
weitgreifender Bereiche des sozialen Lebens und deren Unterwerfung unter
Marktmechanismen (Janoschka et al. 2013). Auch die Kommodifizierung des
Wohnraums und des öffentlichen Raumes sind eine Folge neoliberaler Politiken., was
eine besondere Rolle im Lateinamerikanischen Kontext spielt11
. Doch Neoliberalismus
beschreibt weder Ziel noch Endzutand sondern vielmehr einen dynamischen Prozess:
“der die soziale Praxis reorganisiert und sie herauslöst aus den kollektiv-institutionellen
Formen der Regulierung um die Anpassung der ökonomischen, zersplitterten Subjekte an die
Forderungen des Marktes und die Nutzenmaximierung zu erleichtern.“ (Janoschka, 2011).
Verwaltung vorgenommen, bevor sie in der wissenschaftlichen Diskussion verarbeitet wurden, maßgeblich als „entrepreneurialism“ von David Harvey (1989). Zitiert nach Vogelpohl 2012 10
Was den Neoliberalimus in Lateinamerika als spezifischen geografisch-politischem Kontext angeht, so gilt gemeinhin das Land Chile und seine Entwicklung unter der Militärdiktatur 1973 – 1990S als Prototyp der Implementierung neoliberaler Politik gekennzeichnet durch: Rückzug des Staates, ökonomische Deregulierung, soziale Segregation. Neben zahrleichen weiteren Massnahmen der Privatisierung und Deregulierung wurden u.a das System städtischen Wohnraums privatisiert, eine radikale Wertsteigerung und Kommodifiezierung städtischen und ländlichen Bodens, gesteigerte Segregation. Ähnliche Bedigungen und Prozesse lassen sich auch für Argentinien, Brasilien und Mexiko erkennen. 11
Zur Rolle des öffentlichen Raumes in Lateinamerika siehe Janoschka et al. 2013
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Um nun den urbanen Neoliberalismus wiederum mit Gentrificationprozessen in
Verbidnung zu bringen, berufen sich die Autoren und Initiatoren von Contested_Cities
auf den kritischen Geografen David Harvey (2008), für den die Durchführung
neoliberaler Stadtpolitik das Ziel verfolgt, die Kontrolle der Klassen zu reproduzieren,
was wiederum einen massiven Prozess der Akkumulation durch Enteignung (Harvey
2004 und 2008) in Gang setzt. Dem Forschungsverbund (2013) zufolge kann man auf
der Mikroebene der Barrios (Stadtteile) diese Enteignungen sowie die Konsolidierung
der sozialen Ungleichheit in dem Begriff der Gentrification fassen. Auf dieser Ebene
reproduziert Gentrification die Ungleichheit der Klassen und ist Ausdruck des
Bestrebens der besitzenden und wohlhabenden Klassen, die Prozesse und Sphären der
Reproduktion des Sozialen zu dominieren (Red Ciudades en Disputa 2013).
Neben staatlicher Politik und Intitutionen begreifen die Forscher_innen des Verbundes
auch Immobilienmakler als entscheidende Akteur, die erheblichen Einfluss auf
Gentrificationprozesse nehmen können (Janoschka/ Casgrain 2013). Anhand der
Fallstudie Santiago de Chile entwickeln sie den Begriff „Gentrification durch
Immobilienmakler“ bei der Gentrificationprozesse angetrieben werden durch die
ungleiche Aneigung der Grundrente durch die Immobilienmakler. Diese wiederum
vermieten oder verkaufen gewinnbringend an neue Bewohner_innen mit gröβerem
Konsumpotential (ebd.).
Zusammenfassend können wir festhalten, dass urbaner Neoliberalismus, städtisches
Unternehmertum und die Akkumulation durch Enteignung grundlegende Prozesse sind,
die Gentrification verursachen. Folglich, so das Forschungsprojekt, ist Gentrification
dann gegeben, wenn folgende drei Bedingungen erfüllt werden:
„(i) Die Reinvestition von Kapital in einem definierten Raum und ein entsprechender
Anstieg des Bodenwerts in diesem Raum oder angrenzenden Gebieten,
(ii) Die Ankunft von Akteuren mit einer grösseren Zahlungpotential als die etablierte
Bevölkerung in diesem Raum oder in angrenzenden Gebieten.
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(iii) Veränderungen der Aktivitäten und in der Stadtlandschaft im betreffenden
Stadtgebiet hervorgerufen und kontrolliert durch die hinzugezogene
Bevölkererungsgruppe.12
Im engeren Sinne formuliert Contested_Cities hierbei nicht nur eine Definition und
Herleitung von Gentrification sondern auch ein Verlaufmodell, dass unterschiedliche
Stadien der Gentrification kennzeichnet.
In den folgenden Abschnitten werde ich unter Verwendung diese Modells die
Veränderungen, die in den Favelas Rocinha und Santa Marta in Rio de Janeiro aktuell
stattfinden, analysieren und diskutieren.
3. Von der „Erfindung der Favela“ zur „Befriedung der Favela“
Bevor ich auf die sozialräumlichen Tranformationen in Santa Marta und Rocinha zu
sprechen komme, möchte ich an dieser Stelle zunächt einige Spezifika der Favelas in
Rio de Janeiro und deren wissenschaftliche Rezeption anführen.
3.1. Die „Erfindung der Favelas“ (Valladares 2008)
Wenn man sich mit den Favelas in Brasilien beschäftigt, so kommt man nicht umhin,
sich mit dem Klassiker „A invenção da favela“ (Die Erfindung der Favela) der
Soziologin Licia Valladares (2008) zu befassen. Ihr Werk gilt als Grundlage jeder
Forschungsarbeit mit emanzipatorischem und kritischem Anspruch über die Favelas.
Valladares Beitrag zur Erforschung der Favela liegt darin, dass sie gewissermaβen eine
„Soziologie der Soziologie der Favela“ (Vidal 2008:11) verfasst. So geht es ihr nicht
um Genese, Ausbreitung oder Kriminalisierung der Favela sondern wie die
verschiedenen Repräsentationen und „Erfindungen“ der Favela sowie Wandel in der
Konnotation von Favela und Favelado (Favelabewohner_innen), die die Realitäten in
der Favela und ihrer Bewohner_innen maβgeblich beeinflussen. Eines ihrer
Kernargumente ist, dass die Marginalität der Favelados nicht nur das Ergebnis von
ungleich verteilter Macht zur Repräsentation ist sondern auch dessen Ursache darstellt.
(Valladares 2008).
12
Red Cidades en Disputa 2013, eigene Übersetzung der Autorin
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So beginnt Valladares ihre Geschichte der Repräentationen auch mit dem
Gründungsmythos der Favelas, der sie Entstehung der irregulären Siedlungen ans Ende
des 19. Jhd verlegt.13
Wichtig ist, hervorzuheben, dass das Phänomen der Favela der
Kategorie Favela vohergeht. Ab den 30er Jahren wurden Favelas als Problem, als
„Horte der Unodrnung, Herde tödlicher Krankheiten und des moralischen Chaos“
(Zaluar 1998 zitiert nach Lanz 2004:36) wahrgenommen. Es folgten die massenhafte
Zerstörung von Häusern und Favelas und die Umsiedlung der Bewohner_innen in
geschlossene Barackenparks im Norden der Stadt (Lanz 2004:37). Nach der Gründung
erster Bewohnerkommissionen, die sich den Räumungen widersetzten, wurden die
Siedlungen ab den 40er und 50er Jahren von den politischen Parteien als Potentiale für
politischen Wandel gesehen (ebd.).14
Ab den 60er Jahren wechselten sich
Urbanisierungsmassnahmen und Räumungsprogramme ab, die die
Favelabewohner_innen in weit entlegene Sozialwohnkomplexe umsiedelten. Ab den
70ern schlieβlich entdeckten auch die Wissenschaften die Favela (Valladares 2008).
Ebenfalls zu dieser Zeit wird die geteilte Wahrnehmung der brasilianischen Gesellschaft
forciert, die die Favela als Gegenteil zum Rest der Stadt, oder, wie es in Rio de Janeiro
formuliert wird, vom morro (Hügel, Matsch) zum asfalto (Asphalt im Sinne befestigter
Strasse) konstruiert. Dies wiederum führt dazu, Favela als homogenen, vereinheitlichten
Ort der Armut wahrzunehmen. Jedoch belegen zahlreiche Studien die Diversität und
sozioökonomische Heterogenität innerhalb der Favelas und unter den Favelas, ganz zu
schweigen von der Tatsache, dass eine grosse Anzahl von Rios armer Bevölkerung in
rechtlich urbanisierten Vierteln leben (Valladares 2005 zitiert nach Vidal 2008).
Schlieβlich, und das sei an dieser Stelle deutlich hervorgehoben, benennt Valladares als
Ursache für das beharrliche Fortbestehen falscher Repräsentationen der Favelas
bestimmte, einem Wandel unterlegene, gesellschaftliche und politische Interessen, die
13
Rückgekehrte Soldaten aus dem Canudos-Kriegen besiedelten in Ermangelung von Wohnraum den Morro do Provencia. In Erinnerung an ihre Siedlungen im Kriegsgebiet im Nordosten Brasiliens, wo eine Pflanze mit dem Namen Favela wuchs, bennannten sie der Legenda nach auch ihre Siedlung auf dem Morro als Favela. Weiteren Zuzug bekammen die Siedlungen auf de Hügeln der Stadt durch eine gross angelegte Urbanisierungsmassnahmen Anfang des 20 Jhds durch Passo, auch gennant Hausmann der Tropen, da er das Zentrum Rios nach dem Vorbild von Paris umgestaltete. Dabei wurden zahlreiche Corticos zerstört, alte Kolonialhäuser, die heruntergekommen als Wohnstätten für die Armen der Stadt dienten. 14
Aus dieser Zeit stammt auch das Sprichwort: „Lieber auf den Berg raufsteigen, bevor Kommunisten herunterkommen“ (Lanz 2004:38)
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von diesen Fehlrepräsentationen auf die eine oder andere Weise profitieren. Die
Verluste wiederum tragen die Bewohner_innen der Favelas, denn die Irregularität der
Siedlungen wirkt sich negativ auf ihre zugeschriebene Identität des Favelados aus.
Diese ist gekennzeichnet durch die „Illegalität“ der Wohnverhältnisse, durch die auch
die Bewohnner_innen illegalisiert und somit schwerwiegend stigmatisiert und
diskriminiert werden. (Machado da Silva in Lanz 2004:. )15
„Der arme Favelabewohner
ist nicht arm, weil sein Volumen an Besitz klein ist, sondern weil er tot ist, ohne
jeglichen Wert für den Markt. Das Atribut ilegal verhindert seinen Zugang zum
Markt.“(Neri et al. 2011:7)16
Aktuell leben mehr als ein Fünftel der Bewohner_innen der Stadt Rio de Janeiros in
Favelas, das entspricht rund 1,3 Millionen Personen verteilt in 763 comunidades1718
,
von denen einige die Gröβe mittlerer Städte haben. Trotz der
Urbanisierungsmaβnahmen, die seit der Gründung des Programms Favela-Barrio im
Jahr 1994 zur Integration der Favelas in die umliegenden und angrenzenden Stadtviertel
(Barrios) vorgenommen wurden, sind diese noch immer vor allem gekennzeichnet
durch Mangel.
15
Die ungleiche Verteilung von Rechten und Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen werden in Brasilien gemeinhin mit dem Konzept der cidadania (Milton Santos 1997) beschrieben. So unterscheidet Santos in cidadão mutilado (der/die verstümmelte Bürger_in), cidadão imperfeito (der/die unvollkommene Bürger_in) und não-cidadão (der/die Nicht-Bürger_in) und beschreibt dadurch verschiedene Klassen von Bürgerrechten/Bürgerschaft (cidadania), die Zugang oder Ausschluss von Rechten und Resourcen bedeuten. Ihm zufolge sind die Bewohner_innen der Favelas verstümmelte oder schlichtweg Nicht-Bürger_innen, sie sind aufgrund ihrer geografischen Herkunft schwerwiegenden Diskriminationen ausgesetzt. 16
Eigene Übersetzung der Autorin. Dieses Zitat führe ich an, weil es Ausdruck ist für die Fehlrepräsentation von Favelabewohner_innen durch verschiedene Diskurse, die wiederum als Rechtfertigung dienen für alle möglichen Arten der Interventionen. 17
Russau et al. 2013 18
Der Ausdruck comunidade (dt. Gemeinschaft, engl, community) ist wissenschaftlich gesehen kontrovers, weil er implizit etwas wie innere Homogenität, Symmetrie und Harmonie voraussetzt Die Bewohner_innen benutzen aber häufig dieses Wort, wesentlich häufiger als das Wort ,favela".Favela" klingt für sie abwertend - während die Benutzung von Ausdrücken wie comunidade und comunidade carente (arme Gemeinschaft) anscheinend die Rolle eines Schutzmechanismus spielt, d.h. ein Schutz der Würde der Menschen, die dort leben und unter Diskriminierung und Segregation leiden. Kaum ein anderer Ausdruck ist in den Favelas von Rio de Janeiro so verbreitet wie comunidade.(Souza 1995)
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3.2. Warum müssen Favelas „befriedet“ werden?
Marcelo Lopes de Souza19
zufolge ist dieser Mangel an staatlicher Präsenz in den
Favelas ein Ergebnis der kapitalitischen Ordnung, die in Lateinamerika v.a. „Armut,
räumlich-soziale Trennung und soziale Konflikte hervorbringt“ (Souza 1995). Durch
die Finanzkrise des Staates, Neoliberalisms und die Vernachlässigung der „Sozialen
Frage“ konnte ein „Macht- und Legitimitätsvakuum (in den Favelas entstehen), das die
illegale Ordung des organisierten Verbrechens beförderte“ (ebd.). Aus der Dynamik
der Segregation erwuchs in den Favelas die „Territorialisierung der
Kriminalität“(ebd.):
„In Abwesenheit von öffentlichen Gütern und Maßnahmen zur Verbesserung der
Lebensbedingungen der Favelabewohner_innen wurde das Bestehen illegaler Praktiken
wie die "Katzen"20
der Strom-und Kabel-TV-Firmen akzeptiert. So wurde auch der
Drogenhandel zunächst als ein eweitere illegale Aktivität angenommen als der Preis,
den die Besetzer_innen bezahlen müssten, um ihre Dauerhaftigkeit zu gewährleisten.“21
Die Ausweitung des Drogengeschäfts auf die Territorien der Favelas hatte ebenfalls zur
Folge, dass sich die Favelas in „Geschlossene Gemeinschaften“ (Souza 2004:26)
verwandelten. Diese Isolation vom Rest der Stadt und von anderen Favelas
hervorgerufen durch die Konkurrenz von verschiedenen organisierten Drogenbanden
bot nicht nur den am Drogengeschäft beteiligten Menschen Schutz sondern verhinderte
eine ganze Reihe von Eingriffen in die Territorien der Favelas.22
Seit Mitte der 90er
Jahre nahm die Gewalt in Verbindung mit dem Drogenhandel in Rio de Janeiro zu, was
zu einem starken Anstieg von Polizei- und Militäreinsätzen in den Favelas führte
(Souza 2004). Die Frage der urbanen Gewalt wurde in Verbindung gesehen mit dem
Drogenhandel, der wiederum als Hauptursache der Bedrohung der öffentlichen
Sicherheit galt (Machado da Silva 2010). Doch vor allem seit der Nominierung
Brasiliens zur Austragungsstätte der Fussballweltmeisterschaften 2014 und der
Olympiade 2016, so Neiva Vieira da Cunha (2010), rückte die Sicherheitsfrage als
zentrale Aufgabe vor der Umsetzung der baulichen Stadterneuerung erneut ins Blickfeld
der Öffentlichkeit. Als Reaktion darauf wurde 2008 von Gouverneur Sergio Cabral ein
19
Ebenfalls ein Forscher im Verbund 20
Ich vermute, dass sich diese Bezeichnung auf Personen bezieht, die illegale Anschlüsse legen. Strom, Wasser und Kabelanschlüsse wurden erst nach den UPPs legalisiert, vorher mussten Favelabewohner_innen nicht dafür bezahlen, hatten aber auch kein Recht darauf. 21
Fischer 2008, zitiert nach Ost/ Fleury 2012, eigene Übersetzung der Autorin 22
U.a. wurden Dazu an späterer Stelle ausführlich mehr
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Programm zur „Befriedung“ der Favelas ins Leben gerufen, dessen Hauptelement die
polizeilich-militäriche Besetzung der Favelas durch die Unidades Pacificadoras (im
folgenden UPPs genannt) darstellt, was zwangsläufig zur Militarisierung der urbanen
Frage führt (Vieira da Cunha 2010, Machado da Silva 2010). In Anlehnung an die oben
hergeleitete Argumentation Valladares (2005) kann dieses Programm folgendermaβen
betrachtet werden: eine vor allem medial konstruierte Repräsentation der Favelas als
Horte der Gefahr für die öffentliche Sicherheit dient als Rechtfertigung für eine militäre
Langzeitintervention. Dabei löst der Diskurs der „Befriedung“ den vorhergehenden
Diskurs des „Krieges dem Verbrechen“ ab, und die Militärpolizei Special Areas
Policing Group (GPAE) wird ersetzt durch Spezialeinheiten, die dem Namen nach nicht
das Verbrechen bekämpfen sondern den Frieden bringen sollen. Repressive
Polizeipräsenz gab es schon immer in den vergangenen Jahrzehnten in den Favelas,
nicht zuletzt nachweisslich bekannt für Folter, Korruption und Zusammenarbeit mit den
Drogenhändlern (Viera da Cunha 2010). Laut einer Studie der staatlichen Universität
UFRJ erschossen Militärpolizisten zwischen 2001 und 2011 über 10.000 Menschen in
den Favelas Rio de Janeiros.23 Doch während Polizei- und Militäraktionen vorher
temporäre Aktionen (Zugriff und Rückzug) waren, die ganz offensichtlich zur negativen
Wahrnehmung der Polizei in den Favelas beitrugen, handelt es sich bei den UPPs um
dauerhafte Installationen der Einheiten in den Favelas. Bis zu den Weltmeisterschaften
sollen insgesamt 40 UPPs eingerichtet werden.24
4. Auswirkungen der UPPs in den Favelas
Die Auwirkungen der UPPS auf die Bewohner_innen sind belegtermaβen vielseitig
(vgl. Vieira da Cunha 2013, Ost/ Fleury 2012, Yutzy 2012 Machado da Silva 2012),
konzentrieren möchte ich mich im folgenden Abschnitt aber vor allem auf die
23
Zitiert nach Taz vom 07.10.2013, zuletzt gesichtet am 02.01.2014 24
Kritisch bemerkt werden muss allerdings, dass die Installation der UPPs in der Innetstadt zwar zu einem Rückgang der Gewalt in den besetzten Favelas führte, jedoch die Gewalt in anderen Favelas u.a. im Norden der Stadt, wo weder UPPs noch andere Sanierungsmassnahmen durchgeführt wurden, dadurch drastisch zunahm. Die Tätigkeiten der Kartelle werden in andere Regionen der Stadt verdängt, nicht unterbunden (Viera da Cunha 2010). Ebenfall problematich und paradox ist, dass sich die Polizeigewalt gegen den illegalen Endmarkt wendet, nicht jedoch gegen den internationalen Handel und die groβen „Manager“des Geschäfts (vgl. Marcelo Lopes de Souza 1995, 2004)
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sozialräumlichen Transformationen, die durch die Besetzung der Favelas hervorgerufen
wurden:
"Früher erwähnte man das Wort “Favela” und die Menschen dachten an
Drogenhandel, Maschinengewehre, Granaten und Entführungen. Heute sage ich Favela
und sie denken an die Befriedung und an gute Immobiliengeschäfte“25
4.1. Das Fallbeispiel Santa Marta
Foto: Steffi Müller, Santa Marta März 2012
Santa Marta wurde im Dezember 2008 als erste Favela und somit als Pilotprojekt in Rio
de Janeiro durch die UPP-Einheiten besetzt26
. Da diese Besetzung ohne Todesopfer
stattfand27
, wurde sie als erfolgreich gefeiert und das UPP-Projekt auf weitere Favelas
ausgeweitet (Cunha 2010). Santa Marta gilt als kleine Modell-Favela für das UPP-
Programm und die Auswirkungen der „Pazifizierung“ durch die Besetzung sind bereits
Gegentand von einigen Forschungsarbeiten geworden, auf die ich hier zurückgreifen
kann (vgl. Cunha 2013, Ost/ Fleury 2012, Yutzy 2012)28
.
25
Anderson Ramos, Immobilienhändler der Agentur VGD, die erste in der Favela Vigidal, zitiert nach Foxnews vom 14.1.2013 26
http://www.upprj.com/index.php/informacao/informacao-selecionado/ficha-tecnica-upp-santa-marta/Santa%20Marta, zuletzt gesichtet am 01.02.2014 27
Nicht alle Besetzungen fanden ohne Todesopfer statt: bei der Besetzung des Quitanda Costa Barros im Juli 2012 kam ein 10 Jähriges Mädchen im Kugelhagel um. Financial Times vom 02.11.12.. 28
Hinsichtlich der Gentrificationprozesse sind die Texte zwar aufschlussreich, befassen sich aber nicht explizit damit. .
Vom Favela-Effekt zum UPP-Effekt? Steffi Müller 2014
14
Santa Marta liegt im Stadtteil Botafogo in der Zona Sul (Südzone) der Stadt, unweit der
Touristenzentren Ipanema und Copacabana. In Santa Marta wohnen momentan ca. 7000
Bewohner_innen in ca. 1000 Wohneinheiten29
. Der Anteil an Eigentum im Vergleich zu
Mietwohnungen ist in Santa Marta überdurchschnittlich hoch30
. Dies bedeutet, dass die
Bewohner_innen zu einem groβen Teil bereits in der dritten oder vierten Generation seit
der Gründung der Favela in den 1940er Jahren dort leben und sowohl Arbeit als auch
Einkommen ebensovieler Generationen in die Häuser investiert haben 31
4.1.1. Veränderungen in Infratruktur und auf räumlicher Ebene: Bebauung und
Abriss
Direkt nach Besetzung der Favela wurde eine Tram mit insgesamt 8 Stationen am
Rande der Favela gebaut, die nun von den Bewohner_innen und den ca. 3000 Touristen
monatlich gemeinsam benutzt wird. Die Einrichtung der Bonde, wie sie genannt wird,
ist eine bedeutende Investition in die Infrastruktur der Favela, wo der obere Teil bisher
nur über insgesamt 800 Treppenstufen zu erreichen war. Für den Bau der Tram wurden
sowohl Häuser abgerissen als auch Bewohner_innen in weit entfernte Neubauiedlungen
umgesiedelt (vgl Yutzy 2012:141).
Eine weitere bedeutende Investition in Infrastruktur wurde durch das Programm PAC
(Growth Acceleration Program) initiirt, wodurch Wasser- und Stromanschlüsse in der
Comunidade legalisiert und modernisiert wurden (Ost/ Fleury 2012)
Stark umstritten jedoch ist die Einrichtung einer Risikozone, die die Stadtverwaltung im
obersten Teil von Santa Marta etabliert hat. Die dort lebenden Bewohner_innen sollen
ihre Häuser ebenfalls aufgeben und umsiedeln, da sie angeblich in einer durch Erdrutsch
bedrohten Zone leben. Auf diese Weise soll die Favela in einem Jahr um sieben Prozent
verkleinert werden, so die offzielle Stadtplanungtrategie 2013-201632
. Um die
Bewohner_innen unter Druck zu setzen, wurden ihnen jegliche Reparaturen an ihren
29
IBGE Census 2010 30
Anabela Paiva in www.Rioonwatch.org Dezember 2013, zuletzt gesichtet am 01.02.2014 31
Vgl. Deutschlandfunkt Beitrag vom 10.12.2012, zuletzt gesichtet am 01.02.2014 32
Zitiert nach http://rioonwatch.org/?p=11410, zuletzt gesichtet am 01.02.2014
Vom Favela-Effekt zum UPP-Effekt? Steffi Müller 2014
15
Häusern verboten, auch Modernisierung der Infratruktur wie z.B. Wege dürfen nicht
mehr vorgenommen werden.33
.
4.1.2. Veränderungen auf Sozio-ökonomischer Ebene
Eine wesentliche Veränderung hervorgerufen durch die UPP-Besetzung ist die
Formalisierung verschiedener Kommune-Services wie z.B. Wasser, Strom und Kabel-
TV. Diese Services sind nun kostenpflichtig und werden den Bewohner_innen in
gleicher Weise in Rechnung gestellt wie in urbanisierten Teilen der Stadt, obwohl die
Bewohner_innen nicht in gleicher Weise über Einkommen verfügen, um sich die
vergleichsweise teuren Services zu leisten.
Den Daten von Sebrae (Serviço Brasileiro de Apoio às Micro e Pequenas Empresas)
zufolge sind 97% der Geschäfte in den Favelas informel, doch seit der Besetzung durch
die UPPs sind die ambulanten Verkäufer_innen und ihre Straβengeschäfte akut von
Räumung bedroht. Bisher kämpft der lokale Handelsverband Santa Marta ergebnislos
um das Bleiberecht durch Legalisierung (Ost/ Fleury 2012).
Auf der anderen Seite siedelten sich nach der Besetzung andere Geschäfte an, wie das
2010 eröffnete Praça Cantão, ein Elektronikfachgeschäft, sowie eine Bankfiliale der
Bradesco-Bank (Ost/ Fleury 2012).
Auch die Tatsache, dass Santa Marta immer mehr ein touristisches Ziel34
darstellt, trägt
nicht nur dazu bei, dass die ansässigen Geschäfte und Händler davon profitierten.
Vielmehr findet eine Restrukturierung des Marktes statt zugunsten der Geschäfte, die
sich an Touristen wenden und zu ungunsten der Geschäfte, die auf die Bevölkerung der
Favela als Konsument_innen abzielen (Ost/ Fleury 2012).
Die sicherlich einschneidenste Veränderung in Santa Marta sind die immens steigenden
Preise für Immobilien, aber auch der Mieten. Der staatlichen Wohnungsagentur
SECOVI RIO zufolge stiegen die Immobilienpreise innerhalb der ersten drei Tage nach
der Besetzung um 50 %. Insgesamt stiegen die Immobilienpreise innerhalb der letzten
33
Ebd. 34
u.a. initiert von der staatlichen Argentur RioTopTours. Sehr ausführlich beschäftigt sich Bianca Freire-Medeiros u.a. 2009 und 2010 mit der Touristification und ihrer Auswirkung auf die Favelas
Vom Favela-Effekt zum UPP-Effekt? Steffi Müller 2014
16
vier Jahre seit der Besetzung um ca. 140%35
im Vergleich zu insgesamt 33% in den vier
Jahren vor der Besetzung.
Auch die Mietspreise stiegen enorm: in den oberen Teilen der Favela um
durchschnittlich 135% und im unteren Teil der Favela um 74% (Ost/ Fleury 2012).
Grund für die steigenden Preise ist die steigende Nachfrage an Wohnraum in der Favela
durch Personen mit höherem ökonomischen Kapital. Favelabewohner_innen, die vorher
an andere Familien aus der Favela oder Hinzugezogene aus dem armen Nordosten
Brasiliens vermieteten, vermieten nunmehr temporär an Touristen um so ein
Einkommen zu generieren (Ost/ Fleury 2012). Diese Preissteigerungen müssen
allerdings vor dem Hintergund betrachtet werden, dass die Immobilienpreise in den
Favelas bislang niedrig waren im Vergleich zum Rest der Stadt, nur hier konnten
Menschen mit sehr geringem ökonomischem Kapital in Ermangelung von
ausreichenden staatlichen Sozialwohnbauprogrammen zu einem erschwinglichen Preis
leben. Neri et al. (2012) nennt dieses Phänomen der vergleichsweise niedrigeren
Immobilienpreise und Mietspreise den “Favela-Effekt”36
. Williams nennt es, wie
eingangs erwähnt, einen autonom organisierten Ersatz für Sozialbauwohnungen (Pavia
2013).
35
Zitiert nach Financial Times UK vom 13.09.2013, zuletzt gesichtet am 01.02.2014 36
Auf diesen speziellen Effekt gehe ich im Kapitel zu Rocinha genauer ein.
Vom Favela-Effekt zum UPP-Effekt? Steffi Müller 2014
17
Karte von Charles Heck, RioOnWatch 2013, Prozentuale Angaben des Anteils an Mietwohnungen in
Santa Marta (und rechts links unten Rocinha)
Abschliessend kann zusammengefasst werden, dass die Lebenserhaltungkosten durch
die Formalisierung der Services sowie der Konkurrenz auf dem Wohnungsmarkt stark
gestiegen sind, ohne dass es Anzeichen dafür gäbe, dass die Gehälter der
Bewohner_innen oder die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt äquivalent gestiegen
wären (Ost/ Fleury 2012, Yutzy 2012).
4.1.3. Veränderungen sozialer Indikatoren
Den Daten des Sekretariats für Öffentliche Sicherheit zufolge stieg die Einschulungsrate
in den besetzen Favelas um insgesamt 40% an, genaue Daten für Santa Marta liegen
nicht vor (Cunha 2012). Auch hinsichtlich der Veränderungen der gesundheitlichen
Erwartungen post-UPP wird momentan geforscht37
. Bisher ist bekannt, dass die
staatlich forcierten Abriss- und Umsiedlungsmaβnahmen die gröβten gesundheitlichen
Risiken hervorrufen: Bluthochdruck, Schlaganfall, Depressionen und sogar Selbstmorde
wurden vorgefunden.
4.2. Das Fallbeispiel Rocinha
„Rocinha ist in einigen Apekten das Gegenteil von Rio de Janeiro.“
(Neri et al. 2012: 43)
Rocinha gilt als die grösste Favela Brasiliens und ist ebenso wie Santa Marta gelegen
im Innenstadtbereich der Zona Zul im Stadtteil Gavea. Doch in vielerlei Hinsicht
unterscheiden sich die beiden Favelas deutlich voneinander. Um so interessanter ist die
Frage, ob oben genannte Transformationen, wie sie in Santa Marta stattfinden, auch in
Rocinha beobachtet werden können.
37
Marcelo Firpo de Souza Porto und Marize Bastos da Cunha, bisher unveröffentlichte Studie. Informationen daraus zitiert nach Journal do Brasil, 15.12.13, zuletzt gesichtet am 01.02.2014
Vom Favela-Effekt zum UPP-Effekt? Steffi Müller 2014
18
In den 80er Jahren vermutete man in Rocinha ca. 200.000 Bewohner_innen, der Census
von 2000 ergab allerdings „nur“ eine Bewohner_innenzahl von ca. 70.00038
. Rocinha
wurde erst drei Jahre nach Santa Marta besetzt, im Dezember 2011. Seine Bevöklerung
ist im Vergleich zu der Santa Martas und auch anderen Favelas extrem jung39
, der
Altersdurchschnitt liegt bei 28 Jahren. Der Anteil von Kindern unter 14 Jahren liegt bei
25% und der Anteil von jungen Erwachsenen bis 33 Jahren bei knapp 40 % (Vgl Neri et
al 2011:10). In Rocinha leben mehr als 13% der Familien mit mehreren Familien
zusammen, während nur 34% der Häuser mehr als drei Zimmer aufweisen. Im Kontrast
dazu weisen ganze 62% der Häuser nur ein Zimmer neben Küche und Bad auf. Folglich
sind die Immobilieneinheiten in Rocinha kleiner als in anderen Favelas.
4.2.1. Veränderungen in Infratruktur und auf räumlicher Ebene
Auch in Rocinha wurden Investitionen der PAC-Programms realisiert, u.a. zur
Konstruktion von Wassertanks zur Trinkwasserversorgung. Doch Aufgrund mangelnder
Transparenz und Problemen in der fortlaufenden technischen Betreuung der Anlagen,
sind diese auβer Betrieb, also nutzlos (Vgl. Bastos da Cunha zitiert nach Freitas 2013).
Nur 21,2% der Bevölkerung in Rocinha ist an die zentrale Wasserversorgung des
Gebietes angeschlossen.
Ähnlich wie in Santa Marta soll in Rocinha der Bau einer Seilbahn zur Mobilität der
Bewohner_innen (und Tourist_innen) beitragen, doch Bewohner_innenorganisationen
protestierten bislang erfolgreich gegen das Bauprojekt. Ihre Kritik am Projekt ist, dass
eine Seilbahn nicht der Logik des Gebietes folgt und somit nicht zum Transport von
Menschen beiträgt, sondern höchstens als Attraktion für Touristen dienen kann (ebd.).
Einige Prestige-Objekte sind bereits in Rocinha gebaut worden: so verfügt die Favela
seit kurzem über eine neue Bibliothek mit Plasmabildschirmen, einen Tennisplatz und
ein Sportcenter, das mit der Favela durch eine Fussgängerbrücke, erbaut von Brasiliens
Stararchiteckten Oscar Niemeyer, verbunden ist (Watts 2013).
38
nach Angaben der Stromgesellschaft Light sind es 120.000 Bewohner_innen und nach Aussagen der Bewohner_innen sogar 150.000 39
Ingesamt liegt der Altersdurchschnitt der Favelas im Schnitt 10 Jahre unter dem der urbanisierten Stadtteile (Neri et a;. 2011:10)
Vom Favela-Effekt zum UPP-Effekt? Steffi Müller 2014
19
Foto: Rocinha/ Wikipedia
Andererseits kommen trotz der Besetzung öffentliche Services noch immer nicht
flächendeckend bei den Bewohner_innen an. So ist die Abwasserentsorgung nur für
88% der Häuser gegeben, wobei knapp 7% der Entsorgung noch immer durch offene
Gräben stattfindet. Auch die Müllentsorgung erreicht nur 12,2% der Bevölkerung
währenddessen 85% der Müllentsorgung kollektiv und durch die Anstregnung der
Bewöhner_innen stattfindet. Nur 34% der Bevölkerung Rocinhas erhält die Post an
ihren Wohnort (ebd.)
4.2.2. Veränderungen auf Sozio-ökonomischer Ebene
Trotz der polizeilichen Besetzung wurden die Besitzverhältnisse bisher nur bei 65% der
Immobilien offiziell geregelt, weniger als 5% der Immobilien sind gesetzlich
verzeichnet (Neri et all. 2011:17). Dessen ungeachtet stiegen innerhalb weniger Wochen
nach der Besetzung auch die Mietspreise in der Favela um mehr als 50% angesichts der
steigenden Nachfrage nach Wohnraum durch ökonomisch privilegierte Hinzuziehende
wodurch die Konkurenz auf dem Wohnungsmarkt stetig zunimmt (Watts 2013). Eine
besondere Rolle dabei spielt auch der Tourismus, denn sogar Rocinha lässt sich
touristisch vermarkten.
Da in Rocinha die grosse Mehrheit von 85% in Mietswohnungen lebt (Neri et all.
2011:17), ist der Anstieg von Mietspreisen um so dramatischer. Besonders hervorheben
Vom Favela-Effekt zum UPP-Effekt? Steffi Müller 2014
20
möchte ich an dieser Stelle noch einmal die Fallstudie von Neri et all (2011:31), der den
Wert von Immobilien in Rocinha vor der Besetzung mit einer gleich ausgestatteten
Immobilie auβerhalb der Favela verglich und so zu dem Ergebnis kam, dass Immobilien
in den Favelas grundsätzlich um 25% günstiger seien als im Rest der Stadt. Diesen
Effekt nennen Neri et all. (2011:31) den bereits erwähnten Favela-Effekt. Darüber
hinaus konnten die Forscher_innen feststellen, dass die Immobilienpreise in Rocinha
nach der Besetzung durch die UPP-Einheiten im Durchschnitt um 7% mehr als im Rest
der Stadt stiegen (ebd.). Diesen Effekt nennen Neri et all. (2011) den UPP-Effekt.
Zusammengerechnet mit der Aufwertung der Immobilien im gesamten Stadtraum von
14,7% liegt die Wertsteigerung der Immobilien in Rocinha bei mehr als 20%.
Besondere Beachtung muss hier den Immobilienmaklern geschenkt werden. Ähnlich
wie in Santa Marta spielen sie eine besondere Rolle bei der Aquise und der
gewinnbringenden Weitervermietung oder Verkauf von Wohnraum in den Favelas40
.
4.2.3. Veränderungen sozialer Indikatoren
Oliveiro (2013) zufolge sanken die Indikatoren für Tuberkulose in den Straβenzügen,
die bereits in den Genuss der PAC-Modernisierung kamen immens, doch insgesamt gibt
es im Rocinha noch immer ein höheres Vorkommen an Tuberkulosefällen als im
nationalen Durchschitt.
5. Disskussion
Kommen wir noch einemal auf die ursprüngliche Frage zurück: sind Favelas
gentrificationgefährdete Gebiete? Oder findet Gentrification sogar schon statt? Um
diese Fragen zu klären, möchte ich nun die oben angeführten Angaben zu den
Veränderungen in Santa Marta und Rocinha anhand des Modells von Gentrification wie
es Contested_Cities entwickelt hat, diskutieren.
40
Vgl. Francesa Steele in Financial Times 13.09.2013 , FoxNews 14.01.2013, Jonathan Watts, The Guardian 23.01.2013, zuletzt gesichtet am 01.02.2014
Vom Favela-Effekt zum UPP-Effekt? Steffi Müller 2014
21
Doch zunächst einige grundlegenden Beobachtungen vorab: mit dem Projekt der
„Pazifizierung“ und der Besetzung der Favelas durch die UPP-Einheiten hat sich der
Staat einen Zugang zu einem Territorium geschaffen, das lange Zeit isoliert war. Nun ist
der Staat präsent in den Favelas und kann somit eine grundlegende Aufgabe erfüllen:
die Garantie von Eigentum durch das zurückeroberte Monopol der Staats- und
Gesetzesmacht. Während Informalität und Illegalität eine unterirische Ökonomie in den
Favelas schufen (Neri et all. 2011), abseits des offiziellen Marktes und vor allem an den
Staatskassen vorbei (wesentlich beispielsweise in Hinsicht auf Steuereinnahmen etc.),
findet nun eine Annährung an den Staat als Garant der Sicherheit sowie als Garant von
Eigentumsrechten statt. Während die Territorialisierung der Kriminalität (Souza 1995)
die Favelas zu geschlossenen Gemeinschaften formte, die die Comunidades vor dem
Eindringen von Investitionen und Modernisierung oder der Formalisierung öffentlicher
Services schützten, verursachte die Pazifizierung41
eine ökonomische Öffung der
Favelas. Der Weg für private Investitionen war in Santa Marta nach Dezember 2008, in
Rocinha nach Dezember 2011 frei. Rufen wir uns also noch einmal die Stufen des
Modells von Gentrification vor Augen, auf das ich mich berufe. Als erste
Voraussetzung für Gentrification benennen Janochka et al., die „Reinvestition von
Kapital in einem definierten Raum und ein entsprechender Anstieg des Bodenwerts in
diesem Raum oder angrenzenden Gebieten“. In Santa Marta wurden sowohl private als
auch staatliche Investitionen u.a. in Infrastruktur, Mobilität und Verschönerung getätigt.
Auch in Rocinha wurde von privater und staatlicher Seite investiert, jedoch in einem
kürzeren Zeitraum als in Santa Marta. Vor allem dem Bevölkerungsreichtum Rocinhas
geschuldet, sind die Investitionen dort weniger sichtbar und effizient, wohingegen die
Investitionen in der kleinen Modell-Favela Santa Marta bei geringerem
Investitionsaufwand viel eher zu sichtbaren Ergebnissen führten. Des weiteren stiegen
sowohl die Mieten als auch die Immobilienpreise in Santa Marta und Rocinha, wodurch
das erste Merkmal als erfüllt gelten kann.
Das zweite Merkmal bezieht sich auf die Neuankömmlinge und beschreibt die „Ankunft
von Akteuren mit einem grösseren Zahlungpotential als die etablierte Bevölkerung in
diesem Raum oder in angrenzenden Gebieten“. Für Santa Marta trifft dies ebenfalls zu,
41
oder auch Reconquista (Zurückeroberung), wie sie in von u.a. Cunha 2011 genannt wird
Vom Favela-Effekt zum UPP-Effekt? Steffi Müller 2014
22
vor allem in Hinsicht auf die Ankunft von Touristen. Auch die über Nacht in die Höhe
geschnellten Miets- und Immobilienpreise geben Auskunft darüber, dass neue,
finanziell besser gestellte Aktuere in der Favela ankommen. Dasselbe gilt auch für
Rocinha, gleichwohl der Effekt dort durch die Gröβe der Favela weniger auffällt. Nichts
desto trotz liefern auch in Rocinha die gestiegenen Miets- und Eigentumspreise (UPP-
Effekt!) Hinweise für die Ankunft neuer Akteure. Eine verstärkte Frequentierung von
Rocinha durch Touristen ist sogar ein Ziel der Stadtverwaltung, was aus dem Plan zum
Bau einer Gondel geschluβfolgert werden kann.42
Das letzte Merkmal ist sicherlich am komplexesten und betrifft die Veränderungen der
Aktivitäten und in der Stadtlandschaft im betreffenden Stadtgebiet hervorgerufen und
kontrolliert durch die hinzugezogene Bevölkererungsgruppe.43
In Santa Marta sprechen
gleich mehrere Tatsachen für die Erfüllung dieses letzten Merkmales. Zunächst einmal
können die neu etablierten Geschäfte sowie die Bankfiliale als neue Aktivitäten
gewertet werden, die durch die neuen Akteure bestimmt werden. Des weiteren kann
auch die Vermietung an Touristen und die Neuausrichtung von ansässigen Geschäften
auf Touristen, wie es in Kapitel 4.1.2. beschrieben ist, als solch eine Veränderung der
Aktivitäten gewertet werden. In Anbetracht der Tatsache, dass staatliche Services und
Regulationen, im Endeffekt der Staat selbst ein neuer Akteur in Santa Marta ist, so kann
auch die Unterwerfung der ambulaten Händler und informellen Geschäfte unter
staatliche Kontrolle als Aktivität neuer Akteure eingeschätzt werden. Gleiches gilt für
die Formalisierung staatlicher sowie privater Services wie Kabel-TV.
Schlieβlich ist das, was in Santa Marta beobachtet werden kann, nichts anderes als eine
Invasion der Mittelklasse und eine Kommodifizierung ihrer sozialen Räumen (Ost/
Fleury 2012), die mit einer Ausweitung des offiziellen, staatlich geregelten Marktes in
die Favela hinein und daraus folgenden Einschränkung für ihre Bewohner_innen in
Verbindung gebracht werden kann. So sehen es auch die Bewohnet_innen von Santa
Marta, die sich gegen ihre Vertreibung aus ihrem Wohn- und Lebensraum wehren. „A
explusão branca“, die weiβe Vertreibung, so nennen sie den Prozess, den man nun mit
Sicherheit Gentrification nennen kann.
42
Ein Plan der im Complexo Alemão, wo bereits eine Gondel eingerichtet wurde, aufging. Mittlerwile benutzten mehr Touristen die Gondel in der Favela als die Gondel zum Zuckerhut (Viva Favela) 43
Red Cidades en Disputa 2013, eigene Übersetzung der Autorin
Vom Favela-Effekt zum UPP-Effekt? Steffi Müller 2014
23
Foto: by Kate Streiker-Ginberg. Auf dem Graffiti ist zu lesen: Die „weiβe“Vertreibung: Favela Model wofür?
In Rocinha hingegen scheint der Prozess noch nicht so weit fortgeschritten zu sein.
Zumindest ist es zum jetzigen Zeitpunkt nicht ersichtlich, dass eine Neuausrichtung der
Aktivitäten durch neue Akteure in einem Maβe stattfindet, die das Leben in Rocinha so
verändern würde wie in Santa Marta. Die Mittelschicht ist dort eben noch nicht
angekommen – oder nur teilweise. Doch angesichts der Immobilienaktivitäten, die auch
Rocinha erfasst haben, scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis die so günstig in
der Nähe der Luxusviertel gelegene Favela ebenfalls von der „weiβen Vertreibung“
oder - wie man es auch nennen kann- von Gentrification befallen sein wird. Die Folgen
hiervon wären in Rocinha noch verheerender, da ihre Bewohner_innen über noch
weniger ökonomisches Kapital verfügen als in Santa Marta.
Besonders gefährdet durch Vertreibung sind die Bewohner_innen der beiden Favelas in
Hinblick auf ihre gesamte soziale Situation und Sicherheit. Abramo (2003) zufolge liegt
eine sozio-ökonomische Besonderheit der Favelas darin, dass ihre Bewohner_innen
mehr denn je auf die Netze ihrer sozialen Beziehungen angewiesen sind, um
beispielsweise Arbeit zu finden:
„Folglich ist die Nähe (zur Arbeit) nicht nur eine geografische Gegebenheit sondern sie
reproduziert sich sozial aus einer Reihe von interaktiven Beziehungen zwischen
Einzelpersonen, Familien, Gruppen etc. Organisierte Nähe erfordert daher eine
"soziale Unterstützung", die Beziehungen als Mediation von Interessen, Konflikten,
Gegenseitigkeit, Vertrauen, usw mobilisiert. In der Tat finden sich in den Favelas eine
Vielzahl von "organisierter Nähe", die die Reproduktion von wirtschaftlichen
Beziehungen und Wohnerhältnissen erklären.44
44
Abramo 2003, eigene Übersetzung der Autorin
Vom Favela-Effekt zum UPP-Effekt? Steffi Müller 2014
24
Das angeführte Zitat erklärt auch die erhöhte Selbstmordrate bei Menschen, die
aufgrund von Baumaβnahmen aus ihren Häusern vertrieben wurden (siehe Kapitel
4.1.3). So wurden sie nicht nur ihrer Häuser enteignet sondern ihrer gesamten
Lebensgrundlage und sozialen Beziehungen.
Die Tatsache der Enteignungen, ob durch Baumaβnahmen oder die Einrichtung der
Risiko-Zone, sei es durch steigende Mieten oder Immobilienpreise liefert uns einen
weiteren Hinweis auf das, was David Harvey (2004 und 2008) die Akkumulation durch
Enteignung nennt, was für Contested_Cities ein zentraler Vorgang im Prozess der
Gentrification darstellt. Ich möchte an letzter Stelle argumentieren, dass die Besetzung
der Favelas durch die UPP-Einheiten einer solchen (staatlichen) Enteignungsstrategie
entspricht, die es wiederum erst ermöglicht hat, dass privater Besitz, beispielsweise der
Surplus bei Verkauf oder Vermietung, durch neue Akteure akkumuliert werden kann, da
sich der Staat in seiner Ordungsfunktion nun als Garant von Eigentum wieder installiert
hat. Die Besetzung der Favelas folgte einer langen Phase der Stigmatisierung und
Fehlrepräsentationen der Favelas und ihrer Bewohner_innen als Horte der Unsicherheit
und Kriminalität (Valladares 2005) und brachte bewiesener Maβen nicht nur und nicht
an allen Ort Frieden sondern die ungeschützte Öffnung der Favelas für neue Akteure
und die Ausweitung der Märkte.
6. Fazit
In der vorliegenden Arbeit habe ich den Versuch unternommen, ein bereits dezentriertes
Modell von Gentrification, herausgearbeitet durch das internationale Forschungsprojekt
Contested_Cities, auf die sozialräumlichen Transformationen in den Favelas Rocinha
und Santa Marta in Rio de Janeiro zu übertragen um zu analysieren, inwieweit die
genannten Favelas bereits gentrifiziert oder von Gentrification bedroht sind.
Analog zu einigen brasilianischen Aktivist_innen, die in der Pazifizierung einen trigger
für Gentrification sehen45
, komme ich zum Schluss, dass die Transformationsprozesse
maβgeblich initiirt wurden durch das staatliche Eindringen in Form der territorialen
Aneigung der Favelas durch die Sondereinheiten der UPP. Infolge der Besetzung kann
45
Vgl Teresa Williams, Direktorin der NGO CatCom.org in einem Interview des The Guardian vom 17.01.2014, zuletzt gesichtet am
Vom Favela-Effekt zum UPP-Effekt? Steffi Müller 2014
25
sich der offizielle Markt in der Favela ausbreiten und den öffentlichen Raum sowie
soziale Netzwerke kommodifizieren, ganz zum Nachteil der bisherigen
Bewohner_innen. Zwar sind graduelle Unterschiede der Prozesse in Santa Marta und
Rocinha zu verzeichnen, doch diese relativieren sich zum einen aufgrund der
unterschiedlichen Gröβe und zum anderen aufgrund der unterschiedlichen Zeitspannen,
die seit den Besetzungen vergangen sind. Bleibt zu hoffen, dass der hohe Grad an
nachbarschaftlicher und politischer Organisation es den Bewohner_innen der Favelas
dabei hilft, einer solchen Akkumulation durch Enteignung die eigenen Interessen
entgegenzusetzen. Die bisherige Verhinderung der Gondel in Rocinha scheint ein
positives Beispiel dafür zu sein.
Abchliessend möchte ich zurückkommen von der Empirie der Fallstudie auf die Theorie
der Gentrification. Welche neuen Impulse für die hiesige Gentrificationdebatte kann die
Theorie aus Lateinamerika liefern? Allem vorangestellt sei der Anspruch von
Contested_Cities, die Gentrificationdebatte zu repolitisieren. Folglich schlieβen sie
positive Effekte von Gentrification (Red Ciudades en Disputa 2013) von vorn herein aus
und wenden sie sich somit gegen eine Deutung des Prozesses, die es erlauben würde,
die Verdrängung oder Vertreibung, schlieβlich die Enteignung von Menschen mit
geringerem ökonomischem Kapital in irgend einer Weise zu rechtfertigen oder gar zu
beschönigen. Der entpolitisierten Debatte um Gentrification den Kampf anzusagen,
halte ich für einen beachtenswerten Beitrag.