Subalterne Orthodoxie in Süditalien Über die Feldforschung in den Gemeinden der Italoalbaner...

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Subalterne Orthodoxie in Süditalien Über die Feldforschung in den Gemeinden der Italoalbaner (Arbëresh) und Italogriechen (Grikoi) Oliver Gerlach Juli 2015 Zusammenfassung Von einem nationalen Standpunkt betrachtet wurde die Kultur der Italoalbaner und Italogriechen als ,,linguistische Minderheit“ marginalisiert und aufgegeben – mit dem Ergebnis, dass ihre Sprachen nicht mehr an den Schulen unterrichtet werden. Musik hatte immer eine Schlüsselrolle in den Gemeinden gespielt und die besondere Verbindung aus Musik und dem Klang dieser Sprache verfehlt niemals seine Wirkung, unabhängig davon, ob sie verstanden wird. Sie begleitet die Italogriechen und Italoalbaner durch den Zyklus des Lebens, zu bedeutenden Festen, während des Karneval, zu Hochzeiten und Beerdigungen. In dieser Einführung möchte ich die reiche Kultur der ländlichen Musiktraditionen Süditaliens von einer anderen Seite betrachten, indem ich sie mit denen der Nachbargemeinden vergleiche, wo es auch Tarantelle und Kalimere gibt, obwohl der Dialekt nicht mit Balkansprachen vermischt ist und ihre Gemeinden keinen orthodoxen Hintergrund haben, die den mysteriösen ,,Süden“ (in der anthropologischen Schule Italiens kurz “Il Sud” genannt) einst dominiert haben. Auf diese Weise lassen sich die Formen entdecken, die die Gemeinden der Arbëresh gegenüber anderen auszeichnen, die vallje und ajrët und eine besondere Form des mehrstimmingen Musizierens, die von Musikethnologen als Weltkulturerbe des Balkan und Italiens anerkannt wird. Mit «Cristo è fermato a Eboli» markierte der Kommunist und Maler Carlo Levi gegen Ende des zweiten Weltkriegs die Grenze innerhalb Italiens, hinter der die westliche urbane Welt nicht mehr existierte. 1 ,,Süditalien“ (il Mezzogiorno), das jenseits dieser Grenze lag, wurde von Ethnologen wie Ernesto De Martino kurz “Il Sud” genannt. 2 Hier lebten die Menschen in unvorstellbarer Armut, in Höhlen (wie den Sassi von Matera), sie litten unter abergläubischen Zwangsvorstellungen (Sud e Magia) und vor allen Dingen, sie vermischten die lokalen Dialekte mit Balkansprachen wie Griechisch und Albanisch – Sprachen, die sich über Jahrhunderte in einer sonderbaren Aussprache erhalten hatten, die den Bewohner östlich der Adria nicht mehr geläufig war, wenngleich sie die Worte besser verstehen konnten als die Anthropologen der 1950er Jahre, die im Rahmen einer humanitären Expedition gekommen waren, um den Menschen in ihrem Existenzkampf zu unterstützen. Heute, wo die Hoffnungen sich nicht erfüllt haben, dass die Industrialisierung die ,,rückständige“ Gesellschaft des Südens modernisiert, wo die Kommunistische Partei den Moment nicht überlebt hat, in dem ihre Funktionäre die Sprache des Volkes endlich gelernt haben, wendet 1 Levi, Carlo. Cristo si è fermato a Eboli. Roma: G. Einaudi, 1945. 2 De Martino, Ernesto. Il mondo magico: prolegomeni a una storia del magismo. Rist. Saggi: Storia, filosofia e scienze sociali. Torino: Bollati Boringhieri, 1973. 1

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Subalterne Orthodoxie in Süditalien Über die Feldforschung in den Gemeinden

der Italoalbaner (Arbëresh) und Italogriechen (Grikoi)

Oliver Gerlach

Juli 2015

Zusammenfassung

Von einem nationalen Standpunkt betrachtet wurde die Kultur der Italoalbaner und Italogriechen als ,,linguistische Minderheit“ marginalisiert und aufgegeben – mit dem Ergebnis, dass ihre Sprachen nicht mehr an den Schulen unterrichtet werden. Musik hatte immer eine Schlüsselrolle in den Gemeinden gespielt und die besondere Verbindung aus Musik und dem Klang dieser Sprache verfehlt niemals seine Wirkung, unabhängig davon, ob sie verstanden wird. Sie begleitet die Italogriechen und Italoalbaner durch den Zyklus des Lebens, zu bedeutenden Festen, während des Karneval, zu Hochzeiten und Beerdigungen. In dieser Einführung möchte ich die reiche Kultur der ländlichen Musiktraditionen Süditaliens von einer anderen Seite betrachten, indem ich sie mit denen der Nachbargemeinden vergleiche, wo es auch Tarantelle und Kalimere gibt, obwohl der Dialekt nicht mit Balkansprachen vermischt ist und ihre Gemeinden keinen orthodoxen Hintergrund haben, die den mysteriösen ,,Süden“ (in der anthropologischen Schule Italiens kurz “Il Sud” genannt) einst dominiert haben. Auf diese Weise lassen sich die Formen entdecken, die die Gemeinden der Arbëresh gegenüber anderen auszeichnen, die vallje und ajrët und eine besondere Form des mehrstimmingen Musizierens, die von Musikethnologen als Weltkulturerbe des Balkan und Italiens anerkannt wird.

Mit «Cristo è fermato a Eboli» markierte der Kommunist und Maler Carlo Levi gegen Ende des zweiten Weltkriegs die Grenze innerhalb Italiens, hinter der die westliche urbane Welt nicht mehr existierte.1 ,,Süditalien“ (il Mezzogiorno), das jenseits dieser Grenze lag, wurde von Ethnologen wie Ernesto De Martino kurz “Il Sud” genannt.2 Hier lebten die Menschen in unvorstellbarer Armut, in Höhlen (wie den Sassi von Matera), sie litten unter abergläubischen Zwangsvorstellungen (Sud e Magia) und vor allen Dingen, sie vermischten die lokalen Dialekte mit Balkansprachen wie Griechisch und Albanisch – Sprachen, die sich über Jahrhunderte in einer sonderbaren Aussprache erhalten hatten, die den Bewohner östlich der Adria nicht mehr geläufig war, wenngleich sie die Worte besser verstehen konnten als die Anthropologen der 1950er Jahre, die im Rahmen einer humanitären Expedition gekommen waren, um den Menschen in ihrem Existenzkampf zu unterstützen.

Heute, wo die Hoffnungen sich nicht erfüllt haben, dass die Industrialisierung die ,,rückständige“ Gesellschaft des Südens modernisiert, wo die Kommunistische Partei den Moment nicht überlebt hat, in dem ihre Funktionäre die Sprache des Volkes endlich gelernt haben, wendet

1 Levi, Carlo. Cristo si è fermato a Eboli. Roma: G. Einaudi, 1945.2 De Martino, Ernesto. Il mondo magico: prolegomeni a una storia del magismo. Rist. Saggi: Storia, filosofia e

scienze sociali. Torino: Bollati Boringhieri, 1973.

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sich die ,,moderne“ Zivilisation ab, indem sie entscheidet, dass Lehrinhalte nur noch für die Mehrheit bestimmt sind. Der Unterricht in den lokalen Dialekten wurde ersatzlos gestrichen und ihre Lehrer verloren ihre Arbeit, die bis dahin als solche respektiert wurde.3

Abb. 1: Die Gruppe Shpirti Arbëresh aus Cerzeto4

1. Zur Geschichte des griechischen Ritus Der ,,griechische Ritus“ taucht genau dort auf, wo die katholische Kirche dazu angehalten

war, orthodoxe Gemeinden zu verwalten. Dies geschah nicht vor 1059, als Papst Nikolaus II. die normannischen Fürsten Richard von Aversa und Robert Guiscard in ihrer Herrschaft anerkannte. Im Gegenzug verlangte er die Anerkennung des päpstlichen Primats in Italien, insoweit es um die Verwaltung der Kirchenprovinzen ging. Als päpstlicher Vasall wurde Robert beauftragt, das Taifa-Königreich Sizilien zu erobern. Die Eroberungen der Normannen bedeutete in der Praxis nicht nur die Übernahme des Königreich Siziliens, sondern sie beendeten auch das byzantinische Katepanat Italien, deren drei oder zwei Themata bis dahin von Bari aus regiert wurden.5 Obwohl die

3 Damit verletzt der Staat seinen elementaren Auftrag, den er mit der offiziellen Anerkennung der italogriechischen und italoalbanischen Dialekte als ,,Weltkulturerbe“ (patrimonio mondiale) erteilt bekam.

4 Aufnahme der Gruppe in San Benedetto Ullano (28. Dezember 2014): http://ensembleison.de/calabria/ajer.mp3.5 Die Frage, wie das Katepanat in Bari seine Macht nach außen repräsentierte, ist deshalb so schwer zu beantworten,

da einerseits wenig Spuren geblieben sind, die vor die Normannenherrschaft datieren (also auch keine Kirche und nicht der Hof des Katepans, der ziemlich bald der Basilica weichen musste, mit der die Krypta mit den gestohlenen Reliquien des Heiligen Nikolaos überbaut wurde). Andererseits war Süditalien von griechischen Anachoreten und Einsiedlern dominiert, und eine repräsentative monastische Form entwickelte sich erst mit dem Typikon des Archimandritats von Messina, das Roger II. als König von Sizilien gründete. Siehe das fünfte Kapitel über königliche und kaiserliche Gründungen (insbesondere die Bibliographie über das Typikon des ersten Archimandriten Luca) in Thomas, John, und Angela Constantinides Hero, Hrsg. Byzantine Monastic Foundation Documents: A Complete Translation of the Surviving Founder’s Typika and Testaments. 5 Bd. Dumbarton Oaks Studies 35. Washington, D.C.: Dumbarton Oaks Research Library and Collection, 2000.

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Normannen sich als Gründer und Förderer griechischer Metochia profilierten, und über die Zentren zahlreicher reformierter Archimandritate kontrollieren ließ, trug der ,,griechische Ritus“, der nun von Rom neben dem lateinischen verwaltet werden musste, die Geschichte seines endgültigen Verfalls in sich. Dies hat sich leider bis in die letzten Jahre der heutigen Zeit bewahrheitet, obwohl es im 18. Jh. eine späte Wiedergeburt gab.

Was am schwierigsten heute zu verstehen ist, dass Griechisch in Süditalien keine Minderheitensprache war, sondern dass es zahlreiche Siedlungsgebiete gibt, die zu den ältesten der Geschichte in der heutigen Wahrnehmung gehören. In den 1950er Jahren stand dieses Prestige des Panhellenismus, den totalitäre Regime gerne für die eigene Sache vereinnahmen wollten, in einem krassen Verhältnis zu den ländlichen italogriechischen Dialekten. Im Aspromonte kam noch erschwerend hinzu, dass diese Sprache der lokalen Mafia einen neuen Namen gab, so dass sie mit dem sozialen Stigma der Landarbeiter behaftet war, die für diese Familien das Land bewirtschaften mussten, fast ohne Bezahlung.6

Die griechischen Dialekte haben nur in zwei linguistischen Inseln überlebt: im Salento 50 km südlich von Lecce und im Aspromonte in wenigen Dörfern um Bova herum, von denen Gallicianò vielleicht das abgelegenste ist, das am tiefsten im Aspromonte liegt. Es hält seine Stellung durch die ungewöhnliche Aktivität seiner Bewohner. Deren orthodoxe Gemeinde wird von der orthodoxen Diözese Italien und Malta verwaltet, die bis heute direkt dem Patriarchen von Konstantinopel unterstellt ist. Obwohl kein örtlicher Papas die Gemeinde betreut, diese kommen zu wichtigeren Zeremonien wie Taufen und Trauungen aus Reggio Calabria, verstehen die Bewohner von Gallicianò, ihr Dorf zum orthodoxen Zentrum dieser Sprachinsel zu machen. Dazu gehört vor allem das ehrenamtliche Engagement des Bürgermeisters Mimmo, der im Alltag diesen Papas ersetzen muss, aber auch gezielte Kontakte mit Griechenland und örtliche Reiseagenturen, die täglich eine Gruppe von Besuchern durch das Dorf führt. Dieses Engagement hat der Region gezeigt, wie man dieses soziale Stigma überwindet und die lokale Kultur so vermarktet, dass ihre Bewohner davon leben können – in einem Gebiet, das heute weitgehend aufgegeben wurde.

1.1. Die Trennung der römischen Welt vom griechischen Wissen Die heutigen Verhältnisse stehen zu einem krassen Gegensatz zu einer antiken Vergangenheit,

als Griechisch die Sprache einer hochkultivierten, aber nicht demokratisch regierten Mehrheit war. Zu Zeiten Platons vermittelte der Pythagoräer Archytas aus Tarent (Apulien) beim Despoten von Syrakus, damit Platon endlich seine Heimreise antreten konnte. Viele Altertumsforscher und Archäologen betrachten die Ermordung des Archimedes als den ersten Verfall der hellenischen Zivilisation, der 212 v. Chr. von einem römischen Soldaten erdolcht wurde, als er sich dem Befehl des römischen Generals Marcus Claudius Marcellus widersetzte, der ihn lebend gefangen setzen wollte. Mit dieser Ermordung verlor das römische Reich den Anschluss an die griechische Zivilisation im Mittelmeerraum.7 Aber Süditalien lag offenbar schon immer weitgehend außerhalb

http://www.doaks.org/resources/publications/doaks-online-publications/byzantine-studies/typikapdf.6 Martino, Paolo. Per la storia della ‘Ndrànghita. Biblioteca di ricerche linguistiche e filologiche 25,1. Rom: Herder,

1988. http://www.lumsa.it/sites/default/files/Per%20la%20storia.pdf7 Archimedes steht in dieser Deutung im Zentrum eines mediterranen Wissensaustauschs, dessen Sprache Griechisch

war. Er selbst wird dabei als Wissenschaftler charakterisiert, der nicht nur physikalische Formeln mathematisch

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des römischen Reiches. Im sechsten Jahrhundert erlebte Rom den schlimmsten Niedergang seiner langen Geschichte, dem die Ermordung von Boethius und der Rückzug seines kalabrischen Nachfolgers Cassiodor in ein selbstbegründetes Kloster Vivarium in Squillace vorausging, in welchem Cassiodor griechische Schriften (theologische wie wissenschaftliche) übersetzte.8 Auch das griechische Wissen selbst hatte sich in eremitischen Gemeinden zurückgezogen, die auf permanenter Flucht vor Sklavenhändlern waren. Letztere waren meist Berber, die mit den gebildeten Griechen die höchsten Preise auf den Sklavenmärkten erzielten. Der Syrer Yahya ibn Mansur (ca. 675–749), der Sohn des Schatzmeisters des Kalifen, der in der byzantinischen Welt unter dem Namen Ioannis aus Damaskus berühmt wurde, wurde ins Griechische und in die Wissenschaften von dem kalabrischen Mönch Kosmas eingeführt, den sein Vater auf dem Sklavenmarkt der Stadt gekauft hatte.9 Er war der Lehrer von Ioannis und dem adoptierten Waisen Kosmas, der später Bischof von Maiuma wurde.

1.2. Die Anachoreten Süditaliens Obwohl Iosiph der Hymnograph Sizilianer war, wurde er im Latomos Kloster von

Thessaloniki ausgebildet, da er Sizilien bereits in jungen Jahren verlassen musste, als sein Dorf in Val Demone (Nordostsizilien um Messina von Cefalu bis Catania) geplündert wurde.10 Die griechischen Einsiedler, die in Italien geboren waren, bewahrten bis zu den Normannen eine eigene monastische Kultur. Ihre zahlreichen Klostergründungen markierten ihre Fluchtrouten, sie verfassten eigene Typika und bewahrten eine byzantinische Kultur, die außerhalb Italiens weitgehend unbekannt war.11 Der Grund, warum der Heilige Neilos aus Rossano (San Nilo da Rossano) mit seiner Gemeinde Zuflucht in der Abtei Montecassino in Latium suchte, waren gehäufte Angriffe von Plünderern und Sklavenhändlern auf Rossano, die wohl mit der Niederlage von Otto II. bei Reggio zusammenhingen, der die ,,Befreiung“ Siziliens versucht hatte, das Berber im 8. Jahrhundert von den Byzantinern erobert hatten. Was Neilos aus Rossano an Montecassino

herleiten konnte, sondern sie auch in der Praxis durch neue Erfindungen umsetzte, durch welche er die römische Eroberung von Syrakus auf mehrere Jahre ausdehnte. Diese Deutung wurde besonders in den letzten Jahren bemüht, als die Archimedes Palimpseste in einem monastischen Euchologion aus Konstantinopel wiederentdeckt wurden. Sie ist aber sehr viel älter, denn Isidor von Milet, einer der Architekten der heute erhaltenen Hagia Sophia aus dem sechsten Jahrhundert, ist auch bekannt als Kompilator einer der ältesten Sammlungen von Archimedes’ Werken. Gow, Mary. Archimedes: Mathematical Genius of the Ancient World. Great minds of science. Berkeley Heights: Enslow Publishers, Inc, 2005; Jaeger, Mary. Archimedes and the Roman Imagination. Ann Arbor: University of Michigan Press, 2008.

8 Kriege, Überschwemmungen und Seuchen entvölkerten die Stadt, bis der päpstliche Diplomat (apokrisarios) Gregor aus Konstantinopel zurückkehrte und nach dem Tod von Pelagius II., der die grassierende Epidemie nicht überlebte, als Papst die Stadt wieder neu aufbauen ließ. Von Boethius sind keine Handschriften oder Papyrusfragmente erhalten, die ersten erhaltenen Kopien wurden während der ersten karolingischen Renaissance geschrieben und kommentiert. Ekonomou, Andrew J. ‘Cum Illi Graeci Sint, Nos Latini: Rome and the East in the Time of Gregory the Great.’ In Byzantine Rome and the Greek Popes, 1–41. Lanham, MD: Lexington Books, 2007.

9 Sahas, Daniel J. John of Damascus on Islam: The Heresy of the Ishmaelites. Leiden etc.: Brill, 1972.10 Iosiph wurde einer der maßgeblichen Reformer der Studiten, nachdem er von Gregorius aus Dekapolis entdeckt und

nach Konstantinopel eingeladen wurde. Nach Ausbruch der zweiten Krise des Ikonoklasmus folgte er einer Einladung von Papst Leo III. nach Rom, aber Piraten kaperten das Schiff und er wurde als Sklave nach Kreta verkauft. Als er mehr als ein Jahr später nach Konstantinopel zurückkehrte, war sein Rombesuch bereits überflüssig geworden. Stiernon, Daniel. ‘La vie et l’œuvre de S. Joseph l’Hymnographe. A propos d’une publication récente.’ Revue des études byzantines 31, Nr. 1 (1973): 243–66. doi:10.3406/rebyz.1973.1468.

11 Ménager, Léon-Robert. ‘La “byzantinisation” réligieuse de l’Italie méridoniale (IXe-XIIe siècles) et la politique monastique des normands d’Italie.’ Revue d’histoire ecclésiastique 53 (1958): 747–74; 54 (1959): 5–40.

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interessierte, abgesehen von seinen guten Beziehungen zu Abt Aligern, waren vor allem seine mächtigen Befestigungsanlagen, die Schutz gegen die Übergriffe der ,,Sarazenen“ geben konnten. Er führte seine Gemeinde sehr elegant ein, indem er Akrostichoi zu Ehren des Heiligen Benedikt aus Norcia über einen Heirmos aus dem Heirmologion gedichtet hatte – einen Heiligen, der bis dahin von den Griechen nicht gefeiert wurde, aber dieser Anlass hat sich im Menaion der Abtei Grottaferrata, Neilos letzter Gründung und das Ende seiner Lebensreise, als Besonderheit der italobyzantinischen Kultur erhalten.12

Sofern man also diese Geschichte über das schwierige Leben der Griechen in Süditalien und Sizilien als eine eigenständige Kulturepoche Italiens betrachten möchte, und ihre monastische Kultur und die von ihr erhaltenen Monumente und Handschriften sprechen eindeutig dafür, muss man auch zugeben, dass die Normannenherrschaft, weil sie zum ersten Mal in der Geschichte den Primatsanspruch des Papstes in die Verwaltungspraxis umsetzte, ihren Verfall bedeutete. Dieser Machtwechsel wird besonders gerne von der Kirche selbst übersehen, und zwar sowohl von der Ost- wie von der Westkirche, indem sie den Zwischenfall zwischen dem Patriarchen Kerularios und der Gesandtschaft von Kardinälen aus Apulien zum Schisma stilisiert. Das dogmatische Zerwürfnis zwischen griechischen und lateinischen Klerikern war lediglich von der Tatsache motiviert, dass Papst Leo IX. sich mit dem Kaiser verbündet hatte, um bis 1054 eine Eroberung durch die Normannen um jeden Preis zu verhindern. Aber erst die Verbündung des Papstes mit den Normannen führt zu einer Stabilität und zur Eroberung der byzantinischen Gebiete, und zur Gründung des Königreiches Sizilien auf dem ehemaligen Territorium des arabischen Sizilien.

1.3. Die normannische Gründung der Archimandritate Solche Experimente blieben nicht ohne Folgen und die neuen Bewohner Siziliens neigten zu

Pogromen, vor allem gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Andererseits gab es auch Normannen, die zum Judentum konvertierten.13

Diese ungewöhnliche Entwicklung Süditaliens ist eine der Wurzeln gewisser Vorurteile, die bis in die Neuzeit weiterbestehen. Aber es gab auch Paradoxe, dass viele Bücher des byzantinischen Kathedralritus vor allem dann in Italien geschrieben wurden, als diese Tradition nach der Eroberung durch westliche Kreuzfahrer aus Konstantinopel endgültig verbannt war. Da sie heute die ältesten erhaltenen Bücher sind, wird dabei oft übersehen, dass diese Handschriften keine authentischen Bücher waren, sondern sie wurden in der Oktoichosnotation notiert, die sich aus den Gesangbüchern der monastischen Reformbewegung entwickelt hatte, den vier Büchern des Stichirarion und dem Heirmologion. Sie sind damit bereits Teil einer Rezeptionsgeschichte. Damit schufen griechische Schreiber auf dem Berg Athos und in Italien neue Voraussetzungen, um auch die Notationen des Asmatikon und Kontakarion in der mittelbyzantinischen Rundnotation zu integrieren. Genau an dieses Konzept knüpften Notatoren des Hofes und des Patriarchats an, als sie

12 Gerlach, Oliver. ‘Byzantine Chant and its Local Traditions in Southern Italy before and after the Reform of Desiderius.’ In Musica e liturgia a Montecassino nel medioevo. Atti del Simposio internazionale di studi (Cassino, 9-10 dicembre 2010), hg. von Nicola Tangari, 229–47. Scritture e libri del medioevo, 10. Rom: Viella, 2012.

13 Golb, Norman. ‘The Autograph Memoirs of Obadiah the Proselyte of Oppido Lucano.’ In Convegno internazionale di Studi “Giovanni – Obadiah da Oppido: proselito, viaggiatore e musicista dell’età normanna” Oppido Lucano (Basilicata) 28-30 marzo 2004, Oppido Lucano, 2009.

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1261 aus dem Exil zurückkehrten, und den Traktat Papadiki schufen. Die griechischen Mönche Italiens haben daher sowohl zu dem späteren Mischritus beigetragen, zum Teil durch recht eigenwillige Kompositionen, die den praktischen Gegebenheiten des lokalen griechischen Ritus angepasst waren, ihn zugleich aber auch im 14. Jahrhundert abgelehnt, ähnlich wie in anderen Zentren des byzantinischen Ritus, wo sich die alten Bücher des Kathedralritus in der monastischen Notation erhalten haben, da man das neue Buch der Akolouthiai, das die Maistoroi in Konstantinopel geschaffen hatten, wohl nicht nur nicht benutzte, sondern sogar als Verfall der alten Tradition betrachtete.

Die von den Normannen seit dem späten 11. Jahrhundert durchaus geförderten griechischen Klöster, allem voran die königliche Neugründung des Archimandritats und der Kathedrale SS. Salvatore im Hafen von Messina, einem alten Siedlungsgebiet der Griechen, schuf dagegen eine neue repräsentative Form des griechischen Mönchtums, die es zuvor noch nie in Italien gegeben hatte und die stärker als jemals zuvor an Konstantinopel orientiert war.14 Dies geht nicht nur aus der Liturgie und dem Kathedralritus hervor, sondern auch aus einer neuen monastischen Gelehrsamkeit, die sich nun auch auf heidnische und wissenschaftliche Autoren ausdehnte.15 Die Mehrzahl der heute erhaltenen byzantinischen Handschriften stammt aus der Normannenzeit und mehr als die Hälfte wurde nicht in Italien, sondern in Byzanz geschrieben, neben Konstantinopel auch in Syrien und Zypern, und im Auftrag der Stifter und der Archimandriten angefertigt.16 In Sizilien waren griechische Christen und sephardische Juden gegenüber der muslimischen Bevölkerung eine Minderheit. Den Normannen gelang nicht nur die Eroberung des Taifakönigreiches, vor allem aber die Etablierung eines Königtums, das die geltende arabische Rechtsschule anerkannte und die ansässige muslimische Oberschicht zu halten versuchte.17 Roger II. kopierte vorzugsweise den lokalen Taifahof der Fatimiden. Er hielt einen Harem und machte Eunuchen zu den obersten Hofbeamten, allerdings mussten arabische Höflinge und Hofdamen zum Christentum konvertieren und lateinische Titel und Namen annehmen, die aber Übersetzungen von Titeln des Taifahofes waren (z.B. ammiratus ammiratorum als Titel eines höher stehenden Emirs).18 Diese Politik wurde von einigen Kirchenvertretern und den Päpsten mit größtem Misstrauen betrachtet, da sie in ihrer Bündnispolitik die Normannen zu ihren Vasallen erklärt und sie mit der Eroberung Siziliens beauftragt hatten.19 Das Geheimnis, warum die Normannen im Unterschied zu den Ottonen erfolgreich waren, war eben ihre Anpassungsfähigkeit gegenüber neuen Verbündeten, zu der auch

14 Die Tatsache, dass diese monastische Gründung mit ihren Ländereien zum größten Landbesitzer wurde, spiegelt sich auch darin wider, dass es Streitigkeiten zwischen dem Bistum und dem Archimandritat gab, die aber von Päpsten keineswegs zu Ungunsten des Archimandriten entschieden wurden. Enzensberger, Horst. ‘Der Archimandrit zwischen Papst und Erzbischof: der Fall Messina.’ Bollettino della Badia Greca di Grottaferrata 54 (2000): 209–25.

15 Canart, Paul, und Julien Leroy. ‘Les manuscrits en style de Reggio - Étude paléographique et codicologique.’ In Actes du Colloque International sur ‘La paléographie grecque et byzantine’ organisé dans le cadre des colloques internationaux du CNR à Paris du 21 au 25 octobre 1974, hg. von Jean Glénisson etc., 241–61. Paris: CNRS, 1977.

16 Bucca, Donatella. Catalogo dei manoscritti musicali greci del SS. Salvatore di Messina (Biblioteca Regionale Universitaria di Messina). Rom, 2013.

17 Loud, Graham A. The Latin Church in Norman Italy. Cambridge, New York, Melbourne, Madrid, Cape Town, Singapore, Sao Paulo: Cambridge University Press, 2007.

18 Metcalfe, Alex. The Muslims of medieval Italy. Edinburgh: Edinburgh UP, 2009.19 Enzensberger, Horst. ‘Fondazione o ‘rifondazione’? Alcune osservazioni sulla politica ecclesiastica del conte

Ruggero.’ In Chiesa e società in Sicilia. L’età normanna. Atti del I Convegno internazionale organizzato dall’arcidiocesi di Catania, 25 - 27 novembre 1992, hg. von Gaetano Zito, 21–49. Torino: Società editrice internazionale, 1995.

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das Erlernen der Sprachen gehörte, ihre Toleranz, die ganz einfach darin bestand, dass sie Vertreter der anderen Religionen nicht einfach auswiesen, und mit ihrer Begeisterung für eine ihnen unbekannte Zivilisation, durch die sie die ungewöhnliche Mischung der Bevölkerung als eine Chance verstanden, um eine neue Zivilisation in Sizilien schaffen, die in der Geschichte einzigartig war.20 Zu diesen Projekten gehörte auch die massenhafte Ansiedlung von lateinischen Christen, die die normannischen Könige durch monastische Neugründungen etablierten. Diese Innenpolitik hatte sich bereits bestens in der Normandie bewährt, um die eigene Herrschaft zu etablieren, und Monte Gargano in Apulien war bereits das Vorbild für den gigantischen Ausbau eines Inselkosters auf dem Mont Saint Michel, der fast ein Jahrhundert dauerte.

Abb. 2: Das Dorf Cerzeto (Qana) heute nach dem letzten Erdbeben in 2005

Der griechische Ritus in Italien unterscheidet sich dagegen grundsätzliche von byzantinischen Zentren wie Thessaloniki, dass er im 14. Jahrhundert einen rapiden Verfall erlebte.21 Viele Klöster, die sich meist in abgelegenen Bergregionen befanden, wurden von Erdbeben zerstört und von ihren Gemeinden aufgegeben. Viele Griechen gingen nach Rom, um eine Karriere dort zu machen, andere wanderten in die Patriarchate ab, da sie sich nicht weiter der katholischen Verwaltung ausliefern

20 Houben, Hubert. Roger II. von Sizilien: Herrscher zwischen Orient und Okzident. 2. aktual. u. erg. Aufl. Gestalten des Mittelalters und der Renaissance. Darmstadt, 2010.

21 Zu diesem Verfall trug auch die zeitgenössische Machtpolitik bei. Der geschwächte byzantinische Kaiser sah sich gezwungen, nicht nur Papst Urban V. die Konversion anzubieten, um das angebliche Schisma zu beenden, er wandte sich auch an den Sultan um Unterstützung. Stefano Parenti wies in einer aktuellen Studie nach, dass es sich bei dem Euchologion des Archimandritats von Carbone (Vat. gr. 2005) keineswegs um eine Angleichung an einen ,,apulischen Mischritus“ handelt (wie René Jacob einst annahm), sondern um eine weitaus weniger kompetente Zensur der Anaphora, die eine päpstliche Inquisition gegen ,,griechische Heresien“ angeordnet hatte. Parenti, Stefano. ‘Le correzioni curiali alle anafore bizantine in Italia meridionale nel XIV secolo. Il caso dell’eucologio di Carbone (Vaticano gr. 2005).’ Ecclesia orans 32 (2015): 101–31.

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wollten. Bereits im 11. Jahrhundert waren die zahllosen Synoden des Reformpapsttums ein Grund abzuwandern. Im 12. Jahrhundert folgten weitere Synoden derjenigen von Bari, die zwar offiziell vorgaben, das vermeintliche ,,Schisma“ zu lösen, doch waren es die aktuellen politische Umstände, die dem Primatsanspruch des Papstes zum ersten Mal eine Wirkung verliehen, die griechische Kleriker bis dahin nie erfahren mussten.22 Die Kreuzzüge während der Normannenherrschaft und der Stauferzeit führten andererseits auch zu neuen Einwanderungen, besonders nach Sizilien.

Als es nach dem Fall von Konstantinopel in 1453 zu weiteren Einwanderungswellen kam, protokollierte das Tagebuch des Athanasios Chalkiopoulos, dem Sekretär von Kardinal Bessarione, der es aber vorzog als Archimandrit von Carbone (Kalabrien) in Rom zu residieren, einen bedenklichen Zustand der griechischen Klöster, die zum Teil unbewohnt und zu verfallenen Ruinen verkommen waren. Das Tagebuch datierte einige Jahrzehnte, bevor eine albanische Einwanderungswelle zu einer Wiederbelebung dieser aufgegebenen Dörfer führte.

1.4. Die Neubelebung orthodoxer Gemeinden durch albanische Einwanderer Am Anfang der Geschichte der Arbëresh steht Skanderbeg – als Nationalheld ist er nicht

weniger schillernd als Ali Pascha selbst.23 Interessanterweise ist dieser Held der christlichen Albaner eher unter seinem türkischen Namen İskender Bey bekannt als unter seinem albanischen Taufnamen Gjergj Kastriota. Anders als sein Bruder, der zur zweiten Generation der Devshirme gehört und daher in jungen Jahren zum Islam konvertierte, begann Gjergj Kastriota seine Karriere am Hof des Sultans als junger Erwachsener. Er konvertierte und trat dem Mevlevi Orden bei, und machte die klassische militärische Karriere, durch die er seine Heimatprovinz zu verwalten hatte (was im wesentlichen hieß, die Steuern einzutreiben). Bis zu seinem vierzigsten Lebensjahr, nach der Ermordung seines Vaters, gibt es keinen Hinweis, dass er sich jemals einer Revolte gegen die osmanische Obrigkeit angeschlossen hätte, aber er rächte den Tod seines Vaters mit einer Verschwörung in Hofkreisen der großen Pforte, die einen Anschlag auf dem Lieblingssohn des Sultans plante, und möglicherweise konvertierte er aus strategischen Gründen zum Katholizismus, um unter den Venezianern Verbündete zu finden.24 Seinen Ruf als katholischer Feind der Türken bekam er durch sein charismatisches Auftreten gegenüber einer Reihe von Päpsten, die er dazu

22 Es löste tatsächlich in Abwesenheit ostkirchlicher Vertreter dogmatische Unstimmigkeiten und insistierte auf dem Primatsanspruch, der in einigen Fällen zur Absage griechischer Kleriker geführt hatte, ein angebotenes Kirchenamt zu übernehmen. Kaiser Justinian hatte dem Primatsanspruch der Päpste nicht widersprochen, da er bereits Einfluss genug auf die Wahl der Kandidaten und ihre Ernennung hatte. Historiker sprechen daher vom ,,byzantinischen Papsttum“, das sich erst mit der Exkommunizierung von Konstantinos V. als Häretiker von Konstantinopel löste. Anastos, Milton V. ‘Constantinople and Rome: A Survey of the Relations between the Byzantine and the Roman Churches.’ In Aspects of the Mind of Byzantium: Political Theory, Theology, and Ecclesiastical Relations with the See of Rome, hg. von Speros Vryonis. Variorum Collected Studies Series 717. Farnham: Ashgate, 2001.

23 Die andere Variante nach Rodotà verfolgt diese Geschichte bis zu den Schülern von Pavlos im 2. Jahrhundert zurück. Rodotà, Pietro Pompilio. Dell’origine, progresso e stato presente del rito greco in Italia osservato dai greci, monaci basiliani, e albanesi. Bd. 3. Rom: Salomoni, 1763.

24 Dieser Plan schlug fehl, denn tatsächlich musste er gegen die Venezianer kämpfen, doch wurde er später zu einem treuen Verbündeten des Königs von Neapel, der albanische Söldner anführte, um Neapel gegen die Angriffe der Franzosen zu verteidigen. Ob Skanderbeg wirklich zum Katholizismus konvertierte, ist nicht verbürgt. Während seiner Revolte stilisierte er sich als Orthodoxer mit der Fahne des doppelköpfigen Adlers, der zu seiner Zeit nicht die albanische Nation, sondern das Patriarchat meinte. Im Osmanischen Reich war diese Geste von Bedeutung, um Verbündete innerhalb der christlichen Bevölkerung zu finden. Der Katholizismus Skanderbegs spielt aber offenbar eine integrative Rolle gegenüber dem Selbstbewusstsein der Arbëresh, die sich heute als orthodoxe Katholiken fühlen. Schmitt, Oliver Jens. Skanderbeg der neue Alexander auf dem Balkan. Regensburg: Pustet, 2009.

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überreden suchte, einen Kreuzzug gegen die Türken zu führen. Er gewann Kalixt III. und Pius II. als Verbündete. Letzterer versprach ihm sogar ein katholisches ,,Königreich der Epiroten und Mazedonier“, aber er verstarb, bevor die apulischen Truppen einschifften, um den Verbündeten auf dem anderen Ufer der Adria zu treffen. Skanderbegs Angriffe blieb ohne die Unterstützung durch italienische Truppen erfolglos, aber als Verbündeter des Papstes und des Königs von Neapel schuf er diplomatische Voraussetzung für spätere Auswanderungswellen orthodoxer Christen aus seiner Provinz nach Apulien.

Abb. 3: Die Kirche von San Cosmo Albanese (Strigàri) am Patronatsfest (San Cosma e Damiano)

Die untergeordnete Bedeutung der Einwanderer, die zuerst die Ländereien der griechischen Archimandritate bewirtschafteten, dürfte aber keine nennenswerte Rolle gespielt haben. Viele der griechischen Bergdörfer, die seit den 1470er Jahren besiedelt waren, waren nach schweren Zerstörungen durch Erdbeben bereits aufgegeben. Dadurch brachen allerdings mit den neuen Christen, die den griechischen Ritus zelebrierten, auch alte Konflikte mit dem lateinischen Klerus aus, die innerhalb der katholischen Verwaltung bereits als ,,überwunden“ galten.

Die Frage, die bisher Forscher zuwenig interessierte, soweit sie selbst Arbëresh sind, betrifft das Zusammenleben und die damit verbundenen wechselseitigen Einflüsse zwischen der griechischen und der albanischen Diaspora, die mehr oder weniger in denselben Gemeinden lebten. Sofern die linguistische Kompetenz das einzige Kriterium ist, kann heute dagegen behauptet werden, das Arbëresh und Griko oder Grecanico sich nicht in denselben Dörfern behauptet hat. Die Sprachinseln der linguistischen Minderheiten lassen sich heute geographisch trennen. Dies gilt auch hinsichtlich der Religion, den die zwei kleinen Inseln, in denen Griechisch, das einst von einer

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Mehrheit der Bevölkerung verstanden und gesprochen wurde, überleben konnte, haben erst seit kurzen wieder orthodoxe Gemeinden hinter sich. Die Situation in den sehr viel zahlreicheren Gemeinden der Arbëresh ist demgegenüber völlig verschieden. Die Arbëresh haben sich so erfolgreich innerhalb der katholischen Kirche integriert, dass ihre Gemeinden kein Bedürfnis haben, zur Orthodoxie zu konvertieren, um zu der eigenen Kultur zurückzufinden. Tatsächlich haben die neugegründeten orthodoxen Gemeinden nur rudimentäre Kenntnisse des italobyzantinischen Erbes, sie importieren ihre Tradition einfach direkt aus dem Balkan.

1.5. Das Collegio Corsini und Jul Variboba Die Verwahrlosung des griechischen Ritus ist über die Jahrhunderte hinweg dokumentiert

worden und sie betrifft insbesondere orthodoxe Gemeinden, in denen keine oder nur wenige albanischen Einwanderer präsent waren.25 Dieser Sonderstatus der Arbëresh manifestierte sich vor allem während des 18. Jahrhunderts, als Papst Clemens XII. im Vatikan ein neues Gesetz einführen konnte, das die Einrichtung sogenannter ,,Diözesen des byzantinischen Ritus“ vorschrieb. Nach ihm, Lorenzo Corsini, wurde auch das erste Priesterseminar Kalabriens benannt, das ausschließlich Papas der Arbëresh-Gemeinden auf den griechischen Ritus und die kulturellen Besonderheiten vorbereiten sollte. Das erste Collegio Corsini wurde im Palast des Bischofs von San Benedetto Ullano gegründet.

Einer seiner ersten Seminaristen war Jul Variboba, der seinem Vater in der Gemeinde San Giorgio Albanese nachfolgen sollte. Der erste Rektor Nicolò De Marchis erkannte in Jul seinen begabtesten Schüler und eine charismatische Persönlichkeit, so dass er ihn für den geeignetsten Nachfolger am Collegio hielt. Aber weder aus dem Plan des ersten Leiters wie aus dem von Juls Vater wurde etwas. De Marchis’ Ernennung von Jul Variboba als neuer Rektor war nicht erfolgreich26, und der Bürgermeister von San Giorgio Albanese Basilio Chinigò protestierte 1760 gegenüber De Propaganda Fide gegen Jul Varibobas Absicht, den lateinischen Ritus in die Gemeinde einzuführen.27 Ein in Neapel verhängtes Urteil provozierte einen Skandal, durch den Jul

25 Der Inspektion von Athanasios Chalkeopoulos noch während der Halosis folgten weitere, zwei Reisen in Süd- und Mittelkalabrien im Frühling und Herbst 1551 durch Marcellus Terracina, und eine Inspektion der griechischen Gemeinden in Terra d’Òtranto (Apulien) durch Lucio Di Morra 1607, die über die folgenden Jahrzehnte eine von oben angeordnete Latinisierung der Gemeinden zur Folge hatte, nachdem die Papas dieser Gemeinden als “zuwenig qualifiziert” evaluiert wurden. Die wenigen griechischen Klostergemeinden, die weiterexistieren durften, gab es bis 1783, als ein schweres Erdbeben dazu führte, das diese kleinen monastischen Gemeinden endgültig aufgegeben wurden. Hofmann, Thomas. Papsttum und griechische Kirche in Süditalien in nachnormannischer Zeit (13.-15. Jahrhundert): Ein Beitrag zur Geschichte Süditaliens im Hoch- und Spätmittelalter. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät II, Julius-Maximilians-Universität München, 1994, 265–293.

26 Jul Variboba war 1751 offiziell als neuer Rektor nominiert, aber er verließ San Benedetto auf Bitten seines Vater, der in seinem hohen Alter die Unterstützung des Sohnes in der Gemeinde von San Giorgio (Mbuzat) benötigte. Elmo, Italo. La storia di San Benedetto Ullano e Marri attraverso le fonti documentarie. 2 Bd. San Demetrio Corone: Arbitalia, 2011, 2:1069.

27 “De Propaganda Fide” ist der Name der 1622 gegründeten Zentralkongregation in Rom, zu der auch eine Congregazione per gli Italo-Greci gehörte. Damit ersetzte sie die Congregazione dei Greci, die 1573 auf Initiative von Antonio Santoro gegründet wurde und bis 1596 existierte, nachdem das Collegio pontificio greco di Sant’ Atanasio in Rom eingerichtet wurde (1594). Jul Variboba hatte angestrebt, sein Heimatdorf an das Erzbistum von Rossano anzuschliessen. Rossano war zwar als Metropolitanbistum und über die Geschichte seines Archimandritats eng mit der italobyzantinischen Tradition verbunden, aber seit 1460 wurde es als Erzbistum direkt Rom unterstellt. Damit wurde es nicht nach dem neuen Gesetz als Diözese des byzantinischen Ritus verwaltet.

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Variboba gezwungen war, seine Pläne für eine Karriere am Collegio Corsini oder als Nachfolger seines Vaters aufzugeben.

Obwohl er, nach einigen Jahren in Neapel und Kampanien, bis zu seinem Lebensende 1788 in Rom getrennt von den Gemeinden leben musste, für die er am Collegio ausgebildet wurde, kann niemand bezweifeln, dass seine erste Veröffentlichung bald nach seiner Ankunft in Rom für die ländliche Tradition der Arbëresh, nicht nur in Kalabrien, bedeutsam war: Gjella e Shën Mërijs Virgjer (,,Vita der heiligen Jungfrau Maria“, 1762).28 Dieses Werk wird aus einigen Gründen für eine geniale Neukomposition im Bereich der nationalreligiösen Erbauungsliteratur betrachtet, das in Varibobas Zeit, vor den Autoren des Risorgimento, nur weniger Vorbilder hatte. Als theologisch geschulter Dichter folgte Variboba bisweilen poetischen Modellen der Franziskaner, z.B. Jacopone da Todis Stabat mater in “Zoti Krisht tek Kalvari”, aber er nennt auch mehrere Frauen aus seinem Dorf Mbuzat namentlich, die offenbar auch Informantinnen einer lokalen mündlichen Tradition waren, deren Dialekt Variboba als erster zu transkribieren versuchte.29 Insbesondere die verschiedenen Verse der heute erhaltenen Kalimera Traditionen, sowie die Totenklage (vajtim) der Gottesmutter über den Verlust des eigenen Sohnes bilden die literarische Grundlage der mündlichen Traditionen, die sich in vielen Gemeinden der Arbëresh bis heute erhalten haben.30

Nachdem die Klostergemeinde der Basilianer in Grottaferrata vor einigen Jahren aufgelöst wurde, haben sich neben Sant’ Atanasio in Rom nur zwei katholische Diözesen des byzantinischen Ritus erhalten: in Lungro (Ungra) in Nordkalabrien und in Piana degli Albanesi (Hora e Arbëreshëvet) auf Sizilien. Innerhalb der heute lebendigen Tradition der subalternen Orthodoxie Süditaliens spielen die Italoalbaner sowohl quantitativ wie qualitativ eine Schlüsselrolle.

2. Lebendige orthodoxe Traditionen Süditaliens Die Geschichte der subalternen Orthodoxie Süditaliens macht bereits deutlich, dass es nicht

reicht, sich auf linguistische Minderheiten, und mit ihr auf nationalistische Konzepte von sogenannter ,,Identität“, oder auf die Frage zu beziehen, inwieweit eine Gemeinde katholisch oder orthodox sei. Die Tatsache, ob Gemeinden den lokalen orthodoxen Hintergrund respektiert haben (z.B. vermittelt durch eine Diözese des byzantinischen Ritus) oder nicht, ist dabei weniger wichtig als die Frage, inwieweit die Geschichte, die ich hier nur skizzieren konnte, bekannt ist.31 Die Lösung, dass Gemeinden direkt von der orthodoxen Erzdiözese, die Italien und Malta direkt dem Patriarchat in Konstantinopel (Istanbul) unterstellen, verwaltet werden, bedeutet allein noch nicht, dass sie mit diesen lokalen Traditionen vertraut sind. Einige Gemeinden importieren einfach ihre

28 Variboba, Giulio. Vita della Beata Vergine Maria (1762) — Edizione critica e traduzione italiana, hg. von Vincenzo Belmonte. Soveria Mannelli: Rubbettino Editore, 2005.

29 Lambertz, Max. ‘Giulio Variboba.’ Zeitschrift für Vergleichende Sprachforschung auf dem Gebiete der indogermanischen Sprachen 74 (1956): 45–122, 185–224.

30 Jul Variboba war wohl der erste aber nicht der einzige, der in eigenen Dichtungen Elemente einer mündlichen Tradition aufgriff. Während des Risorgimento engagierten sich auch Arbëresh in dieser Bewegung, die nicht nur für eine einheitliche Nationalsprache, aber auch für eine Pflege der lokalen Dialekte eintrat und damit ihrer Zeit weit voraus waren. Girolamo De Rada war sicher der bedeutendste Schriftsteller in dieser Reihe, aber keiner war für die mündliche rurale Tradition so wichtig wie Variboba – neben Giuseppe Schirò und Antonio Santori, deren Kalimere nicht so verbreitet sind.

31 In den griechischen Sprachinseln fand eine linguistische Minderheit wenig Unterstützung durch die Kirche, aber die lokalen Traditionen der Kalimera blieb hierdurch wirklich auf der Strasse, wo sie entstanden ist.

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Tradition direkt aus dem Balkan, ohne die lange byzantinische Geschichte Italiens und ihre Besonderheiten zu kennen. Am Ende, auch wenn Religion und Dialekt für die lokale Kultur eine entscheidende Bedeutung haben, erst der Vergleich mit anderen Gemeinden, in denen nicht mehr Griechisch oder Albanisch verstanden wird oder deren Gemeinden den ,,lateinischen Ritus“ zelebrieren, zeigt die wirkliche Bedeutung, die die sogenannten ,,linguistischen Minderheiten“ haben. So betrachtet sprechen wir nicht von einer Minderheit, sondern von dem, was die Kultur des Südens in ihrer Mehrheit ausmacht und was den rastlosen Bemühungen, sie auszurotten, bis heute erfolgreich widerstanden hat.

Der Antagonismus zwischen ruraler und urbaner Welt, soweit er sich in der Trennung zwischen volkstümlicher, liturgischer Musik und Kunstmusik ausdrückt, besteht nur an der Oberfläche, in Wirklichkeit bildet erstere die kulturelle Grundlage oder auch die Quelle der Inspiration für letztere, und nicht umgekehrt.32

2.1. Liturgische Traditionen Die Ausgangslage seit den 1930er Jahren war, dass Mönche wie Lorenzo Tardo und später

Bartolomeo Di Salvo der Abtei Grottaferrata die Tradition wiederbeleben wollten, die sie in den mittelalterlichen Musikhandschriften der Bibliothek ihrer Abtei fanden.33 Bereits in dieser Zeit war ihnen die Idee selbstverständlich, dass der weite Weg dahin über die heutige Tradition führen musste, die als liturgische Tradition vor allem in den Gemeinden der Arbëresh überlebt hatte, in den katholischen Gemeinden des byzantinischen Ritus. Natürlich wurde sie nicht bruchlos überliefert, sondern in Verwerfungen, die in den liturgischen Reformen zu suchen sind. Aus diesem Grund darf angenommen werden, dass die Verbindung zur paraliturgischen Tradition, die als solche von Kirchenreformen unangetastet blieb, auch für das Verständnis der älteren Schicht der liturgischen Traditionen ausschlaggebend ist, die wir eben bestenfalls bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen können.34

32 Was es Enzo Amati erst erlaubt, von der ,,Überlegenheit der neapolitanischen Schule“ zu sprechen – als etwas, das nicht ,,übertroffen“ werden kann. Amato, Enzo. La musica del sole: viaggio attraverso l’insuperabile scuola musicale napoletana del Settecento. Napoli: Controcorrente, 2012. Die gleiche Entdeckung machte die anthropologische Schule begründet von Ernesto De Martino, nachdem sein Manifest der “folklore progressivo” seine Antwort bei der Vorstellung der Gewinner in einem Wettbewerb der Dialektliteratur fand: “Nuie simme 'a mamma d''a bellezza.” Auch wenn das 18. Jahrhundert das Urheberrecht nicht kannte, das bis heute der ländlichen Welt fremd geblieben ist, treiben wir es mit der Demokratie besser nicht so weit, dass wir darüber abstimmen, wer die Mutter im Haus ist.

33 Das Projekt fand auch seitens der musikbyzantinistischen Philologen große Beachtung, so dass eine Veröffentlichung des Materials (356 Gesänge transkribiert auf 259 Seiten) in der Reihe Monumenta Musicae Byzantinae geplant war. Der frühe Tod Bartolomeos durchkreuzte den Plan, bis Girolamo Garofalo von Christian Troelsgård erneut gebeten wurde, dieses Projekt als Veröffentlichung des wiedergefundenen Nachlasses wiederaufzunehmen. In einem einführenden Aufsatz nennt Gigi Garofalo auch andere Papas, die in Sizilien bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit Transkriptionen der mündlichen Tradition begannen. Garofalo, Girolamo. ‘Father Bartolomeo Di Salvo and his transcription of the Byzantine chants among the Albanians in Sicily.’ In The Current State of Byzantine Musical Studies. After 75 Years of Monumenta Musicae Byzantinae. Acts of the International Conference held at Carlsberg Academy, Copenhagen, 16-17 June, 2006. Bollettino della Badia Greca di Grottaferrata, 3. Grottaferrata, 2006, 93–116.

34 Dies ist auch für die nationalorthodoxen Traditionen des Balkan zutreffend, deren Anthologien vor allem von Kompositionen der Fanarioten wie Petros Peloponnesios, Petros Byzantios, Churmuzios Chartophylakos und Gregorios Protopsaltis dominiert werden, die in der Neuen Musikschule des Patriarchats das gängige Repertoire verkürzt, erneuert und umgeschaffen haben.

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2.1.1. Gesänge der Fastenzeit Gegenüber der elitären Gesangstradition der psaltiki techni – seit der Paläologendynastie der

Begriff der ,,Gesangskunst“, mit der eine von Ioannis Glykys (um 1300) begründeten Schule identifiziert wird, die den älteren Kathedralritus in Konstantinopel ersetzt hat – ist die Tradition der Arbëresh in einer grundsätzlich anderen Situation von Dorfgemeinden entstanden, in der es keinen Chor von geschulten Sängern gab, sondern die Gemeinde selbst die Rolle beider Chöre vor der Ikonostase übernimmt. Generell, auch außerhalb der Liturgie, hat Musik eine zentrale Bedeutung im alltäglichen Leben der Dörfer, in denen noch Arbëresh oder Griko gesprochen wird. In Kalabrien und Basilicata liegen sie zumeist versteckt in den Bergen, wie es sich aus der Geschichte seit dem Mittelalter ergeben hat. Die griechischen Dörfer dagegen haben meist keine Kirchen-gemeinde hinter sich, die katholischen Gemeinden gehören nicht Diözesen des byzantinischen Ritus an. Ihre ursprünglich orthodoxen Gemeinden wurden als griechischer Ritus entweder gewaltsam konvertiert wie in Bova, wo einem zypriotischen Bischof unter Carlo Quinto der Übergang in den lateinischen Ritus anvertraut wurde, oder er verlor sich später wie im Salento, da die Priester keine angemessene Ausbildung bekamen.35

Insbesondere die Periode des Fasten Triodion organisiert sich zwischen dem Gedenken an die Toten, die zugleich in die Periode des Karnevals fällt, trotz seiner parodistischen Züge ist das Andenken der Verstorbenen auch im Karneval präsent, und die Tanzmanifestationen in der Osterwoche (für gewöhnlich nach Ostermontag), in denen vor allem Arbëreshgemeinden ihre Geschichte durch Heldenepen über Skanderbeg oder Konstantin rekapitulieren, in mehrstimmigen Rezitationen, die von zwei sich kreuzenden Gruppen von Sängern vorgetragen werden. Der rituelle Tanz, der die Bewegung der beiden Chöre choreographiert, wird von den Arbëresh “Vallja” genannt.36

In der heute lebendigen Tradition werden auch komplexere Idiomela des Triodion aus einer mündlichen Überlieferung heraus gesungen, allerdings meist von den Papas selbst, die seit Ende des 18. Jahrhunderts diese Überlieferung transkribiert haben. Als Beispiel mag das Doxastikon Σήµερον κρεµ ται π ξύλου dienen, wie es zu Ostersamstag in Piana degli Albanesi (Sizilien)ᾶ ἐ ὴ aufgenommen wurde.37 Nach den mittelalterlichen Stichiraria des 14. Jahrhunderts erklingt dieses Idiomelon nur einmal zu Karfreitag, aber seit Petros Ephesios’ Ausgabe von Petros Peloponnesios’ Doxastarion wird es zweimal, zu Gründonnerstag (antiphonon 15) und in der Nacht zu Ostersamstag (Doxastikon of the Hesperinos) gesungen.38

35 Ich möchte hierzu anmerken, dass auch die Gemeinden der Arbëresh durch einen Verfall der Orthodoxie bedroht waren, auch nach der Einführung von Diözesen des byzantinischen Ritus. Das Collegio Corsini scheiterte bereits mit dem ersten Nachfolger, während ein späterer Nachfolger aus gesundheitlichen Gründen seinem Amt nicht gewachsen war. Danach beendeten Zerstörungen des Gebäudes durch ein schweres Erdbeben die Aktivitäten des Collegio. Es wurde nach einiger Zeit im Archimandritat San Adriano von San Demetrio Corone verlegt und wiedereröffnet. Heute werden die Priester der Arbëresh in einem Seminar der Provinzhauptstadt Cosenza ausgebildet.

36 Während die “Vallja” genuin albanisch ist, darf das kollektive Gedenken der Toten begleitet von einer Begräbniszeremonie zu Anfang der Fastenzeit als italobyzantinische Eigenheit betrachtet werden, die bereits in einem mittelalterlichen Exodiastikon aus der Sammlung des Archimandritats SS. Salvatore überliefert wird.

37 Papas Jani Pecoraro (Piana degli Albanesi) aufgenommen von Girolamo Garofalo: http://youtu.be/_HWebs9QJO4.38 Petros Peloponnesios Lampadarios, und Petros Peloponnesios Lampadarios. Σύντοµον δοξαστάριον του αοιδίµου Πέτρου Λαµπαδαρίου του Πελοποννησίουν: Μεταφρασθέν κατά την νέαν µέθοδον της Μουσικής των Μουσικολογιωτάτων Διδασκάλων του νέου Συστήµατος. Bukarest: Nikolau S. Alexandru, 1820, 369 (359), 399

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Die mündliche Überlieferung der byzantinischen Monodie ist offenbar von der Neugestaltung des ,,byzantinischen“ Repertoires seit dem 18. Jahrhundert beeinflusst, die an der Musikschule des Patriarchats wirkten.39

In jedem Fall werden auch bei vielen griechischen Gesängen der Liturgie die modernen orthodoxen Meloi gelernt und angewendet. Als Beispiel mag eine Feldaufnahme der Basilios-Liturgie am Ostersamstag dienen, bei der die stichoi (Halbverse) des Psalm 129 zusammen mit Auferstehungsstichira im Ichos Plagios Protos rezitiert werden.40

Abb. 4: Edera Caparelli in ihrem Laden in San Benedetto Ullano (Shën Benedhiti)

Daneben gibt es Ordinariumsgesänge wie die des Trisagion und des Cheruvikon, die nur an wenigen Festtagen durch andere Gesänge ersetzt werden. Zu Festen der Kreuzerhebung oder -anbetung, wozu auch Karfreitag zählt, wird das Trisagion durch ein anderes Troparion im Ichos Devteros Τ ν σταυρ ν σου προσκυνο µεν ersetzt.ὸ ὸ ῦ 41 Ein anderes Troparion, das eine Prozession begleitet, ist das Mesonyktikon, das in der Nacht vor dem Auferstehungsfest gesungen wird, bevor die Türen der Kirche rituell eingebrochen werden, einer der dramatischen Höhepunkte der Passionszeit.42

(389).39 Sie beruht im wesentlichen auf Petros Peloponnesios' Doxastarion syntomon, das 1820 in die Reformnotation

übertragen und zum ersten Mal gedruckt wurde. Es gibt heute zahlreiche konkurrierende Schulen (Iakovos Protopsaltis’ langsamer Stil, Konstantinos Byzantios mittlerer Stil, oder die mündliche Tradition der alten Schule des Patriarchats bei Iakovos Nafpliotis und Konstantinos Pringos), die alle verschiedene Auffassungen des sticherarischen Melos vertreten.

40 Aufnahme mit den Seminaristen der Arbëresh in der Parrochia Shën Sotir in Cosenza (7. April 2012): http://ensembleison.de/calabria/anastasimabasilio_cosenza.mp3. Die folgenden Stichira ideómela werden dagegen in italienischer Übersetzung gelesen.

41 In einem privaten Interview in San Benedetto Ullano sang Edera Caparelli aus einer mündlichen Tradition (9. Mai 2012): http://ensembleison.de/calabria/antitrisaghion.mp3 Süditalienische Musikhandschriften überliefern zweisprachige Versionen zu Karfreitag und dem Fest der Kreuzverehrung.

42 Nachtgottesdienst zum Auferstehungsfest in Firmo (20. April 2014):

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2.1.2. Gesänge des Ordinarium Die meisten Gesänge der göttlichen Liturgie gehören zum mehr oder weniger un-

veränderlichen Zyklus des Ordinarium, bei dem allerdings die Tonart entsprechend des Oktoichos-Zyklus (dem Ichos der Woche) gewechselt werden kann. Wir können verschiedene Melodien, wie sie in den slavischen und griechischen Gesangsbüchern gedruckt wurden, mit der mündlichen Tradition in den Arbëreshgemeinden vergleichen. Trotz ihrer Verschiedenheit sind sie als unterschiedliche Realisierungen derselben Melodie erkennbar. Ein Beispiel wäre das Trisagion im Ichos Devteros:

Die in der Feldaufnahme aus Lungro dokumentierte Version bewegt sich zwischen einer weich-chromatischen und einer weich-diatonischen Intonation, möglicherweise bedingt durch die Option, sie mehrstimmig (multipart) zu singen.43 Entsprechend der weniger elitären Tradition, die

http://ensembleison.de/calabria/mesonyktikon.mp3.43 Aufnahme 6. Dezember 2014: http://ensembleison.de/calabria/trisagion_lungro.mp3. Der Begriff “multipart

singing” folgt hier weitgehend der ethnologischen Definition von “multipart music making'' als soziale Interaktion

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mehr oder weniger bei der Gemeinde selbst liegt, ist sie die kürzeste und einfachste Fassung.

Eindeutiger ist der Fall des Cheruvikon, das zwar als Ichos Plagios Tetartos modal interpretiert werden kann, aber offenbar eine konventionelle mehrstimmig tonale Ausführung in Dur meint. Ich habe sie zuerst in Cosenza aufgenommen – eine Gemeinde, dessen Situation von den Arbëresh selbst als außerhalb der normalen Situation innerhalb einer dörflichen Gemeinde (extrakommunitär) charakterisiert wird, als die einer Parochialgemeinde, die gegenüber den traditionelleren ruralen Gemeinden als künstlich empfunden wird.44 Diese einstimmige Fassung, die offensichtlich aus einem Mangel an Sängern zu erklären ist, die genug mit der Melodie vertraut sind, konnte ich in einer mehrstimmigen Ausführung in Lungro wiederkennen.45

In mehrerer Hinsicht kann diese Tradition mit anderen orthodoxen in ehemaligen italienischen Provinzen des heutigen Griechenland verglichen werden. Dass sie immer bis zur Ankunft der albanischen Einwanderer zurückverfolgt werden könne, wie dies oft von der lokalen Bevölkerung erwartet wird, ist wohl eher wenig realistisch. Eher selten wird die Frage gestellt, welche lokalen Gepflogenheiten des griechischen Ritus übernommen wurden, da die meisten griechischen Dörfer entlang der älteren Archimandritate wiederbelebt werden. Bereits die bemerkenswerten Versuche von Lorenzo Tardo und Bartolomeo Di Salvo, durch Feldforschung und handschriftliche Studien an das italobyzantinische Erbe anzuknüpfen, beweisen, was für eine Herausforderung dieser Ansatz ist, wie lobenswert und wichtig er auch für das historische Verständnis der subalternen Orthodoxie sein mag.

2.2. Paraliturgische Traditionen Weitaus komplexer ist die Frage nach den paraliturgischen Traditionen. Sie können aus

mehreren Gründen als die älteste Schicht der heute erhaltenen Tradition betrachtet werden, in jedem Fall alt genug, um mehrere anthropologische Hypothesen, die von vielen inzwischen als Tatsachen verhandelt werden, grundsätzlich in Frage zu stellen. Zu diesen Gründen gehört vor allem, dass diese Traditionen von der Institution Kirche und ihren liturgischen Reformen unabhängig sind, ihre Komplexität besteht daher im wesentlichen darin, dass sie auch dort überleben konnten, wo die Pflege des Dialekts und ihrer dörflichen Traditionen in keiner Weise von der Kirche abhing. Entsprechend ambivalent ist die Haltung der Priester zu den paraliturgischen Traditionen, sie reicht von Ablehnung oder rigoroser Trennung über Verehrung, aktiver Teilnahme bis hin zur liturgischen Einbindung. In jedem Fall bedürfen diese Traditionen keiner Zustimmung durch einen Papas, sie bestehen als Traditionen so selbstverständlich, dass niemand auf die Idee käme, kirchliche Obrigkeiten um Erlaubnis zu bitten, um sie weiterführen zu dürfen.46

von Ignazio Macchiarella: «Theorizing on multipart music making.» In Multipart Music—a Specific Mode of Musical Thinking, Expressive Behaviour and Sound. Papers from the First Meeting of the ICTM Study Group on Multipart Music (September 15-20, 2010; Cagliari – Sardinia), 4:7–22. Multipart Music. Udine: Nota, 2012.

44 Aufnahme von 2009: http://ensembleison.de/calabria/cherouvikon_cosenza.mp3.45 Aufnahme der göttlichen Liturgie zum Patronatsfest von San Nicola in der Kathedrale von Lungro (6.12.2014):

http://ensembleison.de/calabria/cherouvikon_lungro.mp3.46 In wenigen Fällen hat sich diese Unabhängigkeit als sehr wichtig erwiesen, denn nicht immer stammen die Papas

aus einem Umfeld, das ihnen hilft, die einzigartige Bedeutung dieser Tradition zu erkennen. Ein rumänischer Papas von San Benedetto Ullano hat die katholische Verehrung von Figuren anstelle von Ikonen als unorthodox kritisiert und bestimmte Trancerituale werden insbesondere von städtischen Priestern mit großem Misstrauen kontrolliert, obwohl die Frage, ob eine Trance ,,vorgetäuscht“ oder ,,echt“ sei, wohl keine Bedeutung für das Ritual an sich hat.

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2.2.1. Kalimere Anhand der Verbreitung der Kalimera kann diese Komplexität exemplarisch studiert werden.

Zwischen den italogriechischen und italoalbanischen Sprachinseln lässt sich der grundsätzliche Unterschied beobachten, dass Kalimere nur im griechischen Bereich, wo es lange Zeit keine Gemeinden mit orthodoxem Hintergrund gab, als eine Tradition der Straße erhalten hat, die ihrerseits der Unterstützung durch ein Instrument bedarf und traditioneller Weise von Männern gesungen wird.47 Das heisst aber keinesfalls, dass nur in Dialekten gesungen wird, die mit Balkansprachen vermischt sind, es gibt durchaus Dörfer in Richtung Gallipoli wie Cutrofino und Sannicola, wo diese Mischformen sich nicht erhalten haben, sehr wohl aber die Tradition der Kalimera, auch wenn sie im lokalen Dialekt den Anlass eines Festes erklärt.48 Ich möchte mich auf Kalimere zur Passion beschränken, obwohl sie auch zu anderen Heiligenfesten gesungen werden, vor allem aber zu Weihnachten, am Lazarussamstag (vor Palmsonntag) und zur Entschlafung der Gottesmutter (Ferragosto).

2.2.1.1. Formen des Multipartsingens

Die Kalimere der Arbëresh zumindest im Parco Pollino entlang der Grenze Basilicata-Calabria zwischen Civita (Çifti), San Basile (Shën Vasili) und Acquaformosa (Firmoza) werden in Arbëresh meist von Frauen gesungen, in den meisten Fällen einstimmig, auch wenn bisweilen sehr einfache Formen von Mehrstimmigkeit (Multipart) vorkommen können, z.B. Stütztöne oder eine Parallelstimme (gymel).49 Anders als bei den italogriechischen Kalimere sind Instrumente nicht üblich, und in den meisten Fällen werden sie nicht am Lazarussamstag, sondern vor allem zu Gründonnerstag und Karfreitag in der Kirche gesungen, d.h. die Prozessionslieder im Dialekt haben oftmals mehr oder weniger offiziell Eingang in die Kirche gefunden. Nur in San Basile singen an Gründonnerstag die Männer zweistimmig hinter der Ikonostase, alternierend mit den Frauen im gleichen Register, für deren Register die zweite Stimme zu tief liegt, bisweilen wird dagegen die Melodiestimme oktaviert.

Die Aufnahme dokumentiert als dritte Melodie eine weitere, die zu den letzten drei Strophen der zweiten Kalimera (Patirterni) gehört und bricht vor der dritten ab (Kapuçini). Doch der Auschnitt zeigt eine organische Entwicklung zwischen den vier Melodien, die im wesentlichen durch den

Es handelt sich vielmehr um historisch überlieferte Probleme, die urbane Aufklärer seit jeher haben, wenn sie herausgefordert sind, bestimmte Formen ländlicher Religiosität zu tolerieren.

47 Während vor allem Frauen sich in den letzten Jahren für ihre Erforschung engagiert haben. Anna Cinzia Villani: http://www.ipassiuna.it/ Neben ihren Feldaufnahmen der apulischen Kalimera um Gallipoli, die auf dieser Seite veröffentlicht wurden, hat sie auch die Version von Cutrofino zusammen mit Carla Maniglio unter nahezu authentischen Bedingungen in Alezio aufgenommen: https://www.youtube.com/watch?v=jP5DwmgHVdo Costa, Diana. ‘I Passiuna tu Christù - Rito e teatro di una cantica popolare della Grecìa Salentina.’ Antropologia e Teatro. Rivista di Studi 2 (2011): 140–69. http://antropologiaeteatro.unibo.it/issue/view/245.

48 Als Beispiel für die Kalimera in Griko mag eine frühe Aufnahme (1954) von Alan Lomax dienen. Die Aufnahmen werden derzeit vom Verlag Kurumunny angeboten: https://www.youtube.com/watch?v=tm4fJtDZ2eg. Dort erschien auch eine Neuausgabe von Gianni Bosios and Clara Longhinis Dokumentation der Kalimera von Martano (1968): Bosio, Gianni, und Clara Longhini. 1968 una ricerca in Salento: suoni grida canti rumori storie immagini. hg. v. Luigi Chiriatti, Ignazio Macchiarella, und Gianni De Santis. Lecce: Kurumuny, 2007. 1999 erschien eine Aufnahme der pugliesischen Kalimera aus Cutrofino, die 2006 neu veröffentlicht wurde. Chiriatti, Luigi, und Roberto Raheli, Hrsg. Bonasera a quista casa… Gli Ucci – Pizziche, Stornelli, Canti Salentini. Lecce: Edizioni Aramirè, 1999. http://www.aramire.it/pag006.htm.

49 Diese Formen konnten auch für die Kalimeret zu Gründonnerstag in Lungro dokumentiert werden.

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Rhythmus und das Tempo gestaltet wird.

Tr. 2: Modale Transkription der ersten Kalimera über Zotit Krisht (San Basile)50

Der Text der Strofe wird hier phonetisch und diplomatisch transkribiert:

IPA Standard Übersetzung t' tæzi n ( ) mb ma ( )ɲɔ̞ ɔ̞ɲ ː ɛ ɾɔ̞ ̝ ɛ

ˈkriːʃtı pıɾ nɛ pɔnˈʣɔjmiː ˈmbjɔðiː ˈpɔstʊλit (ɛˈɔj)m'iː ˈvuː ɛ miː mbiˈtɔːj

Një t’ ënjtozin mbrëmaKrishti për ne pënxoim’i mbjodhi Postulitm’i vu e m’i mbitoi.

In einer Donnerstagnachtdachte Christus an uns,Er versammelte die Apostel um sichauf seine Einladung hin.

50 Aufnahme vom 28. März 2013: http://ensembleison.de/calabria/kalimera_shenvasili.mp3.

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2.2.1.2. Formen der Monodie

Ähnlich wie im Salento kennt jedes Dorf eine eigene Melodie, allerdings ist das Melos modal gestaltet und unterliegt eher selten tonalen Einflüssen durch eine harmonische Begleitung eines Akkordions, als solche gehören sie zum Typus der fallenden Melodien (Katavasies oder Katavasiai). Obwohl sowohl im Salento wie in Kalabrien alle tonalen wie modalen Melodien eine klare zweiteilige Anlage haben, werden die Verse des zweiten Teils nicht im ersten Teil der folgenden Strophe wiederholt, wie das in der epischen Rezitation üblich ist, sondern die Strophen laufen durch, ohne Teile des Textes zu wiederholen.

Einige Texte lassen sich grob auf Varibobas Dichtung zurückführen, auch wenn die lokalen Varianten untereinander ähnlicher sind.51 Offenbar hat seine Veröffentlichung, die in Rom gedruckt, aber in San Giorgio Albanese verkauft wurde, lokale Papas zu Um- und Neudichtungen inspiriert, die sich durch eine mündliche Überlieferung erhalten haben. Seit dem späten 19. Jahrhundert wurden sie transkribiert und als Sonderdrucke in den Gemeinden verbreitet. Durch diesen Trend zur Verschriftlichung haben sich die jeweiligen Textfassungen wieder erneut angeglichen.

In der heutigen Tradition kann man daher grob einen Corpus von paraliturgischen Texten unterscheiden, die über bestimmte Verse Varibobas arrangiert wurden, die bei den Kalimere während der Karwoche gesungen werden: Ti zot ki paçenx (Zotit Krisht, denn nur wenige Versionen haben diese zweistrophige Einleitung), Patirterni, Kapuçini, Nutixja, Klagelieder vajtimet (Kalimera Lazarit, Vajtimi Shën Mërīs, E keqe penë und Javes-Madhe).

Während einer privaten Aufnahme in Firmo (Ferma) zu Ostersamstag wurden jeweils zwei Kalimere für Gründonnerstag und für Karfreitag gesungen, in dieser Reihenfolge:52

Tr. 3: Zotit Krisht hat eine Melodie im Ichos Plagios Protos (Finalis D, Ambitus c—C mit enharmonischen Tetrachord zwischen b—F) und ist im Rhythmus eines 3/8 Takts gestaltet

Tr. 3: Auszug aus Zotit Krisht aus Firmo (Ferma), erste Kalimera zu Gründonnerstag

51 Eine systematische Edition der lokalen Texte ist in Zusammenarbeit mit Gianni Belluscio geplant und wird in diesen Monaten in Bulgarien erscheinen.

52 Aufnahme vom 19. April: http://ensembleison.de/calabria/kalimera_ferma.mp3.

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Tr. 4: E graxje patsha Zonjza Najteshe, Katavasia im Ichos Plagios Tetartos, mit wechselnder Basis zwischen D und C (Finalis C, Ambitus a—C)

Tr. 4: Auszug aus E graxje patsha Zonjza Najteshe, zweite Kalimera zu Gründonnerstag (Firmo)

Vers53 Varibobas Fassung Transkription (Firmo) Übersetzung

37793780

Parrajsi u ghap, së jan’ mëkat,penët tona Zoti Krisht i pat.

u hap parrajsi nëng janë mbëkat,e pent e t’In ë Zoti Krisht i pat.

Wenn bei uns das Paradies offen ist,mit seiner Buße hat er alle Sünden bezahlt.

37813782

Shkoi pen e mort, e mi hjidhīndë varrt e vū Zonja e Shën Mërī.

e patë pen e mor tje me hjidhinedë varrit m’u vu Zonja Shi’Mëri.

Schmerz und Tod erlitt er im GrabMaria nahm ihn fromm herab.

Tr. 5: Vajtim E keqja pene, Katavasia im Ichos Protos eso (Finalis und Basis D, Ambitus c—D)

Tr. 5: Beginn des Vajtim, Kalimera zu Karfreitag (Firmo)

Vers Varibobas Fassung Transkription (Firmo) Übersetzung

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E keqe pen qe kūr të vrārtë bīr’ ghajdhjār ndë duar e pat.Aghiera qajti sā gurët ndajtime këtë vāj çë bën pietat:

e keqja pene qe kur të vraneo jë bir hadhjar e tij o kur të pan.aq më qajta sa durt m’i lajtapir ato valle çi më bën pjeta:

O welch Schmerz, seit sie deinen edlenSohn töteten, den du auf deinen Armen trugst.Du schriest auf, dass Steine brechen,mit einem Weinen, das Mitleid erweckt.

Tr. 6: Kapuçini, Katavasia im Ichos Plagios Protos, mit wechselnder Intonation der Stufe II (Finalis und Basis D, Ambitus b—D)

Einige dieser Melodien können auch in benachbarten Arbëreshgemeinden gefunden werden, aber in den meisten Fällen hat jedes Dorf seine eigene Melodie, selbst die Texte folgen lokalen Überlieferungen, und es gibt lokale Eigenheiten in der Aufführung. Besonders die zweite Kalimera zu Karfreitag Kapuçini lässt sich anhand der Ornamente und der Tonalität der Tradition des orthodoxen Gesangs zuordnen, das Ornament im jeweils ersten Takt eines Stichos (Strophenhäfte,

53 Zitiert nach der kritischen Ausgabe von Vincenzo Belmonte (Anm. 27), Transkription der mündlichen Überlieferung von Gianni Belluscio.

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wobei Stichos eine byzantinische Zweiteilung eines Psalmverses meint) entspricht dem der Petasthi.

Tr. 6: Auszug aus Kapuçini, zweite Kalimera zu Karfreitag (Firmo)

In Acquaformosa (Firmoza), das nicht weit von Firmo liegt, man gelangt dorthin über Lungro, ebenfalls ein kleines Bergdorf, aber als Sitz des Bischofs des byzantinischen Ritus ist es zugleich die „Hauptstadt“ von Arbëria, den Arbëresh in Kalabrien und Basilicata, wurden zu Karfreitag 2014 vier Kalimere gesungen, drei davon in Arbëresh, eines in Calabrese.54 Die Melodie des Ti graxje pafshe Zonjza Shën Miri, eine Katavasia im Ichos Plagios Tetartos, wurde zweimal verwendet, auch für die Rezitation der Pasjuna Ti zot ki paçenx. Auffallend im Vergleich zu Firmo ist, dass beide Gemeinden für die Rezitation von Ti zot ki paçenx eher einen schnellen walzerartigen 3/8 Takt verwenden, auch wenn die Melodie und ihre Tonart nicht übereinstimmen.

Tr. 7: Zotit Krisht mit der Einleitung Ti zot ki paçenx als auch Ti graxje pafshe Zonjza Shën Miri, haben ein absteigendes Melos des Ichos Plagios Tetartos (Finalis und Basis C, Ambitus a—C):

Tr. 7: Die beiden Kalimeret Ti zot ki paçenx und Ti graxje pafshe Zonjza aus Acquaformosa (Firmoza)

54 In Firmoza wurden zu Karfreitag Kapuçini, Ti graxje pafshe Zonjza Shën Miri, eine kalabrische Kalimera und Ti zot ki paçenx gesungen (Aufnahme vom 18. April): http://ensembleison.de/calabria/kalimera_firmoza.mp3.

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Diese Melodie ist sehr einfach und deshalb gibt es offenbar besonders viele Varianten, weswegen ich mich bemüht habe, gleich mehrere Versionen als Varianten zu transkribieren. Bei der jeweils ersten Strophe, sei es die Einleitung zur Pasjuna «Ti zot ki paçenx», sei es der viel kürzere Vers «Ti graxje pafshe Zonjza Shën Miri», werden die letzten drei Takte in meiner Transkription auf der Schlusssilbe gesungen, mit einer Achtel zu Beginn. Kürzen und Längen können in diesem Dreiertakt auch einfach ausgetauscht werden, um die Melodie an eine vorübergehende Akzentverlagerung anzupassen.

Auffallend an der vierten Kalimera mit der Pasjuna ist die Verwendung von Einschubsilben. Dieses poetische Verfahren ist sehr gebräuchlich im poetischen Umgang mit diesem Dialekt. Zwar wird er gerne als metrische Anpassung des Textes an ein bestehendes Versmaß betrachtet (da die Melodie für Dodecasillabi gemacht ist), aber der erste Vers der zweiten Kalimera hat weitaus weniger Silben, ohne dass er auf 12 angefüllt wird. Oft werden konsonantische Endungen wie in «gjith» (zweiter Vers) als zweite Silbe verstanden, während sich die Silben «ka asaj», offenbar weil es ein Lehnwort aus dem kalabrischen Dialekt ist, durch eine Elision zusammenziehen. Bei diesen Anpassungen hat die Prosodie der Sprache oberste Priorität, ähnlich wie dies aus der liturgischen Dichtung bei der Anpassung der Prosomoia an die metrische Struktur der Melodie des Avtomelon bekannt ist.

Bemerkenswert ist auch die erste Kalimera mit den Kapuçini Versen. Da die Verse die Wörter des jeweils vorausgehenden Verses aufgreifen, geht auch die Melodie über die Grenzen der Strophen hinweg.

2.2.2. Tarantelle und ValljeBereits in Gallicianò machte man mich darauf aufmerksam, dass die Tarantella ein

paraliturgischer Tanz sei, der während der Prozession getanzt wird. Ich misstraute zuerst meinen Informanten, da die Tarantella gegenüber Touristen eher als Hochzeitstanz dargestellt wird, doch haben meine eigenen Feldforschungen und die anderer Kollegen mich davon überzeugt, dass dies eine traditionelle Auffassung ist, die der Interpretation der Pizzica und der Tarantella in Apulien als Formen des Exorzismus direkt widerspricht.55

Feldforschungen über die Tarantella in Basilicata und Kalabrien zeigten, dass Tarantelle vor allem zu Heiligenfesten gespielt und getanzt werden. Bisweilen tragen die Tänzerinnen und Tänzer sogar hohe Heiligenschreine, sogenannte «cirii», auf dem Kopf.56 Ein anderes Beispiel ist das Fest von SS. Cosma e Damiano (27. September) in Riace, zu dem auch Roma pilgern.57 In Lungro

55 De Martino, Ernesto. La terra del rimorso: Contributo a una storia religiosa del Sud. Milano: Il Saggiatore, 1961. Es ist offenbar eine jüngere Interpretation, auf die Priester des lateinischen Ritus im 19. Jahrhundert zurückgriffen, um bestimmte paraliturgische Rituale zu kontrollieren. In Wirklichkeit hat die paraliturgische Tarantella mit den Hochzeitszeremonien gemein, dass sie den Tänzern eine Freiheit lässt, die sie außerhalb des Rituals nicht haben. Leider hat diese Exorzismus-Interpretation seit Ernesto De Martino eine unverhältnismäßige Beachtung gefunden – jedenfalls eine, die in Kalabrien angesichts der Diasporasituation der subalternen Orthodoxie keinen Sinn macht und daher zum Verständnis der lokalen Tarantella nur wenig beitragen kann.

56 Zum Fest von San Rocco (16. August) in Senise bestehen sie vor allem aus Kerzen und Getreide, in der Mitte balanciert ein Tänzer eine lange Stange oder Standarte auf der Stirn, auf der Schulter usw. Siehe die Feldforschung von Mariko Kanemitsu: http://www.archiviosonoro.org/basilicata/archivio/archivio-sonoro-della-basilicata/fondo-kanemitsu/senise.

57 Auch diese Einbeziehung ist oft zu wichtigen religiösen Festen im Balkan zu beobachten. Diese Freiheit und Toleranz ist es eigentlich, die die Tarantella auszeichnet, selbst dann, wenn es immer Menschen geben wird, die

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konnte ich Material zum Patronatsfest von San Nicola sammeln.58

Abb. 5: Carneval in Teana (Basilicata)

Auch zu den Maskeraden des dörflichen Karnevals gehören Instrumente wie Triangel, Flaschen, Tamburello (kleine Rahmentrommeln mit Schellen), Akkordion (fisarmonica, organetto) und Dudelsack, auf denen nahezu ununterbrochen gespielt wird. Sobald die Maskerade größere Plätze in dem Dorf erreicht, werden sie zum Tanzplatz, auf der auch Männer in Frauenkostümen tanzen. Diese Darbietungen als Parodie oder Farce abzutun, weil zu den Tarantelle auch Spottverse improvisiert werden, greift zu kurz.

Auch der Karneval ist in den beweglichen Zyklus zu Beginn der Fastenzeit (Caresima) eingebunden, während liturgisch den Angehörigen durch eine Totenfeier gedacht wird, die im letzten Jahr verstorben sind. Es gehört zur Rolle des Carnevale, dass er auch die Wurst über den Kamin zu stehlen versucht, dennoch lassen die Bewohner die Maskerade ins Haus und geben ihnen etwas. Auch wenn die Bewohner den Darsteller des Carnevale kennen, geben sie sich nicht zu erkennen, sondern betrachten die Masken nicht als zu den Menschen zugehörig und ihre Handlungen als etwas, das sich dem menschlichen Urteil entzieht.59 Der eigenen Darstellung

damit nicht umgehen können. Der Kurzfilm von Gianfranco Donadio hebt wichtige Momente der Prozession hervor. Hier wird die Tarantella mit Organetto, Tamburelli und Triangel gespielt, während mit der Surdulina eher die ruhige Bewegung der Prozession harmonisiert wird. http://www.impressionimeridiane.com/alla-festa-dei-santi-medici/. Prozession zum Fest der Gottesmutter in der Arbëreshgemeinde von San Costantino Albanese (Basilicata) am nördlichen Rand des Parco Pollino: https://www.youtube.com/watch?v=j2EwB4no_Fg.

58 In der Nacht zwischen dem 5. und 6. Dezember wird meist zum Organetto getanzt, aber zur Zampogna oder der Surdulina, oft begleitet von einer Schalmei (ciaramella), werden vjersh gesungen.http://ensembleison.de/calabria/tarantellafallo_lungro.mp3.

59 Üblicherweise ist der Carnevale, der mit Quaremma (Dialektname der Fastenzeit) verheiratet ist, nur eine Strohpuppe, die am Ende der Karnevalszeit auf dem Dorfplatz verbrannt wird. Im Carnevale von Teana (Basilicata, nahe dem ehemaligen Archimandritat Carbone) wird der Carnevale von einem Bewohner gespielt, dessen Maske die

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zufolge stehen die Maskierten sowohl für die verstorbenen wie für zukünftige Bewohner des Dorfes, sie abzuweisen, wird damit verglichen, für verstorbene Angehörige keine Totenmesse lesen zu lassen, dagegen bringt es Glück, die Maskerade in das eigene Haus einzuladen.60

Ebenso erstaunt war ich von dem Brauch im Dorf San Demetrio Corone, bei dem zu Osternacht ein riesiges Feuer im Zentrum des Dorfes gemacht wird, das das Dorf niederzubrennen droht. Am Feuer werden Tarantelle gesungen, wodurch sich die Bewohner kurz vor dem Auferstehungsfest in die karnevaleske Stimmung zu Anfang der Fastenzeit zurückversetzen. Diese Umkehrung, der Tod und die symbolische Totenfeier der Passionszeit, der Übergang durch Wasser (dem Feuer geht das Ritual des „Wasserstehlens“ voraus), Feuer usw. sind als paraliturgische Riten kein Gegenstand theologischer Abhandlungen, aber sie gehören zu einem lokalen Konzept von Magie, mit dem der rituelle Tanz Tarantella verbunden ist. Diese Verbundenheit mit dem Lebenszyklus erklärt die rituelle Bedeutung des Tanzes.

Bei der Tarantella calabrese werden außerdem eine traditionelle und eine moderne Form unterschieden, die mit der Besetzung Akkordion (Organetto) oder Dudelsack (Zampogna) zusammenhängt.61 Die traditionelle Form wirkt langsamer und meditativer, wird aber schneller oder im halben Tempo getanzt, besonders bei älteren erfahrenen Tänzern. Die andere modernere Form verlangt große Virtuosität vom Organettospieler, während die traditionelle Form geeigneter ist, um lange Entwicklungen innerhalb eines Tanzes zu gestalten. Generell kann aber gesagt werden, dass bei der Instrumentierung einer Tarantella keine Grenzen gesetzt sind.62

Bei der Vallja dagegen gleicht der Tanz einer Prozession, ohne eine zu begleiten, vielmehr stellt dieser Tanz, der nur unter den Arbëresh gepflegt wird, ein eigenes Ritual in sich dar, das am Dienstag nach Ostermontag zelebriert wird. Dieses Ritual ist dem Nationalhelden Skanderbeg gewidmet, dessen Geschichte in einem Multipart-Gesang erzählt wird. Für diesen Gesang gibt es zwei Gruppen, die am Anfang und am Ende der Straße beginnen. Jede Gruppe ist durch ein weißes Band verbunden, so dass die Sänger an den beiden Enden das Band halten und die Sängerinnen in der Mitte. Jede dieser verbundenen Gruppen besteht aus zwei Chören, die im antiphonen Wechsel zueinander singen. Die beiden Gruppen, die vom jeweiligen Ende der Straße sich aufeinander zu bewegen, kreuzen sich in der Mitte und entfernen sich von da aus wieder in der entgegengesetzten Richtung.63

einer Strohpuppe ist. Dieser lebendigen Verkörperung des Carnevale wird ein fingierter und ungerechter Prozess gemacht, um ihn zu verurteilen. Genau dieser rituell vorgegebene Ablauf macht aber die Handlungen der Maskierten schwer vorhersehbar.

60 Die Vorstellung, dass während der Gottesdienste für verstorbene wie kommende Generationen der Christen gebetet wird, ist in der orthodoxen Theologie fest verankert. Auch wenn Teana heute eine „Gemeinde des lateinischen Ritus“ ist, scheint sie überlebt zu haben. Rosario Castronuovo jedenfalls bezeichnet die Figur des Bettlers, die die Maskerade anführt, als „Bote unserer Verstorbenen“ (il messagero dei nostri defunti). Castronuovo, Rosario. Le maschere di Teana. Le podoliche. Piacenza: Altrimedia, 2012.

61 Neben dem modernen Akkordion wird der Tradition nach ein sehr kleines diatonisches gespielt, das «Organetto» genannt wird. Die Zampogna im Pollino wird häufig als Surdulina oder Zampogna a chiave spezifiziert, entsprechend der in den Pfeifen verwendeten Rohrblätter. In den lokalen Dialekten heisst sie «Karramunxa» (Arbëresh) oder «Ciarameddu» (Grecanico). Dudelsackkurs mit Angelo Le Rose in Mungrassano: http://ensembleison.de/calabria/tarantella_karamunxa.mp3.

62 Sie kann sogar gestampft werden, wie in dieser Feldaufnahme, die ich während des Karnevals von Teana machen konnte: http://ensembleison.de/calabria/tarantellaaipiedi.mp3.

63 Einen guten Überblick über den Ablauf dieses Rituals gibt ein Kurzfilm von Gianfranco Longo, den er für das lokale Fernsehen produziert hat: https://www.youtube.com/watch?v=crf_2ZsdovM.

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Abb. 6: Vallja in Frascineto

Die zwei Stimmen sind in einer Weise organisiert, die Musikethnologen nicht aus Italien, sehr wohl aber aus dem Balkan kennen. Obwohl die Melodie sehr einfach ist, ist die zweite Stimme geradezu monoton. Sie ist eigentlich eine Bordunstimme, die den Text mitsingt und dabei beständig zwischen drei Borduntönen und einer paenultima-Stufe wechselt. Aber durch die Sekundreibungen entfaltet sie ihre eigentümliche Wirkung im Zusammenklang mit der anderen Stimme.

Die Vallje wurden in der Feldforschung seit den 50er Jahren dokumentiert, zuerst von Dialektforschern wie Giuseppe Gangale und Beniamin Kruta, aber auch lokale Autodidakten wie Italo Elmo, der Beniamin Kruta bei der Feldforschung assistierte. Er setzte seinerseits Feldforschungen auf eigene Faust fort, in seinem Archiv befinden sich aber auch die Nachlässe von Beniamin Kruta und Papas Emanuele Giordano, der im Frühjahr 2015 verstorben ist.64

Die historischen Feldaufnahmen werden zum Teil schon heute genutzt, um an verlorene Traditionen wieder anzuknüpfen. Diese Aufnahmen sind bisweilen sehr wertvoll, weil sie dokumentieren Vallje, die heute nicht mehr gesungen werden, oder die Aufnahmen zeigen gestalterische Freiheiten, die heutigen Sänger erst wieder zurückgewinnen müssen.65

64 Sein privates Webarchiv mit dem Fondo Emanuele und Kruta soll auf seiner Homepage zugänglich gemacht werden: http://www.arbelmo.it.

65 Als Beispiel nehme ich die Aufnahme der Vallja «Kostandini vogëlith» aus San Cosmo Albanese (Strigàri), in der Filomena und Natalina Algieri, und Lauretta Visciglia von Emanuele Giordano dokumentiert wurden, aber auch seine Aufnahme der Vallja «Skanderbeku një menatë» aus Frascineto: http://ensembleison.de/calabria/archivioElmo.html.

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3. Ausblick Damit bin ich am Schluss angelangt, an dem ich nochmals betonen möchte, dass die

Geschichte der subalternen Orthodoxie noch weitgehend ungeschrieben ist, trotz vieler lokaler Veröffentlichungen vor allem von Autoren aus der lokalen Bevölkerung seit dem 18. Jahrhundert. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert haben deutschsprachige Linguisten wie Gerd Rohlfs (Berlin) und Max Lambertz (Wien) u. a. vor allem in der Dialektforschung Pionierarbeit geleistet, die besonders in Kalabrien sehr geschätzt wird. Dies ändert aber nichts an der hoffnungslosen Situation, die eine verfehlte Bildungspolitik Italiens geschaffen hat. Im Vergleich zu den griechischen und okzitanischen Minderheiten ist die der Arbëresh sehr viel zahlreicher, aber genau wie die anderen Mischdialekte steht sie inzwischen auf der roten Liste der ernsthaft gefährdeten Sprachen der vereinten Nationen. Da der elementare Unterrichte aller Dialekte seit 2007 offiziell vom Bildungsministerium abgeschafft wurde, nehmen die sprachlichen Kompetenzen in einem rasanten Tempo ab. Meine Beschreibung des Feldes zeigt, dass mit der Sprache nicht notwendiger Weise auch die Kultur verschwindet, aber die Erosionen des aktuellen Globalisierungsprozesses sind erschreckend. Italien wäre gut beraten, aus der Bewegung des Risorgimento endlich auch die südlichen Vertreter der Bewegung zur Kenntnis zu nehmen, die hier die ersten Schulen gegründet haben, selbst dann wenn sie im 19. Jahrhundert als Briganten diffamiert und kriminalisiert wurden. Der Begriff „subalterne Welt“ erklärt sich daraus, dass die moderne Zivilisation zu sehr an sich selbst verwahrlost ist, um ihn als einen unverzichtbaren Teil ihrer selbst zu begreifen, ohne den sie keine Zukunft mehr hat.

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