Regime der Alterität - Politik und Affekt

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277 Serhat Karakayalı Regime der Alterität: Politik und Aekt Wer sich mit Fragen der kollektiven Identität, den Prozessen ihrer Zuschreibung sowie den Mechanismen der Verteilung sozialer Macht, die daran gekoppelt sind, befasst, stößt auf ein grundle- gendes Problem. Anders als in klassisch soziologischen Rollen- konzepten ist mit der Idee einer (z. T. auf kulturalistischen, aber auch biologistischen Axiomen aufruhenden) kollektiven Iden- tität die Vorstellung einer Substanzialisierung verbunden. Wer eine solche Identität hat, selbst wenn dies kritisch als Folge von Zuschreibungsprozeduren beschrieben wird, kann sich von ihr – anders als im Fall einer Rolle – nicht freimachen. Ähnlich wie in Bourdieus Habituskonzept klebt die Identität am Körper des Individuums. Dies hängt vor allem mit der Ebene der Machtbe- ziehungen zusammen, bei der die Identitäten dazu dienen, die Gruppenzugehörigkeit zu markieren: sowohl um diskriminiert zu werden (als Frau, Schwarze, Migrant_in, Behinderte usw.) als auch um als Angehörige_r einer Gruppe der ‚Normalitätsklasse’ erkannt zu werden. Diese Funktion der Identität führt im Extrem- fall dazu, dass das ganze Feld, wie im klassischen Race-Relations 1 - Ansatz, rein gruppentheoretisch, also als Beziehung zwischen minoritären und majoritären Gruppen gefasst wird. Die Kategorie identitärer Positionalität, wie sie im Kontext der Intersektionali- tätsdebatten entstanden ist, kombiniert die Vielzahl der mög- lichen identitären Positionen, die ein Individuum im sozialen Raum einnehmen kann. Eine Transformation des Beziehungsge- füges oder ein Verlassen der jeweiligen individuellen identitären Position ist nicht vorgesehen und auch nicht Gegenstand der

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Serhat Karakayalı

Regime der Alterität: Politik und Affekt

Wer sich mit Fragen der kollektiven Identität, den Prozessen ihrer Zuschreibung sowie den Mechanismen der Verteilung sozialer Macht, die daran gekoppelt sind, befasst, stößt auf ein grundle-gendes Problem. Anders als in klassisch soziologischen Rollen-konzepten ist mit der Idee einer (z. T. auf kulturalistischen, aber auch biologistischen Axiomen aufruhenden) kollektiven Iden-tität die Vorstellung einer Substanzialisierung verbunden. Wer eine solche Identität hat, selbst wenn dies kritisch als Folge von Zuschreibungsprozeduren beschrieben wird, kann sich von ihr – anders als im Fall einer Rolle – nicht freimachen. Ähnlich wie in Bourdieus Habituskonzept klebt die Identität am Körper des Individuums. Dies hängt vor allem mit der Ebene der Machtbe-ziehungen zusammen, bei der die Identitäten dazu dienen, die Gruppenzugehörigkeit zu markieren: sowohl um diskriminiert zu werden (als Frau, Schwarze, Migrant_in, Behinderte usw.) als auch um als Angehörige_r einer Gruppe der ‚Normalitätsklasse’ erkannt zu werden. Diese Funktion der Identität führt im Extrem-fall dazu, dass das ganze Feld, wie im klassischen Race-Relations1-Ansatz, rein gruppentheoretisch, also als Beziehung zwischen minoritären und majoritären Gruppen gefasst wird. Die Kategorie identitärer Positionalität, wie sie im Kontext der Intersektionali-tätsdebatten entstanden ist, kombiniert die Vielzahl der mög-lichen identitären Positionen, die ein Individuum im sozialen Raum einnehmen kann. Eine Transformation des Beziehungsge-füges oder ein Verlassen der jeweiligen individuellen identitären Position ist nicht vorgesehen und auch nicht Gegenstand der

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wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Der vorliegende Bei-trag möchte in diesem Zusammenhang eine andere Perspektive vorschlagen. Anstatt kollektive Identitäten (sei es in kritischer oder affirmativer Absicht) als feste soziale Adressen zu verwen-den, geht es hier um den Grenzbereich und die Schwellen, an denen diese Identitäten sich entfestigen, und um die Mechanis-men, die jene Verschmelzungen und Konversionen ermöglichen, die die Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari (1976) als „Minder-Werden“ gefasst haben. Eine Voraussetzung für einen solchen Perspektivwechsel ist die Annahme, dass die Ebene der Mikromacht bzw. des Subjekts nicht nur als Feld der Reproduk-tion gesellschaftlicher Machtverhältnisse betrachtet wird. Was sich auf dieser fälschlich oft als „klein“ verstandenen Ebene des Sozialen abspielt, so die grundlegende Implikation, hat vielmehr das Potenzial, auch ganze Gefüge des Sozialen in Bewegung zu versetzen oder zu transformieren bzw., um einen Begriff von De-leuze und Guattari zu verwenden, zu deterritorialisieren. Genau aus diesem Grund ist ein Zugang über Affekttheorien sinnvoll, weil sie dazu beitragen können, sowohl die Schärfung als auch die Neuordnung von Gruppengrenzen durch affektive Regime zu verstehen. Die Beziehungen zwischen einem Wir und den Ande-ren, so die These, folgen nicht ausschließlich Logiken der Macht-konzentration, organisiert in rassialisierten oder ethnisierten Identitäten, sondern haben auch das Potenzial diese zu deterrito-rialisieren. Dieser Begriff aus dem Werk von Deleuze und Guattari meint nicht ein nur räumliches Territorium, sondern vielmehr die Auflösung einer Verbindung und den Beginn einer neuen Kombi-nation von Elementen in einem Feld von Mannigfaltigkeiten, die sich permanent auflösen und entstehen, „indem sie diesseits, jen-seits oder durch eine Schwelle ineinander übergehen und mitei-nander kommunizieren“ (Deleuze/Guattari 1992: 52). Im Gegen-satz zu Theorien, in denen d_ie Andere die Gemeinschaft negativ stiftet, in dem sie uns am Genießen hindert (Zizek 1994) oder als Sündenbock fungiert (Girard 1992), soll hier ein Zugang skizziert werden, in dem sich in der Beziehung zu den Minderheiten eine „kommende Gemeinschaft“ (Agamben 2003) äußert.

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Ich schlage für diesen Komplex den Begriff des „Regimes der Alterität“ vor, der soziologische Thematiken wie Fremdheit, Iden-tität und Gemeinschaft miteinbezieht. Ein solches Regime organi-siert die affektiven, ökonomischen und politischen Beziehungen zwischen den majoritären und minoritären kollektiven Subjekten. Es bestimmt den Wert der identitären Elemente innerhalb des Machtgefüges zwischen diesen Gruppen (Ökonomie), es regelt die Hierarchien sowie die Aufstiegs- und Abstiegswege (Politik) und es strukturiert das jeweilige Begehren vom Passing bis zum Schwarz-Werden oder Frau-Werden (Affizierung).

Von den Anderen lernen

Eine Studie des Politikwissenschaftlers Mark Warren (2010) un-tersucht etwa das Engagement „weißer Antirassist_innen“ in den USA. Im Vorwort schreibt er: „Some black friends of mine, when I told them I was writing a book on white racial justice activists, laughingly declared that it must be a short book“ (ebd.: 13). Warren spielt darauf an, dass die Vorstellung, Weiße setzten sich für die Belange von Schwarzen ein, als unwahrscheinlich gilt. Warrens Studie beschäftigt sich mit unterschiedlichen Dimensi-onen einer vielfach als problematisch angesehenen Beziehung zwischen Personengruppen, die vom Rassismus bevorzugt bzw. benachteiligt werden. Weiße, die sich für unterdrückte Minder-heiten einsetzen, gibt es zwar schon länger. Ein jüngeres Beispiel sind die sozialen Bewegungen von 1968: Europäische und US-amerikanische Student_innen identifizierten sich mit „den Ver-dammten der Erde“ (Fanon 1981) und es entstanden White Pan-ther Partys. Nicht nur stand Musik von Schwarzen hoch im Kurs, sondern die Kulturen der Subalternen wurden insgesamt zum Richtmaß der Auseinandersetzung mit der eigenen, problema-tisch gewordenen weißen Identität.

Die antikolonialen Kämpfe in Vietnam und Algerien führten jedoch zur Herausbildung einer neuen gesellschaftlichen Kraft in Europa, insbesondere in Frankreich: der radikalen Linken. In

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dieser Zeit entstanden Tausende von Initiativen und Gruppen, die sich der Unterstützung der Kolonisierten verschrieben. Die Radikalität des antikolonialen Kampfes, der nicht selten die Form eines Befreiungskriegs annahm, verlieh den Mitgliedern der im Westen auflebenden Bewegung eine ungekannte Tiefe und Ernsthaftigkeit. Die Figur dieser geborgten Radikalität findet sich paradigmatisch in dem Spannungsraum zwischen Jean-Paul Sartres Vorwort und Frantz Fanons Text Die Verdammten dieser Erde von 1961 (die deutsche Übersetzung erschien 1981): Fanons Text ermögliche einen schonungslosen Blick auf das westliche Selbst, so Sartre, und nur in der bedingungslosen Unterstüt-zung der Anderen bestehe die Möglichkeit, „Europa in einem Akt radikaler Umkehr zu heilen“ (Kalter 2011: 259). Im gleichen Jahr schrieb man in der in Paris erscheinenden Zeitschrift Partis-ans über die antikolonialen Bewegungen: „Wir haben von ihnen zu lernen“ (zit. in ebd.: 221). Die Vorstellung, dass die Menschen in der Dritten Welt oder des Südens uns voraus sind, ist dabei keineswegs eine neue Idee, sondern im Einklang mit einem Diskurs, der sich bis auf die Essays von Montaigne und mög-licherweise früher zurückverfolgen lässt. Claude Lévi-Strauss’ Traurige Tropen (1978) sind davon ebenso Bestandteil wie die Debatten innerhalb der internationalen Architekturbewegung, die im Leben der Kolonisierten Anhaltspunkte für die Überwin-dung der kalten Moderne suchten (vgl. Avermaete et al. 2010).

Diese Orientierung auf die Subalternen, die Anderen, wurde aber auch mit Blick auf ihre Effekte für die moderne Subjektivi-tät kritisiert. Jürgen Habermas beschied der Student_innen-bewegung von 1968: „Die auf emotionaler Ebene hergestellte Identifizierung mit den Negern der großstädtischen Slums, mit den brasilianischen Guerilla-Kämpfern [...] hat keinen politischen Stellenwert“ (Habermas 1968: 11). Diese Identifizierungen zeig-ten vielmehr an, so Habermas weiter, dass die Bewegung Gefahr laufe, Symbol und Wirklichkeit zu verwechseln, was „im klinischen Bereich den Tatbestand der Wahnvorstellung“ (ebd.: 12) erfülle. Wer so tue, als sei er oder sie buchstäblich zum Beispiel eine Afro-amerikanerin, sei mit anderen Worten ein Fall für die Psychiatrie.

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Diese grundlegende Skepsis gegenüber der Identifikation mit den Anderen ist insofern erstaunlich, als der Einsatz für die An-deren – d. h. im weitesten Sinne erst einmal nicht-egoistische, altruistische Dimensionen sozialer Praxis – keineswegs nur ein gesellschaftliches Randphänomen darstellt.2

In der übersichtlichen Literatur zu diesem kleinen Feld wird allgemein angenommen, dass die Parteinahme für Minoritäten oder die Anderen als entweder interessegeleitet oder als Altru-ismus konzeptualisiert werden kann (Taguieff 2000). Es wird da-bei angenommen, eine soziale Gruppe oder ein Kollektiv zeichne sich gegenüber anderen Gruppen durch spezifische und gege-benenfalls wechselseitig konkurrierende Interessen aus. Rheto-riken des Antirassismus sind oftmals dadurch gekennzeichnet, dass sie gemeinsame, übergreifende (etwa Klassen-)Interessen gegenüber den partikularen Interessen der rassialisierten Kol-lektive betonen. Ansätze, die mit dem Begriff des Altruismus operieren, beruhen demgegenüber keineswegs auf der völligen Aussetzung des Interessenbegriffs. Vielmehr wird in diesem Fall unterstellt, dass Gruppenangehörige gegen ihre eigenen In-teressen handeln, wenn sie sich für Angehörige einer anderen, womöglich antagonistisch positionierten Gruppe engagieren (Taguieff 2000; Finkielkraut 1990). Viel bedeutender scheint der Einsatz emotionssoziologischer und affekttheoretischer Ansätze hingegen in den Theorien des Rassismus, wo oftmals Affekte als Teil von Pathologien des Rassismus beschrieben werden (Memmi 1987; Kristeva 1990). Mir geht es im Folgenden darum, mithilfe einiger Argumente insbesondere aus dem Feld der Affekttheori-en eine andere Lesart solcher Vorgänge rund um Identifikation zu versuchen. Dabei soll ein theoretisches Gerüst skizziert werden, innerhalb dessen Affekte und deren für die Transformation von Kollektiven und Lebensweisen konstitutive Dimension sichtbar gemacht werden können. Die Transformation von Identitäten fasse ich dabei als Deterritorialisierung, bei der zum einen Affizie-rungsvorgänge auf subjektiver Ebene die identitäre Position (und ihr Erleben) ins Wanken bringen und bei der zum anderen dieser Prozess der Destabilisierung nicht folgenlos bleibt für das Gefüge

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des sozialen Raums auf der Ebene kollektiver Repräsentationen und Machtgefüge.

Das Problem der Solidarität

Ein solcher Ansatz beruht auf der Aufhebung der strikten Grenze zwischen innerem, subjektivem Erleben und objektiven kulturel-len und sozialen Strukturen, die in handlungs- und strukturthe-oretischen Perspektiven oftmals gezogen wird; zwischen den affektiven Vorgängen rund um Identifikation, Nachahmung und Mimikry einerseits und einem durch das rationale Ich vermittel-ten, vernunftgeleiteten Bezug andererseits, der dann auch die Handlungen von sozialen Gruppen oder Kollektiven leitet. Da-her kommt es so oft zu der paradigmatischen Frage, die Sharon Nepstad in ihrem Buch über amerikanische Bürger_innen in der Solidaritätsbewegung für Zentralamerika formuliert: „Why did I, a citizen of one of the wealthiest countries in the world, identify so strongly with a group of people with whom I had apparently so little in common?“ (Nepstad 2004: 6).

Warum sollen sich Menschen, die nichts oder wenig gemein haben, füreinander einsetzen? Diese Frage besitzt nicht nur eine gruppentheoretische Evidenz, sondern ist zugleich eine allgemei-ne gesellschaftstheoretische Frage. Gesellschaft ist schließlich nichts anderes als ein Zusammenhang, in dem einander fremde Personen in einem Netz von Abhängigkeiten und komplex ver-mittelten Beziehungen stehen. Aus diesem Grund argumentiert der Soziologe Émile Durkheim (1992), dass die moderne bürger-liche Gesellschaft auf eine organische Solidarität angewiesen sei.

Es ist nun bemerkenswert, dass die soziologischen Ausarbei-tungen der Solidaritätsproblematik bis in die jüngste Gegenwart hinein – bei aller unterschiedlichen Nuancierung – das Urteil wiederholen, das schon Darwin für die Reichweite der Sympa-thie unter Artgenossen gefällt hatte: diese könne sich nicht auf alle Individuen derselben Spezies, sondern nur auf die derselben Gemeinschaft erstrecken (vgl. Sarasin 2009: 335), auf genetisch

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verwandte Fremde in der Diktion der modernen Verhaltensöko-nomie. Solidarität ist, so die Einschätzung von Autor_innen wie Robert Putnam (2000) sowie Karl-Otto Hondrich und Claudia Koch-Arzberger (1992), vor allem „Binnen-Solidarität“ und be-zieht sich auf Angehörige eines als ähnlich oder gleich angese-henen Kollektivs.

Soziologisch gesehen ist Solidarität weder eine Norm noch die Folge einer rationalen Kalkulation, sondern wird in erster Linie empfunden. Gefühle werden in den soziologischen Beschreibun-gen über Solidarität im Weiteren aber meist links liegen gelassen. Es ist zu vermuten, dass dies mit dem Verdikt über sie als nichtra-tionale oder auch körperliche Entitäten zusammenhängt; mit ih-rem Verdikt, eine dem rationalen Selbst fremde und unzugängli-che Sphäre zu besiedeln. Mehr noch, Gefühle stehen im Verdacht, Medien der Auflösung dieses rationalen Selbst zu sein, wie Peter Sloterdijk (2004) am Beispiel des Aufstiegs und Niedergangs des Mesmerismus zeigt, einer Bewegung, in der Ende des 18. Jahr-hunderts mit interpersonalen Entgrenzungen experimentiert wurde. Sloterdijk sieht in den hypnotischen Techniken des 19., der psychoanalytischen Theorie des 20. Jahrhunderts und den esoterischen gegenkulturellen Bewegungen der 1960er-Jahre unterschiedliche Varianten einer „dionysischen Subversion bür-gerlicher Subjektivitätsformen“ (Sloterdijk 2004: 235). Von Émile Durkheim und Max Weber bis Talcott Parsons und Georg Sim-mel war die affektive Dimension sozialen Handelns stets Gegen-stand soziologischer Reflexion. Jedoch wurde, wie Robert Seyfert (2011) zeigt, stets darauf geachtet, diese affektive Dimension auf das Subjekt zu zentrieren. Wo dies gelingt, spricht man auch vom Gefühl als einer an das Subjekt und dessen reflexive Schleifen gekoppelte affektive Regung im Unterschied zum tendenziell zentrifugalen Affekt, der seit Gustave LeBon im Verdacht steht, das Individuum in Richtung trans- oder subindividueller Sphä-ren zu dezentrieren.3 Durkheim hatte davon eine Vorstellung, als er in Die elementaren Formen des religiösen Lebens von einer Art „Elektrizität“ spricht, die die Individuen einer Ansammlung „rasch in einen Zustand außerordentlicher Erregung versetzt. Jedes

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ausgedrückte Gefühl hallt ohne Widerstand in dem Bewusstsein eines jeden wider, das den äußeren Eindrücken weit geöffnet ist“ (Durkheim 1981: 297). Gegenstand einer affekttheoretischen Per-spektive sind nicht die Individuen, durch die etwas durchgeht, sondern umgekehrt: Aus den Affekten und der Art, wie sie sozial reguliert werden durch Affektregime, gehen dann jene Instanzen hervor, deren Einheit den Namen Subjekt trägt.

Affekttheorien

Es existiert gegenwärtig eine ganze Reihe von Theorien, die mit dem Begriff des Affekts operieren, und nicht alle Ansätze sind miteinander ohne Weiteres kompatibel. So unterscheiden man-che Ansätze ausdrücklich zwischen Emotionen und Affekten (z. B. Massumi 2002; Seyfert 2011), während für andere ein solcher Un-terschied nicht relevant ist (etwa Ahmed 2004a). Hier soll nicht auf die ganze Bandbreite theoretischer Richtungen eingegangen, sondern ein Unterscheidungsmerkmal zentral gestellt werden: ob ein Ansatz letztlich subjektzentriert ist oder ob dem Affekt eine transversale, das heißt das Subjekt dekonstituierende Eigenschaft zugestanden wird. Ich möchte diesen Problemzusammenhang im Folgenden an der unterschiedlichen Verwendung des Begriffs der Liebe in den Ansätzen von Sara Ahmed einerseits und dem an Benedictus de Spinozas (1955) Begriff der Liebe angelehnten Verwendung durch Lauren Berlant und Michael Hardt (Berlant/Hardt 2008) andererseits illustrieren.

Gefühle als Medien der Grenzziehung

In ihrem Buch The Cultural Politics of Emotion (2004a) widmet Sara Ahmed den affektiven Politiken des Multikulturalismus ein Ka-pitel. Ihre Untersuchung von Politiken der Liebe beginnt jedoch zunächst mit der Analyse der Internetseite der Aryan-Nations-Organisation, die mit einer Semantik der Liebe arbeitet (vgl. auch

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Ahmed in diesem Band). Es sei wichtig, diese Semantik zu unter-suchen, da sich hier zeige, wie ein Dagegensein stets aus einem Dafürsein abgeleitet werde und inwiefern Liebe als Verfahren be-trachtet werden könne, mit dem Individuen sich vermittelt über ein Ideal mit anderen Individuen verbinden könnten (Ahmed 2004a: 124). Dieser Ausgangspunkt ist insofern bemerkenswert, als dass sie sich im restlichen Kapitel zuvörderst jenen Formen von Liebe zuwendet, die eher „als wohltätig gelten“ (ebd.: 125; Übersetzung S. K.), etwa im Kontext von Multikulturalismus, d. h. also Formen von kollektiver Liebe, die auch d_ie Andere_n ein-schließen. In einem ersten Schritt bezieht sie sich dabei auf die psychoanalytische Theorie und den Liebesbegriff aus Sigmund Freuds später Schrift Das Unbehagen der Kultur. Dort verweist Liebe eigentlich auf die fließenden Grenzen zwischen einer normalen und einer psychotischen Subjektivität: Indem wir auf den anderen angewiesen sind, von ihm in der Liebe abhängen, werden wir auch genau das, was wir als rationales Selbst gerade nicht sein sollen, nämlich nicht-souverän. In der Liebe, wie in der Psychose, verschwimmen die Grenzen des Ichs. Liebe ist Kontroll-verlust; sie ist die Macht eines anderen über mich. Die klassische Figur der Lösung dieses Konflikts findet sich in der Freudschen Figur des Vatermords, in der die Brüder, die den Vater eigentlich lieben, töten, weil sie nicht er sein können. Die Folgen sind Furcht, Schuldgefühle und die Reinszenierung der väterlichen Autorität. Ein weiteres Element der psychoanalytischen Theorie, auf das sich Ahmed beruft, ist Freuds Unterscheidung zwischen der anakliti-schen Liebe, in der ein Objekt, und der narzisstischen Liebe, in der das Ich das primäre Liebesobjekt ist.

Während sich beim Mann die Liebe von der narzisstischen zu einer anaklitischen wandelt, verbleibe die weibliche Liebe nar-zisstisch. In dieser heteronormativen Matrix ist sowohl das weib-liche wie das männliche Liebesobjekt die Frau. Laut Ahmed geht es um die Unterscheidung zwischen Identifikation (Sein) und Idealisierung (Haben). Identifikation ist der primäre psychische Vorgang: „Identification involves the desire to get closer to others by becoming like them“ (ebd.: 126). Identifikation ist damit ein

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widersprüchliches Unterfangen. Einerseits gründet sie auf der Unterscheidung zwischen dem Subjekt und dem Objekt. „Wie“ ein_e Andere zu werden, schließt ein, ebendiese_ nicht zu „sein“. Andererseits aber will das Subjekt die Stelle d_er Anderen ein-nehmen, und dieser Wunsch bleibt gleichsam in der Zukunft ver-ankert; das Subjekt wird nur künftig „wie“ d_ie Andere. In Freuds Theorie reproduziert der Vorgang der Identifikation die heterose-xuelle Matrix: Wie der Vater zu „sein“, impliziert die Mutter „haben“ zu wollen. Entscheidend sei, so Ahmed, dass sowohl Identifika-tion als auch Begehren jeweils nicht vom Objekt des Begehrens abhängen, sondern performative Verfahren sind, die zur Idealisie-rung des Objekts führen. Das so aufgewertete Objekt wirkt auf das Subjekt zurück, derjenige oder diejenige – und für den vor-liegenden thematischen Zusammenhang könnte man nun auch sagen dasjenige was man liebt – sagt immer etwas über den Wert meines Ichs aus. Liebe ist in dieser Perspektive immer Selbstlie-be. Gruppen oder Kollektive konstituierten sich demnach dann, wenn viele Individuen ein und dasselbe (Liebes-)Objekt – die Na-tion etwa – teilen und seine Eigenschaften teilweise introjizieren. Die britische multikulturelle Nation als Form kollektiver Liebe, die d_ie Andere_n in ihrer spezifischen Andersheit einschließt, erfordert nun, dass Differenz idealisiert wird. Differenz wird hier zum Vehikel der Ähnlichkeit. Migrant_innen und weiße Arbei-ter_innen werden im multikulturalistischen Diskurs aufgerufen, nicht mehr sich selbst als Gruppe, sondern d_ie differente Andere zu lieben, andernfalls könnten sie im Gegenzug nicht erwarten, von der Nation geliebt zu werden (ebd.: 138). Der Multikulturalis-mus wird hier als bedingte Liebe porträtiert, in der die affektiven Ströme keinerlei dezentrierenden Effekt haben. Im Gegenteil, der Bezug auf die Anderen dient nur dazu, das Eigene zu idealisie-ren und diejenigen, die diese Idealisierung stören (etwa weil sie sich in „Parallelgesellschaften“ organisieren), auszugrenzen. Eine affektive Politik, die nicht auf Ausschluss gründet, sei schwer vorstellbar und erinnere allenfalls an bürgerliche Wohltätigkeits-konzepte. Der emotionale Einsatz der Liebe berge die Gefahr der Enttäuschung durch die Anderen und sei daher zu versachlichen:

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Man könne seine politischen Visionen lieben; solidarisch sei man dann nicht mit allen, sondern „with others in the work that is done to create a different world“ (ebd.: 141).

Politiken der Liebe

Lauren Berlants und Michael Hardts (2008) Gebrauch des Begriffs der Liebe in Politiken des Affekts nimmt demgegenüber Spinoza als Ausgangspunkt: Liebe sei eine Steigerung der Fähigkeiten zu handeln und zu denken, die stets mit einer äußerlichen Ursache verknüpft sei und daher nie solipsistisch gedacht werden kön-ne. Bereits in ihrem Buch Empire hatten Michael Hardt und An-tonio Negri (2002) diesen Gesichtspunkt unter dem Begriff der Immanenz diskutiert, d. h. als unendliches Netzwerk von Bezie-hungen, denen wir uns nicht entziehen können. In seiner Ethik zielt Spinoza (1955) darauf ab, die Existenz endlicher Wesen als jener Entitäten zu untersuchen, deren Sein nur durch das je an-dere begriffen werden kann. Der menschliche Körper könne, so Spinoza, nur durch den ständigen Austausch von Teilen des Kör-pers mit der Atmosphäre existieren. Ebenso denken wir mithilfe einer Sprache, die von vielen anderen Menschen in Vergangen-heit und Gegenwart gesprochen und weiterentwickelt wurde. Spinoza argumentiert nun, dass dieser Zusammenhang eine Art kausale Gemeinschaft stiftet (Spinoza 1955: Lehrsatz 28), eine Art fundamentale Trans-individualität. Jede Handlung hat ihre Ursache und Vollendung in anderen Wesen, zu existieren heißt daher, von anderen affiziert zu werden und diese zu affizieren. Als endliche Wesen sind wir konstitutiv offen für andere, Affek-tivität ist der Grundzustand menschlicher Existenz. Affektionen (und ihre Ideen) mindern oder steigern die Handlungsfähigkeit des Körpers, sie ereignen sich sowohl innerhalb der als auch zwi-schen den Körpern. Negative Affektionen mindern unsere Hand-lungsfähigkeit, positive steigern sie (Spinoza 1955: III. Def. 3). Mit Spinoza wird nicht nur die Opposition zwischen Individuum und Gemeinschaft, sondern auch der Dualismus zwischen Gefühl und

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Verstand einer Kritik unterzogen. Spinoza geht davon aus, dass jedes Ding durch conatus, eine Art Bestreben, definiert ist, im Sein zu verharren. Auf der Ebene menschlicher Subjektivität bedeutet dies, dass das Begehren zur Existenz schöpferisch ist und Welt konstituiert. Was Spinozas Denken nun radikal von allen zeitge-nössischen und den meisten modernen Philosophien unterschei-det, ist, dass dieses Begehren nicht als eine Art atomistischer Selbsterhaltungstrieb gedacht wird. Zunächst entfernt er jegli-chen Finalismus aus diesem Begehren. Die Güter und Zustände, die wir begehren, beurteilen wir nicht a priori nach Werturteilen, sondern umgekehrt: Wir beurteilen etwas als wertvoll, weil wir es begehren. Begehren wiederum ist bedingt und geformt durch Affekte, Bilder und Begriffe, die wir von den Dingen haben, und diese Affekte, die unsere Handlungsmacht verringern bzw. ver-größern, sind notwendig relational, d. h., sie sind selbst bestimmt durch Beziehungen mit anderen Individuen, durch deren wech-selseitige Handlungen und Leidenschaften. Im Kern des individu-ellen Begehrens befinden sich demgemäß meine Beziehungen zu anderen. Mit anderen Worten, jede Individuation ist transin-dividuell. Diese grundlegende Einsicht in die transindividuelle Dimension unserer Existenz teilt Spinoza mit Hegel und Marx. Der Mensch ist demnach „nicht nur ein geselliges Tier, sondern ein Tier, das nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann“ (Marx 1967: 20). Gefühle kann man mit Spinoza (aber auch mit Ahmed) so verstehen, dass sie nicht den inneren Zustand des Subjekts beschreiben, sondern mit sozialen Interaktionen verbunden sind und damit einer Funktion von Macht gleichkommen. Dies wird auch dadurch plausibel, dass Ideen keineswegs den Gefühlen entgegengesetzt oder von ihnen abgeleitet sind. Sie repräsentie-ren nicht eine Sache außerhalb des Verstandes, sondern jede Idee ist immer schon mit einem Affekt verbunden (und umgekehrt) (Balibar 1998: 109). Die Ideen verkörpern, was mit unseren Kör-pern geschieht; die Wirkungen anderer Körper, Substanzen und Ideen auf ihn (Deleuze 1993). Negative Gefühle entstehen dann, wenn unsere (Handlungs-)Macht gemindert, positive, wenn diese in solchen Wechselwirkungen gesteigert wird.

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Eine Politik der Liebe ist durch die Transindividualität also kei-neswegs a priori gegeben. Spinozas historische Erfahrung ist viel-mehr die einer von negativen Gefühlen wie der Angst überwäl-tigten Multitude, die in Aberglauben versunken ist. Anschließend an diese Überlegungen sieht Hardt, ähnlich wie Ahmed, Affekt-regime wie das des Nationalismus als eine Form von kollektiver Liebe, die freilich Differenz ausschließt (Berlant/Hardt 2008). Um Liebe – jenseits von Paarbeziehungen und Nationalismus – als transformatorische Praxis zu begreifen, ist es vielmehr nötig, das Moment der Entäußerung des Subjekts als eine Form der Nicht-Souveränität zu denken. Übersetzt man dieses bereits bei Freud genannte psychotische Moment in die Sphäre des Politischen, wie Berlant und Hardt (2008) vorschlagen, entwirft man eine sozi-ale Formation, in der Entscheidungen und Politik neu organisiert werden müssen, da Entscheidungen nicht mehr auf die Figur des einen Souveräns übertragen, sondern durch den Schwebezu-stand der Nicht-Souveränität getragen werden.

Die Perspektive von Ahmeds psychoanalytischem Ansatz ist in diesem Zusammenhang ambivalent: Einerseits teilt sie die grundlegende Überzeugung, dass Gefühle nicht vom Subjekt aus gedacht werden sollten, sondern umgekehrt dessen Gren-zen zuallererst konstituieren. Auf der Ebene der Subjekttheorie geht sie also von einer Zirkulation von Affekten aus. Andererseits betont sie in ihrer Analyse stets, dass diese Affekte bestehende politische und ökonomische Hierarchien oder Machtbeziehun-gen bestätigen oder absichern. Das heißt, auf der Ebene einer Gesellschaftstheorie oder einer Theorie der Regime der Alterität geht sie davon aus, dass es keine Deterritorialisierung dieses Ge-füges geben kann, weshalb sie den Einsatz für die Anderen eher skeptisch betrachtet. Es handelt sich dabei jedoch nicht um die herkömmliche Kritik am Altruismus, wie sie bereits von Thomas Hobbes formuliert wurde, und auch nicht um die Skepsis aus der Tradition des Rational-Choice-Ansatzes gegenüber allen transin-dividuellen Instanzen. Ahmed positioniert sich vielmehr sowohl gegen die Durkheimische Theorie-Linie einer kollektiv induzier-ten Innerlichkeit als auch gegen Ansätze, bei denen Gefühle vom

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Subjekt ausgehen (Ahmed 2004b: 28). Obwohl sie Gefühle als Ge-neratoren der Grenzziehung zwischen Innen und Außen betrach-tet („Emotions work to create the very distinction between the inside and the outside“ (ebd.)), erscheinen die Subjekte und Kol-lektive in ihren Texten jedoch stets als vorgängig. Auf diese Weise wird die Rolle von Emotionen bei der Begegnung zwischen Sub-jekten als zwischen dem „white racist subject“ und seinem „racial other“ illustriert (ebd.: 31). Gefühle sind dann nur noch Verstärker bereits existierender Grenzmarkierungen.

Die subjektzentrierte Ausrichtung der psychoanalytischen Theorie verbindet sich hier mit einer machtanalytischen Traditi-on. Problematisch an dieser Denkrichtung ist nicht ihr kritischer Blick auf die Reproduktion von Machtbeziehungen, sondern eine Lesart, die Macht für einen ewigen Kreislauf, eine kybernetische Vereinnahmungsmaschine hält (vgl. Karakayalı 2012). Das Andere wird demnach immer nur vereinnahmt oder ausgebeutet, gleich, worin die jeweilige Praxis besteht. Aus diesem Grund erscheint eine an Spinoza orientierte Theorie der Macht, in der Gefühle mit Handlungsfähigkeit und Sozialität verbunden werden, vielver-sprechender. Die Perspektive der Transindividualität ermöglicht es, nicht mehr den Menschen oder das Individuum, sondern Gefüge als Träger_innen von Handlungen zu denken. Mit dem Begriff des Gefüges oder Blocks (Deleuze/Guattari 1976) kommt einzelnen, auch minoritären Elementen eine neue Rolle zu. Sie sind nicht mehr dazu verdammt, die Grundstruktur des Subjekts zu reproduzieren, sondern vermögen, den Block als Ganzes in Be-wegung zu versetzen.

Leben und Moderne

In der Moderne wurde das Verhältnis von Fremdsein oder Alteri-tät und Vertrautheit radikal umgestellt. Der Effekt der Anonymi-sierung und Formalisierung sozialer Beziehungen führte zu einer allgemeinen Entfremdung. Soziale und funktionale Ausdifferen-zierung, die Normalisierung von Fremdheit durch Rollenhandeln

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einerseits und die immer aufs Neue entstehenden Bewegungen einer Kritik an der Moderne andererseits führen dazu, dass das Verhältnis zu den Anderen zu einem Medium oder einem Terrain sozialer Transformationen wurde.4

Die Anderen werden damit nicht abstrakt zum Objekt eines exotischen Begehrens, sondern durch die doppelte Kodierung von Fremdheit in der Moderne auch zu Medien einer Affizierung dieses begehrenden Subjekts, wodurch in der Folge auch dessen kollektive Identität Transformationsprozessen ausgesetzt wird. Das Fremde markiert zugleich das Lebendige. In den biografi-schen Narrationen über die Begegnungen mit Anderen taucht daher oft der Begriff der Lebendigkeit auf, etwa bei Sharon Nep-stad: „In the Central American struggles, I found personal fulfill-ment, a pas-sion for justice, and a sense of vitality that I had not experienced before“ (2004: 17). Auf der nichtsignifikativen Ebene ist Lebendigkeit genau das, was Brian Massumi (2002) als Super-linearität beschreibt: Während Inhalte auf Erwartung und damit auf einer linearen temporalen Struktur aufbauen (dem Ablauf zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft), ist Nichtli-nearität oder Intensität eher als Suspension, eine Art Zeitloch zu bezeichnen. Superlinearität oder Intensität, das also, was all jene erleben, die in den Bewegungen der Solidarität sich affizieren las-sen, ist mehr als eine Art sozialer Rausch: Es ist ebenso das, was es ermöglicht, ein Ereignis zu denken, das im strukturalistischen Kos-mos nicht denkbar ist. Was hier demnach suspendiert wird, ist der entropische Kreislauf der Invarianz, in dem traurig immer traurig, Funktion immer Funktion usw. ist. Neben der Lebendigkeit zirku-liert in diesem Regime der Alterität auch die Idee der Vollständig-keit, eines noch nicht durch moderne Ausdifferenzierungen dia-grammatisch strukturierten Lebens. Es ist nicht verwunderlich, dass dies über Themen wie Sexualität und Disziplin verhandelt wird. Lebendigkeit als Überschuss ist damit unmittelbar gekop-pelt an Fragen der ökonomischen Ausbeutung: Seit Marx’ Herlei-tung des Mehrwerts aus der lebendigen Arbeit, die er der toten, in Maschinen und Waren vergegenständlichten Arbeit entgegen-setzte, ist die Figur der Lebendigkeit in den Sozialwissenschaften

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ein wichtiger Referenzpunkt: sei es im Gegensatz System und Le-benswelt bei Jürgen Habermas (1980) oder in den verschiedenen Theorien über eine innere Landnahme etwa bei David Harvey (2010) oder Klaus Dörre (2013).

Diese Figur der Lebendigkeit kann man beispielsweise auch im US-amerikanischen Migrationsdiskurs beobachten, in dem Ein-wander_innen wegen ihrer sozialen Netzwerke und Bindungen einerseits als Retter_innen einer zunehmend individualisierten Gesellschaft adressiert werden, während sie zugleich die Einzigen sind, die die liberale Fiktion, die Mitglieder einer Gesellschaft seien dies aus freier Wahl, bestätigen können. Bonnie Honig (1998) hat in diesem Zusammenhang von einer wechselseitigen Bedingtheit von Xenophobie und Xenophilie gesprochen: Weil die Migrant_in-nen immer als die adressiert werden, die uns etwas bringen, sind sie zugleich potenziell immer die, die uns auch etwas wegnehmen.

Die Aussage, wir sind alle Armenier_innen, Kurd_innen oder Palästinenser_innen, kann man als kontrafaktisch abtun oder als Suggestion kritisieren,5 man sollte aber nicht unterschlagen, dass Affizierungen Modulationen von Macht und damit von Hand-lungsfähigkeit sind. Regime der Alterität modulieren das, was De-leuze (1987: 100) als das Verhältnis von aktiven und reaktiven Af-fekten oder als Spontaneität und Rezeptivität bezeichnet hat, die nichts anderes sind als eine Funktion der Kraft. Wenn affizieren da-mit letztlich gouverner, also Regieren, bedeutet, handelt es sich bei den Regimen der Alterität nicht auch um eine Gestalt der Macht?

Kommende Gemeinschaften

Eine weitere Dimension des aktuellen Regimes der Alterität be-steht darin, dass die Sache der Anderen mit der Idee einer fehlen-den oder kommenden Gemeinschaft verbunden werden kann und dort auch noch damit verbunden wird, wo die Sache der Aus-geschlossenen, der Unterdrückten zu Praktiken der Solidarität an-stiftet. Hier wird dem Gefühl, dass etwas unvollständig ist, dass et-was fehlt, dass etwas nicht ganz stimmt mit dieser Gemeinschaft,

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der man zugerechnet wird, transponiert in die Entwicklung einer temporären Kollektivität, einer genuin politischen Identität – kei-ner wiederherzustellenden Gemeinschaft der Gegenwart oder Vergangenheit, sondern einer Gemeinschaft der reflexiven Pro-jektionen.

Der Einsatz und das Engagement in der internationalen Solida-rität, für die Rechte und die Kämpfe von Minderheiten, Migrant_innen, Schwarzen etc. könnten als Vereinnahmung oder Idealisie-rung des Objekts begriffen werden, oder eben als Gefüge, in dem soziale Kräfte entfesselt werden.

Dagegen erlaubt der Begriff des Blocks oder Gefüges es, be-stimmte Elemente der kollektiven Existenz, die minoritär sind und die sich damit dem Moment der rechtlichen, staatlichen, herrschaftlichen Fixierung des Kollektivs entziehen, in den Vor-dergrund zu rücken.6 Dieses Argument verweist auf die Idee ei-ner prinzipiellen Unabschließbarkeit politischer Gemeinschaf-ten. Diese sind niemals vollständig, sondern „unvollendet, kon-fliktträchtig, dem Eindringen des Anderen ausgesetzt, das sie benötig[en], um sich zu konstituieren“ (Balibar 2012: 245). Die Geschichte der Gemeinschaften ist eine ihres Werdens, der Suche nach Identität, die in der Geschichte der Revolten, Aufstände und Gehorsamsverweigerungen zum Ausdruck kommt. In dieser Ge-schichte repräsentieren die Minderheiten oder Anderen nicht ein-fach die Schließungen des Gemeinwesens, indem sie zu Objekten der staatlichen Gewalt werden, sondern sie werden auch zu Me-dien der Deterritorialisierung dieser Gemeinwesen; dies wird im-mer dann deutlich, wenn sich große soziale Bewegungen nicht im Namen der „eigenen Interessen“ formieren, sondern um anderer willen, etwa im Protest gegen den Krieg in Vietnam oder in den zahlreichen Solidaritätsbewegungen gegen Diktaturen in Süd-europa. Mehr noch: Sich die Sache der Anderen (Rancière 2004) zu eigen zu machen, ist nicht nur Effekt der Unabschließbarkeit der Gemeinschaft, es geht auch darum, dass das Minoritäre und Andere stets ein Moment der Beschleunigung, des sozialen Wan-dels, der Dekomposition innerhalb eines sozialen Gefüges be-wirkt.

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Anmerkungen

1 Die Ursprünge des Race-Relations-Ansatzes liegen bei W. E. B. Du Bois und Robert Park. Berühmt wurde der Ansatz später durch eine Studie Gunnar Myrdals, die die Rezeption bis heu-te prägt. Rassistische gesellschaftliche Strukturen werden dabei vor allem als Folge von asymmetrischen Beziehungen zwischen Gruppen (Weißen, Schwarzen, Latinos usw.) analy-siert. Weitgehend unhinterfragt bleiben die Markierungspro-zesse selbst, mit denen die rassialisierten Gruppen entstehen (Miles 1991; Lentin/Titley 2011).

2 Man denke z. B. an jene Intellektuellen, die sich seit dem 19. Jahrhundert zu Fürsprecher_innen der Arbeiter_innen mach-ten, an den britischen und US-amerikanischen Abolitionis-mus, das Civil Rights Movement, oder die Affäre Dreyfus.

3 Das mit der Industrialisierung und Urbanisierung auftauchen-de Phänomen der „Massen“ war seit Ende des 19. Jahrhun-derts Gegenstand öffentlicher Debatten. In Massenaufläufen, so die Sorge bürgerlicher Kreise, könnten insbesondere Ange-hörige der Arbeiter_innenklasse zu irrationalen Handlungen verleitet werden, weil die Instanzen der Selbstbeherrschung, das rationale Ich, so die damalige Psychologie, sich in diesen Situationen auflöse (vgl. auch Stäheli 2009).

4 In diesem Zusammenhang hat Hartmut Rosa (2012) vorge-schlagen, von Resonanz zu sprechen: nicht von Entfremdung (die immer Authentizität impliziere), sondern von einem Man-gel an Resonanz. Resonanz heißt demnach eine Art nichtky-bernetisches Feedback, das nicht an die Steigerungslogiken der Moderne angekoppelt ist. Resonanz ist eine identitäts-konstituierende Erfahrung des Berührt- oder Ergriffenseins.

5 So wie etwa in der Debatte anlässlich der Demonstrationen im Fall von Trayvon Martin. Die Parole „Ich bin/Wir sind Trayvon Martin“ wurde von einigen Kommentator_innen kritisiert: Nicht-Schwarze würden damit ihre eigene Verstricktheit in Rassismus dethematisieren (siehe die Beiträge auf dem Blog http://wearenottrayvonmartin.com/).

6 Vgl. etwa Deleuze und Guattaris Überlegungen zur Rolle von Minderheitensprachen und deren transformativer Kraft

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für sich verändernde Gemeinschaften (was sie als „fehlendes Volk“ bezeichnen) in ihrem gemeinsamen Werk über Kafka (Deleuze/Guattari 1976).

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