Geografien des Kontakts - Geografien der Identität

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Alexandra Binnenkade KontaktZonen Jüdisch-christlicher Alltag in Lengnau 2009 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

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Alexandra Binnenkade

KontaktZonenJüdisch-christlicher Alltag in Lengnau

2009

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Doppeltüre mit Lichtöffnungen und Gusseisengittern um 1900. Oberehrendingen, Vers. Nr. 21/22, aus: Räber, Pius: Die Bauernhäuser des Kantons Aargau, Bd. 1, Basel 1996, S. 162, Bild Nr. 247 © Bauernhausforschung

© 2009 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar WienUrsulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de

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Druck und Bindung: Strauss GmbH, MörlenbachGedruckt auf chlor- und säurefreiem PapierPrinted in Germany

ISBN 978-3-412-20322-1

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Irène Bollag-Herzheimer-Stiftung

Als Dissertation an der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel 2007 angenommen unter dem Titel: »KontaktZonen. Alltagsbeziehungen als räumliche Praxis in einem jüdisch-christlichen Dorf, Lengnau (Schweiz) im 19. Jahrhundert«.

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Space. &e last frontier.1

3. Geografien des Kontakts

3.1 Die Geschichte jüdisch-christlichen Zusammenlebens als Geschichte räumlicher Ordnungen

Für die vorwiegend bäuerliche Bevölkerung in Lengnau und Endingen waren wich-tige Erfahrungen von Zugehörigkeit und Ausschluss, Macht und Ohnmacht, Zent-rum und Peripherie, Erfolg und Misserfolg räumlich beschreibbar und o! auch un-mittelbar physisch fassbar: Insbesondere Grund und Boden zu be-sitzen, darauf zu ernten, zu bauen, vor allem aber: ihn sein ‚Eigen‘ zu nennen, nach ihm benannt zu sein und dort bleiben zu können, war ein zentraler Orientierungspunkt im damaligen Koordinatensystem bäuerlicher Werte.2 Dieser ökonomische und soziale Wert wurde der jüdischen Bevölkerung sehr lange vorenthalten und zwar im Bewusstsein um die weitreichende Bedeutung, die mit diesem Eigen verbunden war.3 Viele Bereiche des Verhältnisses zwischen jüdischer und christlicher Bevölkerung sowie zwischen Indi-viduum und Staat waren faktisch räumlich de#niert: Das Wohngebiet der jüdischen Familien war seit dem 17. Jahrhundert auf zwei Ortscha!en konzentriert worden,4 Schutzbriefe und Abkommen schrieben die Distanz vor, in der Juden und Christen voneinander wohnen mussten, legten fest, ob Juden Häuser besitzen dur!en, und bestimmten vor allem, dass Juden keinen Anspruch auf den Allmendnutzen hatten.

1 Das sind die ersten vier, ritualha! wiederholten Worte aus dem Vorspann zur Science-Fic-tion-Serie Star Trek/Raumschi" Enterprise. Im Original ist mit Space natürlich das Weltall gemeint und mit Frontier die amerikanische, ewig-o"ene und verletzliche Grenze zwischen vertrauter Zivilisation und dem noch zu erobernden Fremden.

2 Das „Eigen“ steht für den Hof, den Landbesitz, die Erbscha! und war in vielen Fällen genera-tionenübergreifender Teil des Namens.

3 Siehe dazu das Kapitel: Grenzwerte.4 Noch 1653/54 hatte die Tagsatzung geho(, dass die Jüdinnen und Juden die Schweiz wieder

verlassen würden: „Ess sollen auch fürohin in allen unseren Vogteyen keine Juden mehr hus-heblich nit ingelassen noch geduldet, vorbehalten die in der Gra"scha( Baden, welcher Zahl aber auch nit solle gemehret werden, der Ho"nung, dass villicht zue beständigen Fridens-zeiten sy sich selbst nach Teutschlandt und usert die Eidtgnossenscha( begeben möchten.“ Amtliche Sammlung der ältern Eidgenössischen Abschiede, Bd. 6 Abt. 1.2, S. 1733, zit. nach Roming, Gailingen, 295.

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Selbst oder genauer: Gerade die Debatte um die Staatsbürgerscha! der Juden ent-puppte sich letztlich als Bodenfrage.5

Landbesitz war ein Politikum und die Verteilung von Grund und Boden eine Frage von Macht. Dörfliche Konflikte konnten sich an räumlichen Verhältnissen entzünden und bildeten sich gleichzeitig darin ab. Raum war im Alltag jedoch nicht nur problematisch. Denn es war der dörfliche Raum, der alle seine Bewohnerinnen und Bewohner miteinander in Beziehung brachte. Wie dieser Raum genutzt und gestaltet wurde, war immer wieder Gegenstand von Verhandlungen und drückte sich in kulturellen Praktiken aus, die im Zentrum dieses Kapitels stehen.

Die Betrachtung des Lengnauer Alltags unter einer räumlichen Perspektive rückt Schlüsselmomente des jüdisch-christlichen Zusammenlebens in den Blick. Weil Verteilung und Gestaltung von Räumen Voraussetzung und Folge kultureller Praktiken waren, sind Räume ‚Quellen‘ für die historiographische Arbeit.6 Deren Analyse ergänzt und modifiziert, was andere Autorinnen und Autoren mittels Textanalysen herausgearbeitet haben. Dieser Ansatz, die Surbtaler Vergangenheit als eine insbesondere auch räumlich organisierte zu verstehen, ermöglicht es in besonde-rem Masse, die jüdisch-christliche Dorfgeschichte als eine gemeinsame darzustellen. Die Untersuchung der Lengnauer Häuser in ihrer Form und in ihrem Verhältnis zueinander macht deutlich, wie der Alltag im Dorf an die Ordnungen seiner Häuser, Wege und Felder geknüpft war. Doch nicht nur die konkreten Mauern, Grundrisse und Siedlungsstrukturen sagen etwas über das Zusammenleben im Dorf aus. Auch die durch die Interaktionen der Menschen in und um Lengnau entstandenen sozi-alen Räume lassen sich beschreiben und geben neue Einblicke in die Qualität von Kontaktzonen. Dieser doppelte Fokus verbindet Bauten mit Praktiken und eröffnet neue Möglichkeiten für die Erforschung von Kontaktzonen. Raum ist nicht nur Thema oder Objekt der Untersuchung. Raum wird zur Quelle, zur Analysekategorie und damit zum Element einer räumlich orientierten Geschichtsschreibung. Dadurch verändert sich die Darstellung jüdisch-christlicher Beziehungen in Lengnau.

Mit der Betonung des Räumlichen wird deutlich, wie Mary Louise Pratts Vor-stellung von Kontaktzonen im Folgenden erweitert wird und wie sich die hier ver-tretene Verwendung von Pratts textorientiertem Ansatz unterschiedet:7 Hier geht es um fassbare und bewohnte Räume und das bedeutet auch, dass die Untersuchung auf anderen Quellen aufbauen muss als denjenigen, die Pratt verwendet hat. Diese methodische Entscheidung hat inhaltliche Konsequenzen. Vieles, was über Lengnau

5 Dazu ausführlicher das Kapitel: Grenzwerte.6 Quellen (trotz der irritierenden Metaphorik halte ich an dem Fachbegri" historischer Arbeit

fest) de#nieren sich nicht durch ihre spezi#sche Dingqualität oder zeitliche Bestimmung, sondern durch die Fragen, die jemand an das jeweilige Material stellt und dieses Ensemble re%ektiert.

7 Zu Pratt und zur hier vorzunehmenden Weiterentwicklung ausführlich in der Einleitung: Postkartenansichten.

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und Endingen geschrieben worden ist, stützt sich auf die Interpretation schriftlicher Dokumente, die meist aus juristischer und administrativer Praxis stammen. Darunter gibt es kaum Material, das Schlüsse auf das konkrete alltägliche Zusammenleben der beiden Bevölkerungsgruppen zulässt. Dieser Alltag ist jedoch der Bereich, um den die bisherigen Darstellungen erweitert werden sollen. Die Analyse der dörf-lichen Architektur oder die dichte Beschreibung typischer Klänge im Lengnauer Tagesablauf erlauben neue Einsichten in die dortigen Kontaktzonen.

3.2 Kulturwissenschaftliche Raumkonzepte und Kontaktzonen

Die Untersuchung von Räumen ist in der Geschichtswissenschaft seit einigen Jahren wieder ‚en vogue‘.8 Der damit einhergehende, immer wieder zitierte „Topographical“, „Topological“ oder „Spacial Turn“ wird auch im deutschsprachigen Raum intensiv diskutiert.9 Während der Spacial Turn vor allem raumkonstituieren-de Praktiken in den Blick nimmt, thematisiert der seit dem gleichnamigen Aufsatz der Kulturwissenschaftlerin Sigrid Weigel so genannte Topographical Turn dessen Repräsentationstechniken und Repräsentationsformen, allen voran beispielsweise die

8 Eine erste Phase erhöhter Aufmerksamkeit ging einher mit Fernand Braudels marxistisch ori-entierter Untersuchung des „Mittelmeers“, in welcher der Ein%uss der sich in langsamen Zy-klen verändernden natürlich-geographischen Umwelt auf eine Gesellscha! dargestellt wurde. Braudel, Méditerranée (1949, dt. Mittelmeer 1990). Mit der Kritik am Strukturalismus nahm auch das Interesse an Braudels Perspektive auf die Erforschung des Verhältnisses Mensch-Um-welt-Mensch ab. Erst im Zuge postmoderner &eorien erhielt der Raum wieder vermehrte Aufmerksamkeit. Eine ein%ussreiche Publikation bei dieser ‚Wiederentdeckung’ des Raumes stammte 1996 aus der Feder des kalifornischen Geographen und Städteplaners Edward Soja, Soja, "irdspace. Dieser berühmt gewordene Begri" wurde jedoch bereits in der Diskussion um sein sieben Jahre zuvor publiziertes Buch „Postmodern Geograpies“ verwendet. Soja, Post-modern. Seit Mitte der 1990er Jahre nimmt die Zahl der Untersuchungen „postmoderner“ oder „hybrider“ Räume stark zu.

9 Es gibt durch diese Turns inspiriert mittlerweile zahllose Publikationen in allen kulturwis-senscha!lichen Fächern. In den letzten Jahren wird „Raum“ hauptsächlich von Autorinnen und Autoren aufgegri"en, die sich mit Phänomenen der Globalisierung beschä!igen (unter vielen anderen Hardt/Negri, Sloterdijk, McLuhan/Powers, Sassen, Grosz, Ong, Schlögel – siehe Bibliographie). Auch in den Geschichtswissenscha!en gibt es mittlerweile eine unüber-blickbare Fülle von Publikationen. Die deutschsprachige Geschichtswissenscha! hat diesen Turn allerdings nur zögernd nachvollzogen, nicht zuletzt, weil der Begri" Raum durch den Nationalsozialismus belastet ist. Aus diesem Grund bietet sich die Auseinandersetzung mit key concepts besonders an. Eine überzeugende Zusammenstellung einschlägiger Texte pu-blizierten: Crang/&ri!: Space. Zur Einordnung in die Kulturwissenscha!en und zur Di"e-renz zwischen amerikanischer und europäischer &eoriebildung siehe Weigel, Topographical Turn.

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Kartographie.10 Gemeinsam ist den genannten Turns, dass sie nach dem „Linguistic Turn“ all jene „Dimensionen von Kultur, Lebenswelt und Geschichte wieder ins Feld (bringen), die von der Text- und Sprachenge des Linguistic Turn ausgeblen-det, ja verdrängt worden sind.“11 Diese Ansätze führen weg von der Sprach- und Textlastigkeit der Kulturanalyse, weg von der Vorherrschaft der Repräsentation und der „Grammatik des Verhaltens“.12

Indem ich im Folgenden Kontaktzonen als Räume untersuche, konzipiere ich Raum als dialogische Untersuchungskategorie. Damit ist gemeint, dass Texte oder Bilder über soziale Interaktion und symbolische Repräsentation explizit mit der Analyse dinglicher, sinnlich wahrnehmbarer Objekte verknüpft werden, und zwar so, dass sich daraus ein produktiver Dialog ergeben kann, aus dem sich Aussagen über Kontakte gewinnen lassen. Eine solche Form der Kulturanalyse muss gesell-schaftliche Strukturen auf die alltäglichen Mikropraktiken und ihre örtlichen Rahmenbedingungen im Dorf beziehen. Dies ist eine methodische und zugleich eine inhaltliche Wahl. Denn damit stehen „unterbelichtete Räume“13 und vielge-staltige Mikroaktivitäten im Mittelpunkt der Untersuchung, von denen in anderen Untersuchungen nicht die Rede ist. Sie werden in diesem Kapitel „Geografien des Kontakts“ als konfliktfreie, im darauf folgenden „Grenzwerte“ dann als konflikthafte sichtbar gemacht werden.14 Dabei geht es nicht allein um Juden und Christen. Es geht auch um Katholiken und Protestanten, um Hintersassen und Gemeindebürger, um Vertreter des Kantons bzw. Frauen und Männer im Dorf. Mit welchem Vokabular lassen sich deren Handlungsebenen voneinander unterscheiden? Wie können sie gewinnbringend miteinander in Verbindung gebracht werden?

10 Günzel, WeltRaumDenken, 5.11 Bachmann-Medick, Turns, 4. Die Göttinger Literatur- und Kulturwissenscha!lerin Doris

Bachmann-Medick hat mit ihrem in den 1990er Jahren erschienenen, vielbeachteten Sam-melband einen gewichtigen Beitrag zum Linguistic Turn geleistet, indem sie von „Kultur als Text“ sprach und damit deutlich gemacht hat, dass „Text“ nicht nur Quelle, sondern auch Analysekategorie für symbolisch vermittelte soziale Prozesse sein kann. In einem 2004 er-schienenen Aufsatz setzte sie hinter den vielzitierten Titel ein Fragezeichen und plädierte dafür, die linguistischen Leitkategorien und Analysekriterien zu prüfen. Bachmann-Medick, Text?.

12 Ebenda. Dabei handelt es sich selbstverständlich nicht nur um eine Repräsentations-, sondern auch um eine Konstruktionsleistung. Der Frankfurter Osteuropahistoriker Karl Schlögel be-zeichnet in seiner jüngsten Publikation gegenläu#g zu dieser Au"assung auch den Raum als „Text“. Schlögel, Marjampole, 7. Dieser Au"assung kann ich mich nur allgemein anschließen, wenn damit ausgesagt werden soll, dass Raum in irgendeiner Weise lesbar und damit interpre-tierbar ist. Die Gefahr bei der Parallelisierung von Raum und Text, wie Schlögel sie vornimmt, liegt darin, den Raum damit wieder gewissermaßen zu entkörperlichen.

13 Ott, Raum, 142.14 Ausführlicher dazu das Kapitel: Grenzwerte.

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Eine mögliche Antwort auf diese Fragen gab der 1986 verstorbene französische Jesuit, Soziologe, Historiker und Kulturphilosoph Michel de Certeau. Er führte in diesem Zusammenhang die „Dimension praktischen Handelns“ ein, einen Zugang, der die „Praxis“, das konkrete Tun von Menschen vor „den Entwurf “, also vor die Struktur setzt.15 Indem sie ihren dörflichen Raum bewohnten, (zu)ordneten, beleb-ten und nutzten, gaben Surbtalerinnen und Surbtaler ihren Beziehungen Form und Ausdruck. Die von Michel de Certeau eingeführte Unterscheidung zwischen Räumen und Orten, auf die in den beiden nächsten Abschnitten ausführlich einge-gangen wird, macht Kontaktzonen in Lengnau inhaltlich und methodisch fassbar. Sie erlaubt es, von physischen Objekten auszugehen und diese zugleich als beziehungs-orientiert und beziehungskonstitutiert darzustellen. In diesen Beziehungen spielte Distinktion, wie sich anhand der Auseinandersetzungen um den Gemeindewald im nächsten Kapitel zeigen wird,16 eine ebenso wichtige Rolle wie Parallelität, wie sie in diesem Kapitel zum Ausdruck kommt.17

Räume

Räume sind nicht einfach. Räume, schreibt Michel de Certeau, entstehen.18 Denn ein Raum, fährt er fort, schafft Verbindungen: Physikalisch betrachtet geschieht dies zwischen Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und Veränderungen in der Zeit. Zugleich sind es genau diese Verbindungen, die Räume überhaupt ausdrücken. Ein Raum ist somit ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist erfüllt von der Gesamtheit der Bewegungen, die sich in ihm entfalten. De Certeau beschreibt Raum als den „Akt einer Präsenz (oder einer Zeit)“, als etwas, das sich „durch die Transformationen verändert, die sich aus den aufeinander folgenden Kontexten ergeben“. De Certeau stellt sich mit dieser Aussage in eine kulturwissenschaftliche Tradition, die spätestens seit Ernst Cassirer Räume nicht mehr als unverrückbare étant donnés versteht, nicht als kristalline Hüllen oder Behälter, in denen sich etwas abspielt. Diese Auffassung von Raum hat mit euklidischer Geometrie nichts mehr zu tun. Hier werden Räume zu lebendigen oder zumindest veränderlichen Ergebnissen von Beziehungen. Cassirer nannte sie anfangs des 20. Jahrhunderts „reale Relationen“,19 und an anderer Stelle „Ertrag und Ergebnis eines Prozesses der symbolischen Formung“.20 Anders ausgedrückt und Cassirer und de Certeau in

15 Certeau, Kunst des Handelns, 122.16 Siehe dazu das Kapitel: Grenzwerte.17 Mit Parallelität ist gemeint, dass Menschen gleichzeitig und neben einander leben können,

ohne ihre Beziehungen zu re%ektieren.18 Certeau, Kunst des Handelns, 218. Alle anschließenden Zitate ebenda.19 Cassirer, Mythischer Raum, 97.20 Cassirer, Symbolische Formen, Bd. 3, 160. Hervorhebung im Original.

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diesem Punkt zusammengefasst heißt das: Räume sind in ihrer Präsenz nicht nur ein-fach irgendwie ‚da‘. Räume sind kulturell geprägt und somit deutbare Lebenswelt.21

Es ist von Bedeutung, dass Räume, wie de Certeau im oben angeführten Zitat schreibt, einer Abfolge von Kontexten und Zeiten unterworfen sind, genauer: durch diese Abfolgen überhaupt erst entstehen. Denn diese Ausrichtung auf die Zeit und die konstitutive Rolle wechselnder Kontexte machen Räume für einen historiogra-phischen Blick interessant.22 Räume können in wechselnden Zusammenhängen auf ganz unterschiedliche Weise durch menschliches Handeln artikuliert werden, sie werden gegliedert, belebt, gefühlt. Sie sind dimensional und beruhen hauptsächlich auf Aktivitäten und Veränderungen. Zugleich werden sie immer auch beschrieben, interpretiert, repräsentiert. Räume lassen sich darum nicht außerhalb des Sozialen verstehen. Sie können nur als das analysiert werden, als was sie kommuniziert werden. Sie sind Untersuchungsgegenstände für kulturellen Wandel und bieten sich somit als ein Medium an, durch das sich gesellschaftliche Veränderungen erfassen und beschreiben lassen.

Um dies besser tun zu können, ist es wichtig zu verstehen, aus welchen Prozessen Räume entstehen. Welche bislang noch abstrakt gebliebenen „beweglichen Elemente“ verflechten sie konkret? Es sind zum einen die von de Certeau genannten Beziehungen, Handlungen, Zeitenfolgen. Zum anderen sind es auch Orte, um die es im nächsten Abschnitt geht.

Orte

Orte sind die Bausteine von Räumen. Ein Ort kann beispielsweise ein Baum oder ein Haus sein, mit denen zwar vordergründig nichts geschieht, die aber dennoch eine Ordnung bilden, „selon lequel les éléments sont distribués dans les rapports de coexis-tence.“ De Certeau erklärt den Charakter dieser Ordnung anhand der Möglichkeit zu

21 Diesen Zusammenhang zwischen Raum und Lebenswelt macht auch der Bochumer Phäno-menologe Bernhard Waldenfels deutlich, der darauf hinweist, dass in der Lebenswelt Betrach-ter und Handelnder im Hier und Jetzt verankert sind. Das Paradox, dass ein Mensch zugleich Subjekt und Objekt der Welt ist, löst sich auf, wenn der Raum „hier“ entspringt, also nicht Betrachtungspunkt von irgendwo außerhalb ist. Waldenfels, Topologische Variante. Zur Le-benswelt siehe die Hinweise im Kapitel: Postkartenansichten, insbesondere die Arbeiten von Heiko Haumann.

22 Außerdem vermeidet eine solche Perspektive, dass Räume essentialisiert werden. Was in Räu-men sichtbar (gemacht) und als Austausch und als Heterarchie beschrieben wird, stellt Men-schen und ihre Beziehungen ins Zentrum, und legt den Schwerpunkt auf einen kulturwissen-scha!lichen Zugang zur Interpretation vergangener oder gegenwärtiger Welten.

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sagen, dass etwas „hinter“, „neben“, „rechts von“ etwas anderem steht. Orte sind feste Punkte in einer bestimmten Konstellation.23 Sie strukturieren Räume.

Eine solche Konstellation bildeten beispielsweise die Lengnauer Häuser. Die Gebäude waren von Menschen gebaut und damit auch angeordnet worden, stan-den dann aber in unverrückbaren Verhältnissen zueinander im dörflichen Raum. Der Kartenvergleich zeigt, dass interessanterweise fast alle Häuser, die im 18. und 19. Jahrhundert das Dorf erweiterten und mehrheitlich jüdischen Besitzern gehör-ten, auf jener Seite der Surb standen, die der St.-Martins-Kirche gegenüberlag (vgl. Kartenvergleich Farbabbildungen 5 bis 7). Diese neuen Häuser waren von den alten des mehrheitlich christlichen Dorfes doppelt getrennt: durch die Landstraße und den Fluss. Faktisch war Lengnau in einen tendenziell jüdischen und einen tenden-ziell christlichen Siedlungsbereich geteilt. Doch es wäre zu einfach, aufgrund dieser Anordnung von einer segregierten Gesellschaft auszugehen. Denn die Gastwirtschaft, in der sich der Gemeinderat zu seinen Sitzungen traf, stand nicht in der ‚christli-chen‘, sondern in der ‚jüdischen‘ Dorfhälfte. Dort, am Platz vor der Mitte des 19. Jahrhunderts errichteten Synagoge, befand sich auch die Post und damit ein zentraler Kommunikationsknotenpunkt der dörflichen Gesellschaft. In diesem Teil des Dorfes verkauften auch die meisten Geschäfte ihre Waren. Hier war die öffentliche Waage zur Bemessung der Ernteerträge installiert und daneben wurden um die Wende zum 20. Jahrhundert schattig gelegene Sitzbänke zum Plaudern aufgestellt. Der neue, mehrheitlich aber nicht ausschließlich von jüdischen Familien bewohnte Dorfteil bot zentrale Dienstleistungen und Interaktionsgelegenheiten. Das Wachstum auf dem ‚anderen‘ Surbufer war nicht Ausdruck einer Peripherisierung – ein Prozess, der bei einem Wachstum an den Rändern viel eher stattgefunden hätte –, sondern das Ufer mit der Synagoge wurde nach und nach zum neuen Zentrum Lengnaus.

Solche Informationen über das komplexe Verhältnis zwischen jüdischer und christ-licher Dorfbevölkerung finden sich in den schriftlichen Dokumenten nicht. Es sind die Orte, die diese Geheimnisse preisgeben. Der Kartenvergleich (Farbabbildungen 5 bis 7) macht darüber hinaus exemplarisch sichtbar, was mit Kontakt gemeint ist. Das Resultat dieses Vergleichs entspricht der Etymologie des Wortes „Contact“. Der Begriff umschreibt „Bedingungen und Formen von Berührungen“, die gegenseitigen „Verhältnisse von [in der etymologischen Definition abstrakt gemeinten] Körpern“ und Körperschaften, deren „Oberflächen sich berühren“.24 Diese Berührungen brin-gen eine eingeschränkte Teilhabe am jeweils anderen mit sich. Auf soziale Verhältnisse übertragen heißt das, dass von kulturellen Einblicken und Kompetenzen auszugehen ist, die weder auf ein Verschmelzen noch auf ein klar getrenntes Nebeneinander (vorbei)zielen. Es geht um partielle Teilhabe, die in der Praxis des alltäglichen Handelns entsteht.

23 Certeau, Kunst des Handelns, 218 und 220f.24 Oxford English Dictionnary, Grosswörterbuch, 1032.

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3.3 Schichten der Kontaktzone

Ein Dorf besteht nicht nur aus einzelnen Häusern, Scheunen, Sakralbauten, Gärten, Wegen und Plätzen. Es setzt sich auch zusammen aus Schichten von Klängen, Zeiten, Ritualen, Gerüchen. Raum, wie er sich in Lengnau und Endingen beschreiben lässt, entstand aus der Routine alltäglicher Verrichtungen, dadurch, was seine jüdischen und katholischen Bewohnerinnen und Bewohner zwischen und in ihren Häusern taten. Sie durchwoben das Dorf mit ihren Aktivitäten und hielten es damit als einen einzigen Raum zusammen.

Im ersten Teil dieses Kapitels mache ich zunächst vier Lengnauer Räume sicht-bar. Um deren Bedeutung und das Zusammenspiel dieser Räume besser darstellen zu können, werden sie als vier Schichten beschrieben, die sich in Lengnau in einem bestimmten Augenblick in unterschiedlichen Kombinationen und mit unterschied-licher Dichte übereinander legen konnten. Anders als Schichten in archäologischen Ausgrabungen sind diese Schichten nicht im Boden und in einer vergangenen Zeit festgelegt oder eingefroren. Sie sind auch nicht wie feste Körper gegeneinander abgegrenzt und in eine Reihenfolge von oben nach unten oder nach chronologischen Kriterien einzuordnen wie diese. Vielmehr sind sie in sich selbst veränderbar und gegeneinander durchlässig. Diese räumlichen Schichten können sich in unterschied-lichen Variationen vermischen – man könnte dabei beispielsweise an Farbschichten denken. Wie die folgenden Beispiele nämlich deutlich machen, können in einer Schicht Orte und Praktiken aus verschiedenen Zeiten gleichzeitig eine tragende Rolle spielen, beispielsweise indem der Sonntag für die einen ein Feiertag und für die anderen ein Arbeitstag ist. Die jeweilige Mischung ist situativ: Sie hängt von den sich addierenden Mikropraktiken der Menschen im Dorf ab, und sie ist an die individuel-le Wahrnehmung derer geknüpft, die sich in diesen Schichten bewegen.

Ein wichtiges Merkmal dieser Schichten ist deren Simultaneität: Sie alle konnten, im Wechselspiel, gleichzeitig präsent sein, mussten aber nicht für alle Menschen in diesem Raum gleichermaßen bedeutsam sein. Die nachfolgend vorgestellten Schichten stehen für dörfliche Kontaktzonen; sie sind Beispiele für jüdische und christliche Räume, die sich gelegentlich berührten. Es waren dies die gewöhnlich unsichtbaren Elemente des Alltags, deren Präsenz den Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohnern nicht auffallen musste, weil sie in der Regel an deren Anwesenheit gewöhnt waren. Dennoch waren diese Schichten elementare Bestandteile der Surbtaler Kontaktzonen, die gerade wegen ihrer unhinterfragten Präsenz kaum thematisiert wurden und deshalb aus historiographischen Darstellungen oft ausge-blendet blieben. Die vier nachfolgend vorgestellten Lengnauer Schichten bestehen aus Geräuschen, Zeiten, Traditionen und Bewegungen.

Im zweiten Teil dieses Kapitels werden dann zwei Orte im Mittelpunkt stehen: zunächst die berühmten Lengnauer und Endinger Wohnhäuser mit Doppeleingängen und anschließend ausgewählte öffentliche Gebäude im Dorf wie das Wirtshaus

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und die Metzgerei. Hier geht es um die physisch präsenten Bauwerke, die in ihrer Gestaltung und Anordnung zentrale Fragen über den Alltag im ‚Judendorf ‘ aufwer-fen.

Erste Schicht: Geräusche

„Herbst ist ins Land gezogen und über das Surbthal steigen Nebel. […] Lippel, der pflichtgetreue Gemeinde-Schames, läuft schon nach dem 6. Synagogenuhrschlag am Morgen behenden Fusses durch alle Dorfgassen. Durch seinen Appell erwachen bald Samperle, Selig, Lieber, Aisig, Benzion, Rebmauschele, Judel, Izigle Jischele, der Gutel Michel und wie sie alle heissen, die Balbatim der Endinger alten Kile. Noch halb schlaftrunken schleichen sie gleich mysteriösen Gestalten hin zum Tempel, wo der brave Parnes25 s’Almes Mausche (Moses Sel. Dreyfus) als guter Bal26 Tefilo die Selichesgebete27 und Gesänge bereits in der noch halbleeren Synagoge hören lässt. Nach und nach füllt sich der Tempel durch die pflichtgetreue Mannschaft, die bis zum Ende des Morgengottesdienstes kräftig in die Gebete einstimmt, bis am Schluss Rebeilingens Schlome in sein Horn bläst und das alte dienstgewohnte Schaufar28 seine ergreifenden Tekios und Tekio Gedaulos von der Synagoge aus übers ganze Tal ertönen lässt.“29

Wie ein Klangschleier legte sich der jüdische Raum über das morgenkalte Surbtal. Er zog zwischen den christlichen ebenso hindurch wie zwischen den jüdi-schen Häusern und umfasste alles, was der Klang des Schofars berührte; auch jene, die das Horn, seine Melodie und ihre Bedeutung nicht kannten. Für den Autor dieser Zeilen, den Endinger Emil Dreyfus, der diese Kindheitserinnerungen in den 1920er Jahren als damals 77-jähriger publizierte, spannte sich der jüdische Raum in

25 Gemeindevorsteher.26 Familienvater, Ehrentitel.27 Selichot (Sg. Selicha) sind Bußgebete, die während der Hohen Feiertage gesprochen werden.28 Das Schofar ist ein Widderhorn. Es ist eines der ältesten natürlichen Blasinstrumente. Ur-

sprünglich war es sowohl Musikinstrument als auch Mittel zur Einschüchterung der Feinde, oder es diente dazu, die Bevölkerung zusammenzurufen. Traditionell bläst man den Schofar während des ganzen Monats vor Neujahr jeden Tag. Am Neujahrstag erklingen 100 Horn-stöße. Tekia und Trua sind zwei Spielweisen: Tekia ist ein einfacher, langer Ton, Trua sind rasche Stakkatotöne. Kolatch, Jüdische Welt, 262.

29 Dreyfus, Erinnerungen, XIV. Folge, IW 1924, Nr. 44, 22. Dort auch der Hinweis, dass sich das Lengnauer Schofar heute im Jüdischen Museum in Basel be#ndet (Nachkommen der Familie Schlome Bernheim, in der Sammlung jüdischer Altertümer, vermittelt durch Emil Dreyfus)

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diesem Augenblick fast grenzenlos auf.30 Es spielte keine Rolle, ob auch jemand den Schofarklang außerhalb Lengnaus hörte und erkannte. Dreyfus und die Lengnauer wussten, wessen Religion und Kultur damit repräsentiert war. Für die Dauer der Tekia existierte ein spezifisch jüdischer Raum, dessen Realität auch dadurch nicht in Frage gestellt werden konnte, dass ihn vielleicht nur diejenigen als solchen erkannten, die der jüdischen Religion angehörten oder mit ihr sehr vertraut waren. In dem Moment, in dem das Schofar geblasen wurde, entsprach die Ausdehnung des jüdischen Raumes der Reichweite des Hornklangs.

Als Pendant dazu spannte das Geläut der Kirchenglocken einen christlichen Raum durch dieselbe Gegend. Es war nicht derselbe wie der jüdische, denn er hatte nicht dieselbe Bedeutung, war nicht mit denselben Praktiken und Rhythmen ver-knüpft. Doch ebenso wie der Klang des Schofars war das Läuten der Kirchenglocken ein Zeichen, und zwar für christliche Präsenz und Kultur, und zugleich realer Stoff, aus dem diese erst entstanden. Besitz und Geläut der Glocken waren Ausdruck der Gläubigkeit, der Tradition und des Vermögens einer Gemeinde. Zu jener Zeit, die Dreyfus beschrieb, läutete die Lengnauer St.-Martins-Kirche mit fünf verschiedenen Glocken. Diese Glocken hatten Namen, es waren ihnen individuelle Aufgaben zuge-teilt und sie läuteten daher nicht zu jedem Anlass. Ihr Klang machte die Glocken zu individuell identifizierbaren, wichtigen Gestalterinnen des dörflichen Alltags.31 Doch nicht nur der Klang machte sie einmalig: Jede von ihnen war mit sorgfältig ausgewählten, programmatischen Bibelpassagen und in einigen Fällen auch mit Darstellungen versehen. Diese Inschriften und Symbole waren den Spendern und der Gemeinde wichtig und sie sind daher im Folgenden auch zitiert.

Die älteste Glocke war die Mittagsglocke, 1534 gestiftet von Pfarrer Breitenschmid. Ihr Ruf lautete „Domine, Rex gloriae, Christe, veni nobis cum pace“ – bat also um Frieden. Die Pestglocke, auch als „grosse“ Glocke bezeichnet, trug die Inschrift „Vicit leo de tribu Juda, radix David32 alleluja. Ecce crucem Domini, fugite partes adversae.“33 Während der Amtszeit von Pfarrer Johann Jakob Burkard von Kaiserstuhl hatte

30 Dreyfus schrieb diese Erinnerungen als über Siebzigjähriger und wollte damit zweifellos sein Lesepublikum unterhalten und die grosse Di"erenz zwischen seiner damaligen Jetztzeit und der scheinbar idyllischen, exotischen, beschwerlichen, aber heilen Vergangenheit aufzeigen. Insbesondere die Präsenz religiöser Feste ist bemerkenswert und deutet auf eine damals als problematisch wahrgenommene Säkularisierung innerhalb der jüdischen Gesellscha! der Schweiz. Dreyfus hatte somit ein Ziel, das quellenkritisch beim Lesen präsent sein muss, doch macht diese Absicht die Artikel nicht unbrauchbar, sind doch auch seine romantisierenden Schilderungen die einzige Quelle zu diesen &emen.

31 Mehr über Glocken als Teil der Lebenswelt von Menschen im 19. Jahrhundert: Corbin, Glok-ken, insbesondere 15f. (Die Erforschung des Unzeitgemässen) und 111–120, 139–158.

32 Als Löwe aus dem Stamm Juda, der Wurzel Davids, wird Jesus bezeichnet.33 Es siegt der Löwe aus dem Stamm Juda, der Wurzel David, Halleluja. Sehet das Kreuz des

Herrn, %iehet ihr feindlichen Mächte! Meyer, Pfarrer, 16.

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1711 ein Pestzug in Lengnau zahlreiche Opfer gefordert. Diese Erfahrung soll die Spende der Pestglocke bewirkt haben. Der Text ist mehrdeutig und lässt sich nicht auf eine einzige Deutung festlegen. Die im Glockentext angerufenen feindlichen Mächte können als die unbekannten Auslöser körperlicher Krankheiten verstanden werden. Denkbar ist auch eine Anspielung auf den judenfeindlichen Topos der Juden als Pesterreger. Sicher ist, dass 1711 bereits einige jüdische Familien in Lengnau wohnten. Wahrscheinlich sind damit aber vor allem die ‚Erreger‘ falscher religiöser Gefühle und Überzeugungen gemeint. Denn die Inschrift muss im Hinblick auf den Zweiten Villmerger Krieg von 1714, einen Schweizer Konfessionskrieg, inter-pretiert werden: Nach der Niederlage der katholischen Gebiete erhielten die pro-testantischen Bewohnerinnen und Bewohner der Lengnauer Loohöfe das Recht, die Pfarrkirche als Simultankirche mitzubenutzen.34 Darüber hinaus ordnete die siegrei-che protestantische Zürcher Regierung auch die Teilung des Lengnauer Kirchengutes an. Den Loohöflern wurde damals ein Drittel des (katholischen) Kirchenvermögens zugesprochen. Diesen maßgeblichen Verlust hat die Gemeinde später immer wieder beklagt.

Machtvoll präsentierte sich auch die Wetterglocke35: „Die Lebendigen ruf ich, die Toten beklage ich, die Blitze breche ich“. Sie wurde jeweils bei aufkommenden Gewittern geläutet, um die Gläubigen zum Gebet zu ermahnen. Und seit 1724 ergänzte die Kinderglocke das Geläut36. Auf ihrem obersten Kranz stand zu lesen: „Erlöse uns Herr Jesu Christe von Blitz, Hagel, Unwetter, Pest, Hunger und Krieg“. Zum Text kamen auch Bilder und Zeichen: Die Kinderglocke war zusätzlich mit drei mächtigen Emblemen geschmückt, die demselben Zweck dienten.37 Alle Inschriften sind hier ausführlich zitiert, weil sie, besonders die letzte, die magische Bedeutung der Kirchenglocken deutlich machen. Der Klang der Kirchenglocken zeigte nicht nur all-tägliche oder religiös definierte Zeiten an. Er verkörperte auch mehr als die Präsenz und die Aktivitäten einer sich selbst und ihren Glauben repräsentierenden Gruppe von Menschen. Die Glockentöne und die von ihnen über Häuser und Flur ausge-schwungenen Worte und Bilder legten sich wie ein Schutzmantel über die gesamte Lengnauer Gesellschaft. Die Kirchenglocken erfüllten mit jedem Läuten neben den religiösen auch praktisch-magische Aufgaben wie beispielsweise die Abwehr „feind-licher Mächte“, vermittelten den Angehörigen der Lengnauer Kirchgemeinde Schutz und Sicherheit und stifteten mit jedem Glockenschlag zugleich auch Identität. Sie behüteten ihre Gläubigen physisch und sozial – nämlich vor Unwetter, Krankheit

34 Ein Recht, das sie bis 1808 innehatten.35 Sie steht heute vor dem Dorfmuseum. Lengnau, 1200, 87.36 Sie zersprang 1910 und wurde 1911 durch die Schutzengelglocke ersetzt: „Heiliger Schutzen-

gel bitte für uns“. Meyer, Pfarrer, 17.37 Sie war versehen mit dem Heiligen Kreuz, der Unbe%eckten Empfängnis (Kernbekenntnisse

des katholischen Glaubens) und dem Heiligen Sebastian (Pestschutz).

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und Unglück – und stärkten den spirituellen Zusammenhalt in der Gemeinde.38 Die Glocken waren Schutz und Sendung.

Darüber hinaus waren sie auch Mitstreiter im konfessionellen Konkurrenzkampf jener Zeit. Adressatin dieses Läutens war jedoch nicht die jüdische Gesellschaft. Die Lengnauer Jüdinnen und Juden waren – als Mitnutznießerinnen oder Neutrale – in den Schutz und in die alltagsrelevante Information dieses Klangs unhinterfragt einbegriffen.39 Die doppeldeutige Abwehrformel auf der Pestglocke gegen „böse Kräfte“ bezog sich weniger auf die jüdische Kultur als vielmehr auf die rundum gelegenen protestantischen Gemeinden.40 Deren Glaube und Kultur war für die Lengnauer Katholikinnen und Katholiken viel verführerischer als der jüdische. Obwohl die Inschrift der Pestglocke diese auf den ganz unmittelbaren Kontext bezo-gene Auslegung nur andeutet, muss die Wirkung der Lengnauer Kirchenglocken vor dem Hintergrund katholisch-protestantischer Konkurrenz gesehen werden. In ihrer Funktion waren die Glocken den vier Wegkreuzen ähnlich, die zwischen den beiden Villmergerkriegen an den wichtigsten Dorfeingängen aus den Richtungen Zürich, Baden, Klingnau und Zurzach aufgerichtet worden waren.41 Sie zeigten Reisenden an, dass sie nun das Gebiet einer katholischen Ortschaft betraten. Die sich seit 1539 zum Protestantismus bekennenden Loohöflerinnen und Loohöfler waren noch bis ins 20. Jahrhundert eine Realität, welche die Lengnauer Pfarrherren immer wieder beschäftigte. In den Aufzeichnungen der Pfarrer ist immer wieder von (erfolglosen) Versuchen die Rede, die verlorenen Schafe in die Lengnauer Herde zurückzuholen. Missionsbestrebungen gegenüber den Surbtaler Jüdinnen und Juden sind in diesen Akten nicht überliefert. Sie sind individuell vorstellbar, aber als systematisches Tun der Lengnauer Pfarrherren nicht dokumentiert und angesichts der konfessionellen Konkurrenzkämpfe auch nicht wahrscheinlich.42

38 In diesem Sinn verstand auch der Pfarrer seine Aufgaben und priesterlichen Möglichkeiten. Von Eusebius Treyer ist überliefert, dass er anlässlich von Ungeziefer- und Mäuseplagen das Wasser im Pfarrbrunnen segnete, „damit (die Leute) ihre Rüben und den Kohl damit be-sprengen sollten, und die Prozedur wäre von Erfolg begleitet gewesen.“ Meyer, Pfarrer, 32. Diese Form von handfester Hilfe hat gewiss nicht nur Treyer geleistet. Im Judentum gab es ähnliche Vorstellungen von der Wirksamkeit religiöser Praktiken und Gegenstände: Morde-chai Breuer weist darauf hin, dass man in ländlichen jüdischen Gemeinden „ähnlich wie in ausserjüdischen Kreisen […] in der Religion einen Schutz gegen Naturgewalten“ sah. Breuer, Jüdische Religion, 76.

39 Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass es diesbezüglich Vorbehalte gegeben hätte.40 Eine Verbindung zur jüdischen Gemeinde wäre insbesondere bei der Pestglocke denkbar,

denn die Verknüpfung Juden-Pest war auch im Surbtal bekannt. Allerdings war um 1711 die jüdische Bevölkerung im Surbtal noch sehr klein. Die Adressierung der Glocke an die ansäs-sige jüdische Gemeinde ist daher eher unwahrscheinlich.

41 Lengnau, 1200, 85.42 Janner, Judenmission.

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Jüdische und christliche Klänge prägten, bereicherten und strukturierten den Lengnauer Alltag. Wer in den beiden Surbtaler Gemeinden lebte, konnte jüdische und christliche Räume hören: Räume, die Gemeinschaft verdeutlichten, sich in ihrem Appellcharakter ähnlich waren, sich in ihrer religiösen Bedeutung jedoch unterschieden. Mit Klängen konnotierte Konflikte, wie sie beispielsweise aus hessi-schen Gemeinden berichtet wurden und die ein prägendes Element jüdisch-christ-licher Beziehungen waren, sind im Surbtal nicht überliefert.43 Alle drei religiösen Räume waren Teil Surbtaler Identitäten.44

Geräusch-Schichten bestanden aber nicht nur als ein Nebeneinander. Es gab einen Ort, an dem die beiden Klänge in gewisser Weise ineinander übergingen: die Endinger Synagogenglocken. Die Endinger Synagoge war, dies wird immer wieder als Besonderheit der Endinger Verhältnisse hervorgehoben, das einzige Gotteshaus am Ort. Sie war mit zwei Glocken ausgestattet, ein Spezifikum, das im süddeut-schen und elsässischen Raum Seltenheitswert besitzt.45 Zwar waren die Endinger Synagogenglocken nicht ganz so prominent und kostbar wie jene in Buchau, die einzigen anderen bekannte Synagogenglocken im süddeutschen Gebiet.46 Diese Buchauer Glocke wurde ausgestattet und eingesetzt wie eine Kirchenglocke, das heißt sie verfügte über eine Inschrift und wurde zum Gottesdienstbeginn geläutet. Eine Synagoge mit Glocke oder, wie in Lengnau, mit prominenter Uhr nimmt Elemente und Funktionen von Kirchtürmen auf. Die selbstbewusste Repräsentation von gesellschaftlichem Erfolg gehört auch dazu. Das Läuten der Endinger Glocken seit 1852 war zwar der Synagoge zugeordnet, war aber sowohl für jüdische wie für christliche Bewohner Teil des dörflichen Ganzen.

43 Explizit und strategisch beschwerte sich 1629 ein Pfarrer des Städtchens Kirchhain über das „Hornblasen“, Treue, Kleine Welt, 253.

44 Heute ist die Situation anders. In ihrer Zeitschri! a+o berichtete die Evangelisch-Reformierte Landeskirche des Kantons Aargau in ihrer Ausgabe vom Mai 2005 über Anwohnerinnen und Anwohner von Kirchen, die sich über das Glockenläuten als „Lärmbelästigung“ beklagten, „etwas, das bis vor kurzem undenkbar gewesen wäre. […] Glockengeläute ist bei uns ge-schichtlich verwurzelt. Ein weiterer Teil christlicher Prägung in unserem Land wird damit hinterfragt.“ a+o, 5(2005), 18. Siehe auch Corbin, Sprache der Glocken, 401–415.

45 Hahn, Synagogen und Hahn, Erinnerungen und Zeugnisse.46 Sie trug als hebräische Inschri! auf der Westseite den Psalmvers 122,1: „Ich freue mich mit

denen, die zu mir sprachen: Ins Haus des Ewigen lasset uns gehen“. Auf der Ostseite stand der Name des Meisters Wenzeslaus Beker aus Biberach. http://www.alemannia-judaica.de/syn-agoge_buchau.htm [3.4.2005]. Die Buchauer Synagoge besaß einen Turm mit Glockenspiel und Uhr. Das aus vier Glöckchen bestehende Glockenspiel sollte ursprünglich das „Schule-klopfen“, die Au"orderung, dass jetzt der Gottesdienst in der Synagoge („Schule“) beginne, an den Haustüren ersetzten, bewährte sich jedoch nicht. Deshalb ließ die Gemeinde 1854 in Biberach eine große Glocke gießen. Sie wurde morgens und abends wenige Minuten vor dem Gottesdienst geläutet.

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Zweite Schicht: Zeiten

Lengnau hatte jüdische Zeiten und christliche. Damit sind nicht die beiden par-allelen Kalendarien gemeint, die in Lengnau verwendet wurden, oder die partielle Übersetzung jüdischer in christliche Zeiten (z. B. „Weyhnachten“ für Chanukka in jüdischen Protokollen und Korrespondenzen). Es geht um die Zeiten, die den dörf-lichen Raum veränderten.

Es lag an der Jahreszeit, wenn einmal im Jahr für einige Tage Lengnau und Endingen mehr ‚Häuser‘ zählten als sonst: „Die einfachen, bescheidenen Juden des Surbtales […] freuten sich der vielen und guten Tage, der ‚Jom Taufim‘,47 von ganzem Herzen und genossen auch die gemütlichen Tage des Sukkoth mit Wonne und Wohlbehagen. So ein Mittagsmahl bei schönem Wetter im Kreise der Familie, mit der hierauf folgenden Siesta in der Sukkoh, eine solche echte Freude lässt sich nicht leicht durch die Vergnügungen der heutigen Grossstadt ersetzen. Drum liessen sich die Juden des schweizerischen ‚Ghettos‘ gerne diese Reihe von acht guten Tagen gefallen“. In einer anderen, aus dem 20. Jahrhundert datierenden Quelle zu diesem Fest wird das Laubhüttenfest gar als eigentliches „Dorffest“ im Surbtal bezeichnet, was die christliche Bevölkerung mit einschloss.48

Das Wort „Sigge“, also Laubhütte,49 ist ein Begriff, der heute älteren Lengnauerinnen und Lengnauern ganz selbstverständlich über die Lippen kommt. Dies lässt sich in Gesprächen leicht erfahren, es wird auch darin sichtbar, dass „Sigge“ einer der ersten Begriffe war, die einem alteingesessenen Lengnauer einfielen, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus dem Gedächtnis ein Vokabular surbtaler-jiddischer Begriffe aufzuzeichnen begann.50 Hier deutet die Sprachtradition auf eine Vertrautheit hin, für die es keine zeitgenössischen Belege aus dem 19. Jahrhundert gibt.51 In den schriftlichen Quellen finden sich keine Hinweise auf den Ablauf oder

47 Festtage.48 Frenkel-Bloch, Achile, 31.49 Das Laubhüttenfest erinnert an die Flucht aus Ägypten. Jüdinnen und Juden sollen während

sieben Tage in einer Sukkah wohnen. Die Laubhütte ist innen ausgeschmückt mit Girlan-den und Segenssprüchen. Dabei dürfen der Lulaw (Palmzweig-Spitze), Hadass (Myrte), Arawa (Bachweidenzweig) und die Etrogfrucht, eine Art Zitrusfrucht, nicht fehlen. 3.Mose 23,33–44, http://www.ikg-wien.at/static/unter/html/re/sukkoth.html, [3.5.2005].

50 Ich danke Andreas Müller, dass er mir dieses „Vokabelhe!“ seines Vaters zur Verfügung ge-stellt hat.

51 Gewissermaßen als ein Pendant dazu, wenn auch mit Vorsicht zu lesen, da der Text aus dem Ende des 20. Jahrhunderts stammt, ist die jüdische Überlieferung. In einem Gedicht über „Jom Kipper im alte Endinge“ schreibt Michy Bollag: „Aach viel Gojim sin dou gsi, vo Te-gerfelde und Würelinge/Voll „Derech-Erez“ henn sie i de Vorhalle ghert/de Chassen singe“ Bollag beschreibt mit anderen Worten den Besuch auswärtiger Christen (aus Tegerfelden und Würenlingen) in der Synagoge anlässlich des jüdischen Festtags. Bollag/Weibel, Endinger

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die Wahrnehmung des Laubhüttenfests durch die christlichen Nachbarn. Einzig die Tatsache, dass das Recht, zu diesem Anlass in den Lengnauer und Endinger Wäldern „Stecken“ zu schneiden, eines der ersten und wenigen in den Schutzbriefen veran-kerten Rechte der jüdischen Gemeinschaft ist, ist ein Indiz dafür, dass dieses Fest als Zeichen religiöser Eigenheit wahrgenommen, Differenz anerkannt und zum Teil des Dorfalltags wurde.52 Im Gemeindewald Stecken zu schneiden, beziehungsweise im ganzen Dorf das Laubhüttenfest zu feiern, war keine rein private Angelegenheit, auch wenn die „Siggen“ in den (Vor-)Gärten und nicht auf kommunalem Grund und Boden standen. Doch die christliche Nachbarschaft, die im gleichen oder angren-zenden Haus wohnte, konnte den Bau, die Nutzung und die rituelle Zerstörung der Laubhütten mitverfolgen. Hier teilten Juden und Christen bis zu einem gewissen Grad dörflichen Raum. Dieses Teilen ging mit gegenseitiger Wahrnehmung einher. Dies zeigt sich daran, dass auf christlicher Seite die „Siggen“ eine sprachlich und kul-turell vertraute Erscheinung waren.

Viel häufiger und vertrauter als das Laubhüttenfest waren Sonntag und Sabbat. Diese Zeiten eröffneten einen jüdisch-christlichen Raum: Während des Sabbats halfen christliche Dienstmägde, Nachbarn und Nachbarskinder den jüdischen Familien, ihre religiösen Gesetze einzuhalten. Selbst wenn nur jede zweite jüdische Familie in Lengnau jemanden hatte, die oder der zum Licht- und Feuermachen kam, so betraten 1805 mindestens 196, 1850 etwa 260 und 1870 noch 188 christliche Schabbesmägde die Häuser und Stuben ihrer jüdischen Nachbarschaft.53 Sie hörten, was dort gesprochen wurde, sahen, was auf dem Tisch stand, waren für die Dauer ihrer Hilfe, ob sie wollten oder nicht, mit allen Sinnen an den Ereignissen in der jüdischen Familie oder im jüdischen Haushalt beteiligt. Der Sabbat bot Raum für eine Kontaktzone, die, ob reflektiert oder nicht, wöchentlich aus dem Alltagstrott heraustrat, oder ihn als regelmäßig wiederkehrendes Tun mitstrukturierte.

Die Tätigkeiten rund um den Sabbat waren ein Vertrautheits-Faktor im dörfli-chen Zusammenleben, dessen Bedeutung bislang unterschätzt wird. Zwar ist in der Literatur die Tatsache, dass „die Schabbesgojim kein vereinzeltes Kuriosum waren, sondern in den meisten Orten eine gängige, alltägliche Praxis darstellten“, häufig

Jiddisch, 156. Dieses Beobachten und Besuchen ist auch aus Gailingen überliefert und zeigt einen zeitlich bestimmten Moment, in dem sich Christen für jüdische Religionskultur inter-essieren und mit ihrem Interesse auch zugelassen wurden.

52 Der Landvogt in Baden bestätigte den jüdischen Gemeinden 1716, dass sie in den Gemein-dewäldern „Bohnen-Stecken“ und für das Laubhüttenfest Laub und Holz nehmen dürfen, weshalb sich die Gemeinde 1768 beklagte, dass deswegen die Wälder in „merklichem Abgang seyen“. Weldler-Steinberg, Geschichte der Juden, Bd. I, 24. Weibel, Endingen, 315.

53 Einwohnerzahlen für 1870 in: Niederer, Armenwesen,182. Auch wenn denkbar ist, dass eine katholische Lengnauerin zu mehreren Familien ging, so ist angesichts des Zeitbedarfs den-noch eine beachtliche Zahl möglicher Helferinnen und Helfer anzunehmen.

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erwähnt und auch analysiert worden.54 Doch werden daraus in erster Linie – wohl-begründete und einleuchtende – Schlüsse auf den Konfliktverlauf zwischen jüdischer Gemeinde und meist katholischer Geistlichkeit gezogen und daraus die jeweiligen Handlungsstrategien der Akteure abgeleitet. Weiter geht die Historikerin Sabine Ullmann, die den Einbezug christlicher Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner in Rituale der jüdischen Gemeinden thematisiert.55 Damit bringt sie nicht nur den Konflikt zur Sprache, der sich hauptsächlich aus den Beschwerden der Pfarrherren ableitet. Sie beschreibt auch eine Form von gegenseitiger Verpflichtung und Nähe.56 Was jedoch auch hier noch unerwähnt bleibt, ist die Frage nach dem möglichen Einfluss solcher Nähe auf das alltägliche nachbarschaftliche Zusammenleben und das gegenseitige Verständnis der Lebensverhältnisse von jüdischer und der christlicher Bevölkerung. Zwar ist das Häusliche ein Bereich, der in Beschreibungen des Dorfes und des Zusammenlebens fast immer unsichtbar bleibt.57 Am ehesten finden sich Hinweise im Bereich der Sprache, wo das Wissen über die Traditionen der jeweils anderen Religion anhand von Begriffen oder Satzteilen erkennbar wird, die jeder-mann geläufig sind.58 Doch die Alltäglichkeit des Sabbatdienstes ist ein Element, das gerade wegen seiner Unscheinbarkeit in solchen Arbeiten vergessen geht, die auf einer Perspektive auf jüdisch-christliche Gesellschaften aufbauen, die vom Konfliktfall aus-geht. Doch allein die Tatsache, dass eine wesentliche Zahl christlicher Nachbarinnen und Nachbarn jeden Sabbat die Häuser jüdischer Familien betrat, muss unsere Vorstellungen über die Bedeutung des Begriffs Fremdheit in jüdisch-christlichen Beziehungen verändern. Zu untersuchen bleibt die Frage, welchen Einfluss solche jeden Sabbat gelebten (Selbst-) Repräsentationen gegenseitiger Fremdheit oder Vertrautheit auf die gegenseitige und eigene Wahrnehmung von Juden und Christen, Jüdinnen und Christinnen gehabt haben.

Zeit bewirkte jede Woche eine Veränderung des dörflichen Raumes. Die bisher genannten Beispiele zeigen geteilte Räume. Zeitlich waren aber auch Räume defi-niert, die ausschließlich waren: Wenn nämlich am Sabbat im ‚Judendorf ‘ der Eruv gespannt wurde, dann entstand im Ort ein physisch und symbolisch umgrenzter jüdischer Bereich, innerhalb dessen sich für die Dauer des Sabbats das jüdische Leben abspielen musste. Noch einmal Emil Dreyfus: „Weit durften sie sich nicht

54 Ullmann, Nachbarscha! und Konkurrenz, 427. Zu den in Verordnungen zum Ausdruck kommenden Vorstellungen: Battenberg, Grenzen und Möglichkeiten, 89". Neu: Baumann, Zerstörte Nachbarscha!en, 63. Die Schabbesgojim erwähnt auch Ralph Weill in seiner Fami-liengeschichte. Weill, Schabbesgoi, 24f.

55 Ullmann, Nachbarscha! und Konkurrenz, 431.56 Ullmann, Nachbarscha! und Konkurrenz, 431.57 Shields, Alternative Traditions, 236/237, entwickelt Ansätze zu einer Soziologie des Privaten

und fordert, das Private zu theoretisieren, was in historisch-anthropologischen Arbeiten je-doch bereits seit längerer Zeit der Fall ist.

58 Siehe dazu im Kapitel: Grenzwerte die Spottpredigt des Johannes Blum in Zurzach.

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wagen, denn die strengen Gebote der Schabbosruhe erlaubten Gänge nur bis zu 18 Minuten Entfernung vom Eruv weg. Dieser Eruv war an den verschiedenen Enden des Dorfes durch Spannung eines Drahtes (gleich einem heutigen Telefondraht) von Dach zu Dach bezeichnet. Über diesen Eruv hinaus durfte der gesetzestreue Jude nicht die geringste Last, weder Tasche noch Schirm noch sonst etwas tragen. Der streng Fromme band sogar sein Taschentuch um seine Hüfte, um zu zeigen, es sei dies Tuch ein Stück, das zu seiner Kleidung gehöre.“59 Der Eruv, im Hebräischen Vermischung oder Verschmelzung, ist ein durch Schnüre oder Pfosten markierter, symbolischer Raum. Relevant ist dieser Raum jeweils am Sabbat. Während dieser Zeit dürfen gesetzestreue Jüdinnen und Juden außerhalb ihrer Wohnung eine ganze Reihe von Tätigkeiten nicht ausführen. Nur im privaten Bereich ist es ihnen erlaubt, Gegenstände zu tragen oder zu schieben bzw. ziehen (z.B. einen Leiterwagen). Die Sabbatschnur verbindet die privaten Räume eines Ortes und schafft so in der Öffentlichkeit einer Stadt oder Ortschaft einen gemeinsamen, nun als privat klas-sierten Raum. Die Richtlinien im Talmud empfehlen, dass der Eruv ein integraler Teil der Ortschaft sein soll und für das ungeübte Auge unsichtbar. Es geht um einen symbolischen Raum, auch wenn er für die gläubigen Jüdinnen und Juden physisch wirksam wurde.60

Über den Eruv im Surbtal im 19. Jahrhundert spricht allein Emil Dreyfus in seinen Lebenserinnerungen. In den Gemeindeakten wie auch in den Dokumenten, die auf Regierungsebene entstanden sind, ist darüber nichts zu erfahren. Das bedeu-tet zumindest, dass es im Surbtal keinen aktenkundlich gewordenen Konflikt über die Existenz oder die Form des Eruvs gegeben hat. Dieser Befund ist alles andere als selbstverständlich. Konflikte über die Einrichtung eines Eruvs sind aus fast allen jüdisch-christlichen Gemeinden überliefert. Allerdings muss man weitreichende Zeitsprünge in Kauf nehmen, um mehr über dieses Thema zu erfahren, womit auch sämtliche sich daraus ergebenden Kontextveränderungen mitzureflektieren sind. So sind beispielsweise aus Gailingen entsprechende Auseinandersetzungen belegt. Obwohl das Oberamt der Erstellung von Sabbatschranken 1667 zustimmte, leistete die christliche Gemeinde heftigen Widerstand.61 Erst sechs Jahre später kam es zu einem Kompromiss, und die Judenschaft konnte Sabbatstangen in der Weise aufrich-

59 Dreyfus, Erinnerungen, Nr. 19, 5.60 Siehe dazu sehr aufschlussreich die allgemeinen Ausführungen von Manuel Herz und Eyal

Weizman über den Bau des Londoner Eruvs in den Neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts: Herz/ Weizman, Wüste und Stadt, 107. Ich danke Susanne Bennewitz für den Hinweis auf diesen Artikel und verweise auf die entsprechenden Abschnitte in ihrem Dissertationsmanu-skript „Basel lernen“. Zum Londoner Eruv siehe Watson, City publics, insbesondere Kapitel 2 „Symbolic Spaces of Di"erence: Contesting the Eruv in Barnet, London, and Tena%y, New Jersey“.

61 Roming, Gailingen, 312.

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ten, „wie es bei den Juden in der Markgrafschaft Burgau üblich war“.62 Das weist auf eine Tradition hin, die jedoch nicht weiter beschrieben ist. Auch Ullmann erwähnt für das 18. Jahrhundert in diesem Zusammenhang Konflikte in Buttenwiesen und Kriegshaber, wo Jugendliche die Schnüre und Stangen eingerissen haben.63 Die Gewalt gegenüber dem Eruv erklärt Sabine Ullmann damit, dass „nach dem zeitge-nössischen Verständnis der Gläubigen das Dorf einen einheitlichen sakralen Raum“ bildete.64 Sie deutet die Auseinandersetzungen um den Eruv als Ausdruck einer sich auch räumlich abbildenden Konkurrenzsituation, in der die Pfarrer, die hauptsächli-chen Beschwerdeführer in dieser Sache, ihren religiös definierten Dominanzanspruch in Frage gestellt sahen. Dass es in Binswangen zu keinerlei Konflikten um den Eruv gekommen sei, erklärt sie damit, dass dort Kirche und Synagoge so weit auseinander standen, dass dadurch die Stangen den christlichen Sakralbereich nicht berührten und damit auch keine Gefahr darstellten.65

Diese Erklärung könnte auch für Lengnau und Endingen herangezogen werden. In der Tat standen in Lengnau Kirche und Synagoge in deutlichem Abstand von-einander, getrennt durch die Landstraße und die Surb, während es in Endingen keine Kirche gab, die symbolisch durch die Sabbatschnüre hätte bedrängt werden können. Hinzu kommt noch ein zweiter Grund: Als Paritätsgemeinde66 konnte Lengnau gerade nicht als einheitlicher sakraler Raum bezeichnet werden. Doch auch dieser ‚Sicherheitsabstand‘ erklärt noch nicht allein, dass es in Lengnau um den Eruv keine Auseinandersetzungen gegeben hat. Von genauso großem Gewicht waren Faktoren wie beispielsweise die theologische Haltung, die Persönlichkeit und die Karriereaussichten einzelner Geistlicher, der aktuelle politische und theologi-sche Kontext, das Gewicht, das jüdischen Traditionen in der jeweiligen Gemeinde zugesprochen wurde, und nicht zuletzt bestehende dörfliche Konfliktlinien und -traditionen.

Die alltägliche Praxis rund um den Eruv im Dorf ist nicht überliefert. Wie beweg-ten sich die christlichen Lengnauerinnen und Lengnauer während dieser Zeit durch die Straßen? Umgingen sie das Gebiet des Eruvs? Das war schwer möglich, wenn man davon ausgeht, dass dann einige nicht zu ihren Häusern, andere nicht ins Wirtshaus oder zu ihren Gärten und Feldern gelangen konnten. Dies gilt insbesondere in Endingen, wo zahlreiche Häuser von Juden und Christen gemeinsam bewohnt waren und nicht von einem jüdischen Siedlungskern ausgegangen werden kann. Haben die christlichen Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner den Eruv ignoriert? Taten

62 Roming, Gailingen, 313.63 Ullmann, Nachbarscha! und Konkurrenz, 436.64 Ullmann, Nachbarscha! und Konkurrenz, 433.65 Ullmann, Nachbarscha! und Konkurrenz, 437.66 In Lengnau diente die katholische St. Martinskirche während etwa hundert Jahren katholi-

schen wie protestantischen Gläubigen als Gottesdienstraum. Dazu ausführlicher weiter unten in diesem Kapitel.

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sie das allenfalls in Kenntnis oder in Unkenntnis des Eruvs und seiner Bedeutung? Selbst wenn sich der dörfliche Raum zunächst nur für die jüdische Bevölkerung ver-ändert hat: Lengnau war an Samstagen auch für die christlichen Mitbewohnerinnen und Mitbewohner oder für auswärtige Gäste anders als an allen anderen Tagen der Woche. Denn seine jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner bewegten sich anders, waren anders gekleidet, verhielten sich nicht wie an den übrigen Tagen der Woche, wenn nur ein Teil der jüdischen Gemeinde im Dorf war. Die Besonderheit dieses Tages war nicht nur in seinen subtilen Zeichen wahrnehmbar. Immerhin arbeitete ungefähr die Hälfte der Dorfbevölkerung an diesem Tag nicht, was auch bedeutete, dass einzelne Geschäfte geschlossen blieben. Religion war nicht nur in der Form von Synagoge und Kirche sichtbar. Sie wurde auch durch alltägliche Praktiken, durch Kleidung, Tun, Nicht-Tun und Bewegung thematisiert. Religion war – auch – ein räumliches Phänomen.

Nicht nur am Sabbat und entlang den Schnüren des Eruvs definierte in Lengnau die Zeit eine Grenze. Auch der Sonntag war ein Tag, der den dörflichen Raum veränderte. Zwischen 1717 und 1808 war Lengnau eine paritätische Gemeinde mit geteilter Kirche.67 Hier war der siebente Tag ein Grenztag. Denn drei Generationen zeigte er die Zeit an, in der christlicher sakraler Raum zu teilen war. Und zugleich traf sakraler auf alltäglich-profanen Raum: Während die jüdischen Männer sonntags ihre Büroarbeiten verrichteten und die katholischen Familien mehr oder weniger ‚g’sunntiget‘, also feiertäglich gekleidet, aus dem Frühgottesdienst nach Hause kamen, zogen während knapp hundert Jahren unter der Führung eines protestan-tischen Predigers einige Dutzend Glaubensbrüder und –Schwestern, manchmal mehr, manchmal weniger fröhlich aber auf jeden Fall immer gut sicht- und hörbar, nach Lengnau. Dort feierten sie gemeinsam mit den zwei protestantischen Familien von den Loohöfen den wöchentlichen Gottesdienst.68 Die katholischen Geistlichen

67 KAL, Urkunden Abschri!en 1802, fol. 12.68 „Jeden dritten Mittwoch und jeden dritten Sonntag im Monat kamen die zwinglianischen

Prädikanten zuerst von Zürich, dann von Schö*isdorf nach Lengnau und hielten in der Pfarr-kirche Gottesdienst. Weil die Loohöfe so wenige Personen zählten nahmen die Prädikanten ö!ers Glaubensgenossen aus Zürcher Gebiet, einmal 150 dann wieder 40 bis 50 Personen mit nach Lengnau, obgleich dies durch die Vertragsbestimmungen verboten war. Meyer, Pfarrer, 17. Die konfessionelle Spaltung der katholischen Gemeinde Lengnau wird in den dortigen Kirchenurkunden auf das Jahr 1539 zurückgeführt: „Es ist zu wissen, dass im Jahr 1539 in hiesiger Pfarr Vierzig Personen man und Weib sich zur Lutherischen und Zwinglischen Seckt bekannt, welche nicht haben gehorsamen wollen, mir Pfarrer Johannes Breitschmid ich hab sie nicht zwingen könen, weil sie Schutz beÿ denen Zürcheren und Berneren fanden. – Der grössere &eil der Pfarreÿ bleibe durch Gottes Gnad ihrem alten Glauben getreü. Sie haben ö!ers in ihren Kösten einen Predikanten hieher gerufen, dem hernach die Berner und Züri-cher von dem Loohof Zehen Muth Kernen angewiesen.“ Vide in dem alten Jahrzeit Büchlein fol. 88 in Lateinischer Sprach.“ KAL, Urkundenabschri!en 1802, fol. 12.

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sahen zähneknirschend zu und, glaubt man der nacherzählenden Darstellung von Pfarrer Josef Meyer hundert Jahre später, zählten widerwillig, wie hier durch einen seelsorgerlich-touristischen Trick aus einer verschwindenden eine ansehnliche Minderheit gemacht wurde.69 Während einiger Stunden ergriffen die protestanti-schen Kirchgängerinnen und Kirchgänger physisch und symbolisch Besitz von der Lengnauer „Marienkirche“ und dem Raum der katholischen Gemeinde. Dieser dörfliche Raum darf nicht so vorgestellt werden, als ob sich in ihm die homogenen Einheiten „Christen-Juden“ gegenüberstanden. Hier standen die unterschiedlichen, religiös bestimmten Gruppierungen zu unterschiedlichen Zeiten im Rampenlicht. Eine Grenze verlief auch quer durch die christliche Bevölkerung.

Die katholische Mehrheit hatte gemäß Vereinbarung sonntags die Kirche bis spä-testens 9.30 Uhr zu verlassen. Das führte immer wieder zu Streitigkeiten.70 In pari-tätisch genutzten Kirchgemeinden waren Zwischenfälle, die von Beschimpfungen bis hin zur Verunreinigung der katholischen Altäre oder Tabernakel reichten, keine Besonderheit. Das zeigen Beispiele aus anderen Kirchgemeinden der ehemaligen Gemeinen Herrschaften, insbesondere im Thurgau, aber auch im Departement Bas-Rhin oder im Regierungsbezirk Koblenz.71 Dort war die paritätische Nutzung katho-lischer Kirchen zum Teil schon seit dem 16. Jahrhundert verbreitet. Es fällt auf, dass sich Paritätsgemeinden besonders oft in den Gemeinen Herrschaften finden lassen, in denen auch die jüdischen Gemeinden angesiedelt wurden. Das ist kein Zufall. Grund dafür ist der periphere Charakter der Gemeinen Herrschaften. Diese Tatsache, die in vielerlei anderer Hinsicht ein Manko für die dortigen Untertanen darstellte, eröffnete den regierenden Herrschaften hinsichtlich der religiösen Ordnung Spielräume, die in den anderen eidgenössischen Orten und späteren Kantonen nicht denkbar waren.

Die von mehreren eidgenössischen Orten gemeinsam regierten Untertanengebiete waren hinsichtlich ihrer Bedeutung nichts anderes als volkswirtschaftliche Ressourcen. Rechtsstellung und wirtschaftliche Tätigkeit der dort lebenden Männer und Frauen waren auf die Begünstigung der Eliten in den Herrschaftsgebieten ausgerichtet. Ihr rechtlicher Status führte insbesondere in Religionsfragen zu Sonderregelungen, die in den Kerngebieten der regierenden Orte nicht galten. Es wäre undenkbar gewesen, dass sich im katholischen Luzern paritätische Gemeinden in gleicher Häufigkeit hätten finden lassen wie im Thurgau. Auch die Bildung jüdischer Gemeinden wurde in allen Herrschaftskantonen vehement unterdrückt. Da die Untertanengebiete

69 Vielleicht knirschten auch nur Josef Meyers Zähne. Denn der konfessionelle Gegensatz bzw. die konfessionelle Konkurrenz war zwischen 1920 und der Mitte der 1960er Jahren in der Schweiz und auch im Aargau sehr stark. Die Empörung der von Meyer beschriebenen Pfarrer war – auch – diejenige Meyers. Binnenkade, Sturmzeit, 29–38.

70 Meyer, Pfarrer, 17.71 Siehe dazu Volkland, Reformiert sein, dies., Konfession und Selbstverständnis, dies., Katholiken

und Reformierte, dies., Mehrheiten und Minderheiten und insbesondere dies., Konfessionelle Grenzen sowie auch methodisch sehr spannend: Dietrich, Konfession.

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von protestantischen und von katholischen Regierungen gemeinsam verwaltet wurden, ließen sich hier Haltungen und Regeln nicht durchsetzen, die im jeweiligen Herrschafts-Kerngebiet unangezweifelt galten. Denn in den Gemeinen Herrschaften regierten ‚die andern‘ – und das war hauptsächlich ein konfessionell definierter und repräsentierter Anderer – immer mit. Seit sich im 16. Jahrhundert Frauen und Männer in den Gemeinen Herrschaften zum Protestantismus bekannt hatten, war Konfession ein noch konflikthafteres Dauerthema an den Tagsatzungssitzungen der jeweils im Turnus regierenden eidgenössischen Orte, als es das zuvor bereits gewesen war. Konfession war in der Alten Eidgenossenschaft wie in ganz Europa ein zentrales Konfliktthema. 1712 erklärten die Orte deshalb die konfessionelle Parität für alle Gemeinen Herrschaften zum Prinzip.72

Dieser Beschluss wurde dadurch erleichtert, dass die Gemeinen Herrschaften peri-phere Gebiete der alten Eidgenossenschaft waren. Zwar lagen sie geographisch gese-hen durchaus nicht nur an den Grenzen der Eidgenossenschaft; zwar wurde im Kampf um politische Vorherrschaft, um die Verwaltungspraxis und um die Festlegung der konfessionellen Ausrichtung dieser Gebiete an der Tagsatzung bitter gestritten; zwar waren die Gemeinen Herrschaften in ihrer Funktion als eidgenössischer Zankapfel durchaus von zentraler Bedeutung. Dennoch handelte es sich um Untertanengebiete und somit in erster Linie um potentielle Ressourcen, deren zu erwartender Ertrag politische Zugeständnisse erleichterte. Den Regierungsvertretern der im Turnus herrschenden Orte saß das Hemd näher als der Rock: Der konkrete Alltag in den Untertanengebieten war für sie letztlich weiter weg als die Verhältnisse im jeweiligen Kerngebiet. In der alltagspolitischen Peripherie konnte deshalb angeordnet werden, was ‚zu Hause‘ nicht möglich gewesen wäre, wie das beispielsweise die Dekrete über die Ansiedlung der jüdischen Bevölkerung im Surbtal oder die (Nicht-)Vergabepraxis von Marktpatenten an jüdische Händler deutlich machen. Es lag an ihrem politisch gesehen peripheren Charakter, dass Lengnau und Endingen zu interkonfessionellen und interreligiösen Kontaktzonen wurden. Konflikte waren in Paritätsgemeinden häufig. Es fragt sich allerdings, was sie zu bedeuten haben, insbesondere vor dem Hintergrund, dass in derselben Gemeinde auch die jüdischen Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner ihre religiösen Traditionen lebten. Vor allem, da die Gemeinde nicht von sich aus paritätisch geworden war, sondern aufgrund des Siegerdiktats in einem konfessionellen Krieg, in den sie als Untertanengebiet unfreiwillig involviert worden war. Welche Bedeutung hatte somit dieser Status für die Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner? Verbarg sich hinter interkonfessionellen Konflikten grundsätz-liche religiöse Intoleranz?

Während Verfasser älterer Forschungsarbeiten Konflikte in paritätischen Gemeinden als Beweis für das viel diskutierte historiographische Narrativ der kon-fessionellen Spaltung gelesen haben, interpretieren die Autorinnen und Autoren neu-

72 Siehe dazu stellvertretend Volkland, Konfessionelle Grenzen.

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erer Arbeiten solche Konflikte zu Recht im Kontext von Kommunikation und alltäg-licher Praxis und deuten das Bekenntnis auch als eine soziale Variable.73 Nach Ansicht des Historikers Tobias Dietrich bildeten sich in den Städten und Dörfern der Frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts nicht in erster Linie antagonistische „Lager“, son-dern „konfessionelle Grenzregionen, in denen Katholiken und Evangelische in stän-digem Kontakt standen“.74 Dietrichs Blick auf das Zusammenleben von katholischen und protestantischen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen entspricht dem hier vertre-tenen kontakt-orientierten Zugang zur jüdisch-christlichen Ortsgeschichte. Auf die Lengnauer Verhältnisse bezogen heißt das, dass nicht nur religiöse, sondern insbe-sondere auch konfessionelle Unterschiede sowohl von protestantischer als auch ganz besonders von katholischer Seite wahrgenommen und gelegentlich auch thematisiert wurden. Diese konfessionellen Konkurrenzen und Spannungen waren fester Teil des Lengnauer Alltags – nicht nur die religiösen Unterschiede zwischen katholischer und jüdischer Dorfbevölkerung. Die Lengnauerinnen und Lengnauer waren mit anderen Worten an die physischen und symbolischen religiös-konfessionellen Grenzen in ihrem Dorfraum gewöhnt. Das heißt nicht, dass sie die Kirchenteilung zwangsläufig auch guthießen oder gar wünschten. Aber diese ständig spürbaren Unterschiede blieben nicht ohne Folgen für das Verhältnis zwischen jüdischer und katholischer beziehungsweise christlicher Bevölkerung. Dies bestätigen die bisherigen Ergebnisse in diesem Kapitel: Religiöse Praktiken aller Bekenntnisse waren in der Öffentlichkeit des Lengnauer Dorfraums möglich: der Bau einer repräsentativen Synagoge,75 die partielle christliche Beteiligung an jüdischen Festen, die konfliktfreie Akzeptanz des Eruvs, der sonntägliche Einzug der protestantischen Kirchgängerinnen und Kirchgänger und die Teilung der St.-Martins-Kirche.

Die notwendig gewordene Teilung des Sonntags in säkulares und feiertägliches Verhalten hatte auch Vorteile. Sie bot den Lengnauer Pfarrherrn beispielsweise Anlass, in ihrer Gemeinde die Regeln eines christlichen Ruhetages zu thematisieren. Sie taten dies anhand der Verhaltensregeln für die sonntägliche Dorfordnung. Dank der jüdischen Präsenz musste sie in ihren Augen besonders deutlich formuliert und exemplarisch durchgesetzt werden. Für die jüdische Bevölkerung galt am Sonntag ein striktes Arbeitsverbot in der Öffentlichkeit, das der Pfarrer und der Landjäger auch immer wieder streng kontrollierten. Die Bußenlisten im Sittengerichtsprotokoll bele-gen, wie ungern die katholischen Sittenwächter es sahen, wenn vor einem jüdischen

73 Dietrich, Konfession, 13. Dietrich diskutiert gewinnbringend den Forschungsstand zur Kon-fessionalisierung in ebenda, 13–28. Siehe auch Mooser, Katholisches Milieu und François, Un-sichtbare Grenze.

74 Volkland, Reformiert sein, 162.75 Es gab in Lengnau im Verlauf der Zeit insgesamt drei Synagogen, wobei die erste nicht als

solche erkennbar war, sondern eher als ein Gebetsraum im Haus eines christlichen Besitzers bezeichnet werden muss. Die zweite lag an anderer Stelle, doch auf derselben Surbseite; die dritte entspricht der heute noch bestehenden.

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Haus sonntags genäht, gestrickt, Wäsche aufgehängt, gejätet oder auch nur gelesen wurde.76 Das Verbot bezog sich nicht nur auf weibliche Tätigkeiten. Auch Waren zu transportieren, Holz aufzuschichten oder Abfall zu entsorgen konnte finanzielle Konsequenzen haben. Zwar war das in den Kirchenbüchern festgehaltene Verbot an die jüdischen Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner gerichtet. Doch als dessen Adressaten hatten die Pfarrherren ganz klar auch die christlichen Dorfgenossen im Blick. Das zeigen zunächst die Bußen, die wegen den gleichen Regelüberschreitungen auch christlichen Dorfbewohnern auferlegt wurden.77 Deutlich wird dies auch in Formulierungen des Pfarrers Josef Anton Bröchin aus der Mitte des 18. Jahrhunderts: In seinen Ratschlägen an den Nachfolger aus dem Jahr 1766 zählte er zunächst die sonntäglichen Ge- und vor allem Verbote für die jüdische Bevölkerung auf und wünschte sich danach abschließend: „Die Christen sollen nur ihren Sonn- & Freytäg halten, wie die iuden [sic] den Sabath“. Mit dieser Formulierung machte Bröchin die ansonsten argwöhnisch beobachtete jüdische Gemeinde zum Vorbild, stilisierte deren Verhalten zum Exempel und der Adressat dieser Anweisungen wurde als christ-licher erkennbar.

Sonntag war auch Geschäftstag: Bröchin beschreibt, wie im späten 18. und zwei-fellos noch im frühen 19. Jahrhundert auf dem Land (Geld-)Geschäfte abgeschlossen wurden. Es war damals üblich, „dass die heimischen als auch auswärtige Christen vor- und auch nach dem Gottesdienst an solchen Feyertagen in die iuden häuser […] gehen, mit selben schachern, handlen, […] kaufen oder verkaufen“.78 Offenbar such-ten am Sonntag nicht nur die Einheimischen ihre hier ansässigen und für den Sabbat wie für den Sonntag zurückgekehrten jüdischen Geschäftspartner auf. Es kamen auch Auswärtige, um dann und vor allem dort Geschäfte zu tätigen, die unter der Woche nicht möglich waren. Die Häuser jüdischer Familien waren unter diesen Umständen in gewissem Sinn öffentlich und jedenfalls für bestimmte christliche Besucherinnen

76 Ähnlich Bröchin 1766: „An denen Sontägen, auch an denen Tagen wan die reformirte mit den feyertag als von St. Antons Tag, von oster montag am p#ngst montag halten, dörfen die iuden nicht schlachten, das ist Ochsen, Kühe, Kalber, Geissen, Schaf ee metzgen. Item o"entlich keine Wäsche aufmachen und nicht o"entlich strickhen, nehen, prodiren, fägen, am Brunnen oder Bach waschen, garthnern, den garthen ietten oder hackhen etc. oder sonst werchtliche Arbeith verrichten oder verrichten lassen, als grassmehen, holtz-beigen etc. kraut, kabis setzen, oder auch deren goisse lauben. Wan die iuden in diesen […] Excessen angetro"en werden, so muss der pfarrer die iuden aufschreiben […] der sie angibt an denen Christen als dan dem Aman oder selbsto dem Hr. Pfarrer übergeben, welches die iuden hernach bey dem Gericht Zus. billich Trost ziechen würdst.“ Lengnauer Pfarr-Chronik des Deutschordensprie-sters Josef Anton Bröchin 1766, KAL, Nr. 53, fol. 185.

77 KAL, Sittengerichtsakten ab 1803–1883 und Sittengerichtsbuch/Sündenregister 1843–1874.

78 Lengnauer Pfarr-Chronik des Deutschordenspriesters Josef Anton Bröchin 1766, KAL, Nr. 53, fol. 186.

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und Besucher zugänglich – auch wenn natürlich nicht abzuschätzen ist, wie groß die Zahl der tatsächlich sonntags nach Lengnau und Endingen reisenden Landleute war. Dieser Befund weicht von Monika Richarz’ Ergebnissen ab, die für das von ihr untersuchte Gebiet festhielt, dass „eine gemeinsame Geselligkeit nur ausserhalb der jüdischen Häuser in Gaststätten und Vereinen zwischen Männern statt(fand).“79

Pfarrer Bröchins Verbote und seelsorgerisch-pädagogischen Anregungen an seinen Nachfolger spiegeln erlebten Alltag wider: Wenn der Pfarrherr dagegen Einspruch erhob, dass „iuden und Christen […] an Son und feyertägen in dennen würdeshe-üseren hier & zu freyenwil haus, hört und güther etc. etc. etc. […] wagandten, […] verkaufen, […] versteigern & od. sonstige offentlich verabredungen machen“, dann heißt das nichts anderes, als dass Juden und Christen sonntags zusammen in den Wirtshäusern saßen.80 Und offenbar schätzte Bröchin die Macht dieser halb geschäft-lichen, halb geselligen Gewohnheit so groß ein, dass er seinem von der Kanzel herab oder im individuellen Gespräch gesprochenen Wort nicht zu vertrauen schien. Um dieser Praxis einen Riegel vorzuschieben, verlängerte der Pfarrer seinen Arm mit Hilfe seiner Feder: Er setzte eine ausführliche Anweisung an den Nachfolger auf, der damit autorisiert wurde, dieses Verbot weiterhin durchzusetzen. Allerdings sollte man dieses Verbot nicht einseitig auslegen. Bröchin sorgte sich nicht theologisch wegen dieses Kontaktes. Ihm ging es nicht in erster Linie darum, zu verhindern, dass seine Gemeindeglieder in Kontakt mit jüdischen Dorfgenossen waren und sich für ihren Glauben interessieren könnten. In dieser Hinsicht wäre es viel bedrohlicher gewesen, wenn protestantische und katholische Dorfbewohner – oder womöglich gar Dorfbewohnerinnen – sonntäglich entspannt ins Gespräch gekommen wären. Bröchin hatte soziale Bedenken. Ihm war der Besuch der Wirtschaft und der mögli-che Alkoholkonsum mit den damit verbundenen Ausgaben ein Dorn im Auge. Hinzu kommt, dass Bröchin, dem die damaligen Stereotypen über jüdischen (Geld-)Handel

79 Richarz, Entdeckung der Landjuden, 19. In diesem Sinn wäre auch die Frage zu klären, wieweit Sabbatmägde nicht auch Teil einer dör%ichen Frauengesellscha! werden konnten, die unab-hängig vom religiösen Bekenntnis bestand. Beispiele bei Jeggle, Judendörfer, 202".

80 Die Anwesenheit von Juden in christlichen Wirtshäusern ist auch später belegt: „Verhör mit Samuel Dreyfuss (40), von Lengnau wegen einem gestohlenen Hut. Landjäger Meyer, statio-niert im Kreis Kaiserstuhl zeigt an, dass während der Kirchweihlustbarkeiten in Lengnau wo vieles Volk sich im Wirtshaus bei Herrn Ammann Bucher aufgehalten hatte, dem ebenfalls anwesenden Lieutenant Müller von Lengnau ein feiner Hut entwendet worden sei. Man sei auf den Juden Samuel Dreyfuss, genannt Kabis (?) von Lengnau aufmerksam geworden, der sich auch in der Wirtsstube befand, der Landjäger ging nach der Anzeige des L. zu S. nach Hause und fand dort den Hut. (In der Anzeige des Lieutentants ist Samuel „Schmulle“ ge-schrieben, was darauf hindeutet, dass sich die beiden kannten.) D. gibt zu Protokoll, er wisse selbst nicht, weshalb er so ein Esel gewesen sei und den Hut genommen habe, er hätte ihn vielleicht für sich behalten und der Hut sei fein und teuer.“ 6.11.1815. StAAG, BA.11 Polizei 1812–1816 (Signatur wurde vermutlich mittlerweile geändert)

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geläufig waren, auch aus diesem Grund jüdisch-christliche Wirtshauskontakte zu verhindern suchte.81

Der Sonntag war somit in Lengnau ein Grenztag. Er machte katholische und pro-testantische Räume sichtbar und bot Anlass, Grenzen zwischen Alltag und Feiertag, zwischen Arbeit und Andacht zu thematisieren und Unterscheidungskriterien zwi-schen jüdischer und christlicher Religion zu aktualisieren. Zugleich war der Sonntag aber eine jüdisch-christliche und katholisch-protestantische Kontaktzone. Das heißt, es handelte sich nicht nur um eine punktuelle, minimale Berührung, an die das Wort Grenze denken lässt, sondern um Zonen, um sich überlappende Räume des Alltags. Zeit schuf einen christlichen oder jüdischen Raum. Es heißt auch, dass Zeit räum-lich fassbar wurde: Je nach Zeitpunkt – im Jahr, in der Woche – veränderte sich das physisch wahrnehmbare Dorf. Es wurden Siggen gebaut, ein Eruv erstellt und dessen Regeln berücksichtigt. Protestantinnen und Protestanten zogen nach und durch Lengnau. St. Martin wurde liturgisch für einige Stunden auf andere Weise genutzt als sonst.

An Samstagen und Sonntagen taten und unterließen christliche und jüdische Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner nicht dasselbe. Sie unterschieden sich in der Art ihrer Kleidung, gingen sie doch zu unterschiedlichen Zeiten ‚g’sunntiget‘ durchs Dorf.82 Sie bewegten sich wegen der Sabbatvorschriften mit unterschiedli-cher Selbstverständlichkeit und Geschwindigkeit im Ort. Zugleich waren es eben diese Unterschiede, die ihre spezifischen Lengnauer Gemeinsamkeiten ausmachten. Insbesondere was die jüdischen Zeiten im Verhältnis zu den christlichen im Dorf anging: Die Bewohnerinnen und Bewohner von Lengnau und Endingen lebten an Samstagen und Sonntagen in ihren beiden Dörfern eine Alltagskultur, die ihre beiden Dörfer von sämtlichen anderen Schweizer Dörfern unterschied.

Dritte Schicht: Traditionen

Es wurde Herbst im Surbtal. Längst waren die Sukkot abgebaut. Die Tage wurden kürzer, die Nebel dichter, die Klänge des Schofars waren seltener geworden. Nur einige wenige Tekios hatte der Bläser für die kommenden großen Feiertage zurück-behalten: für Rosch Ha-Schana, das jüdische Neujahrsfest, und Jom Kippur, den Versöhnungstag und höchsten jüdischen Feiertag. Es wurde still in Lengnau. Doch in den Häusern jüdischer Familien herrschte Feststimmung und an manchen Tagen ließ sich in den Lengnauer Gassen einiges beobachten: „Die Vorbereitungen für den Roschhaschono wurden in den israelitischen Gemeinden des Surbtals in der guten

81 Zur judenfeindlichen Haltung innerhalb der katholischen Kirche: Blaschke/Mattioli, Katho-lischer Antisemitismus. Blaschke, Katholizismus und Antisemitismus

82 Schweizer Dialektausdruck für „in sonntäglicher, festlicher Kleidung“.

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alten Zeit mit besonderer Gewissenhaftigkeit und sehr pünktlich beachtet. So nahm man, wenn immer möglich, ein Bad im fliessenden Wasser, in dem man sich dreimal unterzutauchen pflegte.“83 In diesen Tagen sahen die christlichen Lengnauerinnen und Lengnauer ihre jüdischen Nachbarn zur Surb hinuntergehen und dieses Bad im wohl eiskalten Wasser vornehmen. Ob man die Männer auch manchmal prusten hörte? Zu Taschlich wanderte dann die ganze Gemeinde ans Surbufer hinab, um ihre Taschen zu leeren.84 Der Brauch gehört zum Neujahrsfest. Auch heute leeren an diesem Tag Jüdinnen und Juden ihre Taschen in ein fließendes Gewässer, um ihm symbolisch die Sünden des vergangenen Jahres mitzugeben. Emil Dreyfus erinnerte sich rückblickend offenbar gerne an diese Zeremonie. Sie „war für unsere Jugend […] ein frohes Ereignis, das wir in unserer kindlichen Nachahmungssucht hie und da als Schauspiel zum besten gaben.“85 Ob wohl nur die jüdischen Jungen dieses Spiel aufführten? Das Tauchbad nachahmten? Und was mögen die christlichen Dorfbewohner gefühlt haben, wenn sie in den Tagen danach, im selben, oft erwähn-ten dichten Herbstnebel in den kühlen, bereits eher dunklen, frühen Morgenstunden all die jüdischen Hausväter „in ihrem weissen ‚Sargenes‘ (Totenkleid), das gewöhn-lich nach altem Brauch von der Braut schon ihrem Bräutigam verehrt wird, zum Tempel hinwandern“ sahen?86 Emil Dreyfus zeigt sich nostalgisch und schreibt, dass dieses traditionsreiche, stille Geschehen selbst für ihn als jüdischen Knaben „ein eigentümlich ernster Anblick“ gewesen sei.

Das durch Traditionen geprägte Handeln im öffentlichen Raum war kein privates, das sich innerhalb eines echten oder rituellen Hauses abspielte, wie beispielsweise am Sabbat oder in den Laubhütten. Diese meist religiös bestimmte Tradition fand im Surbtal mehr Platz als zur selben Zeit in den Judendörfern Schwabens: Dort waren jüdische Traditionen in der Öffentlichkeit verboten, weil „der ‚wahren‘ Religion der öffentliche Platz im Dorf vorbehalten bleiben (sollte). Sakrale Handlungen gewan-nen an Wahrheitsgehalt durch ihre öffentliche Zelebrierung“.87 Diese Öffentlichkeit war in Schwaben durch Kirche und Obrigkeit blockiert. Anders im Surbtal. Es war ein einsehbares öffentliches Handeln, das von beiden Seiten mit Erzählungen verknüpft war: Erzählungen primär der Handelnden, aber auch der Zuschauenden. Die christliche Gesellschaft nahm die Traditionen der jüdischen Gemeinde in der Dorföffentlichkeit wahr und verstand auch zumindest zum Teil, worum es dabei ging. Darauf lassen beispielsweise Witze schließen, die man sich in Lengnau unter Christen noch im 20. Jahrhundert über diese Feiertage erzählte.88

83 Dreyfus, Erinnerungen, XV, IW 1924, Nr. 47, 26. Die Formulierung „in der guten alten Zeit“ weist auf die bereits angemerkte Absicht des Autors und dessen romantisierende Sicht hin.

84 Ebenda.85 Dreyfus, Erinnerungen, XV, IW 1924, Nr. 47, 26.86 Dreyfus, Erinnerungen, XVI, IW 1924, Nr. 50, 30.87 Ullmann, Nachbarscha! und Konkurrenz, 438.88 Einige hat mir Andreas Müller erzählt.

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Religiosität und Tradition wurden im öffentlichen Raum gelebt, gezeigt – sie prägten das Dorf. Dazu gehörten insbesondere die zahlreichen katholischen Prozessionen, die entweder durch das Dorf und über die Felder oder auch nur rund um die Kirche und über den Friedhof führten. Einige waren von Gesängen beglei-tet, von Fahnen, Kreuzen oder anderen sichtbaren und olfaktorischen Symbolen. Manchmal wurden dazu die Glocken geläutet und es ging um kirchlich-spirituelle Anliegen wie auch um bäuerlich-praktische, wie beispielsweise die Abwehr von Viehseuchen oder die Sicherung der Ernte.89

Die jüdischen Rituale gehörten ebenso zu dieser öffentlichen Religiosität wie die christlichen. Religion und Tradition waren Bereiche, in denen die jeweiligen Gemeinschaften als solche sichtbar waren und ihren Glauben performierten. Es handelte sich dabei um ‚eigene‘ Räume, in denen die jeweils ‚anderen‘ nur die – unter Umständen durchaus konstitutive – Rolle von Zuschauerinnen und Zuschauern zugewiesen bekamen, wenn sie überhaupt eine Aufgabe dabei hatten. In diesen Fällen, beispielsweise bei den Fronleichnams-Prozessionen, stellte sich aber die Frage, wie diese Zuschauerschaft den Manifestationen des katholischen Glaubens angemes-sen begegnete. Und auch hier bestand die größte Spannung zwischen katholischer und protestantischer Bevölkerung und nicht zwischen christlichen und jüdischen Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohnern.90 Um zu illustrieren, was damit gemeint ist, ist ein Sprung in der Zeit notwendig. So löste beispielsweise 1780 ein katho-lischer Prozessionszug der Lengnauer und Endinger Gläubigen nach Zurzach in Tegerfelden Unruhen aus, als der dortige Tagwächter den ebenfalls mitmarschieren-den Würenlingern gedroht haben soll, er schieße ihre Fahne herunter.91 Anlass für die Eskalation dieses Konflikts war ein konfessionelles Argument.92 Der Fall kam bis vor den Badener Landvogt. Dieser legte fest, dass Prozessionen nur bis zum Wirtshaus und nur fünfminütiges Glockengeläut zugelassen seien. Außerdem ordnete der Stift Zurzach an, dass die Prozession „mit fliegenden Fahnen“, also in schnellem Tempo, durch Tegerfelden führen und die Glocken nur beim Einzug ins Dorf läuten sollten.93 Die Maßnahmen machen deutlich, dass der Anteil am öffentlichen Raum, den die katholischen – in anderen Fällen protestantischen – Gläubigen für sich beanspruchen konnten, umstritten war. Jeder Auftritt war immer auch symbolhaft, ein Zeichen für das Verhältnis der Konfessionen. Jeder Schritt wurde gemessen, jede Handlung gedeutet. Das enge neue Schema für die Prozession nach Tegerfelden sah sowohl die

89 Meyer, Pfarrer, 24–27.90 Siehe dazu auch: François, Unsichtbare Grenze, 153–167. François interpretiert Prozessionen

unter anderm auch als „Wettkämpfe“ zwischen den Konfessionen.91 Weibel, Endingen, 549.92 Der konkrete Anlass ist nicht überliefert.93 Alle Zitate Weibel, Endingen, 549. Nachweis fehlt, vermutlich aus Huber, Johann: Die Kolla-

turpfarreien und Gotteshäuser des Sti!es Zurzach, Klingnau 1868, 149.

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Eskalations- wie auch die Befriedungsformen bereits vor, die Verantwortlichen in Stift und Landvogtei rechneten also mit weiteren Konflikten.

Es fanden aber nicht nur christliche Prozessionen in und um Lengnau statt, und nicht alle waren so stark mit religiösem Ernst gesättigt wie beispielsweise die Fronleichnamszüge. Auch hierüber berichtete Emil Dreyfus: „Am Simchas Thora,94 dem Tage der Umzugsprozession (schliesst sich der Kehilebalbos) an den schon gebildeten Umzug im Tempel (an). Tanzend und singend zieht die frohlocken-de Prozession in der Runde herum bis zur heiligen Lade […]. Noch während des Tempeldienstes zieht schon eine Abteilung junger, lediger Männer auf Raub aus, indem sie nach gut bereiteten ‚Chaleter‘95 fahnden, die sie dem Usus nach, wie er von alters her im Surbtal existierte, in der neuen Wohnung der frisch verheirate-ten jungen Ehepärchen an einem erreichbaren Versteck zu finden hoffen dürfen. Nachmittags bildete die junge Mannschaft einen Umzug, wobei Jünglinge als Köche verkleidet die erbeuteten Chaleter auf schön mit Blumen und Kränzen geschmück-ten Serviceplatten triumphierend vorantrugen. Überall im Dorf wurde diese frohe Jugend jubelnd begrüsst […]. Man machte dann in Endingen noch den anderen Wirten zum ‚Löwen‘, ‚Hirschen‘, ‚Rössli‘, ‚Schützen‘ etc. einen Besuch, während die Lengnauer sich beim freundlichen Chasen Braunschweig oder im ‚Rössli‘ beim judenfreundlichen, braven Bucher zur ‚Mühle‘ in froher Stimmung gütlich taten und lustig machten. […] Und so wurde drauflosgezecht, bis dass die weinselige Gesellschaft abends taumelnd und lärmend zum Abendgottesdienste als Finale der Festfreuden den Weg in den Tempel fand.“96

Die gut sichtbare und abends zweifellos auch gut zu hörende Präsenz der jüdischen Männer in den Gassen und Wirtshäusern Lengnaus und Endingens ist bemerkenswert und muss als Phänomen langer Dauer angesehen werden. Im Gegensatz dazu wird aus dem Gebiet Schwabens für das 18. Jahrhundert vom abso-lut geltenden Verbot für Jüdinnen und Juden berichtet, während ihrer Feiertage in

94 Simchat &ora, Fest der „&ora Freude“, der fünf Bücher Mose. „Die Weisen bestimmten, daß zu Ehren ‚des Endes der &oralesung eine Festmahlzeit veranstaltet wird’. Dieses Ereignis soll mit Freude und festlicher Prozession, singenden und tanzenden Umzügen (Hakkafoth) mit allen &orarollen in den Armen siebenmal um die Lesekanzel statt#nden. Man freut sich […] über die &ora, durch die Gott Israel Sein Gesetz gegeben hat.“ http://www.ikg-wien.at/static/unter/html/re/simchat.html (24.5.2005). Eine ähnliche Situation beschreibt auch Haumann, Wege, 504.

95 Es ist nicht eindeutig, was mit Chaleter gemeint ist. Aufgrund der Beschreibung ist es un-wahrscheinlich, dass es sich um Sabbatbrote (Challes, im Surbtal Berches) gehandelt hat. In einem Surbtaler Kochbuch mit jüdischen Rezepten #ndet sich Schalet, ein Gericht, das aus eingeweichten Mazzen, Zucker, Zitronen und geriebenen Mandeln besteht. Im Gegensatz dazu versteht man in der jiddischen Küche unter Schalet ein Gericht aus weißen Bohnen, Räucher%eisch, Zwiebeln und Eiern. Frenkel-Bloch, Achile, 20.

96 Dreyfus, Emil: Erinnerungen, IXX, IW 1925, Nr. 11, 22.

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der Dorföffentlichkeit präsent zu sein, sei das anlässlich von Hochzeiten unter dem Baldachin, sei es bei einer Prozession zur Einweihung von Thorarollen.97 Ähnliche Verbote sind aus dem Surbtal nicht bekannt. Und entsprechende Beschwerden sind im 18. und 19. Jahrhundert weder auf Bezirks- noch auf Kantonsebene überliefert. Diese Lücke, auf die man ohne Kenntnis der Verhältnisse in anderen jüdisch-christlichen Ortschaften und ohne das Wissen um die von Dreyfus geschilderten Alltagsszenen gar nicht aufmerksam würde, ist sprechend. Ob es allerdings genau so war, wie Dreyfus schreibt, muss zumindest zum Teil offen bleiben. Denn es gilt nicht zu vergessen, dass es sich bei den zitierten Schilderungen jüdischer Bräuche um Erinnerungen eines älteren Mannes an seine Jugendzeit handelt. Der Erzähler wollte seine Leserschaft im jüdischen Wochenblatt mit launigen Erinnerungen an eine ‚gute alte‘ Zeit unterhalten. Gleichzeitig machte er mit seiner Erzählweise wie mit den in der Wochenzeitung geschilderten Inhalten deutlich, dass er davon ausging, dass ein Großteil seiner Leserschaft diese Bräuche bereits für exotisch hielt. Schließlich muss Dreyfus’ Artikelserie auch vor dem Hintergrund einer in den zwanziger und dreißi-ger Jahren in der Schweiz immer wichtigeren öffentlichen Diskussion um die typisch schweizerischen ‚Wurzeln‘ der ansässigen jüdischen Bevölkerung gesehen werden, in deren Tradition sich der Autor stellte.

Die Sicht des Erzählers hat sich im Laufe der Zeit verändert und Dreyfus mag in seiner Erinnerung die mögliche Konflikthaftigkeit solcher Traditionen heraus-gefiltert haben. Doch auch wenn die Erzählungen des hier in den vorhergegan-genen Abschnitten so prominent zitierten Gewährsmannes keine unmittelbaren Augenzeugenberichte sind, so sind die geschilderten Episoden aus den oben genann-ten Gründen in den großen Linien dennoch wahrscheinlich, auch wenn Dreyfus’ Darstellung selbst auch ihre Lücken haben wird. Es kam ganz offenbar nicht zu nennenswerten Konflikten rund um das jüdische religiöse Brauchtum in der gemein-samen Dorföffentlichkeit. Das Surbtal unterschied sich damit von den meisten jüdisch-christlichen Gemeinden im süddeutschen Raum. Dieser Unterschied hat gewiss auch mit dem zeitlichen Abstand zu tun, der zwischen den Beispielen im Surbtal und in süddeutschen Gemeinden lag. Andererseits waren Lengnau und Endingen kleine Dörfer in den Gemeinen Herrschaften und später im neugegründe-ten Kanton Aargau. Die Kantonsregierung hat ihre Legislatur nicht als erstes auf die in der Dorföffentlichkeit vollzogenen jüdischen Bräuche ausgedehnt. Der besondere Rechtsstatus der jüdischen Korporationen wie auch der beiden Gemeinden insge-samt hat ebenfalls dazu beigetragen, dass die jüdischen Bräuche sich im öffentlichen Raum abspielen und zu einem Teil für die gesamtdörfliche Tradition selbstverständ-lich werden konnten.

97 Ullmann, Nachbarscha! und Konkurrenz, 438/39.

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Vierte Schicht: Bewegung

Der Handel, wie klein ein Umsatz auch immer gewesen sein mag, brachte neue Topographien hervor.98 Die jüdischen Händler teilten die bestehende politische Geografie neu auf. Ihre Reisen und Geschäfte ließen unsichtbare neue Landkarten aus miteinander vereinbarten und erkämpften Handelsgebieten entstehen, deren Grenzen allein durch gegenseitige Achtung legitimiert waren. Doch nicht nur die jüdischen Händler wussten, in wessen Medineh sie sich gerade befanden.99 Auch die christlichen Kunden, Verkäuferinnen, Gläubiger und Schuldner kannten sich aus.100 Die jüdischen Handelsterritorien existierten parallel zu Gemeinde-, Bezirks-, Kantons- und Landesgrenzen und bildeten eine ökonomisch-kulturelle Topologie.

Die jüdischen Händler bewegten sich mit ihrem Vieh durch die Gegend rund um Lengnau und Endingen bis in die Innerschweiz, zu anderen ‚Judendörfern‘ wie Gailingen oder Hohenems und in elsässische Orte.101 Sie waren Zirkulatoren, Körper auf den sozialen Bahnen zwischen Höfen und Häusern des Surbtals, Zürichbietes und Badischen. Sie bewegten nicht nur ihre Waren. Sie waren auch Informationsträger: Wer viel unterwegs ist, sieht viel. Hört viel. Tauscht sich aus. Der Kontakt an der Haustür, das Verkaufsgespräch mit der Bäuerin und dem Knecht, die Übernachtung auf dem Hof eines Bauern oder bei einem Wirt, die Begegnung mit dem Landjäger und den Bezirksbeamten, der Erfahrungsaustausch mit Tierärzten, Fährmännern – das Weitergehen und Wiederkommen der Juden brachte Wissen in Umlauf. Für viele Geschäfte, gerade im Geld- und Schuldenhandel, war Wissen Kapital. Diese Kenntnisse trugen jüdische Händler und Hausierer zurück ins Dorf und tauschten

98 Die jüdischen Händler im Surbtal handelten mit fast allem: Am bekanntesten ist zweifellos der Viehhandel. Doch auch mit sämtlichen Waren des täglichen Bedarfs, neu oder gebraucht, zogen die Händler, z.T. unterstützt von ihren Söhnen, durch die Region oder boten ihre Gü-ter auf lokalen Märkten an. Zum Viehhandel: Kaufmann, Viehhändler.

99 „Früh, anfangs der Woche, zog der Familienvater dazumal aus in seine sogen. ‚Medina’, die freilich wegen noch sehr beschränkter Freizügigkeit nicht sehr ausgedehnt war.“ Dreyfus, Er-innerungen, IW 1924 Nr. 15, 6. Der Begri" Medineh (Pl. Medinot) bezeichnet ein unter jüdischen Händlern und Hausierern verabredetes Einzugs- oder Handelsgebiet, Kaufmann rechnet mit einem Radius von ca. 25 km pro Person. Siehe Kaufmann, Viehhandel, 150, und Baumann, Zerstörte Nachbarscha!en, 39.

100 Zum Fall Schleuniger siehe das Kapitel Schuldnetze. Ausserdem Kaufmann, Viehhandel. Eine Karte solcher Handelsgebiete in Ullmann, Nachbarscha! und Konkurrenz, dort Anhang.

101 Emil Dreyfus beschreibt diese Gebiete in seinen Erinnerungen (IW Nr. 17, 2.4.1924, S. 13): Endinger zogen mehr ins Aarauergebiet, Freiamt, Fricktal, die Lengnauer eher ins „Wyhnental oder Zürichbiet“.

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sie nach dem Gottesdienst auf dem Platz vor der Synagoge mit anderen aus, die auf einer anderen Route unterwegs gewesen waren.102

Abbildung 2: Medinot elsässischer und süddeutscher jüdischer ViehhändlerAus: Kaufmann, Viehhändler, 58. © Uri Kaufmann (Konzept Uri Kaufmann, Gestaltung José Bollag, Zürich)

102 „Am Schabbes nach dem Morgengottesdienst […] taten sich (die Männer) auf den Dorf-plätzen indessen zu Plaudergruppen zusammen. Meistens sammelten sich da Handelsleute gleicher Branche, um über Wochenbegebenheiten und Erlebnissen einander Wahrheit und Dichtung zu erzählen.“ Dreyfus, Erinnerungen IV, IW 1924, Nr. 18, 13. „Neben diesen ver-schiedenen Gruppen treiben sich noch allerlei Dor%eute aus Neugierde müssig herum. Da waren wieder s’Schamese als Neuigkeitskrämer an allen Ecken als Rapporteure zu sehen, […]“ Ebenda, 13.

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Schichten der Kontaktzone 115

Von dort wurden sie weitergetragen in die einzelnen Lengnauer und Endinger Haushalte und wurden dann auf der nächsten Handelsreise erneut in Umlauf gebracht. Das Wissen wanderte und die Bewegungen der Händler waren die Schnur einer Perlenkette von Häusern, Menschen, Geschichten und Gerüchten.

Das Handel treibende Wandern jüdischer Geschäftsleute schuf Räume des Wissens. Dies veränderte sich, als die erfolgreicheren unter ihnen schließlich die geografische Distanz zwischen sich und ihren Kundinnen und Kunden gegen Null verkleiner-ten. Eine Maschine schickte die Füße in den Ruhestand: Auf Initiative jüdischer Geschäftsleute wurde um 1900 in Lengnau ein Telegrafenbüro eingerichtet.103 Dies veränderte die Tätigkeit der Händler und die Wirkung ihres Wanderns. Zugleich war es diese neue Bewegung, Zeichen für den individuellen Geschäftserfolg und die Beweglichkeit ihres Berufsstandes, welche die Juden von den grundbesitzenden christlichen Bauern unterschied. Sie bewegten sich mit ihrem Kapital durch die nahe gelegenen Landschaften und Orte. Juden waren, was Geld anging, häufig ‚flüssiger‘ als Christen, deren Besitz zumeist in Grundeigentum gebunden war.104 Auch dieser öko-nomische Unterschied spiegelte sich in ihrem Wandern. Der wandernde Jude, derjeni-ge mit dem Vertreterladen ebenso wie der mythische, ewig wandernde, war seit langer Zeit Sinnbild, Stereotyp und emotionsgeladener, exotisch-negativer Gegenentwurf zum schollengebundenen, über Generationen hinweg statisch-verwurzelten Hofbesitzer. Nicht nur dieser Identitätsgegensatz der Mobilen gegenüber den Statischen prägte das Verhältnis zwischen jüdischer und christlicher Bevölkerung. Das gegenüber Juden ausgesprochene Verbot, Boden besitzen zu dürfen, war lange Zeit das wesentliche sozi-ale Unterscheidungsmerkmal zwischen Juden und Christen, Fremden und Hiesigen, Unerwünschten und Alteingesessenen. Es war daher nur folgerichtig, dass gerade an diesem heiklen Thema auf Gemeindeebene die Integration und Gleichberechtigung der jüdischen Bevölkerung scheiterte: an der Frage des Bodenbesitzes.105

Bewegung fand nicht nur außerhalb der Gemeindegrenzen statt. Sie setzte sich ins Dorf hinein fort. Die persönlichen und vor allem familiären, weitreichenden Beziehungen der jüdischen Surbtalerinnen und Surbtaler brachten Bewegung ins Dorf. Wie die Tauflisten zeigen, heirateten jüdische Lengnauerinnen und Lengnauer zwi-schen 1822 und 1875 Partnerinnen und Partner aus Mülheim, Gailingen, Worblingen, Vorstetten, Laupheim, Wangen, Osterberg und Eistetten; ein hoher Anteil der Frauen stammte aus Randegg, Hohenems, Haigerloch, Lauterburg, Karlsruhe, (Alt)Breisach, Ischenhausen, Strassburg, Mülhausen und natürlich Endingen.106

103 StAAG, DEP.GA-0030/0002. Am 16.8.1866 brachte die Endinger Judenscha! erstmals die Errichtung eines Telegraphenbüros ins Gespräch und formulierte eine o$zielle Anfrage bei den Kantonsbehörden.

104 Siehe Tabelle von 1778 im Anhang.105 Ausführlicher dazu das Kapitel: Grenzwerte.106 GdAL, Weibliches Geburtsregister Neu-Lengnau, 25.1.1822–16.12.1875.

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116 Geografien des Kontakts

Abbildung 3: Jüdische Gemeinden in der Schweiz, im Elsass und in SüddeutschlandAus: Guggenheim, Zurzacher Messe. © Florence Guggenheim Archiv, Zürich.

Mit den Frauen kamen neue Dialekte, Kleidermoden, Kochrezepte und Gewohnheiten ins Dorf. Das will nicht heißen, dass es sich dabei zwangsläufig um urbanere oder völlig fremde Worte, Kleider, Gerichte oder Umgangsformen gehandelt hätte. All diese Orte waren ländliche Kleinstädte und Dörfer, mit Ausnahme von Straßburg. Aber die Jaworte unter dem Baldachin waren Ausdruck von Beziehungsnetzen, die Lengnau und Endingen im Kleinen zu verändern vermochten. Die Neuankömmlinge bewirkten kleinste Mikroverschiebungen, die auch für die christlichen Nachbarinnen und Nachbarn spürbar waren, wenn sie die neu eingeheirateten Frauen gelegentlich bei den täglichen Verrichtungen, vielleicht auch am Sabbat zu Hause antrafen oder von ihnen beziehungsweise sie selbst reden hörten. Dass sie dies taten, belegen die Diskussionen um die Kleider der jüdischen Frauen.107

107 Siehe auch Haumann, Selbstbewusstsein und Nachbarscha!, 505. Dazu außerdem Jeggle, Ju-dendörfer, 198–206. Jeggle führte für seine Untersuchung Interviews, erhielt somit Informa-tionen zum 20. Jahrhundert. In allen Punkten (Kleider, Mägde, Häuser) steht die Ausrichtung

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Schichten der Kontaktzone 117

Emil Dreyfus berichtete stolz von jährlichen Verwandtenbesuchen, bei denen einige jüdische Lengnauer und Endinger Frauen ihre neuen Kleider trugen, die ihnen von auswärtigen Verwandten geschenkt wurden.108 Der Autor berichtet nichts davon, was die christlichen Nachbarinnen und Nachbarn angesichts dieser im dörfli-chen Kontext eher ungewohnten (und nicht für den Alltag gedachten) Modenschau gedacht haben. Wer auch immer als Adressat dieser Festtagsauftritte im kleinen Kreis vorgestellt war, das reale Publikum war größer. Dies wird in einer anderen Quelle deutlich, einer von zahlreichen judenfeindlichen Topoi geprägten Reiseerzählung über das Surbtal Ende des 18. Jahrhunderts.109 Deren Autor, der Schweizer Hans-Rudolf Maurer, berichtet, dass die bäuerlichen Dorfbewohner den jüdischen Frauen in einer Klageschrift von 1756 „Hoffärtigkeit“ vorgeworfen hätten: „Der Aufzug des armen Juden ist schlecht. Man hat zwar dem weiblichen Geschlecht ärgerliche Hoffart vorgeworfen: allein es fand sich, dass die, meistens ausländischen Frauen, ihren häusslichen Kleidervorrath vollends am Leibe verschleissen, und dass die gewohnte Trödlerey mit Kleidern sie oft in die Versuchung sezte, ohne Unkosten zu glänzen: eine verzeihliche Eitelkeit! so dass oft leere Flitter das neidische Aug des gedrückten Bauers blendeten.“110 Immerhin kamen in dieser Schilderung beide Seiten schlecht weg. Die jüdischen Frauen werden als auf kindliche Weise eitel und im Grunde eher geschmacklos dargestellt, während die Lengnauer und Endinger Bauern als neidisch und nicht weniger unkultiviert charakterisiert sind. Beide Bilder entsprechen gän-gigen Stereotypen: der aufreizenden, aber ärmlich-billigen jüdischen Frau und dem dummen und unzivilisierten, misstrauisch-neidischen Bauern. Doch abgesehen von dieser unvorteilhaften und typisierenden Darstellung macht die Passage deutlich, dass die Festtagskleider der jüdischen Frauen von der bäuerlichen Nachbarschaft durchaus wahrgenommen wurden und Anlass für Konflikte sein konnten. Diese Konflikte hatten viel mit Vorstellungen angemessener Selbstpräsentation und sozi-aler Hierarchie im dörflichen Rahmen zu tun. Dieser zweite, früher verfasste Text gewährt den nötigen quellenkritischen Abstand zu Dreyfus’ Schilderung und bringt ein Thema ans Licht, das ansonsten nur aus Schilderungen zu erschließen wäre, die sich aus dem Vergleich mit auswärtigen Fällen ergeben.

der jüdischen Dor)ultur auf die Städte im Mittelpunkt. Jeggle zeichnet hier vor allem die zahlreichen Unterschiede zwischen christlicher und jüdischer Dorfbevölkerung nach.

108 Dreyfus, Erinnerungen, IW 1924, 19,13.109 Maurer, Kleine Reisen.110 Maurer, Kleine Reisen, 169. Leicht verändert erschien diese Passage in der gekürzten Gesamt-

fassung: „Man hat schon die Eitelkeit des weiblichen Geschlechts ö"entlich beklagt, womit es die Baursame ärgerte; allein es fand sich dass die meistens ausländischen Frauen die Hoch-zeitroben vollends am Leibe verschlissen, dass die Trödlerey mit Kleidern sie o! in die Versu-chung setzte, ohne Unkosten kostbar zu thun, und leere Flitter das neidische Aug des einfälti-gen Bauers blendeten.“ Fragmente einer Reise durch das Bisthum Basel und die Gebürge von Neuschatel, im Augustmonathe 1783, in: Helvetischer Kalender, 47.

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118 Geografien des Kontakts

Für die Männer sah die Situation im Hinblick auf Kleidung etwas anders aus: Die Kleiderhändler und -Trödler waren sich nämlich nicht nur selbst die besten Kunden. Kleidung war Teil ihres Berufs. Sie trugen am eigenen Leib Mode feil, die sie von Haus zu Haus verkauften, und brachten damit ihre Modeerfahrungen auch an die entsprechend interessierte Kundschaft. Dass diese durch den ganzen Kanton zirkulierenden Extravaganzen durchaus auch begehrt waren, zeigen andere Passagen in Maurers Reisebericht.111 Diese ‚fremden‘, ungewöhnlichen – in der Regel wohl einfach etwas städtischeren – Kleidungsstücke der jüdischen Händler fanden ihren Weg in zahlreiche bäuerliche Truhen und mischten sich zu gegebenem Anlass unter oder über die ländlichen Trachten.112

Lengnau und Endingen, die beiden Surbtaler Dörfer, blieben an ihrem Ort. Doch indem ihre jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner dauerhafte, hin- und hergehende Beziehungen zu Kunden, Glaubensgenossen und Verwandten in anderen Dörfern der jüdischen Welt pflegten, wurden beide Gemeinden an größere kulturelle Räume ange-schlossen. Es kamen nicht nur Ehefrauen, Besucherinnen und Besucher von auswärts in die beiden Orte. Auch die Autoritäten der jüdischen Dorfgesellschaft, Rabbiner, Lehrer und Vorsänger, stammten in der Regel nicht aus Lengnau und Endingen, wobei Ausnahmen wie Leopold Wyler und Abraham Ris diese Regel bestätigen. Ihnen allen war aber gemeinsam, dass sie sich zumindest im Ausland hatten ausbilden lassen, und dass sie mit ‚unsurbtalerischen‘ Ideen zurückgekehrt waren. Diesen Vorwurf illustrie-ren beispielsweise die Biografie von Markus Getsch Dreifuss oder der Werdegang von

111 Diese Passagen sind zwar in di"amierender Absicht geschrieben, sind aber dennoch er-kennbar ambivalent. „Sie kaufen ganze Garderoben verstorbener Christen, manquirte Fa-brikwaaren, verbotne Kleinodien und Kleiderstücke; ihre Verbindungen mit den Colonien im nahen Schwaben, ihr ewiger Tauschhandel usw. versieht sie mit allem, was das Auge des Bauren gelüsten, oder auch der Städter bedürfen mag. Da ist keine Art von natürlichen und künstlichen Bedürfnissen, wo der Jud nicht Rath zu scha"en weiss. Er garniert Neuverlobten Kuche und Kasten. Er kleidet die Armuth in Zwilch, und die Eitelkeit in Bänder und Gold. […] Tausend namenlose Dingelchen sind es, welche die ärmste Zahl der Juden, ihre Kinder und ihre überall herumhausirenden Knechte an allen Strassen anbieten, (und mit seltener Beredsamkeit einschwazen. […] Diese Art von Handel ist desto ausgebreiteter, weil sie grös-stentheils durch Tausch geschieht, der den Bauer ohne Baarscha! so leicht ankommt, und da die Zahlung an Lebensmitteln, Küchengeräth usw. geschehen kann. Man hat o! Mühe sich von den kleinen Krämern loszuwinden, die stehenden Fusses von der Feder auf dem Hut, bis zur Schuhschnalle herunter ihren Mann schätzen, und überall etwas geschmackvollers, oder glänzenders, oder wolfeilers anzubieten haben, wann der Fremdling Lust zu schachern haben sollte.“ Maurer, Kleine Reisen, 180/81. Zum Konsum, den die jüdischen Händlerinnen und Händler ermöglichten, vgl. ausführlicher das Kapitel: Kredit. Medium der Kontaktzone.

112 Zur Kleidung der Aargauer Landbevölkerung im 19. Jahrhundert: Bronner, Kanton Aargau, 417–419.

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Schichten und Räume: Zwischenergebnis 119

Leopold Wyler.113 Der prominenteste unter den Zugezogenen war zweifellos Rabbiner Meyer Kayserling, der mit seiner Frau direkt aus den prominenten Kreisen des Berliner Bürgertums ins Surbtal gezogen war und sich später nach Budapest weiterberufen ließ.114 Auch ihr Kommen und Gehen veränderte die Lengnauer und Endinger Gesellschaft, die jüdische und die christliche, der diese Ankünfte, Auseinandersetzungen, Abreisen und damit verbundenen Veränderungen nicht verborgen blieben.115

Es könnte dieser Anschluss an ein jüdisches Beziehungsnetz gewesen sein, der mit dazu beigetragen hat, Lengnau zu dem zu machen, was der Lengnauer Historiker Andreas Müller vor einigen Jahren in seinen Kindheits- und Jugenderinnerungen als einen besonderen Ort beschrieb: „‚Was ist denn so Besonderes an diesem Lengnau, dass ihr immer wieder dorthin verreist?’ fragten mich die Schulkollegen. Und mit meinem Zug zur Übertreibung, der in der Kinderzeit mein ständiger Begleiter war, erklärte ich den Bauernbuben, die noch kaum vierzehn Kilometer weit nach Osten gekommen waren, dass dieses Dorf im Aussehen fast wie eine Stadt sei. Was die kindliche Einbildungskraft unbewusst registriert hatte, war nichts anderes als die Erscheinung des Judendorfes, das sich im Zentrum des Orts darbot. Rund um den Platz, besetzt mit Kastanienbäumen und darunter stehenden Parkbänken, standen stattliche Häuser, z.T. mit drei Stockwerken, ohne sichtbare Miststöcke. Das bäuer-liche Lengnau war im weiteren Umkreis zu Hause.“116 Der städtische Charakter ließ sich für den jungen Beobachter daran erkennen, dass in Lengnau die Anordnung von dörflichen Erkennungszeichen anders war als in anderen Dörfern der Gegend: Hier standen nicht die Miststöcke im (Dorf-)Zentrum, sondern die seiner Ansicht nach eher städtischen Parkbänke.

3.4 Schichten und Räume: Zwischenergebnis

Die Beschreibung ansonsten „unterbelichteter Räume“ der Lengnauer Gesellschaft in Form von vier Schichten ermöglichte neue Einblicke in den jüdisch-christlichen Dorfalltag und Festtag.117 Die vorgestellten Schichten zeigten einerseits geteilte Räume und andererseits parallel dazu existierende Öffentlichkeiten mit minima-

113 Kaufmann, Marcus Getsch Dreifuss. Emil Dreyfus, am 22.4.1841 in Endingen geboren und Autor der zitierten Lebenserinnerungen im Israelitischen Wochenblatt, war sein Sohn.

114 Seit 1823 waren Lengnau und Endingen zwei getrennte Rabbinate, Bennewitz, Rabbinerfa-mile Ris, 68/69. Zu Rabbiner Meyer Kayserling ausführlicher im Exkurs: Allianzen der Ord-nung. Weldler-Steinberg, Geschichte der Juden, 187–193, dort auch eine Abbildung, Tafel II. Meyer Kayserling war von 1861–1870 Rabbiner im Surbtal.

115 Siehe Exkurs Allianzen der Ordnung – Religion als Kontaktzone, Installation von Meyer Kayserling.

116 Müller, Franz Jakob, 5/6.117 Ott, Raum, 142.

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120 Geografien des Kontakts

ler gegenseitiger Berührungsfläche. Dabei wird die Eigenschaft dieser räumlichen Schichten, sich überlagern zu können und situativ individuell wahrnehmbar zu sein, zu einem wichtigen Merkmal. Der Mehrwert des gewählten Raumkonzepts in der Beschreibung von Kontaktzonen wird dadurch sofort sichtbar: In allen geschilder-ten Beispielen wurden dank dem Einbezug der im Sinn von de Certeau definierten Räume Beziehungen über Religionsgrenzen hinweg beschreibbar. Im dörflichen Raum überlagerten sich bewegliche Elemente, die für einen Einzelnen wie für die gesamte lokale Gesellschaft situativ erfahr- und deutbar waren. Bewegung spielt dabei eine konstitutive Rolle. Die wirtschaftliche Tätigkeit der jüdischen Händler war eine raumschaffende Praxis, die große Teile der Surbtaler Bevölkerung intensiv an gesellschaftliche Strömungen wie beispielsweise Mode oder lokale Wissensflüsse anschloss. Besonders aber nahm in fast allen Schichten die religiöse Praxis eine pro-minente Rolle ein. Vielfach waren diese Traditionen überhaupt erst Anlass, öffentli-chen Raum zu beanspruchen. Deutlich wurde dabei die entscheidende Besonderheit Lengnaus und Endingens, dass hier den Manifestationen und Repräsentationen von Religiosität mehrerer Bekenntnisse Raum gegeben wurde. Diese auf räumli-chen Bezügen beruhenden Erkenntnisse machen Schichten zu aussagekräftigen Kategorien der Geschichtsschreibung, die es erlauben, mit Gleichzeitigkeiten und Widersprüchen so umzugehen, dass für beides Platz in den neu zu schreibenden Narrativen bleibt.

In einem nächsten Schritt geht es nun darum, in dem von de Certeau definierten Sinn Orte im Dorf zu lokalisieren, deren materielle Eigenschaften und konkrete Ordnung weitere Hinweise auf die Lengnauer Koexistenz von jüdischen und christ-lichen Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohnern geben. Hierbei stehen neben den inhaltlichen erneut methodische Fragen im Vordergrund, geht es doch darum, aus Orten ‚Quellen‘ zu machen. Diese Orte tragen ihre möglichen Bedeutungen nicht intrinsisch in sich, vielmehr ergeben sie sich, indem Orte systematisch miteinander in Beziehung gesetzt werden. Dies geschieht im Folgenden, indem von der tradierten Bedeutung der Häuser mit Doppeleingängen ausgegangen wird, welche dann in mehreren Schritten in immer umfassendere Kontexte gesetzt und aufgrund dieser Ergebnisse schließlich auch hinterfragbar wird. Doppeleingänge sind heute das Emblem der Trennung zwischen Juden und Christen im Alltag. Doch wie haben jüdische und christliche Dorfbewohner tatsächlich miteinander gewohnt?

3.5 Orte des Privaten: Häuser mit Doppeleingängen

Eigentliches Wahrzeichen Lengnaus und Endingens sind heute nicht die beiden Synagogen oder die St. Martins-Kirche, es sind die privaten Wohnhäuser mit ihren so genannten Doppeleingängen. Diese Häuser sind daran zu erkennen, dass dort zwei Haustüren ganz unmittelbar nebeneinander liegen (siehe Abbildung 4).

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Orte des Privaten: Häuser mit Doppeleingängen 121

Abbildung 4: Die Doppeltüren liegen nahe beieinander, nur durch den Türsturz getrennt.Fotografie: Türen in Lengnau, A.B.

Zwar sind die meisten dieser Häuser mittlerweile abgerissen worden. Doch ist von ihnen meist als erstes die Rede, wenn es um die Geschichte von Lengnau und Endingen geht. In kaum einer einschlägigen Publikation zu den beiden Dörfern fehlt eine Abbildung oder zumindest eine ausführliche Beschreibung solcher Türen.118 Einheimische unterscheiden sich heute noch von Auswärtigen, indem sie über Sinn und Zweck dieser Türen Bescheid wissen und den Besucherinnen und Besuchern deren Bewandtnis bei Ortsführungen erklären. Die eine der beiden Türen wird dann jeweils als christlicher, die andere als jüdischer Eingang präsentiert. Als Grund für diese architektonische Besonderheit wird bei Führungen, in Gesprächen wie auch in der Literatur zu den beiden ‚Judendörfern‘ das Verbot genannt, wonach Juden und

118 Siehe auch Armbruster, Jüdische Dörfer, 79: „Die Christen und die Juden benutzten nie den-selben Hauseingang. Aus diesem Grund kann man heute noch Häuser sehen, die Doppeltrep-pen oder zwei nebeneinanderliegende Haustüren haben.“

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122 Geografien des Kontakts

Christen „nicht unter einem Dach“ wohnen durften, eine Anweisung, die in der Tat in den eidgenössischen Abschieden belegt ist.119

Die Doppeltüren sind ein Zeichen für Segregation. Die dadurch kenntlich gemachte Trennung verweist auf die damit assoziierte Intoleranz christlicher Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner früherer Zeiten. Dennoch werden diese Häuser ausschließlich als ‚Judenhäuser‘ bezeichnet und somit nur einer der beiden Bevölkerungsgruppen zugeordnet. Gleichzeitig vermitteln die beiden Türen aber den Eindruck von Kontakt, denn sie liegen so nahe beieinander, dass man fast den Eindruck bekommen könnte, es handle sich dabei um eine einzige. Ein stärkeres Symbol für die Ambivalenz der Lengnauer Kontaktzone als diese beiden Haustüren gibt es nicht. Doch diese Ambivalenz wird in den Erklärungen nicht spürbar. Die Doppeltüren werden mit Segregation assoziiert und sind so bekannt, in ihrer Deutung so gänzlich unhinterfragt, dass sich die Formulierungen in den unterschied-lichen Textsorten zum Teil fast wörtlich gleichen. Doch diese Erklärungen werden unsicher, sobald man die realen Häuser besichtigt und sich den Alltag hinter den Türen und Mauern vorzustellen versucht. Dann werfen diese Türen Fragen auf: Wie weit ging diese Trennung tatsächlich, und weshalb liegen, wenn Juden und Christen nicht unter einem Dach wohnen durften, dennoch zwei Türen in vordergründiger Nähe beieinander? Hätte man dann nicht lieber an jeder Schmalseite des Hauses eine Tür gebaut?

Schriftliche Hinweise auf den Wohnalltag fehlen. Aus diesem Grund werden mit Hilfe von de Certeaus Konzept die geteilten Häuser mit ihren Doppeltüren als zen-trale Orte in den beiden Dörfern erforscht. Die Doppeleingänge sind der Anlass, im Folgenden konkret zu untersuchen, inwiefern die Häuser mit den Doppeleingängen Anhaltspunkte dafür geben, ob und wie jüdische und christliche Nachbarinnen und Nachbarn nebeneinander oder sogar miteinander gewohnt haben. Was für Schlüsse lassen sich aus der architektonischen Situation darauf ziehen, mit wie viel Nähe und Distanz sich jüdisch-christliches Zusammenleben im dörflichen Alltag abgespielt hat? Die Häuser werden als materielle Zeugen einer gelebten Vergangenheit in einen Dialog mit schriftlichen Quellen über dieses Zusammenleben gebracht. Alle Autorinnen und Autoren, die diese Wohnsituation bisher beschrieben haben, stütz-ten sich dabei auf Gesetzestexte. Doch blickt man vom Gesetzestext auf und betrach-tet die Fassade dieser Häuser, stellt sich sofort die Frage, ob Juden und Christen dieses Verbot nicht einfach in den Wind geschlagen haben. Denn die geteilten Wohnhäuser weisen zahlreiche, durch Bau und Nutzung bedingte Berührungsflächen auf. Man kann bei dem Zitat „nicht unter einem Dach“ nicht länger stehen bleiben. Es gilt der Frage nachzugehen, wie sich Norm und Praxis zueinander verhielten. Dies geschieht mit Hilfe unterschiedlicher Herangehensweisen, die statistische Erhebungen ebenso

119 Krütli, Eidgenössische Abschiede, 871. Ausführlicher weiter unten. Diese Erklärung wurde auch mir gegenüber gemacht, als ich bei Dorfbesuchen mit Einheimischen ins Gespräch kam.

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Orte des Privaten: Häuser mit Doppeleingängen 123

einschließt wie die Berücksichtigung denkmalpflegerischer und volkskundlicher Ergebnisse der Bauernhausforschung. Der Ort ‚Haus‘ mit seiner Doppeltüre wird dadurch zur historiographischen Quelle.

Kurze Kulturanthropologie der Türe

Türen dienten von jeher nicht nur dazu, ein Haus zu betreten oder zu verlassen. Sie hatten immer auch rechtliche und symbolische Bedeutungen.120 Die Türschwelle war traditionell die rechtliche Grenze zum Eigenen: Nach mittelalterlicher Rechtsordnung war es das unbefugte Überschreiten der Türschwelle, das den Tatbestand des Hausfriedensbruches kennzeichnete. In denkmalkundlichen Darstellungen wird die symbolische Funktion von Haustüren in den Vordergrund gerückt: Hausbe-wohnerinnen und Hausbewohner brachten an ihren Türen religiöse und magische Zeichen an, um böse Geister, Unglück oder unerwünschte Gäste fernzuhalten, und banden die Türen in zahlreiche Bräuche rund um Krankheit und Tod ein. Die Türe war aber nicht nur zum Schließen da und damit Schutz und Grenze, sondern sie war auch Eingang, der sich nach außen öffnete. Sie konnte zum Segen in vielfältigen Formen einladen: In einigen katholischen Gebieten hat sich zum Beispiel bis heute der Brauch gehalten, am Dreikönigstag mit gesegneter Kreide die Initialen CMB (Christus Mansionem Benedictat, Christus segne dieses Haus) an die Haustüre zu schreiben.121 Aus dieser Perspektive ist auch die Mesusa zu betrachten.122 Sie hat neben der rein religiösen und der volkskundlichen Bedeutung vor allem aber auch eine ganz profan soziale Seite: Eine Mesusa zeigt zunächst einmal einfach an, dass hier jüdische Menschen wohnen.

Türen waren Teil komplexer Kommunikation in Stadt oder Dorf. Dabei ist auch an die individualisierenden und repräsentativen Aufgaben zu denken, die eine Haustüre erfüllt. Materialwahl, Größe, Zierelemente, darunter auch Wappen und Embleme, sowie überhaupt die Position der Haupteingangstür in der Hausfassade erzählen auf subtile Weise etwas über die Besitzer eines Hauses und über die Funktion des jewei-ligen Eingangs. So unterscheidet sich beispielsweise die Kellertüre von der Haustüre, und ein Haus mit einer kunstvoll verzierten Türe aus Tannenholz unterscheidet sich deutlich von einem Haus mit breitem Glaseingang. Die Tatsache, dass in Endingen und Lengnau zahlreiche Häuser mit Doppeltüren gebaut wurden, lässt Aussagen über die sozialen und kulturellen Verhältnisse im Dorf zu.

120 Räber, Bauernhäuser Aargau, Bd. 1, 155.121 Ebda.122 Bächtold-Stäubli/Ho"mann-Krayer: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 8,

1203.

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124 Geografien des Kontakts

Folgt man der dörflichen Überlieferung, so stehen die Doppeltüren für Segregation. Ob dies auf Wunsch der katholischen Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner geschah oder durch die damalige Regierung erzwungen wurde, bleibt vielsagend offen und macht deutlich, wie ambivalent diese Feststellung war und ist. Die Formulierung lässt auch weitere Interpretationen zu: Wer schon nicht unter einem gemeinsamen Dach wohnt oder gar wohnen will, will auch sonst nicht viel mitein-ander zu tun haben. Die mögliche Bedeutung der Doppeltüren verändert sich noch einmal, wenn man sich den Unterschied zwischen der ländlichen jüdisch-christlichen Nachbarschaft, die hier Wand an Wand gelebt worden sein soll, und derjenigen in damaligen großen Städten vor Augen hält, wo es mancherorts sogar ein ummauertes Judenviertel gab, dessen Tore abends sowie an Sonn- und Feiertagen verschlossen wurden.123

Normative Quellen

In der Tat findet sich die Bestimmung, dass Juden und Christen nicht „unter einem Dach“ wohnen dürfen, in der ältesten erhaltenen Vereinbarung über das Aufenthaltsrecht und die Aufenthaltspflichten von Juden im Surbtal. In der Sammlung der älteren Eidgenössischen Abschiede zwischen 1744 und 1777 sind die Bestimmungen aufgeführt, unter denen 1774 die jüdischen Gemeinden den 1776 auslaufenden Schirmbrief erneuern durften. Artikel 1 legte die Niederlassung der unter dem Schutz der Alten Orte stehenden 108 jüdischen Haushaltungen auf die beiden Dörfer Oberendingen und Oberlengnau fest, mit der zusätzlichen Einschränkung, „dass für das erste ihre dermalen bewohnenden Häuser nicht in ihrer Anzahl vermehrt, also weder neue aquirirt, noch von ihnen selbst erbauet, jene auch weder erhöhet noch erweitert, wohl aber in dem Inwendigen verändert“ werden durften.124 Die Autoren des Schirmbriefs hatten die Absicht, die Zahl der jüdischen Einwanderer so niedrig wie möglich zu halten, formulierten dies jedoch nicht auf die Menschen bezogen, sondern indirekt als eine Frage des Häuserbaus. Diese Formulierung organisierte früh-neuzeitliche Bevölkerungskontrolle in räumlichen Kategorien.

Die Abgesandten der die Grafschaft Baden regierenden Stände bestimmten weiter, dass Juden zwar „wie bis anhin“ in den Gemeinen Herrschaften „handeln, wandeln, kaufen und verkaufen […] mögen, von männiglich ungehindert“, allerdings „keine liegenden Güter kaufen und eigenthümlich besitzen, auch kein Geld anders als auf fahrende Hab und Sachen ausleihen und verschreiben lassen“ durften. Wenn einem

123 Treue, Kleine Welt, 253. Solche Viertel bzw. Ghettos gab es beispielsweise in Speyer, Trier, Graz, in den meisten Hauptstädten des alten Europas im ausgehenden Mittelalter. Siehe Wen-ninger, Grenzen in der Stadt. Hsia/Lehman, In and out.

124 Krütli, Eidgenössische Abschiede, 871.

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Orte des Privaten: Häuser mit Doppeleingängen 125

Juden trotzdem ein baufälliges Haus zufalle, so dürfe er dieses nur mit Erlaubnis des Landvogts reparieren und müsse es dem ersten Züger oder Käufer geben, im besse-ren Fall verkaufen.125 Eine ungerechte, damals für die jüdische Bevölkerung überall übliche Bestimmung: Ähnliche Paragraphen sind auch aus deutschen Schutzbriefen und Judenordnungen bekannt.126 Gisela Roming weist hierbei zu Recht auf den Zusammenhang zwischen Hausbesitz und Allmendnutzen hin, der neben judenfeind-lichen Stereotypen ein Hauptmotiv für dieses Verbot gewesen ist. Die eidgenössischen Ständevertreter verschärften diese Regel zusätzlich und drohten den Surbtaler Juden kollektiv mit dem Entzug des Schutzbriefs, sollten Juden bei Zwangsversteigerungen Scheunen und Stallungen erwerben und zu Wohnhäusern umbauen. Explizit erlaubt war hingegen die einzige Möglichkeit, die den Jüdinnen und Juden somit noch blieb, die Miete („eine Herberg zu Lehen bekommen“), was auch praktiziert wurde, wie ein Durchreisender 1794 festhielt: „Weit die mehrern bewohnen indessen christliche Häuser für die Miethe, desto mehr, da sie verpflichtet sind, bey Verheurathung eigne Gemächer zu beziehen.“127 Und schließlich fällt im Schutzbrief der zentrale Satz, der im Zusammenhang mit den Doppeleingangshäusern immer wieder zitiert wird: „laut Erkanntniss de 18 July 1657, jedoch dass kein Christ und Jud bei einander unter einem Dach wohnen“.128

Auch diese Vorschrift existierte nicht nur auf dem Gebiet der Eidgenossenschaft. Eine ähnliche Praxis ist aus anderen deutschsprachigen Gebieten überliefert, mit dem entscheidenden Unterschied jedoch, dass diese Vorschriften nur in der Eidgenossenschaft als verbindliche Norm auf Initiative der Regierung festgelegt worden sind. Roming und Treue weisen in ihren Untersuchungsgebieten nach, dass es dort vor allem Geistliche waren, die das Zusammenwohnen von Juden

125 Siehe auch: Roming, Gailingen, 303. Auch in Gailingen dur!en Juden Häuser vorbehaltlich des Zugrechts kaufen und verkaufen. Zum Zugrecht: Weldler-Steinberg, Geschichte der Ju-den, 33–35. Gut erklärt ist das Zugrecht auch bei Steinhauser, Alois: Das Zugrecht nach den bündnerischen Statutarrechten, o.O. 1896, 37–39.

126 Beispielsweise dargestellt bei Roming, Gailingen.127 Maurer, Kleine Reisen, 168. Die Zahl der vermieteten Wohnungen ist für das ganze 18. und

19. Jahrhundert nicht zu eruieren. In den Gemeindeakten #ndet sich nur ein einziger Eintrag, der ein Mietverhältnis beschreibt. Interessanterweise handelt es nicht dabei nicht um einen christlichen, sondern um einen jüdischen Vermieter, dessen Wohnverhältnisse auch nur des-halb ein &ema waren, weil er sich für das Amt des Salzauswägers bewarb, wofür sein Haus über bestimmte Eigenscha!en verfügen musste: Der Vermerk im Korrespondenzprotokoll des Bezirksamts Zurzach von 1838 handelt von einem jüdischen Hausbesitzer „ledigen Stan-des (der) nebst einer Dienstmagd einzig in seiner Wohnung [lebt.] Allein sein geräumiges am südlichen Ende des Dorfes stehendes Haus wird von sechs, theils christlichen, theils jüdischen Haushaltungen bewohnt.“ StAAG, Korrespondenzprotokoll Bezirksamt Zurzach, Eintrag 17. März 1838, Wahl eines neuen Salzauswägers in Endingen.

128 Das lateinisch gemeinte „de“ steht im Original.

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und Christen unter einem Dach verhindern wollten.129 Die jeweiligen weltlichen Autoritäten haben diesen pfarrherrlichen Wunsch respektiert und durchgesetzt, eine solche Vorschrift aber nicht aus eigener Initiative etabliert. Im Gegensatz dazu fehlen für die Schweiz Beschwerden der Geistlichen. Im Surbtal kam der wiederholte Wunsch nach einer Beschränkung der jüdischen Einwohnerschaft aus den Reihen der christlichen Dorfbewohner und muss im Zusammenhang mit der Allmendnutzung gesehen werden.

Häufig wird in der Literatur der eidgenössische Gesetzestext so verstanden, dass er eine daran anschließende, in den Häusern real umgesetzte Realität umschrieben habe. Das kann mitunter auch beschönigend klingen, ruft man sich beim Lesen des nachfolgenden Zitats die mit den Doppeleingängen verknüpfte Assoziation einer segregierten Dorfgemeinschaft in Erinnerung: „Die Christen und die Juden benutz-ten nie denselben Hauseingang. Aus diesem Grund kann man heute noch Häuser sehen, die Doppeltreppen oder zwei nebeneinanderliegende Haustüren haben.“130

In seinem 2004 erschienenen Aufsatz erläutert der Lengnauer Ortshistoriker Franz Laube-Kramer einen anderen Grund für die Hausteilungen.131 Er beruft sich nicht auf den Abschied von 1774, sondern auf eine Bestimmung aus dem Urteilsbrief des Landvogtes von 1658, die zu umgehen das Ziel der Doppeltüren gewesen sei. Die einschlägige landvogtliche Formulierung lautete, dass „die Christen und Juden abgesünderet und nit beieinanderen wohnen sollent“.132 Laube vermutet, dass diese Bestimmung im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts in „nicht unter einem Dach“ umformuliert worden sei. Die Türen werden somit als Dächer gedeutet. Zwei Türen standen gemäß Laube in der Praxis für zwei Häuser, auch wenn es nur ein einziges Dach gab. Interessant an dieser Deutung ist, dass sie den Bau von Doppeltüren als den lokalen Versuch zeigt, die im Urkundentext geforderte Trennung zu umgehen. In dieser Sichtweise waren Doppeltüren also kein Zeichen für Segregation, sondern für einen pragmatischen, nachbarschaftsbetonten lokalen Umgang der Dorfbewohner mit dem Verbot eines Landvogts. Die Motive der Lengnauerinnen und Lengnauer werden dabei jedoch leider nicht erörtert, wären aber angesichts der damaligen Dorfschaftsklagen vor dem Landvogt über die zunehmende Zahl unerwünschter jüdischer Familien interessant.133

Franz Laube-Kramer beschreibt auch, wie diese Gebäude vermutlich entstanden seien: Jüdische Bauherren beauftragten einen christlichen Lengnauer damit, ein

129 Roming, Topographie, 384. Treue, Kleine Welt, 254.130 Armbruster, Jüdische Dörfer, 79. Weibel, Endingen 267. In abgeschwächter Formulierung, in

der das Verbot ausgeblendet wird Albiez/Knecht, Juden, 82.131 Laube-Kramer, Judenhäuser.132 Laube-Kramer, Judenhäuser, 139/140, (ohne Nachweis).133 Weldler-Steinberg, Geschichte der Juden, 35–38.

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Orte des Privaten: Häuser mit Doppeleingängen 127

Abbildung 5: Schema Hausteilungen von Franz Laube-Kramer.Aus: Laube, Judenhäuser-Christenhäuser, 141. © Franz Laube-Kramer.

Haus mit zwei Wohnungen zu bauen, um dann später formal von diesem, real aber von sich selbst (und somit natürlich umsonst), die eine Haushälfte zu ‚mieten‘, wäh-rend der christliche Partner die andere Hälfte bewohnte, ob gegen Bezahlung oder umsonst ist offen. Mit einer anschaulichen Skizze zeigt Franz Laube die Aufteilung eines Hauses mit Doppeltüre (siehe Abbildung 5). Wer kam auf christlicher Seite für diesen Handel in Frage? Die so genannten Judenhäuser wurden in der Regel ohne Scheunen gebaut. Sie verfügten auch über nur ganz wenig Gartenland, was in einer ländlichen Gesellschaft eine starke Einschränkung bedeutet hat.134 Oder aber der fehlende Garten deutet auf einen bewussten Verzicht: Die Bewohnerinnen und Bewohner dieser Häuser sind keiner landwirtschaftlichen Tätigkeit nachgegangen. Das bedeutet, dass in den jüdisch-christlichen Doppelhäusern keine wohlhabenden Bauern und gut gestellten Vermieter, sondern vor allem christliche Parteien mit wenig Landbesitz gewohnt haben können, die ihren Lebensunterhalt als Handwerker,

134 „Vor denselben [Häuser der Juden, AB] sind kleine Gemüssgärten, der einzige Antheil an der weiten Erde, der der Colonie vergönnt ist. Hier p%anzen sie einige schlechte Gemüse, und feyren ihr Laubhüttenfest, wozu ihnen die Christen Laubwerk liefern.“ Maurer, Kleine Reisen, 168. Auch der Bauernhausspezialist Pius Räber, der die Aargauer Bauernhäuser umfassend dokumentiert und sorgfältig untersucht hat, nahm die Häuser mit den Doppeltüren von sei-ner Darstellung aus, da es sich dabei nicht um Bauernhäuser gehandelt habe. Auskun! des Projektleiters Benno Furrer vom 11. Mai 2005.

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Taglöhner, Störarbeiterinnen oder Viehhüter verdienten. Das jüdisch-christliche Zusammenleben müsste man sich unter diesen Umständen nicht nur als eines zwischen Angehörigen verschiedener Religionen vorstellen, sondern auch als eines zwischen Menschen mit unterschiedlichen ökonomischen Möglichkeiten, wenn der jüdische Teil den Bau tatsächlich aus eigener Tasche bezahlen konnte und der christ-liche diesem Geschäft zustimmte, um damit beim Hauszins sparen zu können.

Weitere Zweifel an der tradierten Vorstellung von den jüdisch-christlichen Häuser mit Doppeleingängen wirft eine der ältesten Schilderungen des Lengnauer Dorfbildes auf: In seiner Reisebeschreibung von 1794 erwähnt Hans-Rudolf Maurer keine Doppeltüren, obwohl er sonst für alles im Dorf einen sehr genauen Blick hatte. Was er hingegen beschreibt, ist, dass sich die jüdischen Häuser von den christlichen unterschieden: „Schon die blaue Farbe, womit das Holzwerk ihrer Häuser bemahlt ist, unterscheidet die jüdischen Häuser von den Strohhütten der Bauren.“135 Diese Beobachtung deutet auf eine ganz andere Wohnstruktur. Muss man somit davon ausgehen, dass die Doppeltürenhäuser um 1800 womöglich (noch) eine Ausnahme waren? Die meisten Häuser, die Maurer bei seiner Reise gesehen hat, sind heute nicht mehr erhalten. Doch es existieren mehrere Dokumente, die es erlauben, anhand von Zahlen etwas über die Wohnverhältnisse in Lengnau und Endingen auszusagen.

Statistik: Hausteilungen im Surbtal im 18. und 19. Jahrhundert

Die früheste Übersicht über die Wohnverhältnisse im Surbtal bieten die „Oekonomischen Tabellen“ des Birmenstorfer Pfarrers Fridolin Stamm von 1779, fünf Jahre nach dem zitierten Eidgenössischen Abschied mit dem Verbot für Juden und Christen, „unter einem Dach“ zu wohnen.136 Stamm hat im Auftrag der Zürcher Physikalischen Gesellschaft die Bewohnerinnen und Bewohner der damals noch zür-cherischen Herrschaftsgebiete samt ihrem Besitz an Land und Vieh aufgezeichnet.137 (Vollständige Tabelle im Anhang). In Lengnau zählte der Pfarrer 98 Häuser mit 151

135 Maurer, Kleine Reisen, 168/169.136 StAZH, B IX 6, General Tabell der Stadt, Aemtern und Obervogteyen der Gra"scha! Baden.

Der Schirmbrief von 1776 hob das Bauverbot für Jüdinnen und Juden auf, siehe Kapitel Post-kartenansichten. Spätestens ab 1803 haben Juden auch Häuser in Lengnau gebaut, Laube-Kramer, Judenhäuser-Christenhäuser, 141, (ohne Nachweis). Ende des 18. Jahrhunderts müs-sen jedoch noch Wohnformen anzutre"en gewesen sein, die auf die Zeit vor der Bauerlaubnis zurückgingen.

137 Diese Erhebung sollte Beratungsgrundlage für die städtischen Spezialisten werden, welche die bäuerliche Ökonomie verbessern wollten. Die Tabelle verzeichnet die Häuser, ihre Bewohne-rinnen und Bewohner nach Geschlecht und Beruf, Alter und Zivilstand, Landbesitz (Wald, Wiesen, Weiden, Äcker, Reben) und den Viehbestand (Stiere, Kühe, Kälber), Pferde (Walla-che, Stuten, Füllen), Kleinvieh (Schweine, Geißen (Ziegen), Schafe), Federvieh (Gänse, Hüh-

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Stuben, verteilt auf 134 Haushaltungen. Juden und Christen sind in dieser Erhebung in getrennten Verzeichnissen aufgelistet. Diese Trennung war offenbar ohne Weiteres möglich, weil jüdische und christliche Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner, wie aus der Darstellung der Zählung zu schließen ist, in separaten Häusern wohnten.

Damals bewohnten in Lengnau etwa 70% der christlichen Haushaltungen ein Haus allein, in den übrigen lebten mehrere Familien zusammen. 13 Mal lebten zwei christliche Familien in einem Haus, dreimal waren es drei und einmal vier Familien. Für die jüdische Bevölkerung sah die Situation etwas anders aus: Sie bewohnten durchschnittlich mehr Einfamilienhäuser (ca. 77%), teilten sich aber auf der anderen Seite in größerer Zahl ein Haus: Siebenmal waren es zwei, einmal drei und einmal vier Haushaltungen in einem gemeinsamen Haus. Wobei hinzuzufügen ist, dass zu einer Haushaltung Eltern, Kinder, Knechte und Mägde sowie die abwesenden Familienmitglieder gezählt wurden. Hausverzeichnisse mit jüdischen und christli-chen Namen finden sich in Lengnau 1779 jedoch nicht. Das bedeutet, dass Juden und Christen Ende des 18. Jahrhunderts tatsächlich nicht unter einem Dach wohn-ten, sondern mehrheitlich getrennt. Weiter machen die Zahlen deutlich, dass im Durchschnitt mehr jüdische Parteien allein ein Haus bewohnten, in denen zudem meistens mehr Stuben gezählt wurden als in den christlichen. Anders ausgedrückt hatte die jüdische Bevölkerung tendenziell mehr Wohnraum zur Verfügung als die christliche, was auch darauf schließen lässt, dass sie ihre Zimmer privat wie geschäft-lich anders nutzen konnten und mussten als die vorwiegend landwirtschaftlich täti-gen christlichen Nachbarfamilien.138 Wenn sich jedoch jüdische Bewohnerinnen und Bewohner ein Haus teilten, so waren es in der Regel mehr Parteien als in den christli-chen Häusern. Daraus lässt sich schließen, dass die Einkommensschere innerhalb der jüdischen Gesellschaft weiter auseinander ging als in der christlichen und dass die weniger vermögenden jüdischen Frauen und Männer im Durchschnitt ökonomisch schlechter dastanden als ihre christlichen Dorfgenossen.

Dass sich diese Wohnformen über mehrere Generationen hinweg nur wenig verän-derten, zeigt die Volkszählungsliste von 1850. Peinlich genau listeten die kantonalen Beamten auf den vorgedruckten Bögen jedes Haus und seine Bewohner auf.139 Sie hiel-ten Namen, Vornamen und Geburtsjahr, Heimatschein und Aufenthaltsverhältnisse,

ner, Tauben) und Bienenvölker. Außerdem hat Stamm die Zahl der Stuben und der Haushal-tungen, der Bewohnerinnen und Bewohner und vielfach sogar den Hausnamen angegeben.

138 Stallungen, Scheunen, Landbesitz sind in dieser Rechnung nicht berücksichtigt und somit wird hier auch keine Aussage über das Gesamtvermögen gemacht, es geht hier allein um Wohnraum. Zur Gestaltung der Wohnungen erfährt man mehr in den Inventarien, GdAL, Inventarienprotokolle 1800–1880.

139 StAAG, MF1.A11. 1847 standen in Lengnau 117 ziegelgedeckte und 66 Strohdach-Wohn-häuser; unbewohnte Häuser: 57 mit Ziegel-, 10 mit Strohdächern. StAAG, Bezirksamtsakten Zurzach, Akten 1847, Totalbeträge sämtlicher Gemeinds-Kataster des Bezirks Zurzach, Nr. 758.

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Konfession und Beruf jeder Hausbewohnerin und jedes Hausbewohners fest. Die Beamten verzeichneten nicht einmal nur die Anwesenden. Gewissenhaft zählten sie auch die Abwesenden zum Dorf dazu und hielten deren Aufenthaltsort fest, auch wenn diese Angaben so ungenau sein konnten wie „Amerika“, „in Frankreich“ oder gar ein „unbekannter Ort“. So dehnten sich auf den eidgenössischen Zähllisten die Schweizer Ortschaften virtuell bis über den Atlantik aus und lösten den Anspruch der Beamten ein, wirklich alle Dorfangehörigen zu lokalisieren. Diese Eigenschaft der Volkszählungsliste ist für den Zusammenhang, in dem sie hier gebraucht werden, von großem Wert. Ein wesentlicher Vorteil davon ist, dass sie reale Wohnsituationen und nicht Eigentumsverhältnisse abbilden. Die Liste hätte anders ausgesehen, wäre sie aufgrund der Katasterbücher geführt worden. Aus diesem Grund gibt diese Quelle genauen Aufschluss darüber, wie viele Juden und Christen tatsächlich in einem Haus zusammenwohnten.

Man muss jedoch mehrere Bögen durchblättern, bis sich ein Hinweis auf eine solche Kohabitation findet. Beim Haus mit der Nummer 58 in der Liste steht erst-mals ein jüdischer Name: Michael Braunschweig. Er und seine zehnköpfige Familie wohnten zusammen mit Elias Braunschweig (5 Personen, jüdische Familie), Leonz Müller (9 Personen, christliche Familie) und Agatha Müller (4 Personen, christli-che Familie). Nach Durchsicht aller Bögen stellt sich heraus, dass Nummer 58 ein besonderes Haus war. Nur in sieben von insgesamt 184 Häusern wohnten Juden und Christen gemeinsam, das sind nicht einmal vier Prozent.

Dies besagt jedoch nicht, dass es somit keine geteilten Häuser gegeben hätte. 1850 war eine beachtliche Anzahl Häuser von zwei und mehr Parteien bewohnt: Ein Drittel aller christlichen und fast drei Viertel aller jüdischen Familien wohnten damals in einem Mehrfamilienhaus, insgesamt war es fast die Hälfte aller Lengnauerinnen und Lengnauer. Doch diese Teilungen waren nicht religionsüberschreitend. Es handelte sich dabei von wenigen Ausnahmen abgesehen um Mehrfamilienhäuser für christli-che oder jüdische, nicht aber für christliche und jüdische Familien. Die zwangsläufig mit den geteilten Häusern einhergehenden Doppeltüren waren in der Mitte des 19. Jahrhunderts somit kein Zeichen von Segregation, sondern ein Hinweis auf beengte Wohnverhältnisse. Sie sagten mehr über die ökonomische Lage ihrer Bewohnerinnen und Bewohner aus, als über deren Bekenntnis, denn die Miete oder der Kauf eines Hausteils war zweifellos günstiger, als der Kauf oder die Miete des Ganzen.

Dieser Befund lässt auf die ökonomische Schichtung im Dorf schließen, denn mit großer Mehrheit waren es jüdische Lengnauerinnen und Lengnauer, die in Mehrfamilienhäusern wohnten. Dieses Verhältnis hat zwar einerseits mit der Berufsstruktur in einer ländlichen Gemeinde, mit Erbtraditionen und den über-haupt zur Disposition stehenden Häusern zu tun. Aber andererseits hingen die Wohnverhältnisse auch mit dem verfügbaren Einkommen der Bewohnerinnen und Bewohner zusammen. Dass die Mehrheit der geteilten Häuser von jüdischen Familien bewohnt wurde, erklärt die heute meist im Zusammenhang mit den

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Doppeleingangshäusern gemachte Bemerkung, es handle sich dabei um ein jüdisches Haus. Die Teilung hatte aber, spätestens 1850, nichts mit dem Kohabitationsverbot zu tun, sondern wirtschaftliche Gründe. Dabei gilt es nicht zu vergessen, dass geteil-te Häuser nicht grundsätzlich jüdischen Familien vorbehalten waren. Das hat die Auswertung der Zähllisten ganz deutlich gezeigt. Angehörige beider Religionen haben Häuser geteilt und somit in Häusern mit Doppeleingängen gewohnt. Somit waren letztere kein Spezifikum jüdisch-christlicher Nachbarschaft.

Erkenntnisse der Bauernhausforschung

Dieser Befund deckt sich mit den Erkenntnissen der Schweizer Bauernhausforschung: Häuser mit Doppeleingängen wurden nämlich nicht nur in Lengnau und Endingen gebaut. Eine Abbildung aus dem Überblicksband „Bauernhäuser im Kanton Aargau“ zeigt ein zweifellos christliches Wohnhaus in Oberehrendingen (AG) (Vers. Nr. 21/22) mit einer Doppeltüre.140 Zahlreiche Beispiele belegen weiter, dass Hausteilungen im Kanton Aargau ein weit verbreitetes Phänomen bäuerlicher Wohnweise waren. Diese waren auch im angrenzenden Kanton Zürich im Zürichseegebiet und im Knonaueramt (ZH) üblich: „Auffallend ist bei der Wohnhausanlage in unserem Gebiet die Vorliebe für den Doppelgrundriss. Es gibt Hinweise dafür, dass sich dieser im Zusammenhang mit den einsetzenden Hofteilungen nach der Mitte des 16. Jahrhunderts herausbildete und sich aufgrund der hier herrschenden Erbrechtstradition, wonach die Liegenschaften unter den Söhnen aufgeteilt wurde, als bevorzugtes Anlageprinzip im Wohnhausbau der beiden Landschaften durchge-setzt hat.“141

Hausteilungen waren seit dem 17. Jahrhundert in ländlichen Gebieten dieser Region eher die Regel als die Ausnahme.142 Sie sind im Zusammenhang mit Bevölkerungswachstum und dem damals verbreiteten Institut der Gerechtigkeiten zu verstehen, das besagte, dass „die Nutzungsrechte öffentlicher Güter an eine genau festgelegte Zahl von Häusern gebunden war“.143 Das heißt nichts anderes, als dass der Allmendnutzen pro Haus – was oftmals gleichzusetzen ist mit ‚pro Feuerstelle‘ oder Herd – verteilt wurde und nicht pro Familie.144 Der Bauernhausforscher Pius Räber führt als Beleg dafür die Unterfreiämter Gemeinde Wohlen auf. Um 1800

140 Räber, Bauernhäuser Aargau, Bd. 1, 162. In Oberehrendingen lebten keine Juden.141 Renfer, Bauernhäuser Zürich, Bd. 1, 391. Für diesen Hinweis danke ich Dr. Martin Stamp%i

vom Institut für Denkmalp%ege der ETH Zürich.142 Dies ändert sich bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts: „Um 1860 bewohnten weit mehr als 80

Prozent aller elsässischen und thurgauischen Familien ein eigenes Haus.“ Dietrich, Konfession, 64.

143 Räber, Bauernhäuser Aargau, Bd. 1, 278.144 Ich danke Benno Furrer für diese Auskun!.

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standen dort von den 101 registrierten Wohngebäuden noch 82 mit Stroh gedeckte, ältere Häuser, die mit einer Ausnahme allesamt Vielzweckbauten waren. In diesen insgesamt 82 Gebäuden lebten nur in 19 Häusern Menschen, die nur einer einzigen Haushaltung angehörten, während 36 von zwei Parteien, 18 von drei und 8 von vier oder mehr Parteien bewohnt waren.145 In einem solchen Haus lebten 1870 sogar neun Familien, insgesamt 45 Personen (Die beiden häufigsten Trennungsvarianten siehe Abbildung 6).

Abbildung 6: Grundrisse 574, geteiltes Tätschhaus (527 g und h) und geteiltes steilgiebliges freistehendes Wohnhaus (527 a-c), als eine der häufigsten Bauweisen in dieser Region. Ein Grundriss wie in Lengnau und Endingen, bei dem die Eingänge unmittelbar nebeneinander liegen, findet sich darunter allerdings nicht. (Legende: 2 Küche, 3 Stube, 3a Nebenstube, 3b Altenstube, 4 Kammer, 4a Schlafkammer, 4c Vorrats-, Speisekammer, 5 Gang, x Feuerstelle, Herd, + Stubenofen)Aus: Räber, Bauernhäuser Aargau, S. 271, 298. © Bauernhausforschung.

Allerdings lebten hier in aller Regel Mitbesitzerinnen und Mitbesitzer zusam-men und nicht Mieter und Vermieter wie dies für Lengnau angenommen wird. Doppelwohnhäuser wurden meist für die Mitglieder ein und derselben Familie gebaut, zum Beispiel für Brüder. Auch der Volkskundler Benno Furrer von der Schweizerischen Bauernhausforschung charakterisiert diese Wohnform als eine eher intime Struktur. In der Zentralschweiz war die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft so stark, dass man nie ein gemeinsames Haus für Angehörige zweier Konfessionen gebaut hätte, beispielsweise mit einer Türe für Protestanten und einer

145 Räber, Bauernhäuser Aargau, Bd. 1, 278.

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Orte des Privaten: Häuser mit Doppeleingängen 133

für Katholiken.146 Die Intimität dieses Zusammenlebens kann man sich leicht vor-stellen, wenn man sich anhand der Grundrisse und der erhaltenen Gebäude den Bau und die Nutzung der Häuser vor Augen hält. Die Zimmer waren eng, die Zahl der Familienmitglieder groß, die Lehmwände waren dünn, die Fenster klein – wer also Licht oder Luft brauchte, ließ die Türen offen und jedermann konnte hören oder mitverfolgen, was in anderen Räumen, in der anderen Familie vor sich ging. Nähe ergab sich auch beim Kochen. Die Mehrheit der Häuser in einfachen Verhältnissen verfügte bis Mitte des 18. Jahrhunderts über eine so genannte Rauchküche, eine offene Feuerstelle ohne Kamin.147 Der Rauch zog direkt unters Dach. Küchen ließen sich zwar teilen, sei es auf dem selben Stock, also im Erdgeschoss, mittels einer kleinen Zwischenwand, sei es, dass es auf zwei Etagen Feuerstellen gab. Allerdings musste letztere so eingerichtet werden, dass der Rauch beider Feuerstellen abziehen konnte und dies ist nur denkbar, wenn es genügend Öffnungen zwischen den beiden Stockwerken gab. Allerdings waren Teilungen auf zwei Etagen seltener als vertika-le.148 Mit anderen Worten waren Häuser, die von mehreren Parteien oder Familien bewohnt waren, zwar ein bekanntes Phänomen. Die Doppeltüren müssen aber als ein Zeichen für enge und vertraute Verhältnisse gedeutet werden und nicht als Hinweis auf den Versuch, einander sozial oder religiös fremde Personen klar voneinander zu trennen.

Diese Annahme stützt der Vergleich mit Bauformen in der angrenzenden Region. Doppeltürenhäuser gab es auch außerhalb der Schweiz. Jenseits der Grenze in Süddeutschland werden sie jedoch ausnahmslos der jüdischen Architektur zugerech-net. So findet sich zum Beispiel im Anbau zur Synagoge in Künzelsau-Nagelsberg ein Haus, das ebenfalls mit zwei Türen versehen ist, die allerdings etwas anders aussehen als die schweizerischen Varianten.149 Sie verweisen nicht auf jüdisch-christliches Zusammenleben und bestätigen dadurch die Interpretation, dass es sich dabei in erster Linie um eine Teilung aus wirtschaftlichen Gründen handelt.150

146 Ich danke Benno Furrer für diese Auskun!.147 Räber, Bauernhäuser Aargau, Bd.1, 279 „Die Existenz von zweigeschossigen Küchen ohne ge-

schlossenen Rauchabzug (Rauchküchen) ist denn auch in zahlreichen zeitgenössischen Schil-derungen überliefert, und gelegentlich sind an bestehenden Bauten noch Spuren erkennbar. Ursprünglich war das Obergeschoss nur über der Stube und der Nebenstube nutzbar, wäh-rend sich die Küche als o"ener Raum bis unter den Dachboden erstreckte.“

148 Räber, Bauernhäuser Aargau, 282.149 Abbildung siehe http://www.alemannia-judaica.de/nagelsberg_synagoge.htm bzw. direkt

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%2029/Nagelsberg%20Judenhaus%2001.jpg (Stand vom 12.1.2005) Für diesen wertvollen Hinweis danke ich Joachim Hahn.

150 Auch aus Gailingen wird von Häusern mit Doppeltüren berichtet, welche das dortige Landes-denkmalamt als Indiz für jüdisch-christliche Kohabitation deutet. Diese Interpretation lehnt die Historikerin Gisela Roming jedoch ab. Sie konnte in den einschlägigen Akten keinerlei Belege dafür #nden, dass in diesem Haus jüdische und christliche Bewohner gleichzeitig ge-

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Die Auswertung der Lengnauer Häuserverzeichnisse von 1779 und 1850 führt zweimal zum selben Ergebnis: Juden und Christen wohnten nicht unter einem Dach; das Verbot wurde mehrheitlich befolgt. Dies lässt sich auch an der Siedlungsstruktur erkennen (Farbabbildung 9).151

Aber Juden und Christen wohnten in geteilten Häusern. Die Doppeleingänge deuten also in der Tat auf enge Nachbarschaft hin, nicht aber auf enges jüdisch-christliches Zusammenleben. Wenn es also darum geht, die Bedeutung dieser Häuser für jüdisch-christlichen Kontakt zu erfassen, so waren, statistisch gesehen, von jüdischen und christlichen Personen gleichzeitig bewohnte Häuser nicht rele-vant. Damit bleiben zwei wichtige Fragen offen: Trifft dieses Ergebnis auch auf die Schwestergemeinde Endingen zu? Dann ließe sich daraus eine Regel ableiten. Und: Weshalb kam es dann zur heutigen Deutung?

Vergleich: Die Situation in Endingen

Die im vorhergehenden Abschnitt erarbeiteten Resultate lassen sich in Endingen nicht bestätigen. Pfarrer Stamm ging bei seinen Bestandesaufnahmen 1779 sehr systematisch Haus für Haus vor. Aufgrund dieser sorgfältigen Aufnahmeweise ist anzunehmen, dass er in seiner Darstellung die Reihenfolge der Häuser einhielt, die er zählte. Es gibt keine Anhaltspunkte die dagegen sprechen, dass die Einträge auf dem Papier die Position der Häuser im Dorf widerspiegeln – und sie zeigen für Endingen ein ganz anderes Dorfbild als für Lengnau.152 Stamm konnte für Endingen keine separaten Zähllisten für Juden und Christen erstellen wie in Lengnau, weil sie hier zu stark durchmischt wohnten. In seiner Liste wechseln sich jüdische und protestan-tische Namen häufig ab. Die Auszählung ergibt, dass in einem Viertel aller Häuser sowohl jüdische als auch christliche Hausbewohnerinnen und Hausbewohner lebten, und bei den nur von einer Partei bewohnten Häusern stehen neben jüdischen Namen christliche in der Zählliste, das heißt jüdische und christliche Dorfbewohner wohn-ten entweder im selben Haus oder unmittelbar nebeneinander. (Ausführliche Zahlen in der Tabelle im Anhang) So etwas wie ein jüdisches Viertel wie in Lengnau existier-te in Endingen nicht. Aus Stamms Liste geht weiter hervor, dass nur ein Fünftel der jüdischen Familien allein in einem Haus lebte, während es unter den christlichen zwei Drittel waren. Neben diesen Unterschieden zwischen Lengnau und Endingen gibt es

lebt hätten. Roming, Topographie, 394, FN 27. Es ist anzunehmen, dass sich die Deutung von den jüdisch-christlichen Doppeltüren diskursiv verselbstständigt hat.

151 Siehe auch den Kartenvergleich in diesem Kapitel (Farbabbildung 9).152 Diese Einschätzung teilen auch Hans Rudolf Sennhauser und Alfred Hidber, die in ihrem

Beitrag über Zurzach aufgrund von Stamms Tabelle ein Häuserverzeichnis mit den Bewoh-nerinnen und Bewohnern erstellt haben. Sennhauser/Hidber, Zurzach, 296.

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auch Gemeinsamkeiten: Auch hier waren in ausschließlich von Christen bewohnten Gebäuden mehrere Familiennamen aufgeführt. 48 von insgesamt 100 Häusern, also die Hälfte, wurden Ende des 18. Jahrhunderts von mehreren Parteien geteilt. Das war zwar nicht die Mehrheit, aber die Zahl zeigt, dass Mehrfamilienhäuser auch in Endingen stark verbreitet waren.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Wohnstrukturen von Lengnau und Endingen unterschieden. Während in Lengnau jüdische und christliche Hausparteien nur in seltenen Fällen im gleichen Haus wohnten und das Kohabitationsverbot oder die sich daraus ergebende Praxis im 18. und im 19. Jahrhundert fast durchgän-gig eingehalten wurde, waren die Wohnverhältnisse in Endingen von Anfang an gemischt. Jüdisch-christliches Zusammenleben auf engem Raum fand also tatsäch-lich statt, allerdings vornehmlich in Endingen. Neben diesem Unterschied verbindet die beiden Ortschaften die vor allem schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen zuzuschreibende Praxis, Häuser zu teilen. Dies zeigte sich im 19. Jahrhundert deut-lich: Von 150 untersuchten Endinger Häusern, die seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beurkundet wurden, waren die wenigsten Eigentum nur einer einzelnen Person.153 Fast alle Häuser wurden im Verlauf ihrer Existenz geteilt. Einige waren von Anfang an für mehrere Familien gebaut worden, die meisten aber wurden erst nach zwei Generationen unterteilt und das bis hin zu Achteln. Daraus ergibt sich ein Muster, das beide Ortschaften einschließt: Ein Haus wurde zunächst meist inner-halb einer christlichen Familie geteilt, worauf dann einige Teilbesitzer ihren Anteil an jüdische Interessenten verkauften oder vermieteten. Von Anfang an geplante Mehrfamilienhäuser gehörten meist jüdischen Eigentümern.154

Ausgangspunkt dieses Abschnitts über Orte der Kontaktzone war die Feststellung, dass in der Historiographie wie in heutigen Erzählungen von Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohnern die Doppeleingänge von Lengnauer und Endinger Häusern als Zeichen jüdischer Präsenz im Allgemeinen und jüdisch-christlichen Zusammenlebens im Besonderen gedeutet werden. Doppeltürige Häuser gelten heute als architektoni-sche Spezialität der beiden ‚Judendörfer‘, die sich der besonderen jüdisch-christ-lichen Geschichte der beiden Ortschaften verdankt. Die geläufige Deutung hält der historiographischen Untersuchung nicht im Sinne der Erzählung stand. Aber heißt das, dass damit die Türen als Metapher für die Kontaktzone wertlos geworden sind? Im Gegenteil. Diese Doppeltüren wurden nämlich zum Zeichen. Und die

153 Diese Aussage beruht auf der Zusammenstellung der Eigentumsverhältnisse der einzelnen Endinger Häuser zwischen 1803 und 1996 durch Karl Weibel, Häuser.

154 Darunter befanden nicht nur Hauseigentümer, sondern auch Hauseigentümerinnen, in der Regel Witwen. Weiblicher Hausbesitz ist jedoch eher selten beurkundet. Doch wenn sich entsprechende Vermerke #nden, dann stehen eher die Namen jüdischer Frauen in den Ver-zeichnissen als christliche. Dieser Umstand hatte mit der Rechtslage der christlichen Schwei-zer Frauen zu tun. Ryter, Bevogtet. Wecker, Geschlechtsvormundscha!.

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136 Geografien des Kontakts

Bedeutung dieses Zeichens hat sich im Verlauf der Zeit verändert: Im 17. und frühen 18. Jahrhundert standen die Doppeltüren für eine raffinierte Notlösung: Sie dienten einer jüdische Gesellschaft, deren Zahl sich in in Dächern messbaren Einheiten nicht vermehren durfte, die kein Grundeigentum erwerben konnte und die daher zusammenrücken und Häuser teilen musste. Gleichzeitig war die Hausteilung auch eine übliche Praxis zur Abfindung mehrerer Erbnehmer in christlichen Familien, deren Söhne sich keine Neubauten leisten konnten; die Doppeltüren standen also für bescheidene Verhältnisse. Bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts drückten die Doppeltüren Armut und vor allem Platznot aus: im ganzen Dorf und zwar für alle. Fast jede jüdische und ein beachtlicher Teil der christlichen Familien wohnte damals in einem Mehrfamilienhaus. Hausteilungen waren auch damals noch üblich und häufig, die Hausteile wurden vermietet oder verkauft und waren beliebt, weil sie günstiger waren als ganze Häuser. Ende des 18., vor allem aber in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebten dann Juden und Christen unter einem Dach, vor allem in Endingen. Zu diesem Zeitpunkt war das Verbot, „unter einem Dach“ zu wohnen, im Dorf kaum noch von Bedeutung, man hatte sich arrangiert.

Die Doppeltüren behielten ihre zeichenhafte Qualität auch dann bei, als gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung aus dem Surbtal abge-wandert war. Mehr noch: Die Abwanderung trug zu einer Bedeutungsveränderung bei. Die Türen wurden nach und nach zu einem Zeichen von Identifikation, zum attributiven Symbol jüdischer Präsenz:155 Die christliche Gesellschaft ordnete die Doppeltüren der jüdischen zu.156 Die Doppeltüren wurden zum möglichen Element von Distinktion: Juden, ‚die anderen‘, wohnten in Doppeltürenhäusern, ‚wir‘ nicht. In der Zuordnung scheint der Wunsch nach einer klaren Grenze, nach einem klaren Unterscheidungsmerkmal auf. Es ließ sich auf den ersten Blick und selbst von Auswärtigen erkennen, ob es sich bei einem Haus um ein ‚jüdisches‘ handelte oder nicht.

Spätestens seit dem Ende des 20. Jahrhunderts sind die Türen Teil des Selbstbildes der Lengnauer und Endinger, Bürgerinnen und Bürger eines ‚Judendorfs‘ zu sein. Die Existenz der Doppeltüren zeichnet heute das Dorf als eines aus, das sich von den umliegenden Ortschaften durch eine ‚andere‘ Geschichte unterscheidet. Sie sind Teil der affirmativen Identifikation mit der jüdisch-christlichen Vergangenheit. Die Türen wandelten sich zum selbstbewussten Attribut des Eigenen. Zugleich zeigen sie

155 Ich verwende hier den Ausdruck Identi#kation und nicht Identität, um damit deutlich zu machen, dass es mir um den aktiven prozessha!en Anteil geht, um ein ‚Tun’ und ‚Werden’ und nicht einen imaginär-festen, essentialisierten Kern, ein ‚So-Sein’ und ‚So-Bleiben’. Identi#ka-tion ist auf Interaktion ausgerichtet und bezieht sich auf den gesellscha!lichen Kontext.

156 Dass diese Zuordnung geschehen ist, belegen zahlreiche Bemerkungen Karl Weibels, die bei-spielsweise lauten: „Die Doppeltüren deuten auf ein jüdisches Haus hin“ oder „Man beachte die Doppeltüren: jüdisches Haus!“ Weibel, Endingen Bilder. Allerdings gibt das noch keinen direkten Hinweis auf die Datierung der Bedeutungsverschiebung.

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die ‚eigene‘ Vergangenheit aber immer auch als eine zum Teil gemeinsame wenn nicht sogar fremde. Die Verknüpfung der Doppeltüren mit dem Kohabitationsverbot ist wahrscheinlich erst im 20. Jahrhundert geschehen. Dabei ging es jedoch weniger darum, den Gebrauch konkreter Türen zu erklären, als vielmehr um die Funktion, die sie in der dörflichen Selbsterzählung und Erinnerung erfüllen konnten. Die Doppeltüren sind daher nach wie vor eine treffende Metapher, denn sie verweisen physisch sichtbar darauf, dass jüdische und christliche Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner in Lengnau und Endingen nahe beieinander und voneinander getrennt lebten, und machen damit die wohl entscheidende Erinnerung der christ-lichen Bevölkerung an die Zeit des Zusammenlebens sichtbar. Auch wenn sich das Ausmaß von Nähe und Distanz nicht an Beispielen aus dem dörflichen Alltag beschreiben lässt, so lassen die Ergebnisse dieses Abschnitts doch unzweifelhaft deutlich werden, dass die damaligen Jüdinnen und Juden nicht in einem Surbtaler Ghetto wohnten.157

Offene Fragen – weitere Forschung

Die Ergebnisse dieses Abschnitts sind nur zum Teil befriedigend. Die Frage, welche Aussagen die tatsächliche architektonische Situation über das Zusammenleben in einem solchen Haus erlaubt, konnte aufgrund der schlechten Datenbasis nicht geklärt werden. Dafür braucht es umfassende denkmalpflegerische Untersuchungen verschiedener Grundrisse von Doppeltürenhäusern in Lengnau und Endingen sowie in der Umgebung, dendrochronologische Analysen zur Datierung von Ausbauetappen und den Einbezug der Inventarienprotokolle zur Rekonstruktion von Einrichtungssituationen vermögender und mittelloser Bewohnerinnen und Bewohner, christlicher und jüdischer Haushalte, wobei es sich um Momentaufnahmen aus unterschiedlichen Zeiten des Jahrhunderts handeln sollte. Wenn diese wissen-schaftlichen Fundamente gelegt wären, ließe sich auch beispielsweise der Frage nachgehen, wie in geteilten Häusern die Vorgaben der Kaschrut eingehalten werden konnten, z.B. wenn es nur eine einzige Rauchküche gegeben hat. Hat der Bau der so nahe beieinander liegenden Eingänge damit zu tun? Schließlich zeigen zahlreiche Grundrisse regionaler Bauernhäuser, dass der Eingang in ein Haus oftmals als erstes in die Küche führte. Ebenfalls offen bleiben musste ein wichtiges Detail, das die Positionierung der Türen betrifft. Doppel- und Mehrfamilienhäuser waren im gesam-ten untersuchten Zeitraum im Aargau wie auch in den angrenzenden Kantonen häufig. Doch unterscheiden sich die Lengnauer bzw. Endinger von diesen anderen Häusern dadurch, dass dort die Türen oftmals an den entgegengesetzten Hauswänden angebracht waren, während sie in Lengnau und Endingen tatsächlich aufs engste

157 Siehe das Kapitel: Postkartenansichten.

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nebeneinander lagen. Es braucht systematische Vergleiche mit anderen Gemeinden wie z.B. dem bereits zitierten Oberehrendingen, um herauszufinden, ob diese Lengnauer und Endinger Anordnung tatsächlich eine besondere lokale Spezialität ist. Auf den ersten Blick scheint es in der Tat so, doch aufgrund der vorangegangenen Beobachtungen muss der exklusive Charakter dieser Architektur zumindest in Frage gestellt werden. Wenn alle diese Daten zur Verfügung stehen, wird eine Untersuchung im Sinn Pierre Bourdieus möglich, die wichtige Lücken schließen würde. Der fran-zösische Soziologe publizierte 1980 einen berühmt gewordenen Aufsatz über das Kabylenhaus.158 Kabylen sind in algerischen Gebirgsgegenden lebende Berber. Bourdieu analysierte den Prototyp eines Kabylenhauses und legte damit eine inspi-rierende neue Sichtweise auf Häuser und allgemein auf die Untersuchung von Kultur vor. Bourdieu begann seine strukturanthropologische Analyse, indem er sich auf den Grundriss eines einzigen Hauses konzentrierte. Der Autor ging davon aus, dass alle Objekte in diesem Haus Teil eines Symbolsystems waren. Jeder Gegenstand, jede Art, ein Zimmer zu nutzen und zu bewohnen, war bedeutungsvoll. Er setzte daher die Aufteilung der Zimmer in Beziehung zu den dort aufbewahrten Gegenständen und ordnete sie in Gegensatzpaaren, die er anschließend interpretierte. Der Soziologe leitete daraus symbolische Beziehungen zwischen Männern und Frauen, zwischen männlich und weiblich zugeordneten Elementen dieser Kultur her. Ausgehend von einem konkreten – wenn auch als Prototyp zum Untersuchungsobjekt präparierten – Haus zog der Autor Schlüsse auf eine ganze Gesellschaft. Trotz berechtigter Kritik an seiner strukturalistischen Ausrichtung ist der Ansatz dieses Aufsatzes für den hier behandelten Zusammenhang sehr anregend.159 Bourdieu ging in seiner Untersuchung nämlich von den konkreten, im Haus vorhandenen Gegenständen aus und setzte sie zueinander in Beziehungen. Allerdings müsste die Anordnung modifiziert werden: Zu vergleichen gilt es jüdische und christliche Wohnsituationen, die Verhältnisse der Häuser zueinander im dörflichen Gefüge. Dazu gehört auch deren architektonischer Bezug zur Lengnauer Synagoge, die ebenfalls durch eine Doppeltüre betreten wird, ein Umstand, der in diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit verdient. Vor allem weil sie keine funktionale Begründung zulässt wie zum Beispiel die Abtrennung der Frauenempore. Auch die Tatsache, dass mehrere Wirtschaften in Lengnau und Endingen Doppeltüren aufweisen (siehe Abbildung 7), muss gedeu-tet werden, denn für diese Haustypen macht die ursprüngliche Erklärung keinen Sinn, sofern man nicht von Verhältnissen ausgehen will, die an die südafrikanische Apartheid oder die US-amerikanische Rassentrennung im 20. Jahrhundert denken lassen, was jedoch eine abwegige Annahme wäre.160

158 Bourdieu, Haus.159 Reichhardt, Bourdieu für Historiker?, 86–90 (hier vor allem der Hinweis auf die statische

Konzeption und die Herausarbeitung von „Typen“). 160 Siehe dazu den nächsten Abschnitt über Wirtshäuser.

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Orte des Privaten: Häuser mit Doppeleingängen 139

Abbildung 7: Die zu oberst abgebildete Postkarte zeigt in der Mitte ein Wirtshaus in Lengnau, die Fotografie des Restaurants zum Surbtal stammt aus Endingen. An beiden Orten wurden Wirtshäuser mit Doppeltüren gebaut, ein Merkmal, das sich nicht funktional erklären lässt. Das Wohnhaus aus Endingen im mittleren Bild ist über dem Eingang mit der Jahreszahl 1914 beschriftet. Es ist unwahrscheinlich, dass diese Türform mit den eidgenössischen Bestimmungen zu tun hat. Diese Gebäude lassen die These prüfenswert werden, ob die bestimmte Form der nahe beieinander liegenden Doppeltüren im Verlauf der Zeit zu einem selbst gewählten Stilmerkmal der beiden ‚Judendörfer‘ geworden ist.Aus: Postkarte Reprint. Weibel, Bilder, 59 und 85.

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Die Übertragung dieses Ansatzes auf die Lengnauer und Endinger Häuser mit Doppeleingängen würde endlich die noch ausstehenden Aussagen über die damalige jüdisch-christliche Dorfgesellschaft erlauben. Erste Ansätze dazu lieferte der voran-gegangene Abschnitt. Weitere Arbeiten könnten und sollten folgen.

3.6 Öffentliche Orte: Wirtshäuser, Waschhäuser und die Metzgerei

Alltag bedeutet auch Öffentlichkeit. Jüdisches und christliches Tun, Produzieren, Konsumieren und Kommunizieren, spielte sich auch außerhalb der eigenen vier Wände ab, war sicht- und beobachtbar. Das Ausmaß des direkten jüdisch-christli-chen Kontakts in der Öffentlichkeit lässt sich nicht abschätzen, und obwohl davon auszugehen ist, dass sowohl unter Frauen wie unter Männern Gelegenheiten bestan-den, miteinander ins Gespräch oder ins Geschäft zu kommen, finden sich in den Lengnauer und Endinger Gemeindeakten keine unmittelbaren Hinweise darauf.161

Wirtshäuser

Nur wenige Wohnhäuser mit Doppeleingängen waren geteilter jüdisch-christlicher Lebensraum. Sie waren aber nicht die einzigen möglichen Orte im Dorf, an denen Kontakte zustande kamen. Hinweise belegen, dass eine andere Art von Haus dafür viel geeigneter war: die Wirtschaften.162 In Lengnau gab es 1850 sechs Wirtshäuser, davon drei jüdische.163 In Endingen waren es 1870 zwei Tavernen, eine Speise- und eine Bier- und Pintenwirtschaft, sowie eine Kaffeewirtschaft, die eine jüdische Wirtin führte. Das Gesuch der Fanny Wyler, die 1838 eine Speisewirtschaft eröffnen wollte, zeigt, dass nicht in allen jüdischen Wirtschaften koscher gegessen werden konnte, was für die jüdische Kundschaft ein Problem darstellte. Denn es „gelte […] den Umstand zu bedenken, dass die jüdischen Pintenschenken keine warmen Speisen, weder an fremde noch an einheimische Hebräer, abgeben können und letztere nach den mosaischen Gesetzen ebenso wenig im Falle sind, etwas bei den christlichen Wirthen geniessen zu dürfen.“164 Trotz dieser Trennung hinsichtlich der Verpflegung waren insbesondere die Pintenwirtschaften beliebte Männer-Treffpunkte und zwar

161 Haumann, Lebensweltlich.162 Mit diesem &ema beschä!igt sich im selben Sinn auch Baumann, Zerstörte Nachbarscha!en,

101–103.163 Müller, Franz Jakob, 47.164 Gesuch der Fanny Wyler, geborene Pollag von Oberendingen für ein Pintpatent mit Speise-

wirtscha!. StAAG, Korrespondenzprotokoll Bezirksamt Zurzach, 25.6.1838, Aarau Finanz-kommission, Nr. 406.

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für jüdische und christliche.165 Am ausführlichsten äußerte sich dazu der bereits zitierte Pfarrer Josef Anton Bröchin in seiner Chronik von 1766. Dort zeigte sich der Geistliche nicht damit einverstanden, dass Juden und Christen zusammen in der Wirtschaft saßen, insbesondere nicht am Sonntag.166 Denn der Pfarrer wusste, dass der Sonntag ein beliebter Tag im Dorf war, um Geschäfte abzuwickeln. An Sonntagen haben sich viele jüdische Geschäftsmänner über ihre Bücher gebeugt und saldiert. Es war der Tag, an dem Rechnungen beglichen, Zahlungen verein-bart und Verhandlungen geführt wurden.167 Der Sonntag war freilich nicht der einzige Tag, an dem in den Wirtshäusern getrunken wurde. Es war wie in fast allen ländlichen Gesellschaften jener Zeit auch im Aargau üblich, dass zur förmlichen Besiegelung eines (Vieh-) Handels oder eines anderen bedeutenden Rechtsgeschäfts Käufer und Verkäufer zusammen Wein tranken. Der Verkäufer hatte den Käufer zu einer Flasche Wein einzuladen.168 Dieser gemeinsame Umtrunk, darauf weist auch der Historiker Stefan Rohrbacher hin, „festigte im ländlichen Gemeinwesen soziale Verbindlichkeiten und (schmiedete) politische Bündnisse, (er diente) dem Austausch wichtiger Informationen und (bot) Gelegenheit zur Anbahnung oder Regulierung von Geschäften. So war es an der Tagesordnung, dass Juden und Christen gemeinsam in öffentlichen Schankstuben wie auch in Privathäusern Bier und Wein konsumierten.“169 Das war in Lengnau und Endingen nicht anders. Inwieweit dabei die Kaschrut-Vorschriften in den beiden Dörfern aufgeweicht wurden, muss offen bleiben. Wolfgang Treue geht davon aus, dass gerade auf dem Land bei diesen Gelegenheiten den Speisegesetzen nicht Folge geleistet wurde bzw. werden konnte, da nicht alle Wirtshäuser koscheren Wein vorrätig hatten.170 Andererseits berichtet Susanne Bennewitz, dass in den von christlichen Besitzern

165 Zur sozialen Funktion des Trinkens siehe den nach wie vor aktuellen und aufschlussreichen Aufsatz von Jakob Tanner, Alkohol. Mikrohistorisch untersucht am Beispiel italienischer und schweizerischer Männer im Kanton Uri um 1875: Binnenkade, Fremde Ordnung.

166 „Dennen iuden und christen sols keineswegs gestattet werden an Son und feyertägen in den-nen würdesheüseren hier & zu freyenwil haus, hört und güther etc. etc. etc. zu wagandten, zu verkaufen, zu versteigern & od. sonstige o"entlich verabredungen machen.“ Lengnauer Pfarr-Chronik des Deutschordenspriesters Josef Anton Bröchin 1766, KAL, Nr. 53, fol. 187.

167 „[…] an Sonntagen, an denen in der Regel Gelder eingehen und Auszahlungen gemacht wer-den“. GdAL, Korrespondenzen Neu-Lengnau 1861–1862, Moses Jakob Bloch an Vorsteher-scha! 1.1.1861.

168 Kaufmann, Viehhändler, 37.169 Rohrbacher, Er erlaubt es uns, 276. Siehe auch Ullmann, Nachbarscha! und Konkurrenz,

445".170 Treue, Kleine Welt, 261. Die Einhaltung der Speisegesetze hatte auch etwas mit der ökonomi-

schen Situation der Jüdin oder des Juden zu tun. Bettlerinnen und Bettler konnten vermutlich keine Rücksichten auf die Kaschrut nehmen. ebd. 262.

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geführten Basler Wirtshäusern auch koscherer Wein auf Lager gehalten wurde.171 Über die entsprechenden Vorräte der Surbtaler, Zurzacher und Badener Wirtinnen und Wirte geben die Quellen keinen Aufschluss. Sicher ist jedoch, dass es im Surbtal koscheren Wein aus Eigenproduktion gab. Die Surbtaler Judenkorporationen waren seit 1737 explizit berechtigt, unentgeltlich in der Zurzacher Trotte koscheren Wein herzustellen.172 Bis 1808 war der koschere Wein von den Zehntabgaben ausgenom-men, was damit zu erklären ist, dass aller in der Trotte gepresste Wein potentiell Messwein sein konnte. In der in jenem Jahr vom Stift erlassenen und vom Kanton bestätigten Trottmeisterverordnung wurde nun explizit auch der Wein der jüdi-schen Gemeinden besteuert. Die Lösung war den Chorherren 1805 eingefallen: Die Trottmeister wurden angewiesen, den Zehnten einzuschätzen und aus den Fässern zu schöpfen, bevor die „Juden die Hand an den Wein legen“.173

Der weltlichen Anerkennung der Kaschrut durch die Staatsmacht entsprach die religiöse Auffassung der katholischen Chorherren, dass der Rabbiner wohl den Wein in irgendeiner Art und Weise segne, um ihn koscher zu machen und ihn dadurch in einer Art und Weise veränderte, dass er für ihre Zwecke nicht mehr in Frage kam. Zwar entsprach das nicht den tatsächlichen religiösen Vorschriften, die einen Wein für die jüdische Gemeinde qualifizierten, doch zeigt sich dabei ein kultureller Übersetzungsversuch. Mit dieser Weisung machten die Chorherren indirekt deut-lich, dass sie die spirituelle Kraft des Rabbiners anerkannten.

In den Wirtshäusern mischten sich jüdische und christliche Kundschaft. Jüdische Gäste in christlichen Wirtshäusern und umgekehrt waren zwar keine seltenen Ausnahmen, aber auch nicht ganz die Regel. Im Allgemeinen strukturierten soziale Zugehörigkeiten den spontanen alltäglichen Wirtshausbesuch vor. Die Schützen saßen meist in der Schützenstube, die Juden schauten vorwiegend bei Philippina Guggenheim auf ein Glas vorbei. Drinnen fächerten sich die Gesellschaften dann nach feineren Kriterien weiter auf, nach Berufsgruppen, Nachbarschaften, sozia-lem Ansehen. In den Lengnauer Bußenregistern des Sittengerichts sind christliche Dorfbewohner aufgeführt, die der Landjäger nach der Wirtshausstunde noch in einer jüdischen Wirtschaft angetroffen hat.174 Umgekehrt lassen sich Belege dafür finden, dass jüdische Männer auch in den christlichen Dorfwirtschaften anzutreffen waren. Zumindest aus der zweiten Jahrhunderthälfte berichtet Emil Dreyfus von

171 Bennewitz, Basler Juden, 321–323. Sowie das Kapitel: Armut und die Mikropraktiken der Di"erenz.

172 Weldler-Steinberg, Geschichte der Juden, 143, FN 476. Trotte ist ein anderer Ausdruck für eine Kelter.

173 Weibel, Endingen, 412. Dort der Nachweis StAAG, 3909, 9.10.1805 (heute neue Signatu-ren). Trottmeisterverodnung: Erinnerung an die Trottmeister vom Zehntbezirk des Sti!s Zurzach am Tag der Herbst-Beeydigung, 9.10.1808, gleicher Nachweis.

174 Das war kein Surbtaler Spezi#kum, ähnliche Fälle berichtet auch Ullmann, Nachbarscha! und Konkurrenz, 446 und 447.

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einem Brauch anlässlich von Simchas Thora, wenn die jungen Männer mit kuli-narischen Schätzen, so genannten Chaletern, alle, und dazu gehörten explizit auch die christlichen, Wirtschaften betraten und dort auf ein Glas – oder zwei – in der Wirtsstube sitzen geblieben seien.175

Neben den alltäglichen Wirtshausbesuchen standen die Geschäftskontakte. Das Gasthaus hatte in dieser Hinsicht eine öffentlich-offizielle Funktion: Jedermann konnte sehen, dass hier ein Geschäft besiegelt wurde, eine Zeugenschaft, die für die Gerechtigkeit des Geschäfts und die Redlichkeit der Geschäftspartner stand.176 Diese Form von Kontakten ist schon früh belegt und ist im Surbtal mit anderen Gegenden im Süddeutschen Raum vergleichbar. Sabine Ullmann geht für das 18. Jahrhundert davon aus, dass die in den Wirtshäusern besiegelten Geschäfte ein Zeichen „friedlicher Koexistenz“ waren und eine „ökonomische Basis“ bildeten, „mit der zahlreiche Divergenzen im kultisch-religiösen Bereich ausgeglichen und über-wunden wurden“.177 Die Trinkpraxis war integrales Element des Geschäftsabschlusses und daher gerade an den Wochenenden in den beiden Surbtaler Dörfern häufig. Allerdings fanden diese Geschäftsabschlüsse hier nicht zwangsläufig ausschließlich in einer christlichen oder jüdischen Wirtschaft statt: Der Lengnauer Pfarrer Anton Bröchin berichtet aus dem selben Zeitraum, „dass die heimischen als auch auswärtige Christen vor- und auch nach dem Gottesdienst an solchen Feyertagen in die iuden häuser zu gehen, mit selben schachern, handlen, […] kaufen oder verkaufen“.178 Das mit dem Geschäftsabschluss verbundene gemeinsame Trinken stärkte private Kontakte. Auch wenn das Trinken in dem genannten Zitat nicht erwähnt ist, so muss es dennoch als Teil des Zustandekommens von Geschäftsabsprachen voraus-gesetzt werden. Für einige Momente wurden am Sonntag die privaten Häuser zu Ersatzwirtschaften. Grund dafür war vermutlich die Möglichkeit für den jüdischen Geschäftspartner, koscheren Wein auszuschenken. Aus einer früher zitierten Passage geht hervor, dass solche Verhandlungen aber auch in den Wirtshäusern stattfanden,

175 Dass ein Wirtshaus in jüdischer Hand war, hinderte auch auswärtige christliche Kundscha! nicht, dort abzusteigen. Der wohl berühmteste von ihnen ist der unglückliche Ingenieur Stänz, der Ende Oktober 1861 vom Bezirksamt Zurzach nach Endingen gesandt worden war, um den dortigen Gemeindebann zu vermessen. Von ihm wird im folgenden Kapitel noch ausführlich die Rede sein. Stänz quartierte sich bei Philippina Guggenheim ein und saß nach dem Abendessen noch eine Weile mit den jüdischen Gästen zusammen. StAAG, R03.IA09/C/002, Ingenieur Stänz an Baudirektion, 29.10.1861.

176 Dass solche Zeugenscha!en insbesondere in Geschä!en zwischen jüdischen und christlichen Partnern wichtig waren, zeigen die einschlägigen Bestimmungen zum Geschä!sabschluss mit einem jüdischen Händler, z.B. in den Friedensrichterakten, GdeA Kaiserstuhl, Protokolle des Friedensrichters über Geldgeschä!e zwischen Juden und Christen 1809–1816.

177 Ullmann, Nachbarscha! und Konkurrenz, 447.178 Lengnauer Pfarr-Chronik des Deutschordenspriesters Josef Anton Bröchin 1766, KAL, Nr.

53, fol. 185.

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insbesondere außerhalb Lengnaus und Endingens. Dort müssen Ausnahmen von der Kaschrut gemacht worden sein, denn es gibt keinerlei Quellen dafür, dass die Wirtinnen und Wirte entsprechenden Wein gelagert hatten.

Je weiter sich die jüdischen Händler vom Dorf entfernten, desto offensichtli-cher trennte die Kaschrut Juden und Nicht-Juden.179 Dies hatte durchaus auch Konsequenzen im Hinblick auf die konkrete räumliche Unterbringung jüdischer Gäste und Wanderhändler und den Kontakt zwischen ihnen und ihrem christlichen Umfeld. Die Speisegesetze waren ein wohlbekannt-vertrautes Unterscheidungsmerkmal zwi-schen Juden und Christen, wie sich beispielsweise im Kapitel „Armut“ zeigte, das auch nach außen deutlich sichtbar werden konnte. Beim Abendessen trennten sich jüdische und christliche Wege unterm Wirtshausschild beziehungsweise am Hoftor. Einige jüdische Gäste bereiteten sich in der Regel ihr Essen selbst zu und hatten dazu ihr Kochgeschirr und die notwendigen Zutaten dabei. Um gewährleisten zu können, dass ihr Essen den Speisevorschriften entsprach, kennzeichneten jüdische Wanderhändler ihr Geschirr mit einem Zeichen und deponierten es bei Bauern und Wirten, bei denen sie regelmäßig übernachteten.180 Wer sich den Luxus zusätzlichen Geschirrs nicht leisten konnte oder nicht über die entsprechenden Beziehungen verfügte, musste mit kalter Küche vorlieb nehmen. Maurer berichtet von jüdischen Knechten, welche „die Taschen voller Obst“ auf Reisen gingen und erst wieder warm aßen, wenn sie in jüdische Häuser kamen.181

Waschhaus und Metzgerei

Zwei andere Gebäude, welche die jüdische und die christliche Dorfbevölkerung mit-einander teilten, waren das Waschhaus und die Metzgerei.182 Die liberale Aargauer Regierung legte aus Gründen, auf die ich weiter unten zu sprechen kommen werde,

179 Siehe Bennewitz, Basler Juden, 307–330.180 Siehe auch eine Passage in Gottfried Kellers „Grünem Heinrich“: Von Frau Margaretes

„Freude am gedeihlichen Erwerb und emsige Tätigkeit mochte es auch kommen, dass meh-rere Schacherjuden in den Kreis ihrer Wohlgelittenen aufgenommen waren. […] machten diese vielgeplagten und verachteten Leute dieser guten Frau höchst interessant und gern ge-sehen, wenn sie sich bei den abendlichen Zusammenkün!en vorfanden, am Herde der Frau Margret Ka"ee kochten oder sich einen Fisch buken.“ Keller, Heinrich, 81/82.

181 „Ungläublich aber wissen die ärmern sich einzuschränken, und, die Taschen mit Obst gefüllt, reisst o! ein Knecht zwey und drey Tagreisen durch christliche Länder, nach Hohenembs oder tief in Schwaben, ohne einen Brodsam von Christen anzunehmen.“ Maurer, Kleine Reise, 168.

182 Aram Mattioli geht für Lengnau von der Existenz zweier Waschhäuser aus: „Fünf Jahre später [1836] lehnte die Lengnauer Gemeindeversammlung den Antrag der jüdischen Korporation ab, gemeinsame Waschhäuser zu bauen.“ Leider fehlt ein Nachweis. Mattioli, Mannli, 138.

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großen Wert darauf, dass die dörfliche Wäsche öffentlich gewaschen wurde, und ermahnte demgemäß die Dorfbevölkerung, insbesondere die jüdische.183 Diese Vorschrift gehörte in den Bereich der Sozialpolitik. Die aufgeklärten Herren in Aarau waren sehr daran interessiert, ihre Vorstellungen von sozialer Ordnung und persönlicher Hygiene durchzusetzen, die eng miteinander verflochten waren. Es finden sich Einträge und Dokumente, die belegen, dass hier tatsächlich jüdische und christliche Frauen gewaschen haben. Ob sie das Waschhaus auch gleichzeitig benutzt haben, lässt sich jedoch nicht beantworten. Angesichts der Bevölkerungszahlen in Lengnau ist allerdings anzunehmen, dass jüdische und christliche Frauen gleichzeitig im Waschhaus anwesend waren.

‚Wäsche waschen‘ ist ein Ausdruck, der nicht nur das Reinigen von Kleidungsstücken bezeichnet. Die Aufforderung, dies öffentlich zu tun, hatte soziale Konsequenzen. Das Waschhaus war ein Ort, an dem viel gesehen und allerhand ausgetauscht werden konnte, was es über die Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner, oder auch über außerdörfliche Verhältnisse zu wissen gab.184 Dazu gehörte Wissen, das oft im Zusammenhang mit Vorstellungen von Ehre diskutiert wurde, also über familiäre und finanzielle Verhältnisse ebenso wie über körperliche. Dazu gehörten beispielsweise Schwangerschaften oder auch – ebenso wichtig – explizite ‚Nicht-Schwangerschaften‘.185 Die Waschhäuser waren gleichzeitig intime und ganz öffentli-che Orte, Teil einer weiblichen Öffentlichkeit, ein sozialer Raum, in dem Geschlecht unter Umständen mehr Gewicht haben konnte als Religion.

Ein weiteres öffentliches und in einigen christlich-jüdischen Ortschaften geteiltes Gebäude war die Metzgerei.186 In Lengnau gab es nur eine christliche Metzgerei. Die jüdische befand sich in Endingen. Diese jüdische Metzgerei wurde von der christli-chen Dorfgesellschaft, insbesondere den Endinger Metzgern, gut beobachtet. Über diesen Bereich des dörflichen Alltags sind nur Informationen zugänglich, die in Form

183 „Dem Vernehmen nach wird in eurer Gemeinde, entgegen der einschlagenden polizeilichen Vorschri! in Privathäusern, anstatt in den hiezu bestimmten ö"entlichen Waschhäusern gewaschen. Ich bin daher genöthigt, euch hiermit aufzufordern, dieses der versammelten Gemeinde zu erö"nen, mit der bestimmten Erklärung, dass alle, welche fürohin in Privat-häusern waschen halten, zur Verantwortung und Strafe gezogen werden.“ StAAG, DEP.GA-0030/0001, Bezirksamtmann Schneisinger an die Vorsteherscha! Endingen, 17.5.1833.

184 Siehe Verdier, Drei Frauen, 114–140. Verdiers Arbeit ist eine ethnographische Studie über ein französisches Dorf. 1968–75 interviewte sie Frauen über ihr Leben, deren Rolle im Dorf und ihre Erinnerungen, die manchmal bis an die Zeit vor 1900 zurückreichten. Diese Erfahrungen sehe ich als übertragbar auf die dör%ichen Verhältnisse im Surbtal an. „So war das Waschhaus ein grosser Umschlagplatz, wo ebenso viele Informationen wie Wäsche zirkulierte. […] Wor-über redeten denn die Wäscherinnen? über das gesamte Intimleben des Dorfes, das man an der Wäsche ablesen konnte. Ihre Neugier war grausam und indiskret.“ Ebenda, 136.

185 Töngi, Zeichen und Verdier, Drei Frauen, v.a. 139.186 Z.B. in Basel, Bennewitz, Basler Juden, 307–330.

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von Beschwerden, Verboten und Regeln verfasst wurden. Positive Beschreibungen über den Betrieb in der Metzgerei fehlen fast gänzlich.187 Die Surbtaler Metzgereien waren somit kein gemeinsam genutzter, von Christen und Juden, Christinnen und Jüdinnen betretener Ort. Aber sie waren einer, an dem der Kontakt zwischen ihnen immer wieder thematisiert wurde. Dadurch erwiesen sich diese Orte immer wieder als Anlass kultureller Identifikationen. Auch der Fleischverkauf war eine Praxis mit räumlichen Dimensionen. Denn der Fleischverkauf der jüdischen Metzger war einer, der über Hauslieferungen und Botengänge zustande kam. Wie auch der übrige Handel der jüdischen Männer188 knüpfte sich der Fleischverkauf an deren Bewegung im dörflichen Umfeld, in einem Radius der Warenfrische, in dessen Mittelpunkt der Schochet, der Schächter der Gemeinde, stand.

Das Schächten und der Fleischverkauf durch jüdische Metzger waren im Surbtal untrennbar mit judenfeindlichen Vorwürfen und Verdächtigungen verbunden. Die Metzgerei ist als Ort daher im Folgenden Anlass, dieser Form von Judenfeindschaft und ihren Mechanismen über einen Zeitraum von fast hundert Jahren genauer nachzugehen. Damit soll erkennbar werden, dass Antisemitismus im Konzept der Kontaktzonen enthalten ist.189 Dieses Thema bildet dadurch die inhaltliche Brücke zwischen diesem Kapitel über geteilte Räume und dem anschließenden, zweiten auf Raum fokussierten Kapitel, in dem es dann vertieft um Grenzen der Kontaktzonen geht.

In den nun folgenden vier Fallbeispielen stehen jüdischer und christlicher Fleischhandel, Schlachten und Schächten im Zentrum. Eigentliches Thema der Auseinandersetzungen war aber weit mehr, als die Fleischversorgung der Surbtaler Kundschaft. Aus den Jahren 1800, 1808, 1865 und 1893 sind Akten erhalten, die sich mit der Produktion und den Bedingungen des Konsums von Fleisch befassten.

Fleisch war im 19. Jahrhundert von wesentlicher Bedeutung für die Ernährung. Besonders in den Ernährungsdebatten der Experten war Fleischkonsum zentral und zwar gerade deshalb, weil sich nicht alle Fleisch leisten konnten, in jedem Fall nicht zu allen Zeiten. Fleischkonsum verwies aber nicht nur auf ökonomische (Un-)Möglichkeiten, es war auch ein „Symbol der Macht“, wie der Titel der deut-schen Ausgabe von Nick Fiddes Buch „Meat. A natural Symbol“ treffend lautet.190

187 Ausnahme: Dreyfus, Erinnerungen, IW 1924, Nr. 18, 13.: „In Endingen bestand daher ein von der israelitischen Gemeinde selbst errichtetes, gut gebautes, laut Verordnungen der Re-gierung mit ö"entlicher Fleischbank versehenes geräumiges Schlachthaus. […] War dies doch das einzige jüdische gesetzmässige Schlachthaus der Schweiz, das durch seine zweckmässige Einrichtung den dazumal bestehenden hygienischen Erfordernissen vollkommen Genüge lei-sten konnte.“ Hier auch der Verweis auf das günstige Schächt%eisch und die „emp#ndliche Konkurrenz“ gegenüber den christlichen Metzgern in der Gegend.

188 Siehe den Abschnitt zum Begri" Raum: Bewegungen.189 Siehe auch Kapitel: Grenzwerte.190 Fiddes, Meat. A natural symbol, deutsch: Fleisch. Symbol der Macht.

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Der Anthropologe beschreibt Fleisch als Symbol der menschlichen Macht („control“, an anderer Stelle „power“ bzw. „subjugation“) über eine „‚wild‘ natural world“.191 Fleischkonsum wird als Ausdruck kultureller Werte verstanden und als zeitweiliges Zentrum jeglicher Konzeption von Ernährung untersucht. Bei Fiddes ist ‚Fleisch‘ immer ‚Ausdruck von etwas‘. Im Folgenden wird Fleisch jedoch nicht als Symbol ver-standen, sondern als Medium, also primär als ‚Mittel um zu‘ und erst in zweiter Linie als ‚Zeichen für‘ etwas. Die jeweiligen Vertreter des Staates haben sich in den vier Beispielen von Anfang an prominent in die Diskussionen um Normen und Praktiken des Fleischkonsums eingebracht und ihre Vorstellungen auch immer wieder hegemo-nial durchgesetzt. Gerade aufgrund der starken diskursiven Verbindung zwischen Staat und Fleischkonsum gelang es zu Beginn des 20. Jahrhunderts Interessengruppen durch dieses Thema dem Staat gegenüber Stärke zu signalisieren und sich im politi-schen Feld prominent zu positionieren. Diesen Zusammenhang wird insbesondere das letzte Beispiel anschaulich zeigen.

Das konkrete Reden über Fleisch konstituierte Grenzen und war damit selbst wie-derum eine räumliche Praxis: Zunächst diskutierten die Staatsbeamten über Praktiken, die nicht den von ihnen vertretenen Ordnungs- und Hygiene-Vorstellungen entspra-chen. Die Grenze, die in dieser Diskussion gezogen wurde, erfolgte in Kategorien von ‚eigen‘ und ‚fremd‘. Die Debatten darüber fanden auf der Ebene staatlicher Institutionen statt, also in Räten und Parlamenten. Die Regierungsvertreter, insbe-sondere diejenigen von 1800, setzten in den anschließend verabschiedeten Gesetzen neue Standards. ‚Den Juden‘, deren Kultur und Handelspraxis zentrales Thema dieses ausgrenzenden Redens und Handelns war, kam eine wichtige Rolle zu. Auswahl und Interpretation der nachfolgenden vier Fallbeispiele und Textausschnitte aus einem Zeitraum von fast hundert Jahren gehen davon aus, dass ‚Fleisch‘ ein Thema, die Metzgerei ein Ort war, von denen aus sich thematische Fäden in verschiedene zeitge-nössische Kontexte verfolgen lassen.

Fleisch: Symbol der Macht. Antisemitismus im Aargau

Die ersten Dokumente stammen aus dem Jahr 1800, also noch aus der Zeit der Helvetik.192 Zurzacher Metzger-Meister beklagten sich, „dass Juden in der Gemeinde und Umgegend Fleisch feilbieten oder in den Häusern verkaufen.“ Mittels einer Petition wollten sie jüdischen Schächtern und Fleischhändlern das Geschäft mit Fleisch verbieten lassen. Der jüdische Fleischverkauf ist ein häufiges Thema christ-

191 Fiddes, Meat, 3.192 Actensammlung aus der Zeit der Helvetischen Republik (1798–1803), bearbeitet von Alfred

Rufer, XIII. Band, Freiburg 1947, 146–160. Ich danke Susanne Bennewitz für diesen Hin-weis.

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lich-jüdischer Wirtschaftskonkurrenz.193 Die Notwendigkeit spezifisch jüdischer Metzgereien ergibt sich aus den Speisegesetzen, die geschächtetes Fleisch vorse-hen. Der Konflikt mit den christlichen Metzgern entstand dadurch, dass die jüdi-schen Speisegesetze den Genuss der Hinterviertel geschlachteter Tiere untersagen. Kommt hinzu, dass es Tiere gibt, die für treijf, also ungenießbar, erklärt werden können, wenn sie anatomische Besonderheiten aufweisen. Diese Stücke waren für die jüdischen Metzger insofern wertlos, als sie sie nicht als koscheres Fleisch verkaufen konnten. Für christliche Kundinnen und Kunden wurden solche quali-tativ wertvollen Teile jedoch sehr interessant. Schächter haben diese Fleischstücke nämlich günstiger verkauft als die christlichen Metzger. Die bei der nichtjüdischen Kundschaft beliebten ‚Schächtabfälle‘ konkurrierten mit den Produkten christlicher Fleischhändler, was immer wieder zu Einsprüchen wie demjenigen von 1800 führte. Diese Eingabe richtete sich mit judenfeindlichen Argumenten gegen eine unliebsame Geschäftskonkurrenz, löste jedoch eine ganz andere Reaktion aus, als die Petenten vermutlich gehofft hatten.

Was für die einen, die Zurzacher Metzger, ein primär ökonomisches Problem war, führte bei den anderen, den Vertretern der helvetischen Regierung, zu sanitätspoli-zeilichen Erwägungen. Ausgelöst durch diese Beschwerde diskutierten die helveti-schen Politiker fast ein ganzes Jahr lang, und zwar zwischen Frühling und Winter 1800, die verschiedenen Praktiken des Fleischverkaufs. Grausig war das Bild, das die Parlamentarier über diesen Fleischhandel heraufbeschworen. Und sie zeichneten es nicht in schwarz und weiß – die helvetischen Politiker sprachen technicolor-deutlich: Sie beschrieben den ekelerregenden Zustand rohen Fleisches, das auf den Schweizer Gassen feilgeboten wurde; wie längst verendete Tiere ausgegraben und wieder auf-bereitet an die ärmste Kundschaft verkauft wurden; sie suchten nach Regeln zum richtigen Umgang mit Tieren, die nur dann geschlachtet werden durften, wenn nachgewiesen wäre, dass sie (wieder) gesund seien, und verurteilten die Praxis, Kälber durch Hunde herumhetzen zu lassen, damit sie mehr Muskelfleisch bildeten. Die Debatte wurde leidenschaftlich und zugleich mit den Worten professioneller Sachlichkeit geführt. Mehrere Votanten beriefen sich nämlich auf ihre eigene Berufs- und Alltagserfahrung und machten damit deutlich, dass auch sie Interessenvertreter waren. In der Debatte besonders wirksam war auch der Verweis auf außerschweizeri-sche Praktiken. Durch diesen Ausblick wurde ein diskursiver Raum geschaffen, der es den helvetischen Politikern ermöglichte, eine ‚eigene‘ Fleischpolitik zu formulieren. Ihre Wortmeldungen zeigten nicht nur schockierende Missstände an, sondern auch, dass es hier um die Interessen der Parlamentarier ging, in welcher Rolle auch immer sie sprachen. Sie sprachen dabei jedoch nicht nur über Praktiken. Sie sprachen auch über Menschen.

193 Beispielsweise Bennewitz, Basler Juden, 307–330.

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Nur in der ersten Sitzung, als die Petition der Metzgermeister zur Kenntnis genommen wurde, ging es in der Parlamentsdebatte darum, dass das „seit einem Jahre betriebene Hausieren mit Fleisch“ eine Geschäftspraxis war, die Juden übten. Die Politiker haben das Spezifikum, dass es sich bei den kollektiv Beklagten um jüdische Fleischverkäufer handelte, danach nicht weiter beachtet. Dazu hatten sie auch einigen Grund. Schon wenige Monate nach der Petition der Metzgermeister trafen Meldungen über ordnungswidrigen Fleischhandel aus anderen Kantonen ein. Im November beklagte sich die Verwaltungskammer Aargau194 beim helveti-schen Ministerium des Innern: „Jetzt aber schlachtet, hausirt, verträgt und verkauft Fleisch, wer da will […] Männer, Weiber und Kinder tragen allenthalben Fleisch in den Häusern zum Verkauf herum; niemand bekümmert sich, woher (es komme) und ob, wegen der Eigenschaft des geschlachteten Viehs und des Fleisches einiche Präcaution vorgegangen seie.“195 In den Formulierungen der Delegierten der Aargauer Verwaltungskammer entsteht das Bild eines überhand nehmenden Chaos, das so schnell wie möglich bekämpft werden muss. Eine Dringlichkeit, die ganz im Sinn der gesetzgebenden Parlamentarier war. In der Diskussion ging es fortan nicht, wie man aufgrund der ursprünglichen Petition der Zurzacher Metzger erwarten müsste, um Juden. Es ging um Betrug, um Seuchengefahr, um Fehlernährung und vor allem um (Un)Ordnung. Um der „ekelhaften Unordnung“196, der zur Bedrohung stilisierten „Anarchie im Fleischverkauf “197 Herr zu werden, wurde der Ruf nach „Experten“ laut:198 nach Medizinern, Fleischbeschauern und Polizeibeamten. Hauptsächlich aber forderten alle Politiker „Regeln“, „Verordnungen“, Kontrollpatente – kurzum „Sicherheit“ und „gute Ordnung“. Die schwarzen Schafe, die in den Debatten erwähnt wurden, lebten in der ganzen helvetischen Republik.199 Das geschächtete Fleisch ebenso wie die kulturellen Besonderheiten der Surbtaler Juden wurde nicht einmal erwähnt.

194 Helvetische Behörde (franz. chambre administrative). Fün)öp#ges, in Departemente auf-geteiltes und von einer Kanzlei unterstütztes Exekutivgremium, das auf Kantonsebene für Land- und Volkswirtscha!, Finanzen, Bauwesen, Kultus, Erziehung und Kultur zuständig war. Historisches Lexikon der Schweiz, Online-Ausgabe, 27.5.2007.

195 Actensammlung aus der Zeit der Helvetischen Republik (1798–1803), bearbeitet von Alfred Rufer, XIII. Band, Freiburg 1947, 147, Punkt 388a.

196 Actensammlung aus der Zeit der Helvetischen Republik (1798–1803), bearbeitet von Alfred Rufer, XIII. Band, Freiburg 1947, 146, Punkt 387.

197 Rufer, Actensammlung, 157, Punkt 402/ II. Debatte Votum Wegmann.198 „[…]so soll dieses durch niemand als einen verständigen Metzger, im Beisein der Fleischschät-

zer als Experten geschehen.“ Rufer, Actensammlung, 148, Punkt 388a/1.199 Einerseits Fleischbeschauer, „die so leicht betrogen werden können, und deren Interesse er-

fordern könnte, sich betrügen zu lassen“, andererseits „Ochsenhändler und Abdecker“, die verdorbenes Fleisch einsalzen und als gesundes verkaufen. Rufer, Actensammlung, 158.

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Trotz aller Meinungsverschiedenheiten, die zwischen den Disputanten über die richtige Lösung des Problems immer deutlicher wurden, herrschte Einigkeit darüber, dass der Fleischhandel ein Bereich sei, welcher dringend der Regelung bedurfte und der in die alleinige Kompetenz des Staates fallen konnte und musste. Die Petition der Metzger wurde nur in dieser Hinsicht als berechtigt anerkannt. Nicht weiter nach-gegangen wurde der Frage, inwiefern diese Praktiken etwas mit jüdischen Schächtern zu tun hatten. Das (am Ende nicht zustande gekommene) Sanitätspolizeigesetz über den Fleischverkauf war gleichermassen Zeichen und Mittel staatlicher Autorität. Es sollte eine zentrale Lösung für ein aus der Sicht einzelner Politiker überhand neh-mendes („auf allen Strassen, in allen Eken“) Problem im ganzen Staatsgebiet liefern, mit dem das neue Gesetz auch begründet wurde. Das Schlachten von Tieren musste im öffentlichen Raum stattfinden, das heißt an genau bezeichneten und nach einheit-lich definierten Regeln betriebenen Orten. Nur so konnten die helvetischen Beamten vor Ort die Metzgereiprodukte angemessen kontrollieren. Die Regierung wollte in alleiniger höchster Kompetenz die Qualität der Lebensmittel überwachen. Sie dämmte mit dieser Maßnahme Seuchengefahren ein und setzte die Einhaltung von Hygienestandards durch. Diese Form der Kontrolle und Lebensmittelsicherung, vor allem für die arme Bevölkerung, war im Interesse des sich auch in anderen Bereichen des Alltags als zentrale Instanz etablierenden radikalen Staates, der in dieser Form Herrschaftsrechte ausübte und sich an damals zentralen Fortschrittsdiskursen über Hygiene, Gesundheit und Ernährung orientierte.

Anders 1808. In diesem Jahr ging die seit der Kantonsgründung fünf Jahre zuvor nun kantonal-souveräne Regierung explizit auf die Besonderheiten jüdischer Kultur in ihrem Kanton ein. Der Kleine Rat wies eine Einsprache Klingnauer, Badener und Zurzacher Metzgermeister ab, die damit erneut erwirken wollten, dass den Surbtaler Juden künftig verboten werde, selbst zu schlachten und Fleisch zu verkaufen. Der Rat nahm die jüdischen Speisevorschriften explizit in Schutz: Die jüdische Bevölkerung, so der Rat, solle das Recht haben, ihren Vorschriften gemäß Tiere zu schlachten und auch Fleisch zu verkaufen. Aber sie müssten dies zentral in öffentlichen Fleischbänken tun und nicht gewissermaßen privat, indem der Schochet wie ein Störmetzger zu den Besitzern des Viehs kam. Dieser Beschluss zeugt von zumindest rudimentärer Kenntnis und gewissem Respekt vor jüdischen Lebens- und Essgewohnheiten. Doch war dies auch kein selbstloses Urteil. Es ging bei diesem Beschluss nicht nur um die Surbtaler Gemeinden, es ging auch um den Staat, den seit fünf Jahren souveränen Kanton Aargau. Mittels seiner Antwort setzte der Rat das Prinzip grundsätzli-cher Einsehbarkeit von Praktiken des Alltags durch; hier wurde gewissermaßen der Schutz kultureller Eigenheiten zum Preis von deren öffentlicher Offenlegung einerseits und deren Anbindung an staatliche Diskurse andererseits gehandelt: Die jüdischen Schächter oder Metzger wurden in ihrem Recht geschützt, weiterhin in ihren Gemeinden zu schächten; aber dies war ihnen aus Gründen der Hygiene,

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nicht aus Gründen der Wettbewerbskontrolle, von nun an nur in einer öffentlichen Fleischbank erlaubt, sofern es kein Schlachten für den Eigengebrauch war.

Der letzte Paragraf der im Anschluss an den Ratsbeschluss verabschiedeten Schlachtordnung wirft ein helles Licht auf die staatlich gewünschte Praxis des Fleischverkaufs und die damit verbundene sozialpolitische Absicht des liberalen Gesetzgebers:

„5. endlich ergibt sich hieraus von selbst, dass den Juden, so wie den übrigen Kantonsbewohnern auf das strengste verbotten ist, mit Fleisch zu hausiren, das heisst, das Fleisch selbst, oder durch die ihregen oder durch eigens hiezu bestellte Leute zu vertragen, oder vertragen zu lassen, bey Strafe der Konfiskation des Fleisches zu Handen der Armen jenes Orts, wo das Fleisch in Beschlag genohmen wird, und bey Verhängung (?) weiterer korrektioneller Strafe, welche im Wiederholungsfall das Bezirksgericht zu verfügen hat.

Wobey es aber den Bewohnern der benachbarten Ortschaften unbenommen bleibt, von den Juden an ihren öffentlichen Fleischbänken Fleisch zu kaufen, und solches daselbst abzuholen, oder durch die ihren, oder durch einige Botten daselbst abholen zu lassen; in welch‘ letzterem Fall aber die Fleischbestellung durch einen mit Datum, Ort und der Unterschrift des Bestellers versehenen Schein, worin zugleich die Gattung und Quantität des bestellten Fleisches angemerkt seyn soll, gehörig ausgewiesen werden muss; widrigenfalls das vertragene Fleisch der Confiscation unterliegt.“200

Einerseits verweist diese Bestimmung auf eine zuvor geübte oder zumindest bekannte Praxis. Andererseits schränkt sie die Kundschaft jüdischer Metzger sozial und geografisch stark ein. Wer gleich um die Ecke wohnte, konnte selbst zum jüdi-schen Metzger gehen und kaufen, was er benötigte, sofern er nicht aus Loyalität an einen anderen Metzger gebunden war. Aber wer konnte eine Bestellung schreiben und anschließend einen Boten bezahlen, der in Lengnau und Endingen das Fleisch abholen ging? Damit dürfte das Fleisch aus den jüdischen Fleischbänken das Preisniveau der christlichen Metzger überstiegen haben. Die staatliche Vorschrift versuchte, den Fleischverkauf auf dem Land zu professionalisieren, kontrollier- und einsehbar zu machen, ihm eine offizielle Form zu geben und damit sowohl Verkäufer wie Kundschaft durch (potentielle) Kontrolle Sicherheit zu vermitteln. Wer sich in der Praxis tatsächlich an diese umständliche, bürokratische Vorschrift gehalten hat, bleibt offen. Sie deutet aber darauf hin, dass die Regierung wohl um die Beliebtheit des günstigen Schächtfleisches wusste und dass sie insbesondere der weniger vermö-genden ländlichen Bevölkerung diese Möglichkeit nicht nehmen wollte. Denn sonst hätte sie jüdischen Metzgern den Fleischhandel auch gänzlich untersagen können. Interessierten Hausfrauen und Hausvätern wird zweifellos ein praktikabler Umgang

200 StAAG, DEP.GA-0030/0001, Kleiner Rat an Bezirksamt Zurzach, 27.4.1809. (Unterstrei-chung im Original)

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mit diesem Paragrafen eingefallen sein. Denn danach wurde es für fünfzig Jahre still um dieses Thema.

Das heißt jedoch nicht, dass es gar keine weiteren Nachrichten aus den jüdischen Dorfmetzgereien gegeben hätte. Gerade die Metzgerei war, wie die beiden oben besprochenen Beispiele bereits zeigen, ein geeigneter Ort und Ausgangspunkt, um Fremdheit wie Autoritätsansprüche zu formulieren. 1865 wurde die jüdische Metzgerei als Thema erneut lanciert.201 Während es jedoch 1800, als in den helveti-schen Diskussionen ebenfalls eine Form von Fremdheit formuliert worden war, noch um die Gegensatzpaare ‚aufgeklärt‘ versus ‚rückständig‘, ‚hygienisch‘ versus ‚eklig und gesundheitsschädigend‘, um ‚Stadt‘ und ‚Land‘ gegangen war, war die 1865 formu-lierte Fremdheit spezifischer, was auch mit dem Ort der Handlung zusammenhing. Nur knapp drei Jahre nach der intensivsten Phase in der Auseinandersetzung über das jüdische Orts- und Staatsbürgerrecht,202 beschloss der Endinger Gemeinderat, den Betrieb des jüdischen Schlachthauses in Form einer verbindlichen Anweisung zu regeln. Das Dokument kann nicht ohne Wissen um diesen Konflikt gelesen werden, der vom Kampf um kommunale Autorität und von Debatten um affir-mative ‚eigene‘ und attributive ‚fremde‘ Identität geprägt war. Das Schreiben über die jüdische Metzgerei spiegelt sowohl einen Konflikt als auch das Bedürfnis nach Unterscheidung wider. Hier grenzte sich der Gemeinderat im Namen der christlichen Mehrheit von der jüdischen Mitbevölkerung ab, was sich anhand der Formulierung dieser Vorschriften gut nachzeichnen lässt:

Die ersten drei von insgesamt sieben Vorschriften befassen sich mit der Inneneinrichtung des Schlachthauses. So sollen beispielsweise ein hermetisch ver-schließbarer Behälter für Schlachtabfälle angeschafft und die notwendigen Geräte besser gepflegt werden. Die Punkte vier und fünf handeln explizit davon, dass das Schächten öffentlich, also jederzeit von außen einseh- und kontrollierbar geschehen müsse, und verweisen zugleich darauf, dass diese Einsichtnahme durch christliche Nachbarinnen und Nachbarn bereits geschehe:

„4. ist allen Privaten, dem Schlächter und den Metzgern ins besondere anzuzei-gen, dass nach Abthun von Thieren aller Art, Geflügel nicht ausgenommen, gehörig aufgeräumt werde; der Abgang an geeignete Orte gebracht werde auf dass nicht überall Köpfe, Füsse, Gedärme und Federn herumliegen, so wie auch das tägliche Kopfabschneiden und Abreissen von Geflügel auf öffentlicher Strasse unterbleiben soll.

201 StAAG, DEP.GA-0030/0002, Gemeinderat Endingen an Vorsteherscha! Endingen, 22.6.1865.

202 Siehe das Kapitel: Postkartenansichten, ausführlich im folgenden Kapitel: Grenzwerte.

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5. möchten sie allen Metzgern und Privaten kund thun, dass, was sehr oft geschieht, das zu schlachtende Stük stundenlang schon mit gebundenen Füssen gefällt ist, bevor der Schlächter nur auf dem Platze sich befindet, unterbleiben soll.“203

Die Regeln zur Neuordnung des jüdischen Schlachthauses beschreiben einen jüdi-schen Raum im Endinger Alltag, der als solcher zunächst kenntlich gemacht, dann abgewertet und zuletzt von der nicht explizit dargestellten, aber als Gegenentwurf zum Geschriebenen verstandenen christlichen Dorfordnung ausgegrenzt wird. Es war ein Raum, der im ersten Teil des Textes olfaktorisch definiert ist: Das jüdische Schlachthaus verbreite Gestank. Hinzu kam die Wahrnehmung durch ein weite-res Sinnesorgan, die Ohren: Die Gemeinderäte beschwerten sich über Geräusche, welche die Schlachttiere machten. Diese beiden Beschwerden definierten den jüdi-schen Raum hauptsächlich als einen sinnlich wahrnehmbaren. Dieser Raum wird im zweiten Teil, insbesondere Punkt vier, zu einem eindeutig und in deftigen Worten geschilderten fremden Raum, der ein ästhetisches Problem und eine gesundheitli-che Bedrohung darstellte. Punkt fünf sagte den Juden implizit Tierquälerei nach, ein Topos der gegen Ende des Jahrhunderts immer mehr an Gewicht gewonnen hat.204 Gesundheitspolitische Vorschriften und moralisches Recht sind in diesen Formulierungen auf Seiten der christlichen, Endinger Gemeinde angesiedelt, deren Repräsentanten diese Ordnung definierten und mit dem sprachlichen Habitus einer übergeordneten Behörde an die jüdischen Gemeindemitglieder kommunizierten. Ordnung zu setzen und durchzusetzen war auch in diesem Beispiel ein räumliches Phänomen.

Wer Regeln formuliert, performiert Herrschaft. Diese Vorschrift leistete noch mehr als das: Sie erzeugte im Namen von Sicherheit und Ordnung auch eine Grenze. Die weiter unten ausführlich zitierte gemeinderätliche Beschreibung ekelerregender Zustände war in diesem Augenblick nicht allein gutgläubiger Ausdruck einer not-wendig gewordenen Sanitätspolitik, vielmehr war sie Teil einer Strategie kulturellen Fremdmachens und damit Mittel zum Zweck in der damaligen Auseinandersetzung. Die Beschreibung des jüdischen Schlachthauses wurde zum Prisma, das ein Bild von ‚der Judenschaft‘ erzeugte, die unter hygienisch zweifelhaften und verantwortungs-los-rückständigen Bedingungen Tiere auf grausame Weise schlachtete, was sie zu kulturell Unterlegenen machte und deren politische Unterdrückung legitimierte. Diese partikulare und lokal bedingte Darstellung wurde durch die in jenen Jahren

203 StAAG, DEP.GA-0030/0002, Gemeinderat Endingen an Vorsteherscha! Endingen, 22.6.1865.

204 Das (erste) Aargauer Tierschutzgesetz von 1854 schrieb vor, dass Tiere vor dem Schlachten durch einen Schlag auf den Kopf getötet werden müssten. Nach Protesten der jüdischen Ge-meinden erließ die Regierung 1855 ohne langes Zögern ein Sondergesetz für die Surbtaler Gemeinden, welches ihnen das Schächten erlaubte. Damit, so Mesmer, „wurde […] in der Schweiz überhaupt erst eine Schächtfrage gescha"en.“ Mesmer, Schächtverbot, 218. Siehe dazu auch die zeitgenössische Stellungnahme Meyer Kayserlings: Kayserling, Schächten.

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aufkommende gesamtschweizerische Diskussion um das Schächten verstärkt, die, wie die Historikerin Beatrix Mesmer zeigt, ein ganzes Arsenal an antijüdischen Bildern zu aktivieren vermochte.205

Das letzte Beispiel handelt wieder auf staatlicher, mittlerweile bundesstaatlicher Ebene. Das 1893 durchgesetzte Schächtverbot war das erste Volksbegehren, das in der Schweiz zur Abstimmung kam, in dem eine Teilrevision der Bundesverfassung verlangt wurde.206 Das später als Artikel 25bis in die Verfassung aufgenommene und auch heute noch gültige Verbot schränkte die erst knapp zwanzig Jahre früher ange-nommene, national anerkannte Kultusfreiheit der jüdischen Bevölkerung wieder ein. Die Vorbereitungen, den Wahlkampf und die Argumentationslinien verschie-dener Akteure hat die Historikerin Beatrix Mesmer detailliert nachgezeichnet und analysiert.207 Auch in diesem Fall ging es um Fragen der Autorität. Doch diesmal stand nicht die staatliche Hegemonie im Zentrum, es ging um einen Beweis plebiszi-tärer Macht.208 Auch in diesem Fall beschworen Angehörige einer Interessengruppe Bilder und Stereotypen von ‚Juden‘ herauf, was deren politischer Profilierung diente und zum Element einer gesamtschweizerischen Auseinandersetzung um so etwas wie nationale Identität wurde. Zu Recht verweist Beatrix Mesmer auf die zeitgleich in den Fokus einer wachsenden Öffentlichkeit gelangende Einwanderung ostjüdischer Migrantinnen und Migranten, wobei dieser Kontext vermutlich noch mehr Gewicht hatte, als Mesmer ihm einräumt.209 Deren Ankunft beziehungs-weise die Erwartungshaltung, welche Folgen diese Einwanderung haben würde, löste in der Schweizer Öffentlichkeit wie in den Beamtenstuben emotionale Diskussionen aus, die meistens in eine judenfeindliche Abwehrhaltung mündeten. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war und blieb die antisemitische Vorstellung, die Einwanderung von jüdischen Menschen aus Osteuropa „abwehren“ zu müssen, ein handlungsleitender Grundsatz für eine zunehmend restriktive Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik. Der antisemitische Strang der Debatte, die nun ausschließlich das ‚Jüdische‘ am Thema Fleisch zum Gegenstand machte, war hier sehr ausgeprägt, sicher am deutlichsten von den vier geschilderten Beispielen. Aus dem zunehmenden

205 Mesmer, Schächtverbot. 206 Mesmer, Schächtverbot, 215.207 Mesmer, Schächtverbot.208 „Sie [die Exponenten der Tierschutzvereine] waren es, die eine Volksabstimmung provozier-

ten, um zu zeigen, wer in der Schweiz das Sagen hatte.“ Mesmer, Schächtverbot, 233. Noch deutlicher: Es „lag im Verhalten der Stimmbürger auch ein Wink an ‚die hohen und höchsten Regionen der Bundesstadt’, dass sich das politische Klima geändert habe.“ Mesmer, Schächt-verbot, 234.

209 Zur Einwanderung ostjüdischer Menschen in die Schweiz siehe Kury, Man akzeptierte uns nicht. Niederhäuser/Ulrich, Fremd. Huser Bugmann, Schtetl. Erlanger/Kury/Lüthi, Gren-zen.

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Gewicht, das der Antisemitismus beim Thema Fleisch/-verkauf einnahm, lassen sich Schlüsse ziehen.

Fazit

Allen vier Beispielen ist gemeinsam, dass die Antragstellerinnen und Antragsteller, die sich von Fall zu Fall in ihrem politischen Anliegen durchaus unterschieden, den Handel mit Fleisch und die Herstellung von Metzgereierzeugnissen im 19. Jahrhundert auf eine Weise thematisierten, dass es dabei explizit und auf den ersten Blick ausschließlich um jüdische Schächt- und Wirtschaftspraktiken ging. Worin sich die Fallbeispiele unterscheiden, ist die Rolle, welche den Juden als sprachlich-rhetorische Figur in der jeweiligen Auseinandersetzung zugewiesen wurde. Der Vergleich über fast hundert Jahre zeigte, dass das abwertend gemeinte Etikett „jüdisch“ in den dargestellten Diskussionen über Fleisch den Zurzacher Metzgern 1800 noch keinen Vorteil verschaffte, ganz im Gegensatz zu den Tierschutzvereinen, die Ende des 19. Jahrhunderts dank antisemitischer Stereotypen einen politischen Erfolg verbuchen konnten. Dies hatte mit dem sich verändernden gesellschaftlichen und politischen Kontext zu tun, in dem antisemitische Bilder zunehmend akzeptabel wurden. Der Erfolg hing außerdem damit zusammen, dass das Anliegen in einem ganz anderen politischen System verhandelt wurde. 1800 diskutierten nur helveti-sche Politiker über das Thema, während 1893 die ganze Stimmbevölkerung in die Debatte miteinbezogen wurde. Das Etikett jüdisch wurde zum immer erfolgreiche-ren Mittel, um öffentlich Stimmen zu mobilisieren und Anliegen durchzusetzen. Diese Feststellung eröffnet einen weiteren Zusammenhang: Welche Funktion hatte die Strategie, das Schächten und den Fleischhandel negativ darzustellen und als gera-dezu typische jüdische Geschäftstätigkeiten zu kennzeichnen, für diejenigen, die sich ihrer bedienten? Ich habe in diesem Zusammenhang von Identifikationsprozessen gesprochen, weil es insbesondere in den Debatten seit der Jahrhundertmitte neben den Sachthemen den judenfeindlich Argumentierenden immer auch um Schlacht- und Ernährungspraktiken ging, die verallgemeinert als ‚eigene‘ von ‚fremden‘ kulturellen Eigenschaften unterschieden wurden, wobei Vorstellungen von kultu-reller Eigenheit und Einheit im Zentrum standen. Das Thema Fleisch eröffnete den Sprechern Identifikationsräume, die sich anhand solcher Argumentationslinien und Sprachbilder analysieren lassen.

Ein weiteres Motiv der zitierten Beispiele war die Verbindung des Themas Fleisch mit Fragen von Macht: In zwei Beispielen ging es um staatliche, in einem Beispiel um kommunale beziehungsweise an politische Interessengruppen gebundene und letztlich plebiszitäre Macht. Die jüdische Kultur war auf staatlichen Schutz ange-wiesen und dieser Schutz wiederum war an die Durchsetzung staatlicher Macht gekoppelt. Dies lässt sich insbesondere in der ersten Hälfte des Jahrhunderts

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vor dem Hintergrund politisch liberalen Gedankenguts zeigen. Damals räumten die Regierungsvertreter dem judenfeindlichen Argument keinerlei Platz ein und nahmen stattdessen die gesamtgesellschaftliche Situation in den Blick, wo sie ihre hegemonialen Strukturen über Hygiene- und Wirtschaftsdiskurse vermittelt durch-zusetzen versuchten. Zwar ging es auch 1893 um Fragen von Macht und um das Verhältnis zwischen Staat und Bürgerschaft, das aber nun auf einer antisemitischen Folie ausdifferenziert wurde. Gerade dass es den Tierschützergruppen gelang, den staatlichen Schutz jüdischer Kultur aufzubrechen, war das intendierte Zeichen von Stärke einer sich mit antisemitischen Stereotypen explizit gegen den Staat profilie-renden neuen Interessengruppe. Strategien wie diese, die den Kontakt vor allem als ‚Grenzausscheidungsprozess‘ sichtbar werden lassen, sind Teil von Kontaktzonen und aus diesem Grund Thema des nächsten Kapitels.

3.7 Zusammenfassung: Geografien des Kontakts – Geografien der Identität

Ausgehend von der Frage, inwiefern sich Alltagspraktiken als räumlich erkennbares Handeln analysieren lassen und damit die lückenhafte schriftliche Überlieferung ergänzt werden kann, plakativer ausgedrückt: inwiefern Kontaktzonen Kontaktzonen waren, erwies sich die Unterscheidung Michel de Certeaus von Räumen und Orten als passender Schlüssel im Sinne Michel Serres.210 Dabei ging es in diesem Kapitel zum einen darum, tatsächliche soziale Überschneidungen der beiden Religionsgruppen im dörflichen Alltag sichtbar zu machen und damit der Vorstellung entgegenzu-treten, es habe sich dabei um eine segregierte Gesellschaft gehandelt. Zum ande-ren haben diese Räume und Orte anhand von Beispielen die Möglichkeiten der historiographischen Untersuchung quellenkritisch ergänzt und das Konzept von Kontaktzonen konkretisiert und erweitert. Die Beziehungen zwischen Räumen und Orten erlaubten es, eine Topografie des Kontakts zu beschreiben, und die Wahl der Untersuchungsanlässe machte es möglich und nachvollziehbar, Kontakt als räumli-ches Phänomen zu untersuchen. Der Gewinn dieser Herangehensweise ist deutlich, denn die dabei ins Blickfeld geratenden Mikropraktiken gaben erste Einsichten in bislang „unterbelichtete Räume“ des dörflichen Alltags und verändern das über-lieferte Bild der Lengnauer und Endinger Gesellschaft.211 Diese Räume werden im Folgenden noch einmal kurz rekapituliert und aufeinander bezogen. Allerdings ist es notwendig, sich zum Schluss noch einmal Gedanken über die mögliche Aussage zu machen, die im Nachweis solcher Kontakte enthalten ist. Dabei drängt sich ein

210 Siehe Motto und Ausführungen im Kapitel: Postkartenansichten.211 Ott, Raum, 142.

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kritischer Seitenblick auf ein Konzept auf, das im Zusammenhang mit Kulturkontakt im Rahmen postkolonialer Theorie und Forschung wichtig ist und auch bereits im Einleitungskapitel Postkartenansichten kurz angesprochen worden ist: die Vorstellung hybrider Kulturen.

Schichten

Es gab Tage, da hörte man in Lengnau – manche sagten: im ganzen Surbtal – früh-morgens die lang gezogenen, rhythmischen Hornstöße des jüdischen Widderhorns und etwas später am selben Tag eine der sechs Glocken von St. Martin. Es spielte keine Rolle, ob die jeweils ‚anderen‘ die Bedeutung der konkreten Klangfarbe oder des entsprechenden Rhythmus entziffern konnten. Aus der Binnenperspektive derjenigen, denen dieser Klang etwas sagte, war in diesem Augenblick die Tatsache entscheidend, dass es ihre Klänge waren, die sich nun durch das Surbtal zogen, als Signifikanten der eigenen Präsenz, mit denen ein temporärer Anspruch auf eben diesen Raum erhoben wurde. Hornklang und Glockengeläut – aus diesen beiden Elementen besteht die erste in diesem Kapitel beschriebene Schicht des jüdisch-christlichen Kontakts in Lengnau.

Klänge sind nicht neutral. Sie sind ein heikler Bereich der Öffentlichkeit. Vielen Menschen stockte Ende der 1990er Jahre in Duisburg der Atem bei der Vorstellung, ein Muezzin könnte frühmorgens seinen Gebetsruf durch ihre Stadt erklingen lassen.212 Im 18. und 19. Jahrhundert waren es solche klanglichen Marken jüdi-scher Präsenz und Religiosität in mehreren von Jüdinnen und Juden bewohnten Gemeinden Süddeutschlands, die von der christlichen Mehrheit als problematisch wahrgenommen und bekämpft wurden. In Lengnau und Endingen bot das Thema allerdings keinen Anlass zu Diskussionen oder Beschwerden. Es war somit keine Selbstverständlichkeit, dass Lengnau, zumindest im Bereich des Klanglichen, Platz bot für zwei unterschiedliche, parallele kulturelle Zeichensysteme und das heißt auch Lebensgewohnheiten. Diese Räume kultureller Zugehörigkeit waren wichtige Bestandteile der Surbtaler Kontaktzone, die nach innen Zugehörigkeit vermitteln konnten und die von außen als fremd erkennbar waren, aber nicht bekämpft wur-den.213

Nicht nur Klang, auch Zeit schafft Räume. Das, was die jüdischen, katholischen und protestantischen Lengnauerinnen und Lengnauer zu bestimmten Zeiten im Dorf taten – Laubhütten bauen, nicht über bestimmte symbolische Grenzen hin-

212 Dietzsch/Jäger, Muezzin. Ausserdem Corbin, Sprache der Glocken, 401–419.213 „[…] social and intellectual spaces where groups can constitute themselves as horizontal, ho-

mogeneous, sovereign communities with high degrees of trust, shared understandings, tem-porary protection from legacies of oppression.” Pratt, Arts.

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ausgehen, sich sonntäglich gekleidet oder in Arbeitshosen feiertäglich-gemächlich bzw. werktags-geschäftig durchs Dorf bewegen –, veränderte das Dorf sichtbar und machte es zu einem unverwechselbaren Ort. Lengnau war nicht jüdisch oder christlich. Lengnau, das ‚Judendorf ‘, wurde für Außenstehende wie Bewohner daran erkennbar, dass dort gleichzeitig ganz unterschiedliche kulturelle Räume bestanden: Lengnau am Samstag war nicht dasselbe Lengnau am Sonntag oder Mittwoch. Lengnau am Samstag oder Sonntag unterschied sich wahrnehmbar von Klingnau oder Aarau an denselben Tagen.

Zeit schafft auch Räume für Kontakte: Die Lengnauer, Freyenwyler und Endinger Wirtshäuser waren sonntags so gut besucht wie sonst nie unter der Woche. In den Wirtsstuben saßen Juden und Christen, die an diesem Tag Geschäfte anbahnten, abschlossen, abbrachen, Geld liehen oder Schulden stundeten. Der Schankraum war sonntags sozial und kulturell anders genutzt, die Dorfbevölkerung anders repräsen-tiert als unter der Woche. Der Sonntag war in Lengnau Kontaktzone, ein Grenztag zwischen Arbeit und Andacht, und er bot seinen Bewohnerinnen und Bewohnern Anlass, Unterscheidungskriterien zwischen jüdischer und christlicher Religion, zwi-schen protestantischer und katholischer Konfession zu aktualisieren.

Raum entsteht dort, wo sich Bewegungen kreuzen (Michel de Certeau) – und Bewegung war in und um Lengnau viel. Die beiden Abschnitte „Traditionen“ und „Bewegungen“ zeigten Juden, Katholiken und Protestanten mit ihren Frauen und manchmal auch Kindern in vielerlei Bewegung. Einen Teil der Bewegungen führten die Dorfbewohnerinnen und –Bewohner selbst aus: Sie bewegten sich zu ganz bestimmten Zeiten auf eine besondere Weise im Dorf. Die katholische Dorfbevölkerung nahm mehrmals im Jahr an Prozessionen durchs Dorf oder über die Felder teil, und auch die jüdische Bevölkerung brachte ihren Glauben im dörflichen Rahmen zum Ausdruck, wodurch ein ihr eigener Raum entstand. Die Jugenderinnerungen des Schweizers Emil Dreyfus an den Raub der Chaleter bestätigen, was auch anhand der Analyse der Lengnauer Klangschichten deutlich wurde: Die durch die alltäglichen Praktiken entstehenden jüdischen und christlichen Räume existierten in Lengnau parallel zueinander, waren jedoch nicht ausschließlich. Vielmehr ließen sie Kontaktzonen entstehen, die individuell unterschiedlich genutzt werden konnten.

Besonders deutlich wurde dies am Beispiel einer weiteren raumbildenden Bewegung, nämlich derjenigen, welche die jüdische Ökonomie hervorbrachte.214 Das Wandern und Handeln der jüdischen Vieh- und Warenhändler erzeugte eine neue Art ökonomischer Geografie, die so genannten Medinot. Die so bezeichneten indi-

214 Dies ist nicht ausschließlich gemeint, auch christliche Vieh- und Wanderhändler oder nicht-sessha!e Gesellscha!en brachten durch ihr Wandern Räume hervor. Mir geht es hier jedoch aufgrund der gesellscha!lichen Konstellation im Dorf hauptsächlich um die jüdische im Un-terschied zur dör%ichen katholischen Bewegung.

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viduellen Handelsgebiete einzelner jüdischer Händler waren von Glaubensgenossen und Wirtschaftskonkurrenten akzeptiert und bei christlichen Kundinnen, Kunden und Nachbarn in groben Zügen bekannt. In diesen Räumen zirkulierten Waren oder Kleidermoden, aber auch Gerüchte und Informationen.

Schließlich ist in „Geografien des Kontakts“ auch die Bewegung ins Dorf hinein thematisiert, welche durch den Zuzug von jüdischen Ehefrauen, Lehrern und Rabbinern das ganze Dorf mit außerhalb liegenden sozialen und kulturellen Räumen verknüpfte. Das konnte sowohl durch ländliche elsässische oder süddeut-sche Menschen und Traditionen als auch durch Sprach-, Koch- und Gedankenwelten des jüdischen Berliner Bürgertums geschehen, die Einzug ins Surbtal hielten.215 Es waren für sich genommen lauter kleine, meist unscheinbare Bewegungen, doch solche, welche das Dorf in mikrofeinen Schritten zu verändern vermochten, sodass es einen für diese Gegenden ungewöhnlichen, „städtischen Charakter“ erhielt, wie ihn Andreas Müller in seinen Jugenderinnerungen nannte.

Orte

Türen sind im Sinne Michel de Certeaus Orte. Häuser mit Doppeltüren gelten heute als typisch für Lengnau und Endingen. Diese Türen seien da, erzählt man sich im Dorf, und so wird in der einschlägigen Historiographie berichtet, weil es ‚Juden und Christen damals verboten war, unter einem Dach zu wohnen‘. Hat ein Haus einen solchen Doppeltüren-Eingang, so wird heute außerdem darauf hingewiesen, dass es sich hierbei um ein ehemaliges ‚Judenhaus‘ handele. Die Doppeltüre ist ein ambivalentes Ding. Sie wird als Symbol für Segregation gezeigt und zugleich steht sie in ihrer architektonischen Realität für das faktische Zusammenleben von Juden und Christen. Und obwohl sie auf das Zusammenleben von Juden und Christen deutet, wird sie dennoch nur der jüdischen Bevölkerungsgruppe zugeschrieben. Bisherige Arbeiten über dieses Thema gehen von diesen lokalen Erinnerungen aus und begründen sie mit der Auslegung normativer Texte. Auch wenn Gesetze dem Alltag tatsächlich einen starken Rahmen geben, kann man in Lengnau Norm und Alltag so eins zu eins verbinden? Die kulturwissenschaftliche Analyse baulicher Traditionen und statistische Auswertung von Bevölkerungs-Zähllisten aus dem 18. und 19. Jahrhundert ergab, dass Mehrfamilienhäuser und die damit verbundenen Doppeltüren an sich keine unmittelbare Folge judenfeindlicher Anweisungen sind, sondern Ausdruck beengter ökonomischer und sozialer Verhältnisse im Surbtal. Ursprünglich gehörten diese Häuser vorwiegend christlichen Hausgemeinschaften, gingen dann aber gegen Ende des 19. Jahrhunderts nach und nach in jüdischen Besitz über. Denn es war erschwinglicher, statt eines ganzen Hauses nur einen Hausteil zu

215 Dies ausführlicher im Exkurs zu diesem Kapitel.

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erwerben, wie er aufgrund von Erbteilungen auch erhältlich war. Nachdem die jüdi-sche Bevölkerung nicht mehr in diesen Häusern wohnte, wurden die Doppeltüren erklärungsbedürftig. Der Ort, die Türe, wurde zur Metapher für jüdisch-christlichen Kontakt in der Vergangenheit und ein Element heutiger dörflicher Identität. Aus der attributiven (‚Judenhaus‘/sie) wurde nach dem Wegzug der meisten jüdischen Lengnauerinnen und Lengnauer eine affirmative Identifikation: ‚Lengnau erkennt man an den Doppeltürenhäusern‘/wir.

Kontaktzonen und hybride Räume

Lengnau ist bekannt für seine St.-Martins-Kirche. Sie ist die älteste Kirche im Surbtal und gehört zu den ältesten im ganzen Kanton. Doch ihr hohes Alter ist nicht ihre bekannteste Besonderheit: Auf der glockenreichen Turmspitze von St. Martin ist kein Kreuz errichtet, wie das für katholische Kirchen sonst üblich ist. Sie wird abge-schlossen durch zwei neutrale (Wetter-)Fähnchen. Sechs Glocken, aber kein Kreuz – das Fehlen des Symbols wirft Fragen auf und wird selbst zum möglichen Zeichen. Gibt es einen Zusammenhang zwischen dieser Abwesenheit und der Tatsache, dass sich zur selben Zeit, als der Turm auf seine heutige Größe erhöht wurde, die Zahl der jüdischen Einwanderer in Lengnau merklich zu steigen begann?

Endingen hingegen hat keine Kirche.216 Das einzige Gotteshaus am Ort – eine Tatsache, die immer wieder als Endinger Spezialität hervorgehoben wird – ist die Synagoge. Während die Lengnauer Kirche durch das Fehlen eines wichtigen Symbols auffällt, verdankt sich solche Aufmerksamkeit im Fall der Endinger Synagoge einem Überschuss. Denn diese unterscheidet sich deutlich von den meisten anderen jüdischen Gotteshäusern im süddeutschen und Bodenseeraum: Sie verfügt über eine Glocke im Giebel und eine Uhr. Diese zwei Elemente zeichnen in der Regel einen Kirchturm aus, zwei zentrale Orientierungspunkte nicht nur im religiösen, sondern auch im säkularen dörflichen Alltag. War die Form der Endinger Synagoge ein Zeichen für die kulturelle Nähe zwischen protestantischer und jüdischer Dorfbevölkerung, eine Reminiszenz an die christliche Mehrheitsgesellschaft, wie das von der einzigen anderen bekannten Synagogenglocke in diesem Gebiet, in Buchau, gesagt wird?217 Sind Fähnchen, Glocke und Uhr mit heutigen Worten aufregen-de Belege für die Hybridität, die kulturelle Vermischung der jüdisch-christlichen Dorfkulturen im Surbtal? Kann dadurch die Annahme revidiert werden, „dass es

216 Hier gilt es darauf hinzuweisen, dass in Unterendingen eine Kapelle stand, die für Gottesdien-ste benutzt werden konnte, ebenso wie sich auch in der näheren Umgebung Kirchen befan-den.

217 Lowenstein, Jüdisches religiöses Leben, 224.

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eine dominierende Kultur und dazu periphere Kulturen gibt“, um stattdessen davon auszugehen, dass Kulturen von einer „Vielzahl von Identitäten“ geprägt sind?218

Dieser Anspruch ist historiographisch und politisch wichtig, die nachgefragte und angenommene Vermischung konkret zu zeigen bleibt jedoch schwierig. Der wichtigste Einwand gegen das Konzept der Hybridität lautet, dass der Begriff und die damit verbundene Forschungsperspektive eine Homogenisierung der kulturellen Beiträge voraussetzen muss, um eine Mischung überhaupt erkennbar machen zu können. Dabei ist es auf der anderen Seite genau diese Haltung, der das postkoloniale Konzept entgegenzutreten sucht: der Homogenisierung und Essentialisierung von Lebensweisen als einer einzigen „Kultur“.

Einige Elemente der Lengnauer Dorfkultur wie Sprache, Kleidung und Essen weisen zwar durchaus in die Richtung einer nachhaltigen ‚Vermischung‘, und es ist kein Zufall, dass dies in denselben Bereichen sichtbar wird, die auch in der einschlä-gigen Literatur zum Begriff Hybridität bevorzugt als Beispiele genannt werden: Sprache/ Literatur und Ernährung.219 Tatsächlich lässt sich nachweisen, dass auch christliche Endingerinnen und Endinger, Lengnauerinnen und Lengnauer das Surbtaler Jiddisch sprachen, dass im lokalen Aargauer Dialekt jiddische Ausdrücke vorkommen, ebenso wie das Surbtaler Jiddisch über Worte verfügt, die eindeutig der dortigen Mundart entstammen.220 Doch dem Wunsch, den „fleeting, shifting, and emergent character“ des dörflichen Alltags in der kulturellen Okklusionszone nach-weisen zu können, und die „creative articulations of practices“, die aus diesem Kontakt fast zwangsläufig resultieren, sichtbar zu machen, sperren sich die überlieferten Materialien.221 Auf dem Lengnauer Kirchturm stehen zwei neutrale Wetterfähnchen und die Endinger Synagoge hat sowohl eine Glocke als auch eine Uhr. Das ist zweifel-los bedeutsam. Doch es ist unklar, wie diese Tatsachen zu interpretieren sind, in wel-chem Zusammenhang sie mit den besonderen Verhältnissen im ‚Judendorf ‘ standen. Die zahlreichen Prozessionen, die Gründung einer Rosenkranzbruderschaft 1666,222

218 Hödl, Jüdische Studien, 9.219 Nunning, Literatur- und Kulturtheorie, 438. Ackermann, Eigen und %emd, 140 und 143.220 Siehe Abschnitt Kontaktzonen und hybride Räume über „Härdöpfel-Dünne“, Frenkel, Achile.

Auch Bollag/Weibel, Endinger Jiddisch, z.B. der „Tschopen“, ein lokaler Mundartausdruck im Jiddischen. Jiddische Ausdrücke im Aargauer Dialekt: Hunziker, Aargauer Wörterbuch. Es wurde mir auch erzählt, dass junge Lengnauer und Endinger noch im 20. Jahrhundert im Militärdienst untereinander Surbtaler Jiddisch sprachen, damit sie von den übrigen Rekruten und Vorgesetzten nicht verstanden würden. Jiddische Ausdrücke sind auch heute noch in den beiden Dörfern präsent.

221 Lavie/ Swendenburg, Geographies of Identity, 17 und 15.222 Zur Gründung und Funktion: Meyer, Pfarrer, 14, sowie KAL, Rosenkranzbruderscha! 1666,

dort auch Mitgliederverzeichnis, ebenso in KAL, Marianische Rathsverhandlungen (Rosen-kranzbruderscha!sakten) 1769–1858 und Marianische Rathsverhandlungen (Rosenkranz-bruderscha!sakten) 1859–1924. Die Rosenkranzbruderscha!en wurden 1475 durch eine

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die Formulierung und strenge Überwachung sonntäglicher Verbote, die vier nach den Villmerger Kriegen an den Haupteingängen des Dorfes angebrachten Kreuze und all die anderen in diesem Kapitel besprochenen Elemente gelebter Religiosität machen deutlich, dass die Vertreter der katholischen Kirche und ihre Gläubigen mit großem Ernst öffentlichen Raum beanspruchten und gestalteten; ein Ernst, der mit Toleranz oder gar Vermischung wenig zu tun hatte. Im Gegenteil: Er sollte vor allem eigene Präsenz sichern und sichtbar machen. Die Anwesenheit der jüdischen Bevölkerung war Anlass, gelebte religiöse Kultur als ‚eigene‘ zu festigen. Die räumli-chen Praktiken der Katholikinnen und Katholiken richteten sich primär identitäts-stiftend nach innen. ‚Außen‘ verorteten sie jedoch nicht hauptsächlich die jüdische Bevölkerung, sondern die protestantische, gegen die sich die katholische Bevölkerung bei zahlreichen Anlässen – handgreiflich wie symbolisch – abgrenzte. Ähnlich ist die Lage der jüdischen Gemeinde zu beschreiben, die starke innergemeindliche Auseinandersetzungen in der Folge der jüdischen Aufklärung (Haskala) durchzuste-hen hatte, deren als zentrifugal wahrgenommener Kraft die Gemeindemitglieder auf unterschiedliche Weise entgegenzuwirken versuchten.223

Lengnau war kein avantgardistischer Ort hybrider Kulturen, sondern eine Kontaktzone. Das Dorf, das Surbtal, war ein Raum, in dem sich Menschen begeg-neten, die jüdische, katholische oder protestantische Glaubenssätze befolgten. Begegnung heißt nicht Verschmelzen. Aber es lassen sich signifikante Zeichen unterschiedlich intensiver Berührungen erkennen. Manchmal bestanden jüdische und katholische Räume gleichzeitig nebeneinander. Manchmal kam es zu umfassenderem Austausch, beispielsweise indem das Surbtaler Jiddisch eine geteilte, Auswärtigen unverständliche Dorfsprache werden konnte und wenn Rezepte entstanden wie die koschere „Härdöpfel-Dünne“. Einige Kontaktzonen waren durch staatliches Tun ver-mittelt, wie das etwa der nachfolgende Exkurs „Allianzen der Ordnung: Religion als Kontaktzone“ konkretisiert. In den meisten Fällen waren es jedoch stille, unauffälli-ge, nichtsdestotrotz regelmäßige Anlässe zum gegenseitigen Kontakt: Einige christli-che Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner verstanden und sprachen Jiddisch, aber nicht alle; einige verrichteten Sabbatdienste, andere kauften günstiges geschächtetes Fleisch, wieder andere saßen mit jüdischen Nachbarn in einer Wirtsstube oder sahen bei jüdischen Feiertagen zu. Einige Juden machten mit Christen Geschäfte, einige jüdische Frauen trafen sich mit christlichen Nachbarinnen beim Wäschewaschen, einer schenkte seinem christlichen Nachbarn aus Freundschaft einen Hund, ein

Gründung Jakob Sprengers, bekannt als Koautor des Hexenhammers, populär und als fröm-migkeitsgebundenes Instrument der Gegenreformation eingesetzt, das neben den religiösen wichtige soziale Funktionen erfüllte. In der Schweiz erfolgte in der ersten Häl!e des 17. Jahr-hunderts eine eigentliche Gründungswelle von Rosenkranzbruderscha!en. In den 1660er Jahren nahm die Zahl der Gründungen ab. Jäggi, Rosenkranzbruderscha!en, 98.

223 Auch dies wird ausführlich im Exkurs zu diesem Kapitel behandelt.

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anderer stellte christliche Verkaufshelfer ein und einmal verstand sich die jüdische Gemeinde mit dem katholischen Pfarrer so gut, dass sie ihm anbot, einen Vikar zu finanzieren, damit der Pfarrer trotz gesundheitlicher Beschwerden länger in Lengnau bleiben konnte. Doch nicht alle taten alles. Lengnau war nicht der Ort enger Umarmungen und permanenter Vermischung auf allen Ebenen des Alltags. Vielmehr setzte sich das Zusammenleben aus unzähligen punktuellen Kontakten zusammen, genug, um sich zu verstehen, genug, um sich fremd zu bleiben. Lengnau zeichnete sich weder durch klare Segregation und Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung aus, wie sie noch vor wenigen Jahren als Kennzeichen ihres Daseins in den aargaui-schen Dörfern beschrieben wurde,224 noch lebte die Dorfgemeinschaft ein gewolltes, reflektiertes und entschiedenes Miteinander.

224 Aram Mattioli spricht von einem „System sozialkultureller Segregation zwischen Christen und Juden“, Mattioli, So lange die Juden, 306. Siehe auch Heinrichs, Von der Helvetik.

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