Dicherlesung im medientechnischen Zeitalter. Thomas Klings intermediale Poetik der...

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1 In: Harun Maye, Cornelius Reiber, Nikolaus Wegmann (Hg.): Original / Ton. Zur Mediengeschichte des O- Tons. Mit Hörbeispielen auf CD. (Kommunkation audiovisuell Bd. 34). Konstanz: uvk 2007, S. 191-216. Matthias Bickenbach Von der Dichterlesung im medientechnischen Zeitalter Thomas Klings intermediale Poetik der Sprachinstallation ah, ah, denne! (Thomas Kling) Welche Stellung nimmt die Dichterlesung in der Mediengeschichte des O-Tons ein? O-Ton gibt es erst, seitdem Töne technisch gespeichert werden. Die Dichterlesung dagegen ist eine uralte Institution der Aufführung literarischer Werke. Sie ist keineswegs ausgestorben, sondern im aktuellen Literaturbetrieb als Lesereise der AutorInnen fest installiert. Der Dichterlesung haftet etwas von der Aura des Authentischen an, das die gesprochenen Worte nah an den Originalitätsbegriff des Textes rücken lässt. Auch im Zeitalter professionellen Literaturmanagements ist die Autorenlesung mehr als eine Informationsveranstaltung. Neben der Bekanntschaft mit dem Inhalt, ist die Bekanntschaft mit dem Autor ausschlaggebend. Wie gut sie oder er liest ist zweitrangig, man darf aber davon ausgehen, dass Autoren sehr gut lesen, weil sie ihren Text besser als jeder andere kennen und weil sie ihn schon oft gelesen haben. Dennoch ist das Verhältnis der Autorschaft zum Text ein ganz anderes als das zum Vortrag. Die tonale Übertragung von der Schrift zum Vortrag spielt nicht zwischen zwei Medien, sondern zwischen drei Stadien des Werks. Das Verhältnis des fertiggestellten, des gedruckten Textes zu seiner lauten Lektüre ist für den Autor nicht nur eine Aufführung objektiv materialisierter Zeichen, sondern ebenso eine ständige Resonanz zwischen dem einst zu Schreibenden, dem tatsächlich Geschriebenen und seinem gedruckten Zustand, der nach Paul Valérys Einsicht selbst schon „mit lauterer und festerer Stimme spricht“. 1 Dabei wird die Lesung für den Autor zum „genauesten und erbarmungslosesten Prüfstand“ für die „Tauglichkeit“ seines Buches: „Erst wenn ich Abend für Abend, woche nlang, dieselben 1 Paul Valéry: Die beiden Dinge, die den Wert eines Buches ausmachen, in: ders.: Über Kunst. Essays. Frankfurt/M. 1965, S. 15-22, hier S. 15f. „Dies ist eine wesentliche Voraussetzung für die Hervorbringung der elementaren Tätigkeiten unseres Gehirns, die auf die Reize der Schrift mit eingebildeten oder wirklichen Tönen, mit Bedeutung antwortet.“

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In: Harun Maye, Cornelius Reiber, Nikolaus Wegmann (Hg.): Original / Ton. Zur Mediengeschichte des O-

Tons. Mit Hörbeispielen auf CD. (Kommunkation audiovisuell Bd. 34). Konstanz: uvk 2007, S. 191-216.

Matthias Bickenbach

Von der Dichterlesung im medientechnischen Zeitalter

Thomas Klings intermediale Poetik der Sprachinstallation

ah, ah, denne!

(Thomas Kling)

Welche Stellung nimmt die Dichterlesung in der Mediengeschichte des O-Tons ein? O-Ton

gibt es erst, seitdem Töne technisch gespeichert werden. Die Dichterlesung dagegen ist eine

uralte Institution der Aufführung literarischer Werke. Sie ist keineswegs ausgestorben,

sondern im aktuellen Literaturbetrieb als Lesereise der AutorInnen fest installiert. Der

Dichterlesung haftet etwas von der Aura des Authentischen an, das die gesprochenen Worte

nah an den Originalitätsbegriff des Textes rücken lässt. Auch im Zeitalter professionellen

Literaturmanagements ist die Autorenlesung mehr als eine Informationsveranstaltung. Neben

der Bekanntschaft mit dem Inhalt, ist die Bekanntschaft mit dem Autor ausschlaggebend. Wie

gut sie oder er liest ist zweitrangig, man darf aber davon ausgehen, dass Autoren sehr gut

lesen, weil sie ihren Text besser als jeder andere kennen und weil sie ihn schon oft gelesen

haben.

Dennoch ist das Verhältnis der Autorschaft zum Text ein ganz anderes als das zum Vortrag.

Die tonale Übertragung von der Schrift zum Vortrag spielt nicht zwischen zwei Medien,

sondern zwischen drei Stadien des Werks. Das Verhältnis des fertiggestellten, des gedruckten

Textes zu seiner lauten Lektüre ist für den Autor nicht nur eine Aufführung objektiv

materialisierter Zeichen, sondern ebenso eine ständige Resonanz zwischen dem einst zu

Schreibenden, dem tatsächlich Geschriebenen und seinem gedruckten Zustand, der nach Paul

Valérys Einsicht selbst schon „mit lauterer und festerer Stimme spricht“.1 Dabei wird die

Lesung für den Autor zum „genauesten und erbarmungslosesten Prüfstand“ für die

„Tauglichkeit“ seines Buches: „Erst wenn ich Abend für Abend, wochenlang, dieselben

1 Paul Valéry: Die beiden Dinge, die den Wert eines Buches ausmachen, in: ders.: Über Kunst. Essays.

Frankfurt/M. 1965, S. 15-22, hier S. 15f. „Dies ist eine wesentliche Voraussetzung für die Hervorbringung der

elementaren Tätigkeiten unseres Gehirns, die auf die Reize der Schrift mit eingebildeten oder wirklichen Tönen,

mit Bedeutung antwortet.“

2

Stellen vorgetragen habe, ohne den Text und damit mich am Ende zu hassen, halte ich einen

Roman, als Legende um den eigenen Körper, für einigermaßen gelungen.“2

Handelt es sich bei einer Dichterlesung um O-Ton oder um Sounddesign der Texte? Welchen

Status beansprucht die Lesung: den einer authentischen „Verwirklichung“ dessen, was

geschrieben steht oder den einer spontanen oder inszenierten Variation des Mediums Schrift

in einem anderen, die andere Seiten zur Geltung bringt, ohne zugleich privilegierter Zugang

zu Sinn und Bedeutung zu sein? Ist das Medium der Stimme des Dichters eine Aufführung im

Sinne von Performance oder eine Erweckung des originalen Textes aus den „toten

Buchstaben“ in das „lebendige Wort“?

Der Medienwechsel vom Text zum Ton erscheint als besonders mühelos. Während die

Umsetzung von Literatur in Bilder - sei es als Illustration, als auktorial kalkulierter Iconotext

oder als Literaturverfilmung – stets problematisch bleibt, funktionieren Lesungen als

Direktübersetzung scheinbar ohne Reibungsverluste. Der Erfolg von Hörbüchern gründet

offensichtlich in der Ersetzung von Lektüre durch Hören. Die Anstrengungen der Umsetzung

gedruckter Buchstaben in Sinneinheiten entfällt. Die Entbindung vom Auge ermöglicht

andere Aktivitäten und löst die Bindung zum Buch, die ja die imobile Lesehaltung

einschließt: Literatur lässt sich nebenbei rezipieren. Vor allem aber ersetzt das Hörbuch eine

„dividenda animi“, eine Teilung des Geistes oder der Aufmerksamkeit. Quintilian hat im

Kontext seiner Rhetorik als erster auf die Notwendigkeit der Lektüre, unterschiedliche

Medien, Auge und Ohr, zu koordinieren, hingewiesen. Das lesende Auge einerseits, die

Übersetzung der Buchstaben in Sinneinheiten und Bedeutung und deren laute Ausprache sind

in der Kunst des Lesens nicht gleichgeschaltet, sondern zeitversetzt. Die Augen müssen dem

Lautieren laufend vorausgreifen, um der treffenden Formulierung die Zeit zu geben, während

die Augenbewegung beim Sprechen schon die nächsten Phoneme, Lexeme und Morpheme

anspringen. Deshalb erfordert Lesen eine eigenständige Form der Aufmerksamkeit, die fast

alles andere ausschließt und lautes Lesen ein hohes Maß an Konzentration und Koordination.

Lesungen, im Radio oder als Erfolgsmedium des Hörbuchs, entlasten von diesem

Rezeptionsrahmen, den Lektüre fordert.

Als ob eine fremde Stimme (und sei es die des Autors) die Töne hervorbringen könnte, die

man selbst läse – selbstgelesene Akustik eines literarischen Textes – funktioniert der Erfolg

von Hörbüchern durch diesen Tausch der eigenen mit der fremden Stimme. Die fremde

Stimme avanciert zum O-Ton. Und welcher Ton könnte näher am Original stehen, als die

Stimme des Dichters, der seine Werke liest?

2 Bodo Kirchhoff: Legenden um den eigenen Körper. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt/M. 1995, S. 159.

3

Die These dass es sich dabei nicht um dasselbe handelt erscheint weniger plausibel als die

Vorstellung, zwischen Gelesenem und Geschriebenem bestehe kein wesentlicher Unterschied.

Diese scheinbar problemlose oder reibungslose Übersetzung gründet in dem uralten Privileg

der Stimme, das Jacques Derrida bekanntlich als „Phonozentrismus“ des westlichen

Abendlandes hervorgehoben und ausführlich in seinen philosophischen und

zeichentheoretischen Voraussetzungen kritisiert hat.

Der Punkt, an dem sich Ton und Literatur treffen und an dem sie immer schon zueinander

gefunden haben verdankt sich dem intermedialen Umstand eines phonetischen Alphabets. Die

Kreuzung von phoné, Laut, Stimme und litterae, Buchstaben, begründet eine implizite

Hierarchie der Zeichen. Die Stimme als gleichsam natürlich Einheit des Sinns verbürgt die

Übertragung der Bedeutung auch im Medium der Buchstaben. Sie wird so gleichermaßen zum

Vorbild der Kommunikation wie zu einer weit reichenden Vorstellung von Präsenz oder

Anwesenheit. Schriftliche Kommunikation gilt demnach als nur defizitäre Stufe des

gesprochenen Wortes. Denn nach Aristoteles ist "das in der Stimme Verlautende [das]

Zeichen für die in der Seele hervorgerufenen Zustände und das Geschriebene Zeichen für das

in der Stimme Verlautende".3

Gemäß dieses Privilegs der Stimme, den Zuständen der Seele näher zu stehen, gilt es in der

Lektüre von Literatur den Ton als originales Bedeutungsmedium der Schrift, zurückzuholen.

Noch Hans Georg Gadamers Hermeneutik Wahrheit und Methode notiert zur Lektüre und als

Aufgabe der Kunst des Verstehens:

"Alles Schriftliche ist […] eine Art entfremdete Rede und bedarf der Rückverwandlung der

Zeichen in Rede und in Sinn. Weil durch die Schriftlichkeit dem Sinn eine Art von Selbstent-

fremdung widerfahren ist, stellt sich diese Rückverwandlung als die eigentliche hermeneuti-

sche Aufgabe."4

In der Dichterlesung fielen damit Ursprungsmythos der Sprache als O-Ton wie originaler

Sinn und authentische Verlebendigung durch die Stimme des Autors zusammen. Liest der

Dichter live, lebt die Dichtung. Insbesondere für Lyrik als Format lauter Lesung gilt die

Definition von Literatur als Ort einer „Naturgeschichte des Reims“ bis heute fort.5

3 Aristoteles: De interpretatione. I, 16 a3. Zitiert nach Jacques Derrida: Grammatologie. Frankfurt a. M. 1974, S.

24ff. 4 Hans Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. 5. Aufl. Tübingen 1986, S. 397.

5 Vgl. Peter Rühmkorf: agar agar – zaurzaurim. Zur Naturgeschichte des Reims und der menschlichen

Anklangsnerven. Frankfurt/M. 1985. Rühmkorf führt Lyrik auf die anthropologische Disposition, an Reimen

gefallen zu haben, zurück.

4

Weniger durch die dekonstruktive Kritik, als durch kultur- und mediengeschichtliche

Forschungen ist jedoch deutlich geworden, dass auch die Stimme eine Geschichte hat.6 Auch

die Stimme ist, anders gesagt, ein kulturelles Medium und daher in historischen

Konstellationen zu beobachten, statt als Originalton eines unveränderlichen natürlichen

Zeichens. Das laute Lesen in der oralen Tradition der Antike ist durchaus ein anderes als das

des Mittelalters oder der Goethezeit.7 Zwischen der Auffassung von Poesie als oratio ligata

des Barock und dem Selbstverständnis der Lyrik seit Klopstock herrschen gewaltige kulturelle

Unterschiede, die auch die Funktion des Vortrags entscheidend verändern.8

Erst unter dieser Perspektive einer Vielfalt von Stimm- und Soundtechniken in der Kultur-

und Mediengeschichte kann auch wieder ins Bewußtsein rücken, dass schon die antike

rhetorische Tradition, namentlich Cicero, auf einem geradezu medientheoretisch reflektierten

Niveau Techniken der Stimme etablierte, die auf ihre subversive Wirkung unbemerkter

Vereinnahmung zielt. Darauf ist zurückzukommen.

O-Töne gibt es erst, seitdem sie speicherbar sind. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass die

Mediengeschichte des O-Tons in der Chronik technischer Erfindungen seit Edinsons

Phonographen aufgeht. Vielmehr zeigt sich hier, dass Medientechniken kulturspezifische

Formationen darstellen. Ihre Verwendung und Bewertung, ihre Erfindung und

Funktionsfindung, ihre Entstehung und Stabilisierung als Medium decken sich nicht mit ihren

technischen Funktionen. Denn ob ein Medium erfolgreich wird oder nicht, darüber

entscheiden kulturelle Annahmebedingungen. Inwiefern der O-Ton ein kulturspezifisches

Medium ist, zeigt sich als Name der Funktion. Das technisch Speicherbare von Tönen erlangt

einen Status und eine Verwendung zugleich. Aber die Auszeichnung als dokumentarischer

Wert ist eine kulturelle Konvention, die Gespeichertes in bestimmter Form verwendet. Mit

dieser Erfindung stellt sich eine Unterscheidung in der Ordnung von Tönen und Klängen ein,

die weitere kulturelle Unterscheidungen schafft. Sie münden in die Formate der Medien,

„Live“ oder „O-Ton“. Die Dichterlesung, ebenso beides wie ein Drittes, ist ebenfalls eines.

Als O-Ton gilt keineswegs das sprichwörtlich flüchtige gesprochene Wort selbst, der flatus

vocis oder gar das eine Situation umgebende Rauschen. Weder alltägliche Kommunikation

noch die Sounds, die unsere Ohren füllen und filtern, sind als O-Ton ausgezeichnet, so

original sie sind. Allein der medial aufbereiteten „Ton-Konserve“ gilt die kulturelle

Begriffsbestimmung. Erst die Speicherung macht den Ton, der längst vergangen ist, zum O-

Ton. Erst in der späteren Wiederholung wird er zum Original einer dokumentarisches 6 Nicht erst seit der Zäsur technischer Medien. Vgl. Karl-Heinz Göttert: Geschichte der Stimme. München 2001.

7 Vgl. Matthias Bickenbach: Von den Möglichkeiten einer ‚inneren‘ Geschichte des Lesens. Tübingen 1999. 8 Zu Klopstock und der lauten gemeinsamen Lektüre als Vereinigung der Herzen vgl. den Beitrag von Harun

Maye in diesem Band.

5

Funktion. Es ist dabei kein Zufall, dass der Begriff zunächst auf gesprochene Worte und die

Stimme von Zeitzeugen gemünzt ist und erst in der weiteren Verwendung auf alle

aufgezeichneten Töne Verwendung findet.9 Die konstitutive Wiederholung und ihre

Möglichkeit, sich immer wieder zu ereignen, entspricht damit gerade nicht dem traditionellen

Begriff der Kunst vom Original, sondern einem vordergründig pragmatischen, in der Sache

aber dekonstruktiven und am Medium der Schrift orientierten Originalitätsbegriff, der darauf

insistiert, dass original nur sein kann, was sich wiederholen lässt.10

Dass O-Töne ein kulturelles Sounddesign darstellen, dessen Wert in der zeitversetzten

Wiederholung gründet, zeigt auch der medientechnische Begriff „live“. Die Liveschaltung –

gleichwohl technisch minimal zeitversetzt („Totzeit“) – reserviert die Direktübertragung und

besetzt die Lücke, die der O-Ton als institutionalisiert zeitversetzter Mitschnitt lässt.

Offensichtlich unterscheidet unsere Kultur also zwischen Tönen, die aktuell statt haben, O-

Tönen, die live übertragen werden und O-Tönen, die unter diesem Namen anerkannt und in

den Massenmedien eingesetzt werden. Der O-Ton ist ein stets schon historisches Dokument,

das begründet seinen Wert und seine Pragmatik.

Der Name, eine Sprachregelung, verbürgt die Authentizität dessen, was die technische

Speicherbarkeit erst hervorbringt.11

Zugleich ist O-Ton aber durchaus Sounddesign. Er ist

nicht nur bearbeitet, geschnitten und von störenden Geräuschen, Räuspern und Stockungen

bereinigt. Aber das macht keinen Unterschied für seinen kulturellen Status als

Originaldokument. Auch wenn gerade das geschnitten wird, was womöglich das Einmalige

der Situation kennzeichnet, die spontane stimmliche Aufführung, der Versprecher,

beeinträchtigt dieses Wissen um die Aufbereitung des O-Tons seinen kulturellen Wert nicht.

Sounddesign aber ist O-Ton schon als Institution selbst, als Auswahl und als Teil der ihn

umgebenden, hervorbringenden Formate, innerhalb derer er als Funktion erscheint. Dass

dieses Sounddesign als dokumentarische Funktion in den Massenmedien erfolgreich ist,

9 Die Definition von O-Ton gibt ein Stück Literatur. Salomo Friedlaenders Kurzgeschichte „Goethe spricht in

den Phonographen“ (1916) fingiert einen auf Goethes Stimmfrequenzen abgestimmten Apparat, mit dem seine

Stimme zunächst simuliert werden kann. Dies sei jedoch, „noch nicht die wirkliche Wiederholung wirklich von

ihm gesprochener Worte“. Erst im Arbeitszimmers Goethes in Weimar „empfängt“ der Erfinder den O-Ton des

Dichters. Die Kurzgeschichte ist abgedruckt in Friedrich Kittler: Grammophon, Film, Typewriter. Berlin 1987, S. 93-107, hier S. 97. Drei Jahre später wird Rainer Maria Rilke das „Urgeräusch“ gänzlich von menschlichen

Stimmen ablösen Zum Kontext des Diskurs- und Medienwechsels vgl. ebd., S. 61ff., vgl. auch Kittler:

Aufschreibesysteme 1800 1900. München. 2. Aufl. 1987, S. 321ff. 10 Das Original ist damit ein – kultureller – Zeichenzusammenhang oder – mit Foucault - eine Regel des

Diskurses. Vgl. zur notwendigen Wiederholungsstruktur des Zeichens und dem Zusammenhang zum

Schriftbegriff vgl. Jacques Derrida: Ereignis Signatur Kontext, in ders.: Randgänge der Philosophie. Wien 1988,

S. 291-314. 11 „Aber um Rauschen und Nachrichten überhaupt zu unterscheiden, muß Reales über technische Kanäle laufen

können. Das Medium Buch kennt Druckfehler, aber kein Ur-Geräusch.“ Kittler: Aufschreibesysteme, S. 323.

6

beruht auf seiner memorialen Funktion: Der Wert des O-Tons ist sein auditives kulturelles

Gedächtnis.

Vor diesem grob skizzierten Hintergrund einer allgemeinen Mediengeschichte des O-Tons

interessiert im folgenden die Geschichte der Dichterlesung im späteren 20. Jahrhundert. Ist

der Mythos des ‚lebendigen Wortes‘, des „pfingstlich puren O-Tons“ (Kling) im Zeitalter der

elektronischen Speicher- und Übertragungsmedien ungebrochen wirksam oder schon ganz

vergessen und überholt? Wie positioniert sich die Dichterlesung in einer Umwelt der

Literatur, die mulitmedial, genauer gesagt, intermedial strukturiert ist?

Eine Geschichte der Dichterlesung, zumal der neueren seit 1950, liegt nicht vor und so ist es

ein glücklicher Umstand, dass ein Dichter, dass Thomas Kling sie in Auszügen gibt. Seine

poetologischen Ausführungen geben zweierlei zu entdecken: Eine Wiederentdeckung des

lauten Lesens jenseits des phonozentrischen Mythos sowie einen Einblick in die intermediale

Poetik seiner Lyrik selbst.

Die Geschichte der Dichterlesung, die Kling autobiographisch und das heißt lückenhaft

erzählt (Ernst Jandls Auftritt in der Royal Albert Hall oder das Leseritual der Gruppe 47 als

Vorbild des Ingeborg-Bachmann Preises spielen keine Rolle) ist untergründig eine Geschichte

der Desillusion. Zwei Erfahrungen, eine historisch und eine biographische, bewirken eine

„Neuformulierung“ der Dichterlesung, die eine Re-Orientierung an alternativen Traditionen

des Dichters ebenso einschließt wie unter dem Titel „Sprachinstallation“ die immanente

Poetik der Texte vor ihrer Aufführung. Thomas Kling konnte seine Poetik der

Sprachinstallation als Konzept „mundraum – sendeflächen“ des steirischen herbst 1999 mit

anderen LyrikerInnen öffentlichkeitswirksam vorstellen. Neben seinen Lyrikbänden liegen

zwei Bände poetologischer Schriften vor (Itinerar,1997 und Botenstoffe, 2000) sowie eine

von ihm herausgegebene Lyrikanthologie mit Gedichten vom 8. bis zum 20. Jahrhundert

(Sprachspeicher, 2001). Die Texte führen auf eine Genealogie des lesenden Dichters, die sich

vor allem an Aspekten der Performanz durch den Vortrag orientiert.

Reisestationen der Dichterlesung seit 1950

Itinerar eröffnet mit einer polemischen literaturgeschichtlichen Ordnung jüngerer

deutschsprachiger Lyrik, die sich an ihrer Dichterlesung orientiert. Es ist der Auftakt zu einer

Reise durch einige ihrer Stationen, in deren Verlauf Kling die Herkunft dessen, was er

„Sprachinstallation“ nennt, erzählt.12

Er gibt damit einen Einblick in verschiedene Formen

von Dichterlesung in denen sich Stimme, Sound und Medien in den letzten fünf Jahrzehnten

12 Thomas Kling: Itinerar. Frankfurt/M. 1997. „Itinerar“ bedeutet Reisestation ebenso wie Reisetagebuch.

7

unterschiedlich formiert haben. Gegen die Auffassung, die Dichterlesung sei immer gleich, im

Grunde wenigstens nur jetzt mit Mikrophon, setzt Kling verschiedene Traditionen, die ihn,

wie man sagt, beeinflusst haben, die aber, so die Pointe, allesamt etwas vergessen haben: Das

Lesen selbst als Performanz der Texte.

Der erste Satz des Textes mit dem Titel Sprachinstallation I lautet: „Die Dichterlesungen der

80er Jahre müssen denen der 70er geähnelt haben. In den 80ern jedenfalls waren sie piepsig

und verdruckst, vor allem aber von peinigender Langeweile.“13

Darüber in den 90er Jahren

Konsens zu erzielen, sei, so Kling, eine „der leichteren Übungen“. Sein Statement ist überaus

selbstbewußt. Der Lyrik dieser Jahrzehnte wird unterstellt, sie sei so wie ihre Vorlesung,

nämlich größtenteils „ausgesprochen nichtssagend“ und mehr noch: „der Sprache gegenüber

eine Frechheit.“14

Da spricht einer von einer festen Position aus, einer, der kulturell wie

intellektuell seine Position gefunden hat.15

Es ist jedoch nicht die Frage, ob einer sich das

leisten kann, so zu sprechen oder ob dies in die Rolle junger Poet, poète maudit, angry young

man, fällt. Die Frage ist, mit welchen Argumenten, mit welchen Reisegepäck, einer kommt.

Die Polemik des jüngeren Dichters über seine vorangegangene Generation, die es auch aus-

führlicher gibt, steht unter dem Titel Sprachinstallation I und deutet damit schon an, dass am

Ende der 90er Jahre ein zugleich technischerer, aber auch kreativerer Umgang mit Sprache,

Lyrik und deren Lesung eingefordert wird, als piepsig (Mikrophon) und verdruckst,

(technikverdrossen) über das Manuskript gebeugt vorzulesen.

Kling weiß allerdings sehr gut, dass es nicht einfach seine biographische Reisestationen sind,

welche die Epoche der Performance als Dichtunglesung prägt. Sie geht ihm voraus. Er selbst

stößt „79“ auf sie, in Wien. Spät also, viel zu spät, um am Ursprung zu partizipieren. Es ist

vielmehr eine Wiederentdeckung:

„Dort hatte sich seit den frühen 50er Jahren die Autoren der Wiener Gruppe, mit Ausnahme

H.C. Artmanns […], vor allem für den theoretischen Aspekt des Gedichts interessiert; es

waren Versuchsanordnungen, die Konsequenzen hatten.“16

13 Kling: Itinerar, S. 9. 14 Der Blick in die Literaturgeschichte der Lyrik lässt ahnen, dass Kling so unrecht nicht hat. Vgl. Michael

Braun: Lyrik, in: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Gegenwartsliteratur seit 1968, hier S. 430

zur „lyrische[n] Schreibweise in den siebziger Jahren“ in der alltägliche Gedanken, Gefühle und Erfahrungen,

Stimmungen und Innerlichkeit zur Thematik des ‚lyrischen Ichs‘ wurden sowie zu den Labeln von „Neuer

Sensibilität“, „Neuer Subjektivität“ oder „Alltagslyrik“. 15

Thomas Kling gilt dem Times Literary Supplement als „einer der herausfordensten und komplexesten Dichter

der deutschen Gegenwartsdichtung“, der Neuen Zürcher Zeitung gar als „bedeutende[r] Lyriker des 20.

Jahrhunderts“, so tun es die Klappentexte seiner Bücher kund. 16 Kling: Itinerar, S. 9.

8

Diesen Konsequenzen ist im folgenden nachzugehen. Sie bilden eine Fallgeschichte der

Dichterlesung, in der über die Stadien „Aktion“, „Performance“ und „Sprachinstallation“,

eine reflektierte Wiederkehr des Lesens statt hat.

Die Wiener Gruppe war mit ihrer Programmatik auf den Text gekommen, auf „reine

Wortarbeit“, lies Schriftarbeit. Konkrete Poesie und Schreibmaschine, möchte man

zusammenfassen. Die erste Konsequenz, die diese Reorientierung der Lyrik am Medium der

Schrift hatte, waren Fragen der Textpräsentation jenseits des Gedruckten. In gewisser Weise

wurde der Ton verwiesen. Die „sogenannte Dichterlesung“ wurde abgelehnt.17

Das erste

öffentliche Auftreten der Gruppe 1957 war jedoch, so Kling, geradezu „konventionell – die

Dichter in einer Reihe auf dem Podium, jedem sein Pult“.18

Erst in den beiden darauf

folgenden Jahren wurden die „verschütteten Spuren der Avantgarden des frühen 20.

Jahrhunderts“ wiederentdeckt, konkret das Caberet Voltaire in Zürich als Wiege des

Dadaismus. Parallel zum Fluxus-Happening wurde so 1958/59 mit dem, was die Wiener

Gruppe „Aktion“ nannte die Dichterlesung zur „Performance“. Dies bedeutete eine

Veränderung der Aufführungssituation, aber nicht unbedingt die Veränderung des Lesens im

Vortrag. Die Stimme des Dichters wurde der Medienkonkurrenz anderer Übertragungs- und

O-Ton-Medien ausgeliefert:

„Der Vortrag von Dichtung trat deutlich hinter den breit angelegten Einsatz anderer, zum Teil

Simulation eingesetzter Kommunikationsprothesen (Film, Tapes..., ,- Multimedia at it‘s best!)

zurück“19

Man stellt ein Radio vor das Publikum auf die Bühne, auf einen zufälligen Sender gestellt,

und zieht sich zurück. Man zertrümmert medienwirksam das Klavier. An die Stelle der

Stimme tritt der Originalton als theatralische Sendung im Liveact. Die „Aktionen“

verabschiedeten gezielt das gehobene Klima der Dichterlesung. Das Publikum sollte

keineswegs als reaktionsfähiges Rezeptorium behandelt, sondern, so die Regel der Wiener

Aktionen, als „Gegenstand“. In der Performance der Dichterlesung wurde ein „vorderhand ein

literaturfernes Eingangsklima geschaffen: fünfundvierzigminütige Beschallung des Publikums

mit Bohrinselsounds vom Band“.20

Orignalton Lärm trifft den Orignalton Stimme. Obwohl diese Aktionen nicht nur als Skandal,

sondern, zur Irritation der Dichter, vom Publikum auch als Unterhaltung goutiert wurden,

17

Vgl. ebd., S. 10. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 12. 20 Kling: Itinerar, S. 12.

9

gehören diese Station der Dichterlesung der Geschichte an. Kling notiert seinen eigenen

Eintritt am Endpunkt dieser historischen Etappe:

„Das, was die Wiener Gruppe 1958/59 anstelle von Lesungen zeigte, sie nannten es Aktionen,

war Performance; ein Begriff, der in die 70er gehört und für mich Anfang der 80er, als ich

aufzutreten, zu lesen, begann, schon nicht mehr verwendbar war. Performance: das war völlig

ausgefranst, vollkommen vernutzt, hat es auch inzwischen, staunenswerte Geschwindigkeit,

bis in den Duden geschafft“.21

Die Genealogie, in die Kling sich stellt, wird als historisch vergangene distanziert. Er selbst

fängt an zu lesen und dieses „zu lesen“ ist im Zitat kursiv gesetzt. Die schriftliche

Hervorhebung markiert nichts anderes, als den Verlust der Lesung in der Performance. Auch

deshalb mag Kling sich am Begriff der Performance nicht zufrieden geben, ist er für ihn

„nicht mehr verwendbar“.22

Wurde in den Aktionen der 1960er Jahre der „medienkritische Aspekt“ keineswegs

vernachlässigt,23

so rückte doch die Apparatur an die Stelle der Lesung oder integrierte diese

ohne sie zu verändern. Die Performanz der Lesung selbst wurde in der Performance ebenso

vergessen wie im Mainstream der Dichterlesungen der 1970er und 1980er Jahre. Eine erste

biographische Reisestation markiert die Absetzung Klings von diesen Dispositionen. 1983

gerät er aus Zufall („hast du was zu lesen dabei, klar“) selbst in eine Lesung im Kontext der

Performancepraxis:

„Wir betraten dann die Bühne, altes Wiener Gruppen-Konzept, […] als beträten wir ein

Kaffeehaus, behandelten die Zuschauer im überfüllten Saal als Gegenstand, ich […] hängte

meine Jacke an einem imaginären Garderobenhaken auf, die knallte hübsch auf die Bretter

[…] die Leute waren schier begeistert, jetzt schon – dann las ich vom Standmikro aus.“24

Damit endet der Text Sprachinstallation I: „- dann las ich vom Standmikro aus“. Der latent

kritische Unterton Klings, die Desillusion, zehrt hier ganz vom Unausgesprochenen, von der

lautlosen Markierung der Schrift, konkret von den oben erwähnten Kursiva in „zu lesen“ wie

hier vom parenthetischen Bindestrich, dem Zögern oder Stocken, der Störung zwischen

„begeistert, jetzt schon“ und „- dann las ich“.

21 Ebd., S. 11. 22 Vgl. Kling: Itinerar, S. 18. Das Wort Performanz, das im aktuellen kulturwissenschaftlichen Diskurs wieder

auf breiter Front zu Ehren kommt, ist gleichwohl als linguistischer Begriff zur Beschreibung der Lyrik Klings

zutreffend. Er selbst geht der Etymologie des Wortes nach und betont die aktiven Elemente der Aufführung und

schlägt den Begriff „Performer“ vor, ohne allerdings auf die linguistische Unterscheidung von konstativen

Sprechakten, die etwas benennen und performativen Sprechakten, die etwas ausführen, näher einzugehen. Als

Label ist Performance historisch, als Erinnerung an eine Wirkungsqualität der Sprache nicht. 23 Ebd., S. 11. 24 Ebd., S. 13.

10

Diese Erfahrung korrespondiert einer historischen, die exakt in jenem Vorbild der Wiener

Aktionen zu sehen ist.

Wie Hugo Ball zur Eröffnung des Cabaret Voltaire wie des Dadaismus 1916 in Zürich in

futuristischem Kostüm Dada las, gilt Kling als „eines der aufschlußreichsten Beispiele“25

für

das Schicksal der Lesung im Kontext der Performance. Hugo Ball tritt ins abstrakte

Bühnenbild und liest „Die Karawane“. Aber er selbst merkt während der Lesung:

„Da bemerkte ich, daß meine Stimme, der kein anderer Weg mehr blieb, die uralte Kadenz

der priesterlichen Lamentation annahm, jenen Stil des Meßgesangs […]. Ich weiß nicht, was

mir diese Musik eingab. Aber ich begann meine Vokalreihen rezitativartig im Kichenstile zu

singen.“26

Kling resümiert:

„Das für alle Seiten Überraschende: zum Schluß ist der gute alte Priesterdichter wieder

installiert. Die Differenz zur nornenhaften Séance Georgeschen Zuschnitts, der

Fratzenhaftigkeit der Dichterlesung an sich, wird ausgesprochen minimal. […] Der singende

romantische Automat! Der pfingstlich-pure O-Ton!“27

Es geht um eine minimale Differenz, die den Unterschied macht. Die eigene Erfahrung am

Standmikrophon und die historische Hugo Balls ist für Kling Grund genug, die Dichterlesung

neu zu definieren. Was als „Sprachinstallation“ einen Unterschied zum Mainstreamwort

Performance markiert, ist seitdem selbst zum Label geworden, für „literal-multimediale mit

live gesprochener dichterischer Sprache gekoppelte events“.28

Die Sprachinstallation Klings ist weder Performance und auch etwas anderes als „slam

poetry“ oder andere Formen der Dichterlesung, die den Originalton des Sprechens in den

letzten Jahrzehnten wiederentdeckt haben. Kling grenzt sich ab:

„Seit etwa Mitte der 80er Jahre können wir ein erhöhtes Interesse in der sprachkritisch-

avancierten deutschen Lyrik an oralen Traditionen feststellen. Ich spreche hier weder vom

trostlos-vergrübelten Alltagsgedicht […] noch soll die Rede sein vom in den 90ern zu beob-

achtenden Beatnik-Revival, das unter der trademark ‚spoken word‘ einer neuen alten Unbe-

kümmertheit das Wort redet. […] Diskreditiert ist der Popbegriff […] seit längerem […].Ich

für meinen Teil habe spätestens seit 1983 mich für eine Neuformulierung der Dichterlesung

eingesetzt“.29

25 Kling: Itinerar, S. 38. 26

Hugo Ball zitiert von Kling, ebd., S. 37f. 27 Ebd., S 38. 28 Ebd., S. 19. 29 Ebd., S. 17.

11

Für seine Form der Lesung hat Kling das Wort „Sprachinstallation“ ausgewählt. Was ist der

Unterschied? Der Begriff bedeutet zunächst die Einrichtung von technischen Geräten in

einem Raum. Doch die Poetik der Sprachinstallation setzt weniger auf den

Aufführungskontext der Lesung, als auf die Sprache als einer Installation eines kulturellen

Gedächtnis selbst. Die Sprachinstallation ist nicht die technische Installation der Sprache in

der Lesung, sondern eine im Text des Gedichtes als Sprachfügung bereits installierte, die

Kling als einen übergreifenden intermedialen historischen Sprachraum konzipiert.

Die Intermedialität, in der der Text und sein Vortrag als differente Medien stehen, ist in

Thomas Klings Poetik ein Programm bis in die Strukturen und Themen seiner Lyrik hinein.

Seine Gedichte inszenieren den Wechsel von Medien aller Art. Sie mischen historische und

aktuelle Sendungen, seien sie Sprachformen, Briefe, Fotos oder fiktive Live-Reportagen,

bedienen sich der Sprache filmischer und elektronischer Bild- und Tonregie. Die Lesung als

Vortrag steht daher in engem Kontext mit der Intermedialität seiner Texte selbst.30

Intermedialität als Theorie der nicht nur technischen, sondern auch historischen und

kulturellen Verhältnisse zwischen Medien, findet in Thomas Klings Poetik ein komplexes

Beispiel für das Gedicht als Sprachkunstwerk, das sich aller Medien bedient.31

Das Mischpult der Sprache. Intermediale Poetik der Botenstoffe

Intermedialität als Lage der Dichterlesung bedeutet nicht nur äußere technische Bedingungen,

nicht nur die Apparate ihrer Aufführung, Mikrophon und Lautsprecher, Hörkassette, CD,

Lightshow, Videoshow - was auch immer zum Einsatz kommt. Es ist nicht der Gebrauch

technischer Medien, der in einer Performance gemacht wird. Konsequent ist – und das ist

Thomas Kling Poetik – die Öffnung der Lyrik selbst als Intermedium, als Speicher und

30 „Diese für alle Medien charakteristische Tatsache bedeutet, daß der ‘Inhalt’ eines Mediums immer ein anderes

Medium ist.“ Marshall McLuhan: Das Medium ist die Botschaft. In: ders.: Die magischen Kanäle.

Understanding Media. Frankfurt/M. 1970, S. 17-30, hier S. 17. McLuhan, auf den Intermedialität als

Grundstruktur aller Medien zurückgeführt werden kann, hebt das „Prinzip der Kreuzung als Methode zur

schöpferischen Entdeckung“ für den modernen Künstler emphatisch hervor: „Der Bastard oder die Verbindung

zweier Medien ist ein Moment der Wahrheit und Erkenntnis aus dem neue Form entsteht. Denn die Parallele

zwischen zwei Medien läßt uns an der Grenze zwischen Formen verweilen, die uns plötzlich aus der

narzißtischen Narkose herausreißen. Der Augenblick der Verbindung von Medien ist ein Augenblick des

Freiseins und der Erlösung vom üblichen Trancezustand und der Betäubung, die sie sonst unseren Sinnen

aufzwingen.“ Ebd., S. 63. 31 Zur Diskussion der Rolle von Intermedialität als historischer Dimension von Medien am Beispiel der

Fotografie vgl. Matthias Bickenbach: Die Intermedialität des Photographischen, in: Jürgen Fohrmann, Erhart

Schüttpelz: Die Kommunikation der Medien. Tübingen 2003, S. 126-166. Zur Theorie der Intermedialität, die

sich selbst auf intertextuelle oder systemtheoretische Theoriegrundlagen rückbezieht vgl. Jörg Helbig (Hg.):

Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Berlin 1998. Thomas Eicher, Ulf

Bleckmann (Hg.): Intermedialität. Vom Bild zum Text. Bielefeld: Aisthesis 1994. Peter V. Zima (Hg.):

Literatur Intermedial. Musik-Malerei-Photographie-Film. Darmstadt 1995. Jürgen E. Müller:Intermedialität.

Formen moderner kultureller Kommunikation. München 1996. Yvonne Spielmann: Intermedialität. Das System

Peter Greenaway. München: Fink 1998.

12

Wirkung intermedialer, also tonaler, textueller wie visueller Evokationen oder Memoria. Eine

Definition von „Gedicht“ führt vor, wie Kling vom Ton der Sprache zur Mixtur vieler Medien

übergeht - mit überraschenden Folgerung für das Hören von Gedichten:

„Gedichte sind hochkomplexe (‚vielzüngige‘, polylinguale) Sprachsysteme. Kommunikabel

und unkommunikabel zugleich: Hermes als Hüter der Türen und Tore, in diesen

Eigenschaften des Doorman, Schleusenwärters und Botenstoffbeförderers tritt er in

Erscheinung, ein Wirklichkeitsmixer, Reaktionsfähigkeit ist gefragt. Er hat darüber hinaus

Zutritt zur Totenwelt: zu (elektronischen) Bibliotheken. Das Gedicht baut auf Fähigkeiten der

Leser/Hörer, die denen des Surfens verwandt zu sein scheinen, Lesen und Hören – Wellenritt

in riffreicher Zone.“32

Surfen als Form der akustischen Gedichtrezeption ist eine kühne Metapher, die weniger an

beschauliche Einstimmung in hohes Kulturgut als an ebenso vergnügliche wie gefährliche

Assoziationsakrobatik gemahnt. Verschiedene Sprachsysteme sind im Zitat selbst am Werk.

Die Stelle tut, auch ohne Gedicht zu sein, was sie besagt: Sie mischt. Die Definition von

Gedicht bedient sich der wissenschaftlichen Sprache, hier Begrifflichkeiten der

Systemtheorie, zu der die Begriffe der Kommunikation, der Komplexität und natürlich des

Systems gehören. Hermes dagegen ist eine komplexe mythologische Figur, die als Schriftgott

und Götterbote, als Hüter, Dieb und trickreicher Geselle jedoch nicht den Musen-Ursprung

der Literatur voranstellt, sondern ihre medialen Grundlagen. Kling weist dem vielgestaltigen

Götterboten die Position eines Wächters oder Filters zu, der bestimmt, was aufgenommen

wird und was nicht. Ist Hermes ein Ohr? Ist der Bote nicht Aufnehmender und Sendender

zugleich? Also die Sendung selbst? Das Ohr ist ein hybrider Ort, eine Mischung aus

rezeptiver, passiver und sendender, aktiver Schnittstelle. Es unterscheidet sich darin vom

Auge. Die Differenz der Medien, Sinne und Künste ist immer schon Thema der Mythologie

gewesen, die sich später als Paragone oder Widerstreit der Künste fortsetzte. Hermes besiegt

mit dem Klang der eigens für diesen Kampf erfundenen Panflöte den Panoptes, das

kugelrunde Wesen mit seinen allsehenden Argusaugen. Der Ton siegt in der antiken

Mythologie über den Augensinn. Michel Serres hat in seiner synästhetischen „Philosophie der

Gemenge und Gemische“ Die fünf Sinne die mythologische Szene als Ursprung der

Herrschaft des Wortes bezeichnet und die mediale Differenz von Auge und Ohr

herausgestellt:

„Klangereignisse haben keine Ort, erfüllen aber dennoch den Raum. […] Der Blick liefert

etwas Gegenwärtiges, der Ton nicht. […] Hermes kennt den Träger, der keine hermetischen

32 Kling: Itinerar, S. 55.

13

Wände kennt. Der Blick ist lokal, das Hören global. […] Die Optik ist singulär, die Akustik

total. Hermes […] macht sich zum Musiker, denn der Schall kennt keine Hindernisse. Damit

beginnt die totale Herrschaft des Wortes. […] Der Klang siegt über den Blick.“33

Der Ton findet sein Rezeptorium in der überaus komplexen und paradoxen Haut-Mischung

des Ohrs:

„das Trommelfell präsentiert sich nach außen als glatte Haut, nach innen als Schleimhaut, als

harte und weiche Haut […]; die akustische Stoßwelle verwandelt sich in ein chemisches

Signal, das eine elektrische Information ins Zentrum überträgt. In welches Zentrum?

Empfängt die Box, oder sendet sie? Hören heißt schwingen, aber Schwingen bedeutet

senden.“34

Die „Reaktionsfähigkeit“, die auf Seiten der Leser/Hörer gefragt ist, ist demnach nicht eine

der Wahrnehmung oder einer besonderen Leistung derselben als Aufmerksamkeit, sondern

vielmehr körperliche und neurologische Grundlage des Lesers. Hermes jedenfalls, das können

wir der Definition des Gedichts Klings entnehmen, wählt aus und mischt, was wirkt. Aus dem

Boten wird ein „Botenstoffbeförderer“ – und Botenstoffe heißt Klings anderes poetlogisches

Buch.35

Hermes wirkt subkutan, dringt unter die Haut, ist ein gleichsam mikrobiologischer

Bote.

Es handelt sich hier nicht um singuläre Formulierungen, um modische Metaphern, sondern

die Gedichtdefinition in Itinerar steht im Kontext einer Summe von systematischen

Zuschreibungen und Genealogien, denen Thomas Kling seine Lyrik unterstellt.

Geschmacksverstärker oder Erprobung herzstärkender Mittel heißen frühere Lyrikbände

Thomas Klings. Der Bezug zur Sprache als etwas, das wie ein Botenstoff jenseits der

bewußten Wahrnehmung wirkt, unterscheidet Klings Gedichtdefinition von traditionellen

Vorstellungen. Mit ihm verändert sich auch die Rolle des lauten Lesens. Statt privilegiertem

Zugang zur Lyrik wird der Vortrag zum Medium der Infiltration mit historischen

Sprachmaterial.

Botenstoff ist für Kling die Lyrik selbst, das Gedicht. „Wir lesen Gedichte wieder gerne“,

heißt es in der Lyrik-Anthologie deutscher Dichtung vom 8. bis zum 20. Jahrhundert im

Kapitel zur eigenen Epoche: „Wir lesen Gedichte wieder gerne, diese alten und stets

verjüngbaren Botenstoffe“ und - während dieser Verjüngungskur durch Gerne-Lesen 33 Michel Serres: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. Frankfurt/M. 1993, S. 54f. 34 Michel Serres, ebd., S. 189. Die Komplexität des Ohrs, Hammer, Amboß, Tympanon, vor allem aber die

Schrägstellung des Trommelfells lässt Jacques Derrida zu einem Modell der schrägen oder „geschrägten“

Lektüre kommen, die philosophische Diskurse von der Seite her anschneidet, um „[I]hr das Trommelfell zu

gerben – der Philosophie“. Vgl. Derrida: Tympanon, in: ders.: Randgänge der Philosophie. Wien 1988, S. 13-

28. 35 Thomas Kling: Botenstoffe. Köln 2001.

14

erscheint Hermes oder die Kommunikation selbst: „und Hermes-Merkur, der vielgestaltige

Kommunikationsgott zieht vorüber.“36

Fast eine Idylle. Lyrik wird gelesen und der Gott

erscheint, die Kommunikation erscheint höchstpersönlich. Das Gedicht erscheint als

Apotheose aller Kommunikation, als Kompaktkommunikation. Gelesen wird natürlich laut.

Das alles klingt wie ein traditionelles humanistisches Lob der – vergessenen – Qualitäten

lyrischer Bildung durch deren tonale Qualität. Auch das „Verlebendigen“ durch lautes Lesen

notiert Kling. Aber es gibt eine minimale Differenz. Die Schrift, das ABC, ist mit von der

Partie. Die LeserInnen der Lyrik-Anthologie sollen sich

„trauen, die Gedichte laut zu lesen: sie sprechend zu entziffern. Bei Quirinus Kuhlmann

taucht das schöne Worte ‚abecedieren‘ auf. Also bitte, verlebendigen sie die Gedichte, indem

Sie sie ‚abecedieren‘! Sprechen Sie das Gedicht mit – Sie werden sich wundern...“37

Das „abecedieren“ führt die Schrift auf ihre Materialität zurück, die der Phonozentrismus

übersteigt oder dissimuliert und bemüht dennoch dessen Wirkung, das Wundern über die

gesprochene Sprache, die das Gedicht anders erscheinen lässt als in stiller Lektüre. Doch

Klings Diktion der Wirkstoffe und intermedialen Mischung fasst das Wunder

medientechnisch: „Dichtung ist gesteuerter Datenstrom und löst einen solchen im Leser aus.“

Von „Sprachpolaroids“ ist die Rede und von „Ohrbelichtung“, nicht nur wenn der Text zur

Stimme wird. Das heißt: Alle Medien sind gefragt. Die Stimme erscheint nicht mehr als

Anwalt eines verbürgten Sinns, sondern als Medium unter Medien, die Datenströme oder

Assoziationen im Leser auslösen. Text wie Stimme sind unterschiedliche Formen einer

Programmierung, die sich in andere Programme einmischen. Klings Medienmetaphorik ist

keine modernistische Spielerei, sondern sie führt konsequent alle Medien auf eine Funktion

des Erinnerns, auf die Differenz zwischen Speicher, Gedächtnis und Erinnerung zurück.

Als Filter des historischen Sprachrraums, als Sprachspeicher – so der Titel der

Lyrikanthologie – ist das Gedicht „was es immer war: ein Mundraum“.38

Aber auch dieser

Raum ist nicht dem Authentischen und dem Originalton hörig, jedenfalls nicht in einfacher

Weise, sondern ebenfalls einer intermedialen Schnittmenge aller Medien. Der Mundraum ist

nicht der Ort autoritativer Diktion, sondern ein Ort der Verwandlung, der Performanz von

Sinn.

36

Sprachspeicher. 200 Gedichte auf deutsch vom achten bis zum zwanzigsten Jahrhundert. Eingelagert und

moderiert von Thomas Kling. Köln 2001, hier S. 311. 37 Vgl. Kling: Sprachspeicher. S. 330. 38 Kling: Sprachspeicher, S. 329.

15

„Hermes, der Trickster. Die Distanz zum Hörerleser, zum Leserhörer. Schnellzüngigst, mit

Stentorstimme, wie im Flüsterton. Immer inszeniert, immer inszeniert spontan. Immer präzis

auf den Punkt mit der Stimme, mit der Schrift; immer Rhythmus und Bild hübsch, in getimten

Klimawechseln, abstürzen lassen, um die Maschine, Sprach- und Sprechmaschine, wieder

hochzuziehen. Recherche, Regie, Dramaturgie, Bildtechnik, Schnitt, Schnittüberwachung,

Script, Archiv, Maske, die ganze verwackelte Kameraführung (Experimentalfilm! Under-

ground!), der vom Näseln in Knacklaute übergehende, gern als irritierend empfundene Ton

der Sprachinstallation: das Gedicht, paradoxes Instrument der Distanzüberwindung wie –

gewinnung.“39

Die Sprachinstallation als Neuformulierung der Dichterlesung gerät zur Medienpoetik. Denn

es handelt sich hier nicht um eine Beschreibung Klings seiner Art, zu lesen, sondern um eine

Beschreibung der Form seiner Lyrik, die in ihren Texten mediale Figuren und Operationen

aller Art aufnimmt. Wie installiert Thomas Kling Sprache vor der Sprachinstallation?

Die Medienpoetik der Sprachinstallation und die Genealogie lesender Dichter

Sprachinstallation 2 setzt mit einem Fund ein, einer Lesefrucht. Sie führt vor, wie die Lektüre

vor der Lesung und vor dem Gedicht hochkomplexe Zusammenhänge entwirft.

Kling liest bei Jean Paul ein Exzerpt: „Mit dem letzten Athemzuge gehen die vorher geschlos-

senen Augen und Mund wieder auf. Autenrieth.“ Das ist der Arzt Friedrich Hölderlins, der

Tobsüchtige mit einer Gesichtsmaske behandelte und Hölderlin „herzstärkende Mittel“

verchrieb. Wieder eine Kursive im gedruckten Text. Sie veweist auf Klings Lyrikband

Erprobung herzstärkender Mittel und damit auf einen Zusammenhang von Hölderlins

attestierten Wahnsinn und einer Medizintechnologie, die den Körper des Dichters zum

Experimentierfeld macht. Der Titel positioniert den Körper des Dichters in ein soziales

Stimulationsfeld.

Die Lektüre überquert historische, literaturgeschichtliche und aktuelle Konstellationen. Sie

mischt nicht nur Worte, sondern auch deren historischen Kontexte, um wieder andere Worte

hevorzubringen. Dass bei einem Toten Augen und Mund mit dem letztem Atemzug wieder

auf gehen, gilt nicht als interessante medizinische Information, die möglicherweise Jean Paul

angeht. Kling liest das Fundstück nicht als Aussage, sondern als Performativ, als Aufforde-

rung: „Ich lese das Notat des Psychiaters als Aufforderung zum Weiterhinsehen.“40

Doch der

imaginäre Blick gilt nicht den jetzt wieder sichtbaren toten Augen, sondern Worten. Die

Fundstelle wird zur:

39 Kling: Itinerar, S. 54. 40 Kling: Itinerar, S. 15.

16

„Aufforderung zum Weiterhinsehen, zur weiteren Sprachenfindung; zum Fortsetzen

dichterischer Traditionlinien im Rückgriff auf teils weit zurückreichende Rhizomanordnungen

und als Aufruf zu exzessiven Recherchen philologischer wie journalistischer Art, die vor jeder

Niederschrift, vor dem Schreibakt stehen – seien sie nun literal oder oral bestimmt. Die Ein-

beziehung aller existierenden Medien ist gefragt.“41

Dass das „aller“ aller Medien kursiv gesetzt ist, versteht sich. Alle Medien heißt nicht nur

Apparate, der technische Stand der Dinge, sondern auch jene alteingesessen und naturalisier-

ten Medien. Von der Lektüre eines Zitats kommt Kling auf einen Ethos dichterischer Arbeit,

der mit einer universalen Integration aller Medien endet. Kling begreift „Dichten“ nicht nur

als Akt des Schreibens, sondern als Akte der Rezeption mit allen Sinnen, ohne hier den Primat

des „gelebten Lebens“ (wie in der sog. Pop-Literatur) einzuführen. Augen und Mund auf, das

heißt auch reden, nachfragen, Recherchen anstellen und dies wiederum bedeutet „Lebensläufe

auch von Worten, ‚Soziolekten‘ einzuholen“.42

Kling bezieht nicht nur die jüngere Geschichte der Dichterlesung ein, sondern er zieht seine

Herkunft aus den Tiefen der Kulturgeschichte der Aufführung von Stimmen. Entscheidend ist,

gut literaturwissenschaftlich gesagt, eine Veränderung in der Rolle des Dichters.43

Er wird

nach der Programmatik des „Sprachspeichers“ als Person zu einem kollektiven Sprachraum.

Das Gedicht ist ein „Mundraum“, aber ein kollektiver, der im Körper des Dichters versammelt

und neu gemischt zur Aufführung kommen soll. Der Dichter wird zum Philologen und zum

„Memorizer“. Kling liest den Dichter sozio-ethnologisch:

„Ich pflege von jeher eine Etymologiebegeisterung, die der des 19. Jahrhunderts […] in keiner

Weise nachsteht. In der Ethnologie werden solche Leute als Memorizer bezeichnet, sie sind

die Gedächtnisverantwortlichen unter den Clanmitgliedern. Kapazitäten der Sprachwirklich-

keit.“44

„Solche Leute“ zeichnen sich nicht durch ihr Gedächtnis aus, sondern durch die Art und

Weise, wie sie das Gedächtnis im Vortrag zurückbringen. Diese selbstgewählte Herkunftsbe-

stimmung schlägt sich notwendig in einer Verwandlung der Dichterlesung nieder: „Ich für

meinen Teil habe spätestens seit 1983 mich für eine Neuformulierung der Dichterlesung ein-

41 Ebd. 42

Ebd., S. 16. 43 Zum Spektrum vgl. etwa Gunter E. Grimm (Hg.): Metamorphosen des Dichters. Das Rollenverständnis

deutscher Schriftsteller vom Barock bis zur Gegenwart. Frankfurt/M. 1992. 44 Kling: Itinerar, S. 16.

17

gesetzt.“45

In einem eigeständigen Text namens Memorizer führt Kling seinen Einsatz

genauer aus:

„Ziemlich genau 1985 begann ich meine Auftritte als Sprachinstallationen zu bezeichnen. Das

geschah zunächst, um eine Grenze zur Performance und zum Label Performance zu ziehen.

Dabei verzichtete ich nicht auf ein bißchen Mixed Media […] und wurde ein histrionischer

Dichter.“46

1983 also die Erfahrung konventienell ins Mikro zu lesen, während einer Performance. 1985

Sprachinstallationen, die in Düsseldorf, in Köln und anderswo, z.B. in Finnland,

Aufmerksamkeit erregten. Was war anders? Kling las u.a. mit dem „Performer“ Frank

Köllges und dessen kongenialer Schlagzeugbegleitung. Ein bißchen Mixed Media, aber sehr

reduziert. Nur was ist ein „histrionischer Dichter“?

Das Lexikon gibt Aufschluss, dass der Histrione ein Schauspieler im alten Rom war, auch

pantomimischer Tänzer und Gaukler. Es geht gezielt um Performanz und Performance, nicht

in der Form des Labels, sondern in einer personalen Form, in der die Performanz

gesprochener Sprache durch den Klangkörper des Vortragenden in Gestik, Mimik und Ton

inszeniert wird. Kling führt weitere, ganz verschiedene Vertreter wie Volksprediger, den

singenden Oswald von Wolkenstein oder auch Prediger-Dichter barocker Zeiten an. Er hätte

sich auch auf den mittelalterlichen Troubadour als Dichter-Sänger beziehen können und tut

dies auch an anderer Stelle.47

Allen „histrionischen Dichtern“ ist gemeinsam, dass der Körper

des Lyrikers zum Aufführungsort wird. Was die Sprachinstallation reformuliert ist, wie Kling

in einem kurzen Statement 1992 veröffentlicht, der „Dichter als Live-Act. Drei Sätze zur

Sprachinstallation.“

Wieso aber Sprachinstallation? Es gibt eine Definition von Sprachinstallation, die zeigt, dass

der Ton hier nicht im Sinne der romantischen Tradition als Erweckung des Wortes und

Ursprung der Dichtung interessiert, sondern als Medium unter Medien, deren wirksame

Gestaltung Aufgabe der Dichterlesung ist. Die Differenz zum Phonozentrismus ist minimal,

aber lesbar: „Sprach-Räume mit der Stimme gestalten, Sprache mit der Stimme der Schrift

gestalten: Sprachinstallation.“48

45 Ebd., S. 18. 46 Ebd., S. 59. 47 Vgl. Sprachspeicher, S. 20. „Im 12. Und 13. Jahrhundert treten mit Minnesang im deutschprachigen Raum

Berufsdichter auf den Plan, deren berühmtester Walter von der Vogelweide geblieben ist. [...] erst hört der

Dichter, dann sieht er […]. […] Vermittelt wird die Trobador-Dichtung wie auch die Lyrik des Minnesangs

mündlich, über die Stimme, im Live-Auftritt. Das heißt auch, durch die performative Sprache des

Köpereinsatzes, die dem Publikum den Text in Mimik und Gestik des Dichters nahebringt.“ 48 Kling: Itinerar, S. 59.

18

Die Metapher einer „Stimme der Schrift“ überkreuzt deren Lesung. Nicht ist es so, dass der

Ton als Original der Schrift vorausgeht und wieder zum Leben erweckt werden müsste, nicht

so, dass er sich erst mit der Lesung als Aufführung „lebe“, sondern die Schrift scheint eine

„Stimme“ jenseits der Stimme zu haben. Die poetologische Gestaltung der Sprache zeigt sich

als als ständige Überkreuzung schriftlicher, tonaler und visueller Effekte, die zu neuen

schriftlichen, tonalen und visuellen Effekten verdichtet werden. „Sprache mit der Stimme der

Schrift gestalten“ ist eine poetologische Weisung, die in der Verdopplung der phonetischen

Metapher diese dekonstruiert. Wäre die „Stimme der Schrift“ dasselbe wie ihr sprachliche

Intonation, dann wäre die Dopplung schlicht tautologisch. Es besteht hier eine minimale

Differenz zwischen der Stimme der Schrift und der Sprache als Stimme der Schrift. Die

Stimme der Schrift impliziert vielmehr Medien der Schrift, Medien, die unhörbar gestalten,

die graphischen Zeichen und Satzzeichen. So sehr Kling für eine Sprachaufführung seiner

Lyrik plädiert, so wenig verzichtet diese auf Interpunktion. Nicht nur wird Slang und Mundart

bei Kling phonetisch geschrieben oder transkribiert, sondern alle möglichen diakritischen

Textgestaltungen, inklusive des aktiven Einsatzes von Zeilenumbruch und Leerzeilen, finden

in der Lyrik Klings Anwendung in einem Maß, dass seine Gedichte zunächst als primär

textzentrierte Kunst erscheinen. Ein Kling-Gedicht philologisch genau zu zitierten, erfordert

die Nachstellung seines Layouts, erfordert eine intermediale Umsetzung als Textbild. Unter

dem Titel „Bildprogramme“ notiert das Gedicht „1 Zwischenbericht“:

„gegnüber. Eingelassene plattn; pro-

tzigste heraldik. weißestn marmors

parade: di superfette SPRACH-

INSTALLATION.49

Intarsien und Heraldik als Sprachinstallation. Die Nummer „2 Mitschnitt Calvenschlacht“, in

der Willibald Pirkheimer live „am Sattel, AM HU- / MANISTISCHEN

SATTELITTENTELEFON:“ berichtet („inzwischn: 1499“) klingt aus mit einem Fading der

Leitungen:

KAISER MAXIMILIAN SOLL GEWEINT

HABN ALS / FADING / DI KINDER ESSENZ /

BROTKLEE VON DEN WIESN DA BR-

icht

di leitun‘ zamm, damundherrn, in weißm rau-

schn, klappt zusamm das bilderwelt in riesen OH- 49 Thomas Kling: Fernhandel. Köln 1999, S 38 (erster Absatz).

19

NELÖSCHLÖSCH. Romantisch di bandnwerbun‘

Gottes, tonlos di engel vorm himml. Jerusalem, wei-

ße bänder, spruchbänder in händn. ohne text.50

Jeder Strich ist kalkuliert, die phonetisierende Schreibweise, hier auch selbst Ansprache,

bricht sich selbst in textuellen Störungen, die von der Trennung zur Unzeit angefangen bis

zum falschen grammatikalischen Geschlecht reicht – und historisch vom Fading

elektroakustischer Stimmen zurück zur Stimme ohne Text im Bild mittelalterlicher

Spruchbänder. Das Zusammenbrechen der Leitung oder Tradition, das Wort „BR-icht“ wird

selbst gebrochen inszeniert, aufgespalten in Kanal und Materialität des Mediums, Wortklang

oder phoné auf der einen, Buchstaben oder ABC auf der anderen Seite. Schon Klings erster

Gedichtband, 1986 wunderschön in der Eremiten-Presse, Düsseldorf gesetzt, kommt mit

dieser Trennung und Konfrontation zwischen Schrift und Stimme des Textes auf dem Titel

daher. Das Wort „Gedicht“ wird auf dem Titel in die Zeilen „KLING / GEDIC / HTE“

getrennt. „HTE“ ist Bestandteil des Wortes „Gedichte“ und diese Fügung der Buchstaben ist

bereits eine Sprachinstallation.

Thomas Kling setzt also nicht nur auf phonetisierende Schreibweise, auf kleinschreiben und

kleinschneiden von Sätzen und Worten, sondern er setzt die Materialität der Schrift auch dort

als Material der Lyrik ein, wo sie über ihre dienende Funktionen zur Aussprache hinausgeht

und eigene Räume schafft. So wird das Gedicht zu einem „Konstrukt“ und zur „Evokation“

zugleich, unter Einbeziehung des bereits „installierten“ kulturellen Gedächtnis wie der

Reaktionsfähigkeit der Leser/Hörer. In diesem Sinne gilt: „Das Gedicht als literales Ereignis

ist die Sprachinstallation vor der Sprachinstallation.“51

Im Wort der Sprachinstallation verschränken sich also die poetologischen und die

performativen Figurationen der Lyrik Klings. Seine Genealogie bezieht auch die – von ihm

zitierte – poetologische Forderung des Horaz, ein Dichter solle seiner Zeit gemäß dichten,

aktiv ein, doch er setzt nicht mehr auf aufwendige technische Installationen. Er bezieht sich

vielmehr zurück auf ethnologische wie kulturelle Formen der Sprachaufführung durch den

Körper des Lesenden als einem besonderem Medium.

Der Unterschied, den Kling macht, liegt nicht im Wort, sondern in einer Rückkehr zur Lesung

als Aufführung der Worte, die als „Sprachpartitur“ zuvor recherchiert, geschnitten, gemischt

und kalkuliert werden, um aus dem „Mundraum“ einen Gedächtnisraum werden zu lassen: 50

Ebd., S. 39f., hier S. 40 (letzter Absatz). 51 Ebd., S. 20: „Gedicht ist immer Evokation; und: Gedächtnis, spätestens seit Baudelaire, Mallarmé, George

[…] Konstrukt. ‚Poetische Rede ist konstruierte Rede‘ hat Sklovskij in seiner fundamentalen Studie ‚Kunst als

Verfahren‘ (1916) festgestellt.“

20

„Gedicht ist Gedächtniskunst und steht als Schrift naturgemäß vor der Performance des

Textes, der in vorklassischer Epoche bereits aus dem rhetorischen Kanon ausgeschalteten

actio; ist schon Rhetorik, die prononciert memoria miteinschließt“.52

Achtung Rhetorik, Memoria steht kursiv. In den vielen Positionen der selbstgewählten

Herkünfte spielt also auch die Verbindung zur Rhetorik eine Rolle und zwar in doppelter

Weise. Nicht nur als historisches Wissen über die Redeteile der Rhetorik, in denen die actio

und pronuntatio als Aufführung der Rede nur ein letztes Glied in ihrem Arrangement ist,

sondern vielmehr als Verführung durch die Stimme. Kling zitiert Nietzsche über Horaz –

Memoria und Sprachmacht, Rhetorik und Poetik mischen sich. Zwischen der Einstellung der

Memorizer und „Nietzsches Ahnenverehrung im Falle von Horaz“, gebe es, so Kling „keine

wesentliche Differenz“.

„Ich zitiere die berühmte Stelle: ‚Dies Mosaik von Worten, wo jedes Wort als Klang, als Ort,

als Begriff, nach rechts und links und über das Ganze hin seine Kraft ausströmt, dies

Minimum in Umfang und Zahl der Zeichen, dies damit erzielte Maximum in der Energie der

Zeichen‘“53

Ende Zitat Nietzsche. Kling: „Eine für mich akzeptable Charakteristik von Moderne

überhaupt!“

Nietzsches Lob Horazens Sprachkraft, die er selbst für seine Lyrik des Dithyrambus und des

„großen Stils“ im Zarathustra neu erfinden wird, steht unter dem Titel: „Was ich den Alten

verdanke“. Es ist eine Sprachmacht, die den technischen Prinzipien der Moderne, mit

Minimalia Maximalia zu erzielen – Botenstoffe – in nichts nachsteht, sondern ihr als

vergessenes Exemplum vorausgeht. Diese Effektivität der Sprachfügung geht in der Antike,

wie der Philologe Nietzsche sehr gut weiß, mit einer „Kunst des Lesens“ einher, die den

Klang der Worte noch zu schmecken wußte: „Mit lauter Stimme: das will sagen, mit all den

Schwellungen, Biegungen, Umschlägen des Tons und Wechseln des Tempos an denen die

antike öffentliche Welt ihre Freude hatte.54

52 Ebd.. 53 Friedrich Nietzsche zitiert nach Kling: Itinerar, S. 16. 54 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Nr. 247, in: ders.: Werke in drei Bänden, hg. v. Karl

Schlechta. München 1965ff., Bd. II, S. 714. Zum Kontext vgl. Matthias Bickenbach: Wiederkäuen ist nicht

einfach zweimal lesen: Friedrich Nietzsche zur Methode lauten Lesens, in: ders.: Von den Möglichkeiten einer

‚inneren‘ Geschichte des Lesens, S. 40-54. Zu Nietzsche als Philologe grundlegend: Nikolaus Wegmann: Was

heißt einen 'klassischen Text' lesen? Philologische Selbstreflexion zwischen Wissenschaft und Bildung, in:

Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Hg. v. J. Fohrmann und W. Voßkamp. Stuttgart

1994, S. 334-444.

21

Wichtig ist hier jedoch nicht die Kritik Nietzsches am Verlust dieser öffentlichen Klangsphäre

und Kunst des lauten Lesens, sondern ein Punkt in seiner komplexen Sprachtheorie, die

aussagt: „es giebt gar keine unrhetorische ‚Natürlichkeit‘ in der Sprache an die man appelliren

könnte“55

Dies gilt nicht nur für die Zeichentheorie, d.h. die Relation von Wort und Sache,

sondern auch für die Relation von Ton und Sprache. Die antike rhetorische Tradition wußte

schon sehr gut, dass die Stimme, zumal des berühmten Dichters oder Redners, nicht Medium

der Natur, sondern Medium des Kalküls tonaler Subversion ist. Cicero hat in seiner Rhetorik

festgehalten, dass die Tonalität der Stimme am geeignetsten ist, die Hörerschaft zu

überzeugen, weil sie durch Klang und Rhythmus unbemerkt, also subversiv einnimmt. Denn,

"die Ohren erwarten, daß der gedankliche Gehalt eines Satzes durch die Wörter zusam-

mengefaßt wird."56

Aber der Rhythmus der Worte, Satzschlüsse und Perioden verleiht dem

gesprochenen Text eine Wirkung jenseits seiner inhaltlichen Bedeutung:

„Denn die Hörer richten ihre Aufmerksamkeit auf eben diese zwei und finden an ihnen

ihr Vergnügen - ich meine die Wörter und die Gedanken. Während sie diese

aufmerksamen Sinnes und voll Bewunderung in sich aufnehmen, entgeht ihnen der

Rhythmus und fliegt unbemerkt vorbei.57

Jacques Derrida hat die Geschwindigkeit der Übertragung von Wort zu Worten, von einem

Wort in einem Buch zu einem anderen in ihm oder in einem anderen Buch, kurz die

semantischen, lexikalischen und hermeneutischen Bedeutungsassoziationen, die sich lesend-

hörend automatisch einstellen, als eine unmessbare schnelle Datenübertragung der

Langsamkeit der Computers gegenübergestellt. Neben ihr nehme sich die „heutige

Technologie unserer Computer“ wie „Bastelei“ oder „prähistorisches Kinderspielzeug“ aus.

„Ein Spielzeug vor allem, dessen Funktionsabläufe dahinschleichen. Ihre Langsamkeit ist

inkommensurabel mit der quasi unendlichen Schnelligkeit der Bewegungen auf der

joyceschen Verkabelung. Und wie könnte man ein Werk dieser Art simulieren? Wenn diese

Fragen so furchterregend sind, dann weil sie nicht zunächst die Geschwindigkeit der mentalen

Operationen eines Subjekts (Autor oder Leser) betreffen.“58

55 Vgl. Nietzsche: Gesammelte Werke. München 1922 (Musarionausgabe), Bd. 5, S. 297ff. 56 Cicero: Orator. Lateinisch und deutsch. Hg. v. B. Kytzler. Zürich und München 1988. XLIV, St. 168. Zum

Kontext Ciceros vgl. Matthias Bickenbach: Von den Möglichkeiten einer ‚inneren‘ Geschichte des Lesens, S.

56ff., hier S. 60f. 57

Cicero, ebd., St. 197. Cicero stellt hier erstmals einen systematischen Bezug zwischen Prosatexten und

Artikulation her. Vgl. Karl-Heinz Göttert: Einführung in die Rhetorik. Grundbegriffe - Geschichte - Rezeption.

München 1991, S. 116 ff. 58 Jacques Derrida: Zwei Deut für Joyce, in: ders: Ulysses Grammophon. Berlin 1988, S. 16.

22

Die Sprachinstallation ist immer schon, jenseits der bewußt rezipierten Bedeutung, am Werk.

Die Stimme ist nur eine Simulation dieser komplexen Bewegungen der Bedeutung selbst, die

das Bewußtsein von Lesern und Hörern unterläuft. Als das vereindeutigende Medium des

Textes hat sie darin ihren Vorteil. „Immer wieder kam der Satz, den ich aus den 80er Jahren

kenne: Jetzt, wo ich sie gehört habe, verstehe ich ihre Gedichte viel besser.“59

Schon seit 1991 hat sich Kling seine Lesung auf CD vorgestellt. Der Suhrkamp Verlag

mochte das nicht machen. Erst nach dem Verlagswechsel zu DuMont kam der Lyrikband

Fernhandel 1999 „mit einer CD“ heraus, die Kling in Botenstoffe als „gebrannte

Performance“ bezeichnet.60

Sie enthält als dreifache Sprachinstallation von Gedicht, Lesung

und Speichermedium nichts anderes als die Stimme Thomas Klings. Unter dem Titel „Der

erste Weltkrieg“ versammeln die Gedicht eine historische Live-Übertragung, dessen

sprachinstallierter Sender „CNN Verdun“ heißt.61

Nichts als die Stimme ‚erscheint‘ auf der CD als „gebrannter Performance“. Der ehemalige

Chorschüler Kling, also mit Stimmausbildung, liest sehr gut. Fällt seine Stimme in die

Geschichte des Phonozentrismus zuletzt hinein und zurück? Es ist wahr, der Satz findet sich

auch bei Thomas Kling: „Es handelt sich um nichts weniger als um den Geist der

geschriebenen Sprache.“62

Doch dieser Geist ist ein multipler und gemischter. Es sind

Geister-Stimmen, Gespenster, Hermes oder Botenstoffe historischer Sendungen, die zur

Wirkung und zur Sprache kommen. Die Sprachinstallation Klings als „Lippe der Tradition“

ist so phonozentrisch wie ein Radiokanal. Statt einer Zentrierung des Sinns auf phoné

präsentiert sich vielmehr eine Medienpoetik der Mischung, die nichts weniger als die

Medienabhängigkeit aller Nachrichten reflektiert und damit auch die Nachricht der Stimme

dekonstruiert.

Die Sprachinstallation sei, als Live-Act oder als CD, „keine Ergänzung“, sondern ein

alternativer Zugang zum Gedicht: „es sind zwei literarische Produkte.“63

Folgerichtig kommt

es dann auch keineswegs auf die eine Stimme des Autors selbst an: „Wer nicht ‚vorlesen‘

kann, oder zu faul zum Üben ist – der soll den Mund halten, Schauspieler engagieren.“64

Es geht in der intermedialen Poetik der Sprachinstallation nicht um Verlebendigung von

Schrift oder Geist, sondern um Verwandlung, um die „proteushaften“ Qualitäten von Lyrik.

59 Kling: Botenstoffe, Interview mit Hans Jürgen Balmes (Januar 2000), S. 230. 60 Kling: Botenstoffe, S. 102f. 61 Die diesem Band beiliegende CD speichert mit freundlicher Genehmigung des DuMont Verlags den O-Ton

Klings Stimme und Gedicht „diese Photographie, dieses Foto“ aus dem Zyklus „Der erste Weltkrieg“ des

Bandes Thomas Kling: Fernhandel. Köln 1999. 62 Kling: Botenstoffe, S. 102. 63 Ebd., S. 230. 64 Ebd., S. 102.

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Das Gedicht das „mehrfach gelesen“ werden will Ort seiner ständigen Verwandlung. „Es

ändert sich bei jedem Lesen“, heißt es deutlich. Das Gedicht, so lautet Klings poetisches

Credo der Sprachinstallation, muss die Fähigkeit zur „Wandelbarkeit“ haben. Erst dann wird

es aktiv - als das, „was es immer schon war: ein Mundraum, ein Wahrnehmungsinstrument“.65

65 Ebd., S. 329.