Eine islamische Rechtsfrage über Entschädigungen zwischen Muslimen und Christen. Ein Beitrag zur...

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The Institute of Asian and African Studies The Max Schloessinger Memorial Foundation Offprint from JERUSALEM STUDIES IN ARABIC AND ISLAM 37(2010) Miklos Muranyi Eine Islamische Rechtsfrage ¨ uber Entsch¨ adigungen zwischen Muslimen und Christen THE HEBREW UNIVERSITY OF JERUSALEM THE FACULTY OF HUMANITIES

Transcript of Eine islamische Rechtsfrage über Entschädigungen zwischen Muslimen und Christen. Ein Beitrag zur...

The Institute of Asian and African StudiesThe Max Schloessinger Memorial Foundation

Offprint from

JERUSALEM STUDIES INARABIC AND ISLAM

37(2010)

Miklos Muranyi

Eine Islamische Rechtsfrage uberEntschadigungen zwischen Muslimen und

Christen

THE HEBREW UNIVERSITY OF JERUSALEMTHE FACULTY OF HUMANITIES

CONTENTS

Y. Friedmann and Aryeh Levin: a scholarly biography iS. Hopkins

Aryeh Levin: list of publications vii

G. Ayoub La description semantique du verbedans le Kitab de Sıbawayhi

1

I. Ferrando Sıbawayhi and the broken plural 53

K. Versteegh Pidgin Arabic and arabi sa↪ab: theinfluence of the standard language inthe history of Arabic

61

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A. Sadan The meaning of the technical termjawab in Arabic grammar

129

A. Kasher The terminology of vowels and i ↪rabin mediaeval Arabic grammaticaltradition

139

Y. Peled Sıbawayhi’s Kitab and the teachingof Arabic grammar

163

Sh. Alon The sources of Ibn Manz.ur’s Lisanal-↪arab

189

J. Blau New prepositions in mediaevalJudaeo-Arabic

201

O. Kapeliuk Some special features of Ethio-Semitic morphology and syntax: in-alienables and intimate relationshipin Amharic

207

N. Basal Mediaeval Jewish and Muslim cul-tures: an anonymous Judaeo-Arabicadaptation of Ibn Jinnı’s al-Luma↪

223

F. Corriente ↩Imalah and other phonemic andmorphological features in sub-dialectal Andalusı Arabic

265

J. Aguade The word for “nine” in MoroccanArabic and other euphemisms re-lated to numbers

275

M. Bar-Asher The Maghribı sharh. to Tractate Avot 283

M. Muranyi Eine islamische Rechtsfrage uberEntschadigungen zwischen Muslimenund Christen. Ein Beitrag zur Tex-tentwicklung und Textkritik in derMudawwana

297

REVIEWS

M. Muranyi Adam Gacek. The Arabic manu-script tradition. A glossary of tech-nical terms and bibliography

307

K. Dmitriev Georges Tamer. Zeit und Gott. Hel-lenistische Zeitvorstellungen in deraltarabischen Dichtung und im Ko-ran

315

F.S. Stewart Kurt Franz. Vom Beutezug zurTerritorialherrschaft: das langeJahrhundert des Aufstiegs vonNomaden zur Vormacht in Syrienund Mesopotamien, 286–420/889–1029. Beduinische Gruppen inmittelislamischer Zeit I

325

JSAI 37 (2010)

EINE ISLAMISCHE RECHTSFRAGE UBERENTSCHADIGUNGEN ZWISCHEN MUSLIMEN

UND CHRISTEN. EIN BEITRAG ZURTEXTENTWICKLUNG UND TEXTKRITIK IN

DER MUDAWWANA

Miklos MuranyiUniversity of Bonn

Als Ergebnis von Handschriftenstudien in den Bibliotheken von Qai-rawan und Qarawiyyın (Fes) habe ich vor zehn Jahren meine Studieunter dem Titel: Die Rechtsbucher des Qairawaners Sah. nun b. Sa ↪ıd.Entstehungsgeschichte und Werkuberlieferung publiziert.1 Wahrend ei-nes Gesprachs mit Kollegen und Freunden an dieser Universitat uberHandschriftenstudien im allgemeinen, habe ich den Begriff “archaeologyof manuscripts”, wohl ohne der eigentlichen und folgenschweren Trag-weite des Ausdruckes damals bewußt gewesen zu sein, gepragt. Zwarhabe ich die hier vorzustellende Rechtsfrage (mas↩ala), die Sah.nun inseiner Mudawwana erwahnt, in der oben genannten Studie kurz erortert(S. 70–73), halte aber eine nochmalige Beschaftigung mit ihr doch furlohnend, zumal die praktische Umsetzung von “archaeology of manus-cripts” in den genannten Bibliotheken neue Erkenntnisse uber die Ent-wicklung und Weitergabe dieses wichtigen und umfassenden Rechtswer-kes der Malikiyya gebracht hat und die folgende Rechtsfrage in textkri-tischer Hinsicht nunmehr in neuem Licht erscheinen laßt.

Den Ausgangspunkt juristischer Erorterungen innerhalb des maliki-tischen Mad

¯hab bildet die folgende Rechtsfrage, die Ibn al-Qasim einer-

seits mit einem qaul des Malik b. Anas, andererseits, in der Fortsetzungder Fragestellung, mit seinem eigenem Ra↩y beantwortet:2

qult (d. i. Sah.nun): a-ra↩ayta musliman gas.aba nas.ranıyanh˘amran / qala (d. i. Ibn al-Qasim): ↪alayhi qımatu-ha fı qawli

Malikin / qult (d. h. Sah.nun): wa-man yuqawwimu-ha / qala(d. i. Ibn al-Qasim): yuqawwimu-ha ahlu dıni-him.

1Abhandlungen fur die Kunde des Morgenlandes. Bd. LII, 3 (Stuttgart, 1999).2Al-Mudawwana, Bd. XVI, S. 75, Zeile 5–7 (Kitab al-gas.b) (Kairo: Mat.ba↪at as-

Sa↪ada, 1323 H.)

297

298 Miklos Muranyi

Malik b. Anas scheint dieser Rechtsfrage nichts hinzugefugt zu haben;denn diesen seinen Qaul uberliefert auch ein Zeitgenosse Ibn al-Qasim’s,der Agypter ↪Abd Allah b. Wahb (gest. 197/812) wahrscheinlich in sei-nem Muwat.t.a↩.

3

Eine Variante obiger Rechtsauskunft ist als modifizierender Randver-merk in einem nicht katalogisierten Fragment der Muh

˘talit.a Sah.nuns in

der Qarawiyyın-Bibliothek erhalten:

qala: yuqawwimu-ha man ya↪rifu ’l-qımata min al-muslimına/qalalı Ah. mad (d.i.b. H

˘alid): kana fı-’l-umm: qala: ahlu dıni-him.

Wa-huwa h˘at.a↩un fa-as. lah. tu-ha.

Die Korrektur des Originals (al-umm), wie es uns auch in der Druck-ausgabe der Mudawwana vorliegt, ist im andalusischen Gelehrtenkreisum Ah.mad b. H

˘alid (st. 322/934)4 somit offensichtlich. Sein Gesprachs-

partner, der als Urheber des Randvermerkes gelten durfte, konnte wegendes fragmentarischen Charakters der Handschrift nicht ermittelt werden.

Der malikitische Rechtsgelehrte und Biograph al-Qad. ı ↪Iyad. al-Yah. -s.ubı (st. 575/1177) vergleicht die Uberlieferungsvarianten dieser Rechts-frage in seinem Mudawwana-Kommentar und bezieht sich dabei aufWerkexemplare und deren Riwayat, die ihm personlich bekannt waren.In seinem at-Tanbıhat al-mustanbat.a (MS Qarawiyyın 336, fol. 104b)stellt er seine Beobachtungen mit auffallender Akribie vor:

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3Verarbeitet hat ihn at.-T. abarı in seinem Ih˘tilaf al-fuqaha↩ (Hrsg. F. Kern [Kairo,

1902]), S. 160 in identischem Wortlaut. Zu einem anderen Teil des Muwat.t.a↩ von IbnWahb siehe mein: K. al-qad. a↩ fı ’l-buyu↪ (Beirut: Dar al-garb al-islamı, 2004).

4Tartıb al-madarik, Bd. 5. S. 174 (Rabat, o. J.); Ibn al-Farad. ı: Ta↩rıh˘↪ulama↩ al-

andalus, Nr. 94 (Hrsg. Franciscus Codera [Madrid, 1892]); Manuela Marin: Nominade sabios de al-Andalus (93–350/711–961) (Estudios Onomastico-Biograficos de al-Andalus. Nr. 116 [Madrid, 1988]).

Eine islamische Rechtsfrage uberEntschadigungen zwischen Muslimen und Christen 299

Im Originalwortlaut (yuqawwimu-ha ahlu dıni-him) stand die Rechts-frage noch im Exemplar seines Lehrers Ibn ↪Attab,5 obwohl bereits Ibnal-Murabit.

6 den Passus in seinem Exemplar durch Einfugung von Klam-mern (h. awwaqa ↪alayhi)7 korrigierte und auf die Korrektur des Qai-rawaners Yah. ya b. ↪Umar (213/828–289/902)8 – im Exemplar von Ibnad. -D. abbag9 (d. uriba ↪alayhi ↪inda Yah. ya) hinwies. Beide Exemplare derMudawwana bzw. Muh

˘talit.a mit ihren jeweiligen Werkuberlieferungen

fuhrt al-Qad. ı ↪Iyad. in seinem al-Gunya10 an: in der Tat geht die Abschriftvon Ibn al-Murabit. auf eine “einheimische”, d.h. Qairawaner Riwaya ausdem Schulerkreis Sah.nuns zuruck, dessen bekanntester Vertreter der hiergenannte Yah.ya b. ↪Umar gewesen ist. Das Exemplar von Ibn ↪Attab, dasal-Qad. ı ↪Iyad. , gemaß dem Vorspann zu seinem Mudawwana-Kommentarim Jahre 507/1113 seinem Lehrer vorlas und bei ihm studierte (qara↩tubi-lafz. ı wa-sami ↪tu bi-qira↩ati gayrı. . . wa-↪arad. tu kitabi bi-as. l abı-hi ’l-↪atıq), ist eine direkte andalusische Vermittlung von Sah.nuns Werk in derRiwaya des Andalusiers Ibrahım b. Muh.ammad b. Baz (st. 274/887).11

In dieser Isnadfiliation der Werkuberlieferung erscheint gerade derjenigeAh.mad b. H

˘alid, der die fragliche Stelle in der Rechtsfrage korrigier-

te. Was er eingangs als al-umm bezeichnet und durchaus auf Sah.nunsWerk bezogen werden kann, wird hier nunmehr mit der Asadiyya, alsodem Vorlaufer der masa↩il -Sammlung Sah.nuns nach Ibn al-Qasim iden-tifiziert, — mit einem Werk h. anafitischer Pragung von Asad b. Furat(142/759–213/828), von dem gegenwartig nur einige Bruchstucke vorlie-gen.12 Die Korrektur und Tilgung der Rechtsauffassung: yuqawwimu-haahlu dıni-him erfolgte somit spatestens bei Ah.mad b. H

˘alid — entweder

durch ihn selbst (fa-as. lah. tu-ha) oder durch andere (kad¯

a us. lih. at wa-kanat — d.h. die mas↩ala — fı ’l-Asadiyya h

˘at.a↩an). Bei der Weitergabe

von Sah. nuns Werk spielte er im spaten 9. Jh. sicherlich eine entscheiden-de Rolle.13 Allerdings handelt es sich im vorliegenden Fall nicht um die

5↪Abd Rah. man b. Muh. ammad b. ↪Attab, st. 520/1126: Tartıb al-madarik, Bd. 8,S. 192.

6Ibn al-Murabit.. d. i. Muh. ammad b. H˘alaf b. Sa↪ıd, Qad. ı in Almeria: st. 485 /1092:

Tartıb al-madarik, Bd. 8, S. 184.7Uber tah. wıq in diesem Sinne siehe Adam Gacek, The Arabic manuscript traditi-

on. A glossary of technical terms & bibliography (Leiden: Brill, 2001), S. 37.8Siehe meine Beitrage zur Geschichte der H. adıt

¯- und Rechtsgelehrsamkeit der

Malikiyya in Nordafrika bis zum 5. Jh. d.H. (Wiesbaden, 1997), S. 92–117.9Siehe meine Beitrage, S. 221ff.

10Ed. Maher Zuhair Garrar. Beirut: Dar al-Garb al-Islamı, 1982, S. 41.11Siehe die ubersichtliche Darstellung der Werkuberlieferung von al-Qad. ı ↪Iyad. bei

J.M. Forneas: Datos para un estudio de la Mudawwana de Sah. nun en al-Andalus(Actas del IV Coloquio Hispano-Tunecino. Palma de Mallorca, 1979). Instituto Hi-

spanico Arabe de Cultura. Madrid, 1983, S. 103.12Siehe meine Beitrage, S. 22–26.13J.M. Forneas, op. cit., S. 103–105.

300 Miklos Muranyi

Korrektur eines einfachen Schreibfehlers (h˘at.a↩) in dem von ihm benutz-

ten Exemplar, sondern um eine inhaltliche Korrektur juristischer Natur,die nicht ohne Wirkung auf den Umgang mit Nichtmuslimen bleiben soll-te. Den Wert des widerrechtlich entwendeten Weines von einem Christenbestimmt somit nicht der geschadigte Christ, sondern derjenige Muslim,der den Wert des widerrechtlich entwendeten Objektes kennt.

Die rechtsrelevante Verschiebung des ursprunglichen Inhalts erfolgteerst in der Uberlieferungsstufe nach der Schaffensperiode von Malik b.Anas, dessen qaul “ihm (dem Muslim) obliegt (die Zahlung) des Wer-tes” offenbar noch keinen Anlaß zu mad

¯hab-spezifischen Diskussionen im

Kreis seiner Nachfolger gab. Umstritten war vielmehr die Zusatzfrage,wer nun berechtigt sei, den Wert der Ware (hier: Wein) zu bestimmen,den dann der Muslim an den Christen zu zahlen habe.

Gemaß einem Randvermerk bei Ibn al-Murabit., heißt es an der obi-gen Stelle bei al-Qad. ı ↪Iyad. , stand diese inhaltliche Korrektur bereitsin einem der altesten Abschriften von Sah.nuns Werk: im Exemplar deswohlhabenden Qairawaner Handlers, der auch in Sah.nuns Schulerkreisgenannt wird: im “kitab Ibn Sahl”, das dann ↪Alı b. Muh.ammad b.Masrur ad-Dabbag (271/884–359/970), eine bekannte Schlusselfigur beider Weitergabe der Schriften Sah.nuns und des Muwat.t.a↩ Maliks in Qai-rawan, in seinem Exemplar als Variante dokumentierte.14

Ein weiterer Hinweis auf diesen — abgeanderten — Wortlaut derfraglichen Passage, folgt man dem obigen Vermerk bei al-Qad. ı ↪Iyad. ,geht auf eine bisher unbekannte andalusische Werkuberlieferung der Mu-dawwana zuruck: auf die Riwaya eines gewissen ↪Abd ar-Rah. ım von denS. aqaliba, der bei Ibn al-Farad. ı (Nr. 871) genannt wird. Bekannter alser war sein hier genannter Nachfolger: der im Jahre 319/931 verstor-bene Fad. l (d.i. b. Salama), der auf seiner mehrjahrigen Studienreisein Sah.nuns Schulerkreis in Qairawan studierte und als Verfasser einesMuh

˘tas.ar zur Mudawwana und anderer Kommentare zu den Schriften

andalusischer Malikiten genannt wird.15

Wie es sich zeigt, sind diese von al-Qad. ı ↪Iyad. sorgfaltig zusammenge-stellten Vermerke als Korrekturen bereits einer spateren Entwicklungs-stufe zuzuordnen, denn in einem durch Zufall entdeckten Fragment ausder Muh

˘talit.a Sah.nuns in der Qairawaner Moscheebibliothek steht der

umstrittene Passus im Fließtext — also nicht als Randvermerk — inKlammern: qala: yuqawwimu-ha man ya↪rifu ’l-qımata (anstatt: qımata-

14Siehe meine Beitrage, S. 78–79: er heißt Sahl b. ↪Abd Allah b. Sahl al-Qibriyanı.Er ließ auf seine Kosten das Qas.r al-gadıd (Qas.r ar-ribat.) bei Susa an Meereskusteerbauen: Heinz Halm, Nachrichten zu Bauten der Aglabiden und Fatimiden in Libyenund Tunesien. In WdO 23 (1992), 144. Dieser Ibn Sahl erscheint im ubrigen in einemder altesten Horerzertifikate in Sah. nuns Werk: es ist auf das Jahr 276/889 datiert.

15Ibn al-Farad. ı, op. cit., Nr. 1040; Muranyi (1999), S. 103–105.

Eine islamische Rechtsfrage uberEntschadigungen zwischen Muslimen und Christen 301

ha) min al-muslimına. Der Kopist liefert hierzu am Rand eine wertvolleBemerkung des oben genannten Yah.ya b. ↪Umar: h. akka-hu Sah. nun wa-lam yaqra↩hu la-na. Diese Textvariante der Rechtsfrage soll also bereitsSah.nun im Fließtext der Muh

˘talit.a getilgt und die Stelle nicht vorge-

tragen haben.16 Vergleichbare Vermerke in Sah.nuns Kreis konnten auchim Sama↪-Werk des Ibn al-Qasim al-↪Utaqı mehrfach nachgewiesen wer-den.17 Die zu tilgende Textstelle steht in der uns vorliegenden Abschriftin Klammern — ein Vorgang, den auch al-Qad. ı ↪Iyad. in seinem Mudaw-wana- Kommentar mit Verweis auf das Exemplar von Ibn al-Murabit.dokumentiert: h. awwaqa ↪alayhi Ibn al-Murabit. qala: d. uriba ↪alayhi ↪indaYah. ya.18

Die spatestens seit Ibn al-Qasim uberlieferte mas↩ala ließ zweifelsfreieinige Fragen offen und war sicherlich nicht ohne Brisanz; denn Malikb. Anas beschrankte sich lediglich auf die Verpflichtung des Muslimszu Ersatzleistungen an den Christen, nicht aber auf die Festlegung vonderen Hohe.

In einem weiteren Qairawaner Fragment wird die Rechtsunsicherheitbei der Darstellung der Rechtsfrage deutlich: das Dilemma war, wie obendargestellt, zur Zeit Sah.nuns bekannt, konnte aber nicht ohne weiteresgelost werden. In diesem Exemplar steht die Rechtsauskunft in einervon der Asadiyya — und von der Druckausgabe der Mudawwana —abweichenden Form:

qıla: wa-man yuqawwimu-ha? Qala: yuqawwimu-ha ↪alayhim(sic!) man ya↪rifu ’l-qımata min al-muslimına.

Damit ware der Rechtsfall einschließlich der Festlegung der Hohe derErsatzleistung im Fließtext dieses Exemplars eigentlich geklart, dennochgreift man in einem dazu gehorigen Randvermerk des sehr beschadigtenPergamentblattes den ursprunglichen Wortlaut der Fragestellung unddie Antwort wieder auf; anschließend fugt man einen Kommentar vonSah.nun selbst hinzu:

qıla (so): wa-man yuqawwimu-ha? qala: yuqawwimu-ha ahludıni-ha (sic).

Darauf folgt am Rand eine mehrzeilige Bemerkung Sah.nuns, die al-lerdings nicht vollstandig entziffert werden konnte; daher gebe ich die

16Zu dieser Bedeutung von h. akka siehe Adam Gacek, op. cit., S. 35.17Muranyi, “A unique manuscript from Kairouan in the British Library. The Sama↪-

work of Ibn al-Qasim al-↪Utaqı and issues of methodology,” in Herbert Berg, ed.,Method and theory in the study of Islamic origins (Leiden: Brill, 2003), S. 325ff; bes.S. 350–356. Diese Praxis wird auch durch das Verb “asqat.a-hu” beschrieben.

18Zu tah. wıq siehe Adam Gacek, op. cit., S. 37 und Supplement, S. 18.

302 Miklos Muranyi

Textstelle im Original an. Die Punkte in Klammern entsprechen dergeschatzten Anzahl fehlender oder unleserlicher Buchstaben:

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Es handelt sich um eine sehr alte Abschrift von Sah.nuns Werk; dieTitelseite ist noch nicht beschrieben, die Werkuberlieferung ist nicht do-kumentiert. Moglicherweise liegt uns hier eine Kollegabschrift von derHand eines ungeubten Kopisten vor, der, gemaß dem Schlußsatz, ei-ne Abschrift konsultiert hatte: die nush

˘a von as.-S. adafı. Dort erschien

Sah.nuns Kommentar im Fließtext (fı dah˘ili ’l-umm) des Werkes — al-

so nicht als Marginalnote. Diese Abschrift durfte spatestens in der er-sten Halfte 4./10. Jahrhunderts in Umlauf gewesen sein, als die Mudaw-wana-Exemplare von as.-S. adafı, ↪Umar b. ↪Abd Allah b. Yazıd (st. ge-gen 350–352/961–963, oder 347/958)19 in Gelehrtenkollegs in Qairawanbenutzt und die dort vorliegenden Textvarianten mit dem BuchstabenDal dokumentiert wurden. Diese bemerkenswerte Erganzung Sah.nunsist gegenwartig die einzige ausfuhrliche Kommentierung der kontroversuberlieferten Rechtsfrage aus dem unmittelbaren Umfeld der Entstehungvon Sah.nuns Werk.

Es steht, so die fragmentarisch rekonstruierbare Position Sah.nuns,einem Nichtmuslim nicht zu, gegenuber einem Muslim den Preis derentwendeten Sache zu bestimmen, denn seine Ansicht — gegenuber ei-nem Muslim — sei nicht akzeptabel (la yuqbalu qaulu-hu). Zugleich weistSah.nun auf die Lehre anderer Fuqaha↩ hin, die dem Wein uberhaupt kei-nen Wert zuschreiben (man la yara fı-ha qımatan as. lan). Im darauf fol-genden Satzsplitter: h. arrama ’llahu qımata-hu wa-la t

¯amana. . . scheint

Sah.nun mit einem allgemein bekannten H. adıt¯

oder vielleicht nur mit des-sen paraphrasierter Wiedergabe zu argumentieren: allad

¯ı h. arrama surba-

ha h. arrama bay ↪a-ha.20

Ibn Abı Zayd al-Qayrawanı (st. 386/996), der an seinem monumenta-len Kitab an-nawadir wa-z-ziyadat um die Zeit arbeitete, als as.-S. adafıs

19Miklos Muranyi, Beitrage zur Geschichte der H. adıt¯

- und Rechtsgelehrsamkeitder Malikiyya in Nordafrika bis zum 5. Jh. d.H. (Wiesbaden, 1997), S. 217–218.

20Wie im Muwat.t.a↩, Rez. Yah. ya, Bd. 2, S. 846 (Ed. Muh. ammad Fu↩ad ↪Abd al-Baqı); S. ah. ıh. Muslim, Bd. 3, S. 1206 (Ed. Muh. ammad Fu↩ad ↪Abd al-Baqı), u.a.

Eine islamische Rechtsfrage uberEntschadigungen zwischen Muslimen und Christen 303

oben genanntes Mudawwana-Exemplar mit Sah.nuns Interpretation derRechtsfrage in Umlauf war,21 erwahnt einige Stellungnahmen von Ver-tretern der Malikiyya, die z. T. mit Sah.nuns obiger Lehre inhaltlich imEinklang stehen:22

erstens: der umstrittene Passus yuqawwimu-ha man ya↪rifu ’l-qımatamin al-muslimına wird hier erstmals als Maliks Lehre uberliefert; zwei-tens: eine zusatzliche Interpretation Sah.nuns, die offenbar außerhalb derMudawwana, in den Schriften seines Sohnes Muh.ammad (gest. 256/870)kursierte, besagt, daß derjenige, der die Wertfeststellung vornimmt, einneu bekehrter Muslim ist: h. adıt

¯u ↪ahdi ’l-islam; drittens: nach dem Po-

stulat des agyptischen Malikiten Ibn al-Mawwaz (st. 269/882) ist derPreis des Weines den Muslimen nicht unbekannt: la tah

˘fa qımatu-ha

↪ala ’l-muslimına; viertens: der Medinenser Ibn al-Magisun (gest. 213–214/828–829) lehnt die Ersatzleistung ab, denn Wein hat genauso keinenWert wie das unrein geschlachtete Tier: la say ↩a ↪alayhi li-anna-hu laqımata lil-h

˘amr wa-la lil-maytati.

Ibn al-Magisuns Auffassung hat wahrscheinlich Sah.nun an der ver-derbten Stelle in der Qairawaner Handschrift moglicherweise mit dendort noch erhaltenen Worten: la t

¯amana. . . ins Spiel gebracht; sie ist

auch bei as- Safi↪ı,23 spater im al-Mugnı von Ibn Qudama,24 belegt.Eine im Vergleich zu den obigen Stellen spatere Variante der Rechts-

frage mit malikitischem Hintergrund uberrascht; sie steht in einem unka-talogisierten Fragment des Kommentars zur Mawwaziya von Abu Ish. aqal-Tunisı (st. 443/1051)25 in der Qarawiyyın-Bibliothek in Fas:

in gas.aba nas.raniyyun (sic) min nas.raniyyin h˘amran kana

↪alayhi qımatu-ha wa-yuqawwimu-ha man ya↪rifu d¯

alika minal-muslimına.

Das vorliegende Fragment auf 82 Folioseiten beginnt mit dem K. al-gas.b und ist undatiert. Es ist nicht nachweisbar, ob die Rechtsfrage, zuder Ibn al-Mawwaz gemaß obiger Stelle bei Ibn Abı Zayd al-QayrawanıStellung nimmt, schon in der Mawwaziya mit diesem Wortlaut gestan-den hat, oder ob der Text in der Folgezeit, vielleicht von Abu Ish. aq at-

21Siehe das auf den 1. Sa↪ban 369/21. Februar 980 datierte Schreiben von Ibn AbıZayd an den As↪ariten Ibn Mugahid in Mekka: Muranyi, Beitrage S. 251–252.

22Band 10, S. 356 (Ed. Muh. ammad al-Amın Bu H˘ubza [Beirut, 1999]).

23K. al-umm, Bd. 3, S. 215, Zeile 4–5 (Kairo: Dar as-Sa↪b): wa-id¯

a aqarra anna-hugas.aba-hu h

˘amran au h

˘inzıran. . . wa-la t

¯amana li-had

¯ayni. . .

24Ibn Qudama, al-Mugnı (Hrsg. ↪Abd al-Fattah. Muh. ammad H. ilw [Kairo, 1992]),Bd. 7, S. 426: inna ’llaha id

¯a h. arrama say↩an h. arrama t

¯amana-hu. Siehe unten An-

merkung 27.25Ibrahım b. al-H. asan b. Ish. aq al-Ma↪afirı verfasste eine Erganzung (K. at-ta↪lıq)

zur Mudawwana und einen Kommentar (Sarh. ) zu al-Mawwaziya: siehe meine Bei-trage, S. 304–305.

304 Miklos Muranyi

Tunisı selbst, verandert wurde. Auf jeden Fall sind die Akteure in dieserDarstellung Christen — der Rest der mas↩ala entspricht wortlich derallgemein akzeptierten Auffassung der malikitischen Lehre. Die Wert-feststellung (taqwım) liegt uberraschenderweise auch in diesem Fall beiden Muslimen.

Bei der Untersuchung von Handschriften liegt zunachst im allgemei-nen nichts naher als die Annahme, daß es sich bei diesem Unikat inder Qarawiyyın- Bibliothek an der oben zitierten Stelle um eine einfa-che Verschreibung handelt: in gas.aba nas.raniyyun min. . . anstatt: ingas.aba muslimun min. . . Die alteste Belegstelle fur die bei Abu Ish. aqdokumentierte und zunachst uberraschende Konstellation findet sich al-lerdings bereits im Ih

˘tilaf al-fuqaha↩ von at.-T. abarı26 nach Abu H. anıfa

und seinen Schulern:in igtas.aba n-nas.raniyyu li-nas.raniyyin h

˘amran fa-istahlaka-ha h. u-

kima ↪alay-hi bi-qımati ’l-h˘amr. Nimmt der Geschadigte den Islam an,

heißt es dort weiter, so hat er keine Ersatzanspruche; wird dagegen derChrist, der den Wein widerrechtlich entwendet hatte, Muslim, ist er ver-pflichtet, an den Christen Ersatz zu leisten. Werden beide Parteien Mus-lime, entfallen alle Forderungen und der Rechtsfall ist nichtig. Anzumer-ken ist, daß in diesen Erorterungen der H. anafiten – wie von at.-T. abarıdargestellt – die in der Komposition der Mudawwana aufgeworfene Fra-ge, wer nun islamrechtlich berechtigt sei, gegenuber einem Muslim denWert des entwendeten Gutes zu bestimmen, nicht diskutiert wird.

Abschluß

Als im islamischen Westen, in Kreisen nordafrikanischer (Qayrawan) undandalusischer Fuqaha↩ die textkritische Darstellung der obigen Rechtsfra-ge in Sah.nuns Rechtswerk auf Hochtouren lief, die allerdings keinen ein-heitlichen oder vereinheitlichten Textbestand zustande zu bringen ver-mochte, behandelte der Safi↪it Abu Ish. aq as-Sırazı (gest. 476/1083) imislamischen Osten diese Rechtsfrage in seinem al-Muhad

¯d¯

ab nach zumTeil ganz neuen Aspekten. Ein Muslim muß dem d

¯immı das entwende-

te Gut, den Wein, auf jeden Fall zuruckgeben (radd); auf die Frage derWertbestimmung (taqwım) geht er, wie auch andere Fuqaha↩, nicht ein.Entwendet ein Muslim den Wein im Besitz eines anderen Muslims (!),so gibt es fur as-Sırazı zwei Moglichkeiten:

a) dem Muslim obliegt nichts, denn was Gott verboten hat, dessenPreis hat er ebenfalls verboten: inna llaha id

¯a h. arrama say ↩an h. arrama

26Ed. F. Kern. 2. Auflage. Beirut, o.D., S. 160–161.

Eine islamische Rechtsfrage uberEntschadigungen zwischen Muslimen und Christen 305

amana-hu.27 b) der Muslim muß den Wein dem geschadigten Muslimzuruckgeben, mit der uberraschenden Begrundung: vielleicht wollte derGeschadigte damit Feuer loschen oder gar Lehmziegel feucht halten.28

Die letzten zum Teil amusanten Darstellungen der Rechtsfrage, dienach der gegenwartigen Quellenlage erstmals in der Asadiyya abgehan-delt wurde, sind naturlich außerhalb der Diskussionen uber Sah.nunsRechtswerke anzusiedeln und sind in unseren Betrachtungen sekundar.Sie zeigen aber die Vielfalt der Darstellungsmoglichkeiten einer bestimm-ten mas↩ala auf. Die beobachteten Textvarianten in den konsultiertenAbschriften der Mudawwana bzw. der Muh

˘talit.a fuhren in letzter Kon-

sequenz zu der Vermutung, daß ein allgemein anerkannter Textbestanddes Werkes bis in das 6./12. Jahrhundert nicht vorlag; die Handschrift furden ersten Kairaner Druck (1323 H.), deren Verbleib heute unbekannt ist,ist nur eines der zahlreichen Exemplare, die vor allem in marokkanischenBibliotheken und in der Hauptmoschee von Qairawan in den letzten Jah-ren identifiziert worden sind. In einer wunschenswerten, ja uberfalligen,kritischen Textedition mussen sie in der Zukunft gebuhrend Beachtungfinden.

27Siehe u. a. ad-Daraqut.nı: as-Sunan (Beirut, 1993), Bd. 3, S. 7. Nr. 20; IbnQudama: al-Mugnı (Hrsg. ↪Abd al-Fattah. Muh. ammad H. ilw [Kairo, 1992]), Bd. 7,S. 426 mit weiteren Quellenangaben; Ibn al-Gawzı: at-Tah. qıq fı ah. adıt

¯al-h

˘ilaf (Bei-

rut, 1415 H.), Bd. 2, S. 189; Ibn H. agar al-↪Asqalanı: Fath. al-barı, Bd. 4, S. 415 (Hrsg.Muh. ibb ad-Dın al-H

˘at.ıb und Muh. ammad Fu↩ad ↪Abd al-Baqı [Kairo, 1380 H.]). Siehe

auch al-Mudawwana, Bd. 11, S. 427: Sah. nun nach Ashab als mauquf : ma h. urrimaaklu-hu h. urrima t

¯amanu-hu.

28Al-Muhad¯

ab fı ’l-mad¯

hab, Bd. 1. S. 372. (Beirut: Dar al-Fikr, o.J.).