(ed. with et al.), Literatur und Religion I/II. Wege zu einer mythisch–rituellen Poetik bei den...
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Literatur und Religion I
Inhalt
Vorwort ANTON BIERL
Literatur und Religion als Rito- und Mythopoetik. Überblicksartikel zu einem neuen Ansatz in der Klassischen Philologie ANTON BIERL Zu Ritual und Literatur in frühen mesopotamischen Texten GEBHARD SELZ Das religiöse Zeichen und die Gefahr des Sakralen im ägyptischen Schrifttum ANTONIO LOPRIENO Epic Narrative and Ritual. The Case of the Funeral Games in Iliad 23 JONAS GRETHLEIN Mythos, musische Leistung und Ritual am Beispiel der melischen Dich-tung CLAUDE CALAME Did Sappho and Alcaeus Ever Meet? Symmetries of Myth and Ritual in Performing the Songs of Ancient Les-bos GREGORY NAGY êllow d' §j êllou d°xetai. Presocratic Philosophy and Traditional Greek Epic GLENN MOST
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Der göttliche Sohn einer menschlichen Mutter. Aspekte des Dionysos in der antiken griechischen Tragödie RENATE SCHLESIER Der eingeschlossene Dritte. Zur Funktion des Dionysos im Satyrspiel REBECCA LÄMMLE Ritual, Performanz, Theater: Die Religion der Athener in Aristophanes’ Komödien CHRISTOPH AUFFARTH Index locorum Graecorum et Latinorum
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Vorwort
Aufgrund moderner, von der Aufklärung herrührender Vorannahmen ge-hen wir wie selbstverständlich davon aus, daß Religion und Literatur völlig getrennte Sphären darstellen. Kunst, so die verbreitete Meinung, sei autonom und habe ganz und gar nichts mit religiösen Äußerungen, wie zum Beispiel Mythos und Ritual zu tun. Mit den nacheinander vollzoge-nen ‘Wenden’ in der aktuellen Geisteswissenschaft, den linguistischen, kulturellen, ikonischen und performativen ‘turns’, zeigt sich plötzlich wie-der die Interdependenz beider Diskurse. Mythos und Ritual sind häufig aufeinander bezogen und uns weitgehend als Texte überliefert. In der Performanz stellen sie symbolisch aufgeladene Knotenpunkte der “Zirku-lation sozialer Energie” (Stephen Greenblatt) dar. Literatur basiert auf allen vorliegenden Diskursen der Kultur und verarbeitet sie. Insbesondere das inhärente soziale Potential des nun nicht mehr statisch und reduktio-nistisch-defizient, sondern dynamisch verstandenen Rituals wird in der Literatur ästhetisch transformiert und zum kreativen Auslöser der Generie-rung von Handlungsmustern und narrativen Strukturen. In den dichteri-schen und prosaischen Texten wird die dysfunktionale Offenheit der Zeichen genutzt, diese auch aufgrund ihrer kulturell-lebensweltlichen Vernetzung zu inszenieren, zu hinterfragen, zu verwandeln, zu dekonstru-ieren und immer wieder neu zusammenzusetzen.
In vormodernen, nicht-christlichen Kulturen war die enge Verwoben-heit der beiden Kategorien eigentlich lange Zeit unbestritten. Dies gilt insbesondere für die Antike, den Ausgangspunkt unserer westlichen Zivi-lisation. Doch selbst bei den Griechen, wo zumindest seit Friedrich Nietzsche der religiöse Bezug für die Tragödie, wenngleich in höchst idio-synkratischer Weise, erneut aufgedeckt wurde, hat man dieses Substrat bis auf wenige Ausnahmen hartnäckig heruntergespielt. Gerade das griechi-sche Drama hat sich in der kulturwissenschaftlichen Neuorientierung als Beispiel par excellence etabliert, die gegenseitige Bezogenheit der Dis-kurse bisher überhaupt herauszuarbeiten. Institutionell eingebettet in die Feiern des Dionysos haben auch die narrativen Strukturen der Tragödien viel mit Dionysos, mit Ritualen aller Art (Opfer, Initiation, Klage, Hoch-zeit etc.), vor allem aber mit dem Mythos zu tun, der die Grundlage der Handlung bildet.
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Ein Desiderat der Forschung stellt es dar, das Interpretationsmodell einer mythisch-rituellen Poetik vom attischen Drama auf möglichst viele Gattungen der griechischen Literatur auszuweiten und im diachronen Ab-lauf zudem einen transdisziplinären Blick auf andere Kulturen zu werfen. So wird die Fragestellung in den frühen Zivilisationen des Vorderen Ori-ents und Ägyptens, im Konglomerat einer zusammenhängenden grie-chisch-römischen Mittelmeerkultur unter Roms Vorherrschaft und unter dem Aspekt der Nachwirkung in Rom, Byzanz, Neugriechenland und deutschsprachigen Ländern beleuchtet.
Die griechische Kultur erweist sich als Scharnier und Modellfall, diese Thematik auch anhand der Transformation in heutigen Literaturen aufzu-zeigen. Gerade in der archaischen Phase, die noch von einer weitgehenden Mündlichkeit in der Rezeption geprägt war, fungieren Mythos und Ritual als entscheidender kultureller Megatext, auf den sich alles Kunstschaffen bezieht. Mit dem radikalen Medienwechsel zur Schriftlichkeit im Helle-nismus hat sich die Interdependenz nur verändert, kam aber keinesfalls zu einem abrupten Ende. Die neuzeitliche Aufteilung in Säkulares und Sa-krales, nämlich Politik, Gesellschaft und Kunst auf der einen, Religion und Kult auf der anderen Seite, bedeutet für die ganze Antike einen Anachronismus.
Der vorliegende Band stellt die erste Hälfte der Beiträge einer von mir or-ganisierten internationalen Tagung mit dem Titel Literatur und Religion: die Griechen, vorher, nachher und heute. Mythisch-rituelle Strukturen im Text dar, die vom 16.-20.03.2005 zu Augst bei Basel im Landgut Castelen stattfand. Zugleich bilden beide Halbbände den Auftakt der neuen, von mir gegründeten und herausgegebenen Basler altertumswissenschaftlichen Reihe MythosEikonPoiesis. Sie setzt sich zum Ziel, innovative Arbeiten und Tagungen zu aktuellen Fragestellungen und auf hohem theoretischem Niveau zu veröffentlichen. Insbesondere sollen Themen zur Antike aus dem Bereich der Literatur-, Bild-, Medien-, Theater-, Religions- und Kul-turwissenschaften im Mittelpunkt stehen, wie z. B. Performativität, Narra-tivität, Mündlichkeit, Metatheatralität, die Interdependenz von Literatur und Religion, die mythisch-rituelle und ikonische Poetik der gesamten antiken, vor allem der griechischen Literatur und Philosophie, sowie der Bezug von Mythos und Ritual in textlichen und bildlichen Strukturen. Ins-gesamt geht es also darum, die Interpretation von neuzeitlichen, der Auf-klärung verhafteten, aber zum Teil schon bei Aristoteles angelegten Pro-
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jektionen zu befreien, um eine ungetrübte Sicht auf das spezifisch Andere der in vielen modernen Fragen exemplarischen griechischen Kultur, des nach Uvo Hölscher “nächsten Fremden”, zu erhalten. Dem Verlag K. G. Saur und Dr. Elisabeth Schuhmann sei an dieser Stelle für das große Ver-trauen und die hervorragende Zusammenarbeit gedankt.
Band I der Reihe MythosEikonPoiesis will also die enge Verwobenheit der beiden Äußerungssysteme Literatur und Religion gerade anhand der griechischen Situation untersuchen, wo diesem Phänomen spätestens seit Friedrich Nietzsche nachgegangen wurde. Aufgrund ihrer spezifischen literarischen Hinterlassenschaft war die Gräzistik an der Erforschung dieser Thematik maßgeblich beteiligt, wenn nicht sogar führend. Gerade die Schweiz bildet immer wieder ein besonders fruchtbares Terrain für solche Denkansätze innerhalb der Disziplin. Für Basel denke ich neben Nietzsche, der zwischen 1869 und 1879 den Lehrstuhl für Griechische Philologie innehatte und hier unter anderem sein berühmtes Buch Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) schrieb, an Johann Jakob Bachofen und Karl Meuli. Ferner möchte ich in diesem helvetischen Zusammenhang an Karl Kerényi erinnern. Vor allem aber muß Walter Burkert, der Zürcher Emeritus und primus movens dieser Richtung moder-nen Zuschnitts, erwähnt werden.
Für die Tagung konnte ich bedeutende Expertinnen und Experten als Vortragende und Diskutanten gewinnen. Gleichzeitig lag mir besonders daran, den eigenen und fremden Nachwuchs zu involvieren. Harvard, Princeton, Pisa, Paris, Berlin, Bielefeld, Bremen, Erfurt, Graz, München und Wien trafen sich im März 2005 zu Augst, oberhalb der Römerruine Augusta Raurica. Es gelang ein schöner Mix von Welt und Basel, Erfah-rung und Jugend, Altertum und Moderne. Die angenehme und gastliche Atmosphäre in Castelen tat ihr übriges, den Dialog zwischen den Diszipli-nen sehr fruchtbar und intensiv werden zu lassen. Folgende Personen sprachen: Prof. Dr. Antonio LOPRIENO, Basel: Mythos und Ritual in der Literatur des alten Ägypten Prof. Dr. Gebhard J. SELZ, Wien: Anspielungen auf Ritual in der mythischen Literatur
sowie mythische Hinweise in den Ritualtexten des Vorderen Orients Prof. Dr. Gregory NAGY, Harvard: Mythos und Ritual in der Dichtung Homers Prof. Dr. Glenn MOST, Pisa: Mythos und Ritual in der vorsokratischen Philosophie Prof. Dr. Claude CALAME, Paris: Mythos, musische Leistung und Ritual am Beispiel der
melischen Festdichtung
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Prof. Dr. Renate SCHLESIER, Berlin: Aspekte des Dionysos in der griechischen Tragödie Prof. Dr. Wolfgang BRAUNGART, Bielefeld: Mythos und Opferritual in der Tragödie der
Neuzeit lic. phil. Rebecca LÄMMLE, Basel: Mythos und Ritual im griechischen Satyrspiel Prof. Dr. Christoph AUFFARTH, Bremen: Mythos und Ritual in der Alten attischen Komö-
die PD Dr. Susanne GÖDDE, Berlin: Mythos und Ritual in der griechischen Historiographie lic. phil. Katharina WESSELMANN, Basel: Mythische Erzählstrukturen bei Herodot Prof. Dr. Eveline KRUMMEN, Graz: Mythos und Ritual in der Philosophie Platons Prof. Dr. Denis FEENEY, Princeton: On not forgetting the ‘Literature’ in ‘Literature and
Religion’: Representing the Divine in Livy, Dionysius of Halicarnassus, Varro and Valerius Maximus
Dr. Katharina WALDNER, Erfurt: Griechische und römische Aitiologie in Ovids Meta-morphosen
Dr. Bettina VON JAGOW, München: Mythisches Denken: Zur Fundierung des Verhält-nisses von Literatur und Religion am Beispiel deutsch-jüdischer Literatur
Prof. Dr. Anton BIERL, Basel: Prolegomena zum Thema Mythos und Ritual im grie-chischen Liebesroman
Prof. Dr. Panagiotis ROILOS, Harvard: Mythos und Ritual in der byzantinischen und neugriechischen Literatur
Albert Henrichs (Harvard) war leider verhindert und mußte seinen versprochenen Beitrag zur Opferproblematik in der hellenistischen Poesie bedauerlicherweise ganz absagen. Zu spät versuchte ich noch Mary Depew (Iowa) zur Teilnahme nach Basel zuzuladen. Umso wertvoller ist es, daß sie einen Artikel zum Hellenismus, einer für die Thematik wichti-gen Schlüsselphase, beisteuert. Greg Nagy (Harvard/Center for Hellenic Studies) war ursprünglich zur Aufarbeitung der Problematik bei Homer vorgesehen. Nach einem glänzenden Referat zur Nachwirkung der Ilias, spezifisch zum Achilleion, dem heiligen Grab des großen homerischen Helden Achilleus in der Troas, änderte er nach Absprache für den schrift-lichen Beitrag sein Thema und widmet sich nun der frühgriechischen Lyrik von Sappho und Alkaios. Diese Lücke zur rituellen Poetik Homers füllt nun dankenswerterweise Jonas Grethlein (Freiburg i. Br./Santa Bar-bara), den ich noch nachträglich gewinnen konnte. Bettina von Jagow (München) hielt in Augst einen schönen und grundlegenden Vortrag “Mythisches Denken: Zur Fundierung des Verhältnisses von Literatur und Religion am Beispiel deutsch-jüdischer Literatur” mitsamt einer Analyse
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von Ingeborg Bachmanns Gedicht “Dunkles zu sagen” (1952), wofür ich ihr meinen Dank sage. Das Programm wurde abgerundet durch eine Live-Performance “… um ungesehen zu sehen – schau, wo Du siehst!” des Ab-solventen der Basler Gräzistik Achim Lenz (nun Schauspielschule Folk-wang, Essen) zum Botenbericht der Euripideischen Bakchen. Ihm sei da-für herzlich gedankt.
Wissenschaftlich besonders ertragreich waren neben den exzellenten Vorträgen die intensiven Diskussionen und das große Round-Table-Abschlußgespräch, für die wir reichlich Zeit einplanten. Unvergeßlich bleiben die abendlichen ‘Kamingespräche’. Sehr positiv zu erwähnen ist die rege Teilnahme. Lebhaft und zum Teil heftig wurde auf der Tagung immer wieder über die Begriffe ‘Literatur’ und ‘Religion’ debattiert, vor allem über die von Renate Schlesier eingebrachte These der Autonomie der Literatur, die dem vorgestellten Erkenntnisziel eigentlich widerspricht. Zahlreiche Gäste reisten nur zu diesem Anlaß an und diskutierten mit. Hier sind Studierende, Doktoranden und Wissenschaftler aus nah und fern anzuführen, besonders Cornelia Isler-Kerényi und Walter Burkert, die beide die ganze Zeit anwesend waren und sich auf fruchtbare Weise am Disput beteiligten.
Die Konferenz war weiterhin dazu gedacht, die bisher isoliert operie-renden Forscherinnen und Forscher auf diesem wissenschaftlichen Neu-land zusammenzuführen und zu einer offenen internationalen Gruppe zu vernetzen. Neue Kooperationen und Folgetreffen wurden vereinbart. Das Symposium kann also auch als Anfang eines größeren Vorhabens be-trachtet werden. In einem solchen Rahmen sollte für die Zukunft geleistet werden:
• Grundsätzliche Bestandsaufnahme dieser Forschungsrichtung einer ‘Mytho- und Ritopoiesis’: die Verwendung von religionswissenschaft-lichen Paradigmen (Initiation, rite de passage, Neujahrs- und Königs-ritual, Vegetations- und Fruchtbarkeit), von Mysterien, allgemeinen Riten, wie z. B. Opfer, Klage, Jagd, Hochzeit, Reinigung, Aischrolo-gie, Segnung, Chortanz, Magie etc., von Vorstellungen einer verkehr-ten Welt und utopischen Goldenen Zeit im Kontext von Ausnahme- und Übergangsritualen, von Festen und heortologischen Abläufen als strukturbildendem Gerüst von Literatur; die Rolle von Mythos, Ritual, Göttern und Helden in diesem Prozeß. • Erfassung der ethnologisch-anthropologischen Grundlagen und Ver-gleich mit anderen Kulturen.
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• Ausweitung des Horizonts auf möglichst viele Gattungen der Gräzis-tik über das griechische Drama hinaus. • Behandlung der Frage, welche Auswirkungen die Einführung der Schriftlichkeit hat und wie das auf der Mündlichkeit der Rezeption be-ruhende Konzept im Hellenismus umgeformt wird; Diskussion der Rolle Alexandrias in diesem Prozeß. • Thematisierung der Spannung zwischen einer lokalen und panhelle-nischen Ausrichtung in Mythos und Kult. • Interdisziplinäre Ausdehnung auf andere antike Mittelmeerkulturen und ihre Literaturen (Vorderer Orient, Ägypten, Rom, Byzanz). • Ausblick auf die neue Philologie und den heutigen Diskurs. Die Re-zeption strukturbestimmender griechischer Mytheme und Rituale in aktuellen Texten und theatralen Formen. Blick auf die Neue Mytho-logie. • Blick auf die historischen Brüche und Behandlung der Frage, ob die neuzeitlichen Tendenzen einer Säkularisierung und Autonomisierung der Kunst mitsamt einer auf religiöse Formen zurückgreifenden Ästhe-tisierung mit antiken Entwicklungen vergleichbar sind.
Von Anfang an war es mir ein Anliegen, die Beitragenden nicht durch das straffe Korsett der üblichen 20-30 Seiten einzuschränken. Da viele Artikel am Ende sehr umfangreich wurden, haben wir uns auf Anraten des Ver-lages dazu entschlossen, die Ergebnisse in zwei Teilbände aufzuteilen. Die Anordnung erfolgt in chronologischer Reihenfolge der behandelten Ge-genstände. Band 1 reicht bis zum Drama, Band 2 von der Geschichts-schreibung bis in die Moderne.
Der vorliegende Teil 1 beinhaltet folgende Artikel: Als Einführung in die Thematik stelle ich einen ausführlichen Überblicks-artikel zum Ansatz einer Rito- und Mythopoetik in der griechischen Literatur vorweg. Nach Klärung des Vorverständnisses und der begriffli-chen Voraussetzungen sowie einem Abriß der Wissenschaftsgeschichte in diesem Bereich wird das Material nach religionswissenschaftlichen Para-digmen aufbereitet. Hierbei dienen die Perspektiven vom Ritual und vom Mythos aus als Gliederungspunkte. Diese Systematik wird hauptsächlich anhand des griechischen Dramas durchgeführt, wobei andere literarische Gattungen eingeblendet werden. Die nur zu Darstellungszwecken vorge-
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nommene Trennung von Ritual und Mythos wird zuletzt in einem Modell des dynamischen Zusammenspiels aller Faktoren aufgehoben, welche die mythisch-rituelle Poetik der Griechen und anderer Mittelmeervölker ausmachen.
Ausgehend von neueren, anthropologisch fundierten Ritualbegriffen formuliert Gebhard SELZ die These, Riten und Ritual böten die Erfah-rungsmatrix Mesopotamiens, der – neben Ägypten – ältesten bekannten “Schriftkultur”. Unter funktionellen Aspekten sei der Sinn von Mythos und Ritual die “Bestätigung und Begründung einer Teilhabe des Gegen-wärtigen an den Ursprüngen der Weltordnung”. Aufgrund des formalisie-renden und autorisierenden Charakters der Schrift tritt in den literarischen Quellen der performative Aspekt des Rituals zurück. Ein semiotisch ba-siertes Verständnis von Ritualen benötigt daher eine möglichst umfas-sende Arbeit an allen zugänglichen, nicht nur an den literarischen Quellen. Dieses Programm wird an den schriftlich dokumentierten Beispielen von Weihe-, Belebungs- und Beschwörungsritualen exemplifiziert. Im Haupt-teil seiner Darlegungen beschäftigt sich Selz mit mesopotamischen Prozessionsritualen, denen er im Sinne einer performativ-orientierten Ri-tualforschung besondere Bedeutung attestiert. Aus diesen Darlegungen resultiert die These, daß jede Ritualforschung den ‘ganzheitlichen’ An-spruch von Ritualen in Rechnung zu stellen habe.
Antonio LOPRIENO untersucht die begrifflichen und sachlichen Diffe-renzierungen zwischen Mensch und sakraler Sphäre im ägyptischen Schrifttum. Unter Heranziehung biblischer Vergleichstexte konstruiert er drei Modelle des als Gefahrenquelle wahrgenommenen Sakralen, die auch historisch voneinander abgrenzbar erscheinen: das physisch Unantastbare, das textuell Unaussprechbare und das rituell Reine.
Am Beispiel der Leichenspiele für Patroklos in Ilias 23 illustriert Jonas GRETHLEIN seine Theorie einer rituellen Poetik. Ritual und ‘narra-tive’ sind – nicht zuletzt über ein Modell des Spiels – als einander ähnli-che Reflexionsmedien, als metakommunikative Rahmen begreifbar, die freilich in distinkter Weise funktionieren. Entsprechend fruchtbar ist die Analyse einer erzählerischen Passage, die sich um ein Ritual dreht. Mit dem Ritual, in diesem Falle den Leichenspielen für Patroklos, gewinnt die Erzählung einen weiteren metakommunikativen Rahmen, welcher der Selbstreflexion des Epos dient: Die Leichenspiele sind nicht nur als Spie-gelbild dessen, was sich in der Ilias ereignet, zu verstehen, sondern dar-
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überhinaus als ein alternatives Medium der Reflexion, das die Textur der Ilias bereichert und ihre Diskursivität hebt.
Nach einigen grundsätzlichen Ausführungen zum Verhältnis griechi-scher Literatur zu Religion und Ritual und den damit verbundenen Bühler-schen Phänomenen der Deixis am Phantasma und demonstratio ad oculos schließt Claude CALAME eingehende Lektüren verschiedener griechischer Gedichte als Kultlieder und Weihgeschenke an: am Beispiel von Bakchy-lides’ 13. Epinikion, Sappho fr. 17 Voigt, Pindars 6. Paian und Alkmans Louvre-Partheneion arbeitet er diejenigen Elemente der Gedichte heraus, die das literarische Werk mittels konkreter Bezüge auf Adressaten, Publi-kum und Aufführungskontext eigentlich zur kultischen ‘Handlung’ wer-den lassen.
In seinem Bestreben, die in der Klassischen Philologie lange Zeit aufrechterhaltene Trennung von Ritual und Mythos aufzubrechen, wendet sich Gregory NAGY den Liedern von Sappho und Alkaios zu; dies ge-schieht unter der Fragestellung, ob sich die beiden je getroffen haben. Die Dichotomie zwischen Ritual und Mythos ist aufhebbar, wenn Mythos als ein Aspekt von Ritual begriffen wird, spezifisch dann, wenn er in seiner mimetischen Aufführung, die immer in rituellem Rahmen stattfindet, le-bendig wird. Dargestellt wird dies anhand der Analyse mythologischer, speziell Dionysos und Aphrodite betreffender Themen, die beim Vortrag der Lieder evoziert werden. Im Vordergrund stehen dabei als rituelle An-lässe der choros sowie der komos.
Glenn MOST wendet sich in seinem Beitrag gegen eine Anwendung des allgemein fragwürdigen Nestleschen Postulats einer Entwicklung der griechischen Literatur “vom Mythos zum Logos” auf die frühe griechische Philosophie und zeigt eindeutige Bezüge der vorsokratischen Fragmente zu ‘religiöser’ Literatur auf: der Autor des Derveni-Papyrus verwendet traditionelle Mythen als Grundlage seiner Argumentation, Parmenides adaptiert Hesiodeische Vorstellungen, Empedokles verwendet Mythos und Ritual als “starting point” ohne generelle Notwendigkeit der Modifikation, und Zenons Überlegungen scheinen auf traditionellen literarischen Texten zu basieren.
Renate SCHLESIER reflektiert das Verhältnis von Literatur und Reli-gion und die damit verbundenen Probleme am dafür in hohem Maße ge-eigneten Beispiel der griechischen Tragödie. Ziel der Untersuchung ist der spezifische Status der Tragödientexte und das darin implizierte Verständ-nis von Dionysos als Tragödiengott. Eng damit verbunden ist die Frage
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nach der Autonomie des Tragödiendichters, der hinsichtlich des institutio-nellen Rahmens, in dem er seine Stücke präsentiert, und der damit gege-benen politisch-religiösen Vorlagen einer ausgeprägten Heteronomie zu unterliegen scheint. Die Autonomie des Tragikers liegt nun aber spezifisch im Umgang mit diesen an ihn gestellten Forderungen, in seiner individu-ellen Exegese, in seiner spezifischen intellektuellen und kreativen Art und Weise, das tragische Potential traditionellen Materials herauszuarbeiten. Exemplifiziert wird dies an einem zentralen Problem der Euripideischen Bakchen: den vier Versionen der Geburt des Dionysos. Euripides eröffnet in den Bakchen einen literarischen, keinen kultischen Reflexionsraum und seziert darin den Gott Dionysos und die ihm zugeordnete Religion in der ihm eignenden künstlerischen Intellektualität.
Ausgehend von Beobachtungen zur Inszenierung des Dionysos als ei-nes abwesenden und zugleich anwesenden Gottes im Satyrspiel, ent-wickelt Rebecca LÄMMLE eine Theorie, welche die Rolle des Satyrspiels im System der dramatischen Tetralogie zu klären sucht. Das Satyrspiel wird als ein Medium verstanden, das die tragischen Dichter, allen voran Euripides in seinem Kyklops, zur komischen Selbstreflexion ihres tragischen Schaffens nutzen; poetologische wie kulthistorische Fragen stehen dabei im Vordergrund. Das Genre erweist sich dabei als dionysisches wie komisches Gedächtnis der Tragödie.
Vor allem am Beispiel von Aristophanes’ Thesmophoriazusen unter-sucht Christoph AUFFARTH die poetologischen Funktionen des rituellen Festablaufs in der Alten Komödie. Analog und parallel zur Methodik der Intertextualität erarbeitet er das Modell einer Interritualität, d. h. die Kombination ritueller Elemente auf der Bühne, die mittels ihres Bedeu-tungsreichtums vom zeitgenössischen Publikum als konkrete Anspie-lungen erfaßt werden und dadurch komische Effekte provozieren.
Im Sinne einer frühen wissenschaftlichen Förderung nahm ich Rebecca Lämmle und Katharina Wesselmann, die beide bei mir zu Themen in die-sem größeren Kontext promovieren, als gleichberechtigte Partnerinnen ins Herausgeberteam der beiden Teilbände auf. Beide haben die anspruchs-volle Arbeit der Herstellung der camera-ready-copy übernommen und zu-sammen mit mir die Beiträge betreut und ediert. Wir verwenden die alte deutsche Rechtsschreibung vor den Verwirrungen der zurückliegenden Reformen. In den Bibliographien, die jeweils den Beiträgen nachgestellt sind, kürzen wir nach L’Année Philologique ab (ägyptologische und altori-
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entalistische Literatur wird unter den in diesen Fächern gebräuchlichen Abkürzungen zitiert). Griechische Quellen sind nach Liddell-Scott-Jones angeführt, lateinische nach Oxford Latin Dictionary. Für zusätzliches Kor-rekturlesen und die Herstellung des Index locorum danken wir den wissen-schaftlichen Hilfskräften Judith Ehrensperger und Alexandra Scharfenber-ger sowie Cédric Scheidegger, der ihnen beratend zur Seite stand. Für wichtigen technischen Rat spreche ich insbesondere Claude Brügger mei-nen Dank aus.
Ich danke zudem der Römerstiftung Dr. René Clavel für die Gast-freundschaft auf Castelen. Die ausgezeichnete Infrastruktur, das besondere Flair des Landguts und nicht zuletzt die professionelle Unterstützung durch Marianne Schweizer – ihr sei hier persönlich gedankt –, die uns mit der gewohnten Freundlichkeit und vornehmen Zurückhaltung betreute, trugen dazu bei, daß die Tagung ein großer Erfolg wurde. Für die überaus kreative Herstellung des Plakats (vgl. http://pages.unibas.ch/klaphil/aktuell /symposium.html) bedanke ich mich bei meinen Studierenden Pia und Doris Degen. Ferner danke ich Nicolas Disch, der als ehemalige wissen-schaftliche Hilfskraft die Aufgabe des Tagungssekretärs kundig übernahm. Schließlich ist es eine besonders angenehme Aufgabe, den Institutionen meinen aufrichtigen Dank auszusprechen, deren großzügige finanzielle Unterstützung die Durchführung und Drucklegung erst ermöglichte: der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft Basel (FAG), der Frey-Clavel-Stiftung, dem Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissen-schaftlichen Forschung (SNF) und nochmals der Römerstiftung Dr. René Clavel.
Wenkenhof in Riehen, den 20. und 25. November 2006 nachträglich zum 90.(+1.) Geburtstag von Bruno Gentili und zum 70. Geburtstag von Franca Perusino
Anton Bierl
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Literatur und Religion II
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Vorwort ANTON BIERL
Xerxes und die Frau des Masistes (Hdt. 9.108-113). Mythische Erzählstruktur in Herodots Historien KATHARINA WESSELMANN
oÎ moi ˜siÒn §sti l°gein. Zur Poetik der Leerstelle in Herodots Ägypten-Logos SUSANNE GÖDDE ‘Schön nämlich ist das Wagnis’. Rituelle Handlung und mythische Erzählung in Platons Phaidon EVELINE KRUMMEN Springs, Nymphs, and Rivers. Models of Origination in Third-Century Alexandrian Poetry MARY DEPEW On Not Forgetting the “Literatur” in “Literatur und Religion”: Representing the Mythic and the Divine in Roman Historiography DENIS FEENEY Griechische und römische Aitiologie in Ovids Metamorphosen KATHARINA WALDNER Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher. Literatur und Religion im griechischen Roman ANTON BIERL Ekphrastic Semantics and Ritual Poetics.
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From the Ancient Greek Novel to the Late Medieval Greek Romance PANAGIOTIS ROILOS Mythos und Ritual, Leiden und Opfer. Ein strukturgeschichtlicher Versuch zur Tragödie WOLFGANG BRAUNGART Index locorum Graecorum et Latinorum
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Vorwort
Wenige Monate nach dem Erscheinen des ersten Teils legen wir nun
Literatur und Religion II vor, das Beiträge von der griechischen
Geschichtsschreibung bis zur Moderne versammelt. Für Grundsätzliches
sei auf das Vorwort zu Literatur und Religion I verwiesen.
Der Inhalt des vorliegenden Bandes umfaßt folgende Artikel:
Katharina WESSELMANN analysiert die Verwendung mythischer
Erzählstrukturen im historischen Diskursfeld der Herodoteischen
Historien. Nach einem kurzen Forschungsüberblick zum Thema
untersucht sie am Beispiel der Novelle von Xerxes und der Frau des
Masistes (9.108-113) die Anleihen bei traditionellen Erzählmustern –
Parallele ist hier der Mythos von Zeus und Semele. Abschließend erfolgt
eine theoretische Reflexion der Funktionsweise und des
Rezeptionseffektes der mythischen Folien, die zum einen als
strukturierende Elemente, zum anderen als tieferliegende Sinnebene der
Historien fungieren.
Susanne GÖDDE fragt in ihrem Beitrag nach den poetologischen
Implikationen von Herodots Aposiopesen in Buch 2 der Historien. Sie
zeigt auf, daß diese weder ausschließlich mit einer religiösen Haltung des
Autors noch allein durch die historisch bezeugte (ägyptische oder
griechische) Kultpraxis, auch nicht lediglich als interpretatio graeca zu
erklären sind. Vielmehr erweisen sie sich als Momente einer literarisch
vermittelten Theorie der Religion, welche die Grenze zwischen Göttern
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und Menschen, das Skandalon sterblicher und anthropomorpher Götter, im
Modus der poetischen Leerstelle reflektiert.
Eveline KRUMMEN geht davon aus, daß Platons Dialoge zwar in die
Kategorie der philosophischen Texte gehören, in der Rahmenhandlung
und in den großen mythischen Erzählungen jedoch wiederholt Bezüge auf
kultische, rituelle und religiöse Inhalte aufweisen. Diese Inhalte prüft sie
am Beispiel des Phaidon, in dem Anspielungen auf den eleusinischen und
orphisch-dionysischen Bereich sowie ein Opfer für Asklepios prominent
vorkommen, auf ihre reale Einbindung in den zeitgenössischen Kontext.
Ferner untersucht sie den Gedankengang des Dialogs, vor allem im
Hinblick auf die Frage, welche Bedeutung solche religiösen Referenzen
für die Philosophie Platons haben. Insbesondere weist sie nach, daß der
vieldiskutierte zweite Jenseitsmythos des Phaidon, der immer wieder als
lose Coda bezeichnet worden ist, fest in die philosophische Argumentation
gerade der Unsterblichkeitsbeweise eingebunden ist und sie erst zu ihrem
Ende führt.
Mary DEPEW behandelt Literatur und Religion in der hellenistischen
Dichtung des dritten vorchristlichen Jahrhunderts unter den
Gesichtspunkten von Kontinuität und Innovation. Sie illustriert die
Adaption traditioneller Mythen und Metaphern durch Dichter wie
Kallimachos und Apollonios Rhodios, die in einem geographischen,
politischen, epistemischen und kulturellen Kontext arbeiteten, der völlig
verschieden von demjenigen der Autoren war, deren Werke sie
sammelten, katalogisierten und nachahmten. Als emblematisch für solche
Transformationen im Werk der hellenistischen Dichter betrachtet Depew
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die Verwendungsweisen von Flüssen, Quellen und Nymphen, die man
herkömmlicherweise mit Inspiration, Reinheit und Ursprung assoziierte.
Nun aber bestimmte plötzlich Alexandria die Sicht auf sie, eine Stadt,
deren Identität als Erbin griechischer Kultur von Monarchen und Dichtern
gerade neu erfunden wurde.
Denis FEENEY wendet sich gegen die in der jüngeren Forschung
verbreitete Tendenz, generische Differenzen zwischen der
Geschichtsschreibung und anderen literarischen Formen für irrelevant zu
erklären, insofern es um die Analyse der Darstellung des Göttlichen geht.
Er postuliert grundsätzliche Unterschiede zwischen den Gattungen seit
Herodot und weist die ureigenen diskursiven Vorgehensweisen der
Geschichtsschreibung nach, die sie von anderen Gattungen abhebt – selbst
wenn die Historiker sich in verschiedenster Weise an den Grenzen zu
anderen Genera wie etwa der Tragödie oder des Epos bewegen. Anhand
der Geschichtsschreibung läßt sich gut zeigen, von welch entscheidender
Bedeutung gattungsbedingte und formale Merkmale für jede Diskussion
über die Interaktion von Literatur und Religion sind.
Katharina WALDNER widmet sich der Art und Weise, wie Ovid in
seinen Metamorphosen das seit archaischer Zeit gepflegte aitiologische
Erzählen, spezifisch den Fall der ‘religiösen Aitiologie’ aufgreift und
adaptiert. Knüpft er zunächst an die seit dem Hellenismus nachweisbaren
hexametrischen Verwandlungssagen an, in denen sich
paradoxographisches Interesse mit der Darstellung von ‘Natur-Aitien’
verband, so stellt bereits die sich als programmatisch erweisende
Geschichte von der Entstehung des Lorbeers in Met. 1 eine originelle
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Verbindung von Natur- mit Kult-Begründungsmythen dar, und ebenso von
griechischer und römischer Tradition. Dabei entsteht, was Waldner als
‘imperiale Aitiologie’ bezeichnet, das heißt eine Erzählweise, deren
Fluchtpunkt das Augusteische Imperium mit seinem weltweiten Geltungs-
anspruch darstellt. Die Tatsache freilich, daß Ovid den narrativen Kon-
struktcharakter bloßlegt, verweist auf den Anspruch von Souveränität und
Autonomie dichterischen Schaffens und damit auch auf die Konstruiertheit
des Fluchtpunkts dieses Erzählens.
Anton BIERL zeigt in seinem Beitrag, wie der griechische Roman
sämtliche Formen der Religion, des Mythos und Rituals integriert und
verarbeitet. Diese Elemente stellen das generative Energiereservoir und
den kreativen Katalysator der auch im mündlichen Volksgut verankerten
Erzählabläufe dar. Entscheidend ist das Modell des rite de passage, der
Initiation Jugendlicher, die den alptraumartigen Zustand der Marginalität
durchlaufen. Im Imaginären werden nach der hier neu vorgelegten
Deutung die Ängste und Emotionen bezüglich der bevorstehenden
Hochzeit und einer erwachenden Sexualität in einer phantastisch-traum-
artigen Welt ausgelebt, bearbeitet und gebannt. Zudem werden die
weiteren religiösen Ausdrucksmittel, die sich um dieses Grundschema
gruppieren, behandelt und in ihrer Funktion für die Struktur der
Geschichten verdeutlicht. Dabei werden auch immer wieder ausführliche
Lektüren der fünf ‘großen’ griechischen Liebesromane entworfen.
Panagiotis ROILOS untersucht auf der Grundlage des
methodologischen und theoretischen Konzepts, das er zusammen mit
Dimitrios Yatromanolakis zuerst in Towards a Ritual Poetics (2003)
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entwickelt hat, das Zusammenwirken ritueller und rhetorischer Diskurse
anhand der Form der ekphrasis. Vom antiken griechischen Roman
ausgehend, wo die Bildbeschreibung oft den Ausgangspunkt, die
Rahmenhandlung der Erzählung markiert oder die romantypische Reise in
Gang setzt, bespricht Roilos die Funktion der ekphrasis in der antiken und
mittelalterlichen Literaturtheorie. Dabei zeigt er, wie hier die rhetorische
Form ganz selbstverständlich mit religiösen Inhalten in Zusammenhang
gesetzt wird, etwa als didaktisch-initiatorischer Reisebericht oder in der
Darstellung sakraler Bauwerke. Das Fortwirken dieser antiken Tradition
veranschaulicht Roilos anhand der Reiseschilderungen des byzantinischen
Romans.
Wolfgang BRAUNGART schließlich behandelt den hermeneutischen
Nutzen des Opfermodells für die Deutung moderner Dramen. Er widmet
sich dabei der strukturellen Spannung, die sich in der Gattung der
Tragödie und ihrer Poetik von ihren Anfängen bis in die Gegenwart dartut:
jener Spannung zwischen dem Leiden, welches das Subjekt auf dem Weg
seiner Individuation zu erdulden hat, und dem Opfer für einen höheren
Wert, seien es die Götter, die Gemeinschaft, die Polis oder der Staat.
Selbst wenn die neue Literatur das Opfer nicht mehr als verläßliches und
institutionalisiertes Ritual beiziehen kann, erweist sich ein entsprechend
adaptiertes Opfermodell als äußerst produktiv. Mit der Verbindung von
Leiden und Opfer als tragischem ‘Subtext’ kann nämlich die Tragödie in
einem Spektrum zwischen Anthropologie und Geschichtlichkeit
beschrieben werden, so daß der Sinn eines anthropologischen Grundpro-
blems in der jeweils historisch konkreten Ausprägung des theatralen
Spiels erkennbar wird.
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Rebecca Lämmle und Katharina Wesselmann haben wiederum die
Herstellung der camera-ready-copy übernommen und zusammen mit mir
die Beiträge ediert und betreut. Wir verwenden die alte deutsche
Rechtschreibung. In den Bibliographien, die jeweils den Beiträgen
nachgestellt sind, kürzen wir nach L’Année Philologique ab. Die
griechischen Quellen sind nach Liddell-Scott-Jones angeführt. Für
zusätzliches Korrekturlesen danken wir den wissenschaftlichen
Hilfskräften Judith Ehrensperger, Alexandra Scharfenberger und Patrick
Kuntschnik, der auch den Index locorum antiquorum besorgte. Für
wichtigen technischen Rat sind wir erneut Claude Brügger zu Dank
verpflichtet.
Für die finanzielle Unterstützung sei nochmals der Freiwilligen
Akademischen Gesellschaft Basel (FAG), der Frey-Clavel-Stiftung, der
Römerstiftung Dr. René Clavel und dem Schweizerischen Nationalfonds
zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF) gedankt. Das
Projekt war mittlerweile auch in das vom SNF finanzierte Pro*Doc-
Graduiertenprogramm Intermediale Ästhetik. Spiel – Ritual – Performanz
eingebunden.
Basel, September 2007
Anton Bierl zusammen mit Rebecca Lämmle &
Katharina Wesselmann