Die Weltgeschichte der Religion. Ein Überblick in 6 ganz kurzen Kapiteln. Ergänzt durch eine...

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Stefan Jakob Wimmer und Georg Gafus (Hgg.) „Vom Leben umfangen“ Ägypten, das Alte Testament und das Gespräch der Religionen Gedenkschrift für Manfred Görg

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Stefan Jakob Wimmer und Georg Gafus (Hgg.)

„Vom Leben umfangen“

Ägypten, das Alte Testament und

das Gespräch der Religionen

Gedenkschrift für Manfred Görg

ÄGYPTEN UND ALTES TESTAMENT Studien zu Geschichte, Kultur und Religion Ägyptens und des Alten Testaments

Band 80 Gegründet von Manfred Görg

Herausgegeben von Stefan Jakob Wimmer und Wolfgang Zwickel

„Vom Leben umfangen“

Ägypten, das Alte Testament und das Gespräch der Religionen

Gedenkschrift für Manfred Görg

Herausgegeben von Stefan Jakob Wimmer

und Georg Gafus

im Auftrag der Freunde Abrahams – Gesellschaft für religionsgeschichtliche Forschung

und interreligiösen Dialog

Redaktionell bearbeitet von Brigitte Huemer

2014 Ugarit-Verlag

Münster

Umschlag-Vignette: Sockelrelief Berlin ÄM 21687 mit der Namenlesung „Israel“ (nach Manfred Görg); rekonstruierte Nachzeichnung: Peter van der Veen Ägypten und Altes Testament, Band 80 „Vom Leben umfangen“. Ägypten, das Alte Testament und das Gespräch der Religionen. Gedenkschrift für Manfred Görg

Herausgegeben von Stefan Jakob Wimmer und Georg Gafus im Auftrag der Freunde Abrahams – Gesellschaft für religionsgeschichtliche Forschung und interreligiösen Dialog

Redaktionell bearbeitet von Brigitte Huemer © 2014 Ugarit-Verlag, Münster www.ugarit-verlag.com Alle Rechte vorbehalten All rights reserved. No part of this publication may be reproduced, stored in a retrieval system, or transmitted, in any form or by any means, electronic, mechanical, photo-copying, recording, or otherwise, without the prior permission of the publisher. Herstellung: Memminger MedienCentrum, Memmingen Printed in Germany ISBN 978-3-86835-119-4

ISSN 0720-9061

Printed on acid-free paper

8.9.1938 – 17.9.2012

VII

„Ich bin einfach der Herr Görg“

Vorwort

Die Vorstellung beim späteren Chef und Doktorvater hat der damalige Diplomand nicht

vergessen. Ich kannte den Lehrstuhlinhaber bisher nur von seiner Hauptvorlesung, immer

mittwochs von 14 bis 16 Uhr. Und als studentische Hilfskraft, die vom neutestamentlichen

Lehrstuhl als Bibliotheksaufsicht für die gemeinsame Institutsbibliothek für Biblische Exege-

se des Alten und Neues Testaments eingestellt war. Nach meiner Diplomklausur im Alten

Testament im Januar 1991 war ich zu einem Gespräch eingeladen. Der große Lehrstuhlin-

haber, zweifach promoviert im Alten Testament und in Ägyptologie, reicht dem kleinen Di-

plomanden die Hand. Der Diplomand sagt mit höflichem Respekt: „Grüß Gott, Herr Professor

Doktor Doktor Görg.“ Manfred Görg entgegnet in aller Ruhe: „Lassen Sie das. Ich bin ein-

fach der Herr Görg.“ (GG)

Manfred Görgs Bescheidenheit hat tiefen Eindruck hinterlassen bei denen – bei wohl allen –,

die ihm begegneten. Denn sie ging einher mit einer Breite und zugleich Tiefe seines Wissens,

die nicht weniger beeindruckte. Und sie war getragen von einer inneren Freiheit, die er sich

erkämpfte und bewahrte, allen Anfeindungen zum Trotz, die ihm zeitlebens immer wieder zu-

gemutet wurden und zu schaffen machten. Seine Glaubwürdigkeit – im Wortsinne – hat viele

Menschen angerührt und bewegt, so sehr, dass sie Impulse und Weichenstellungen für ihr

eigenes Leben daraus gewonnen haben.

Den Werdegang Manfred Görgs, der ihn über Priesterweihe und Gemeindedienst in seiner

ostwestfälischen Heimatregion, Studium und Assistententätigkeit in Paderborn, Bonn und

Bochum, seine Promotionen in katholischer Theologie und in Ägyptologie führte und weiter

zum Professor in Bamberg und schließlich Ordinarius für Alttestamentliche Theologie in

München werden ließ, zum Begründer mehrerer Zeitschriften sowie der Buchreihe, in der nun

dieser Gedenkband erscheint, hat seine Schülerin Prof. Dr. Ulrike Bechmann in einem

Nachruf für die Biblischen Notizen beschrieben. Innerhalb des Beitrags von Prof. Dr.

Friedrich Vinzenz Reiterer und Waltraud Winkler ist der Text auf den Seiten 160–162

wiedergegeben.

Görg hinterlässt ein wissenschaftliches Werk, das in den kommenden Jahren aufzuarbeiten

und auszuschöpfen und vor allem weiter zu vermitteln sein wird. Quantitativ ist es derzeit

noch nicht vollständig erschlossen (siehe dazu die Vorbemerkung zum Schriftenverzeichnis,

S. XVII) – an die 1500 mag die Zahl seiner Monographien und Herausgeberschaften,

Miszellen, Lexikonbeiträge, Rezensionen, Editorials, Notizen etc. heranreichen.

Nicht davon loszulösen war immer sein Einsatz für das offene Aufeinander-Zugehen von

Menschen, auch unterschiedlicher Religionen. Um beides miteinander zu verbinden, die wis-

senschaftliche, insbesondere religionsgeschichtliche Forschung und das Engagement im ak-

tuellen interreligiösen Dialog, gerade auch vor der Verantwortung der Zeitgeschichte, schuf

er im Herbst 2001 mit uns gemeinsam im Umfeld seines Lehrstuhls die Gesellschaft „Freunde

Abrahams“. In Verantwortung für das Werk und Vermächtnis von Manfred Görg bleiben die

„Freunde Abrahams“ diesem besonderen Ansatz verbunden, der die Brücke vom Alten Orient

in das Hier und Jetzt schlägt und dabei zugleich die aktuelle interreligiöse Debatte von den

religionsgeschichtlichen Wurzeln her zu erden sucht.

Es kann daher gar nicht anders sein, als dass auch die Gedenkschrift für Manfred Görg das

Wagnis eingeht, dieses ehrgeizige Spektrum von scheinbar weit auseinander liegenden The-

menfeldern wenn schon nicht abzudecken, so doch mindestens an wichtigen Stellen zu berüh-

ren. Wir haben die 64 Beiträge, die aus verschiedensten Richtungen beigesteuert wurden,

eingeteilt in die Bereiche „Bibel und Theologie“, „Ägypten und Alter Orient“ sowie „Die

abrahamischen Religionen im Gespräch“.

VORWORT

VIII

Weil Herr Görg ein unkonventioneller Zeitgenosse, Geistlicher und Wissenschaftler war, er-

schien es uns stimmig, auch die für wissenschaftliche Sammelschriften gängigen Vorgaben

nicht allzu eng zu fassen. So fanden auch Stimmen Aufnahme, die ohne akademischen An-

spruch Reminiszenzen an Manfred Görg festhalten.

Innerhalb des thematischen Teils „Die abrahamischen Religionen im Gespräch“ haben wir

(u.a.) auch die Beiträge dokumentiert, die zu einem Symposium vorgetragen wurden, das vom

6. bis 8. Dezember 2013 unter dem Titel „Judentum, Christentum und Islam: Komponenten

europä-ischer Identität“ zum Gedenken an Manfred Görg ausgerichtet wurde. Die Anregung

dazu war von Rabbinerin Prof. Dr. Eveline Goodman-Thau ausgegangen, und die „Freunde

Abrahams“ sind besonders dankbar, dass die Veranstaltung in Kooperation mit dem christ-

lichen Bildungshaus „Die Hegge“ nahe Paderborn möglich wurde. Die menschlich achtsame

und spirituell unaufdringlich eindrückliche Atmosphäre dieses Hauses in Ostwestfalen bot

sich in besonderer Weise für das Gedenksymposium an, da Herr Görg sich selbst dort immer

gern aufgehalten hat und sich angenommen wusste. Seiner ehemaligen Doktorandin Frau Dr.

Anna Ulrich, der die Organisation oblag, der Oberin Frau Dipl.-Theol. Lic. theol. Dorothee

Mann sowie dem Tagungsleiter Dipl.-Theol. Damian Lazarek sei hier noch einmal herzlich

für alles gedankt. Die Tagungsbeiträge zu „Judentum, Christentum und Islam: Komponenten

europäischer Identität“ waren:

Die Hegge, Was wir Manfred Görg zu verdanken haben (S. 519–521); Eveline Goodman-

Thau, Religion und Politik im Spannungsfeld von Kanon, Kontext und Kultur aus den

Quellen des Judentums (S. 499–518); Benjamin Idriz, Islam daheim in Europa. Muslim und

Europäer sein, heute und in Zukunft (S. 523–529); Karl-Josef Kuschel, Kinder Abrahams,

Saras und Hagars. Konsequenzen für Juden, Christen und Muslime in Europa (S. 531–545);

Georg Gafus, Abraham in Mühldorf am Inn: Christen, Juden und Muslime. Erfahrungen in

einer oberbayerischen Kreisstadt (S. 495–497); Stefan Jakob Wimmer, War Abraham ein

Europäer? Können Europäer abrahamisch sein? (S. 621–632).

Weil Manfred Görg ein besonderer Freund und Meister der Miszelle war, des fachlich ge-

konnt begründeten, aber noch nicht zwingend in alle Richtungen ausgereiften, bewusst in die

Diskussion geworfenen Kurzbeitrags, haben wir auch die Beiträger gerne zu kürzeren

Artikeln ermuntert und sind denen besonders dankbar, die das aufgegriffen haben. Weil wir

selbst an seinem Lehrstuhl jede mögliche Form (auch) der wissenschaftlichen Freiheit erleben

durften, haben wir von Vorgaben im Sinne möglichst weitgehender Vereinheitlichung be-

wusst abgesehen. So sind Zitationsweisen, Transkriptionsnormen und manch andere Konven-

tion weitgehend dem Gusto und der Verantwortung der Autor/innen überlassen.

Dass all diese vielen verschiedenen Komponenten dennoch zu einem, wie wir meinen, über-

zeugenden Erscheinungsbild zusammengeführt werden konnten, ist maßgeblich Frau Brigitte

Huemer (Salzburg) zu verdanken, die den Löwenanteil der Redaktionsarbeit gemeistert und

noch sehr viel mehr zum Werden dieses Opus beigetragen hat. Anfallende Kosten wurden

von der Gesellschaft „Freunde Abrahams“ getragen.

Damit die Buchreihe Ägypten und Altes Testament in der von Manfred Görg konzipierten

Weise weitergehen kann, wurde ein Verlagswechsel erforderlich. Als maßgeblich an der Ent-

stehung vieler bisheriger ÄAT-Bände beteiligter Mitarbeiter von Manfred Görg und als Mit-

herausgeber der Reihe seit 2009 blicke ich dankbar auf die frühere Zusammenarbeit mit dem

Harrassowitz Verlag zurück (SJW). Dem Ugarit Verlag ist nunmehr zu verdanken, dass die

bisherige Ausrichtung der Reihe als ein möglichst unkompliziertes, leicht zugängliches und

dabei erschwingliches Medium, wie sie von Manfred Görg so erfolgreich eingeführt und vor-

gegeben wurde, weiterhin garantiert bleibt. Den Herren Prof. Dr. Thomas Kämmerer, Prof.

DDr. Manfried Dietrich, Frau PD Dr. Ellen Rehm und Herrn Dr. Kai Metzler sei besonders

für ihr großes Interesse und die zuvorkommende Kooperation herzlich gedankt. Besonders zu

danken ist weiter Prof. Dr. Wolfgang Zwickel, der als Theologe und Biblischer Archäologe

die Mitherausgeberschaft für die Reihe bereitwillig übernommen hat. Für den vorliegenden

Band hat Wolfgang Zwickel dankenswerterweise die Erstellung der Indices vorgenommen.

Wie für die bisherigen ÄAT-Bände kann der Druck weiterhin im Memminger MedienCen-

VORWORT

IX

trum erfolgen. Hier ist insbesondere Herrn Walter Kurz für die bewährte Zusammenarbeit

herzlich zu danken. Das äußere Erscheinungsbild der ÄAT-Bände wurde behutsam modi-

fiziert und, wie wir meinen, verbessert.

Für den vorliegenden Band haben wir uns als graphisches Element für die Umschlaggestal-

tung für die rekonstruierte Nachzeichnung jenes hieroglyphischen Namensrings entschieden,

der nach Görg als erster Beleg für „Israel“ in ägyptischen Quellen – und damit als früheste

Erwähnung Israels überhaupt – zu gelten hat. Die Lesung wird von Dr. Peter van der Veen

und Prof. Dr. Wolfgang Zwickel in ihrem Beitrag zu diesem Band (S. 425–433) gestützt, dem

wir die Nachzeichnung aus der Hand von P. v. d. Veen für diesen Zweck entnehmen dürfen.

Wir meinen, dass sich die Lesung „Israel“ für den Namensring als zutreffend durchsetzen und

als Entdeckung von sehr hoher historischer Bedeutung mit der Erinnerung an Manfred Görg

verbinden wird.

Für den Titel seiner Gedenkschrift zitieren wir aus einer Formulierung, die Manfred Görg

selbst für das Editorial zum Info- und Programmheft der „Freunde Abrahams“ wählte (Abra-

hams Post Herbst/Winter 2012/13, S. 1). Angesichts der grauenvollen Entwicklung in Syrien

lenkte er den Blick auf ein uraltes Bild aus der altorientalischen Ikonographie, auf den „Baum

des Lebens“, um dann die Feststellung des Kirchenliedes „Mitten im Leben sind wir vom Tod

umfangen“ weiterzuführen in die Hoffnung: „Mitten im Tod sind wir vom Leben, d. h. vom

Leben Gottes umfangen.“ Es waren die letzten Worte, die er vor seinem Tod schrieb.

München im August 2014

Stefan Jakob Wimmer und Georg Gafus

für die Freunde Abrahams –

Gesellschaft für religionsgeschichtliche Forschung und interreligiösen Dialog

X

Inhalt

„Ich bin einfach der Herr Görg“. Vorwort VII

Inhalt X

Manfred Görg zum Gedenken XV

Schriftenverzeichnis: ein Überblick XX

Bibel und Theologie

Ballhorn, Egbert

Josua im Pentateuch

Die narrative Entwicklung eines Protagonisten und seiner Leitungsfunktion 3

Bieberstein, Klaus

Die Wanderungen der Wohnungen Gottes

Vom Sinai zur Westmauer in Jerusalem 13

Dohmen, Christoph

Christsein entscheidet sich am Alten Testament 27

Fischer, Irmtraud

Jona – Prophet eines traumatisierten Volkes 33

Fuchs, Ottmar

Bibelhermeneutik als „Gastfreundschaft“ 43

Gafus, Georg

Königskritik und Königskult

Politische Positionen im deuteronomistischen Geschichtswerk 49

Geiger, Gregor, OFM

Ismael

Diachroner Versuch einer Lokalisierung 59

Hentschel, Georg

Elijas Himmelfahrt und Elischas Berufung (2 Kön 2,1–15) 75

Hieke, Thomas

Tenufa – Emporhebungsgabe statt Schwingopfer 83

Irsigler, Hubert

Zur Hermeneutik biblischer Schöpfungsrede 91

Kangosa, Guy-Angelo

Evangelisierung und ganzheitliche Entwicklung im schwarzafrikanischen

Kontext

Zu einer vorrangigen Option für die Armen 103

Levin, Christoph

Abraham in Ägypten (Gen 12,10–20) 109

Mulzer, Martin

Hebräisch BR’-G – „erschaffen“ oder „trennen“? 123

Nwaoru, Emmanuel O.

Principles and Politics of Preservation of Life in the Old Testament

and Other Ancient Cultures 131

Otto, Eckart

Die Theologie des Buches Deuteronomium 141

INHALT

XI

Reiterer, Friedrich V. und Winkler, Waltraud

Fortsetzung folgt!

Die Weiterentwicklung der Biblischen Notizen – Manfred Görgs Lieblingswerk 149

Seidl, Theodor

Ägyptologie und Altes Testament

Ergebnisse und Hypothesen. Eine Standortbestimmung 163

Stipp, Hermann-Josef

„In Frieden wirst du sterben“

Jeremias Heilswort für Zidkija in Jer 34,5 173

von Mutius, Hans-Georg

Eine außermasoretische Lesevariante im Babylonischen Talmud

zu 1.Samuel 1,19(?)

Nicht drittmittelgestützte Forschungseinsichten im Gedenken an Manfred Görg 183

Weippert, Helga

Jesaja 28,9f. – ein Kinderreim? 189

Willmes, Bernd

Erlösung nach der Vergebung von Sünden?

Anfrage an das Alte Testament 193

Wuckelt, Agnes

Michal – Fragmente einer Frauen- und Volksgeschichte 205

Ägypten und Alter Orient

Burkard, Günter

Ostrakon Berlin P 10844

Hymnus und Gebet an Amun aus der Feder des Nekropolenschreibers Hori 211

Grimm, Alfred

Antikenrezeption und Bibeltext 219

Grimm-Stadelmann, Isabel

Der Skarabäus als Therapeutikum

Zur Überlieferungsgeschichte altägyptischer Traditionen in den

frühbyzantinischen medizinischen Handbüchern 225

Hofmann, Beate und Elwert, Frederik

Heka und Maat

Netzwerkanalyse als Instrument ägyptologischer Bedeutungsanalyse 235

Hübner, Ulrich

Versteinerte Zeugen von Hiobs Krankheit 247

Kessler, Dieter

Zur Rekontextualisierung des Skarabäus im Neuen Reich 253

Kolta, Kamal Sabri

Ei, Hase und Frosch

Symbole für Leben und Auferstehung bei Altägyptern und Kopten 269

Luft, Ulrich

Polytheism

Experience in Ancient Egypt 279

Maeir, Aren M.

The Rephaim in Iron Age Philistia

Evidence of a multi-generational family? 289

INHALT

XII

Magen, Barbara

Gottesbild und Geschichtsschreibung in Lion Feuchtwangers Roman

„Jefta und seine Tochter“ 299

Morenz, Ludwig D.

Vergessen? Zur ägyptischen (Vor-)Geschichte der Lotophagen 309

Pusch, Edgar B.

Der Leiter einer Handelsmission aus Sidon in Pi-Ramesse? 317

Rabehl, Silvia M.

Und er schaut heraus …

Zum Konzept der Motivauswahl in der Grabanlage des Amenemhet (BH 2)

aus Beni Hassan 333

Schipper, Bernd U.

Ein ägyptischer Beleg für die „Goldene Regel“ 345

Schlüter, Katrin und Arnulf

Die Neupräsentation einiger Fremdvölkerfliesen im Ägyptischen Museum

München 357

Schneider, Thomas

The Name and Identity of Poimandres in the First Treatise of the Corpus

Hermeticum 363

Schoske, Sylvia

Staatstragend

Fragmente eines Salblöffels 369

Schulz, Regine und Eberle, Andrea

Ein „fliegendes Blatt“ 379

Streck, Michael P.

The Beginning of the Babylonian Epic of Creation 391

Timm, Stefan

Ein Beleg für die Strafe der Steinigung aus Ugarit 397

Uehlinger, Christoph

Ninḫursaĝa oder „Große Mutter“?

Eine ikonographisch-ikonologische Skizze zu einem Phänomen der longue

durée 407

van der Veen, Peter G. und Zwickel, Wolfgang

Die neue Israel-Inschrift und ihre historischen Implikationen 425

Verbovsek, Alexandra

„As blind as a Harper!“

Der Topos „Sänger zur Harfe“ im kulturellen Vergleich 435

Weippert, Manfred

Der Wald von Labʾu 449

Wimmer, Stefan Jakob

Ein Siegel des Schafaniden Michaja 459

Worschech, Udo

Untersuchungen zu Moab und seinen Orten in ägyptischen Quellen 467

Zauzich, Karl-Theodor

„Ich bin der Weg, die Wahrheit und die Liebe“?

Gedanken zu Johannes 14,6 475

INHALT

XIII

Die abrahamischen Religionen im Gespräch

Bechmann, Ulrike

„Religion verpflichtet zur offenen Haltung“ (Manfred Görg)

Ein interreligiöses Wagnis 481

Gafus, Georg

Abraham in Mühldorf am Inn: Christen, Juden und Muslime

Erfahrungen in einer oberbayerischen Kreisstadt 495

Goodman-Thau, Eveline

Religion und Politik im Spannungsfeld von Kanon, Kontext und Kultur

aus den Quellen des Judentums 499

Die Hegge (Anna Ulrich und Dorothee Mann)

Was wir Manfred Görg zu verdanken haben 519

Idriz, Benjamin

Islam – daheim in Europa

Muslim und Europäer sein, heute und in Zukunft 523

Kuschel, Karl-Josef

Kinder Abrahams, Saras und Hagars

Konsequenzen für Juden, Christen und Muslime in Europa 531

Lang, Bernhard

Die Weltgeschichte der Religion – Ein Überblick in sechs ganz kurzen Kapiteln

Ergänzt durch eine kommentierte Bibliographie von Entwürfen einer globalen

Religionsgeschichte seit Hegel 547

Langer, Michael

Polemik – Propaganda – Desinteresse

Katholische Theologen und das Judentum im 19. Jahrhundert 561

Leimgruber, Stephan

Hebräische Bibel, Altes und Neues Testament und Koran

Heilige Schriften für Juden, Christen und Muslime 573

Neudeck, Christel und Rupert

Manfred Görg: ein Erneuerer 585

Reck, Norbert

„dass man gar nicht Christ sein kann, ohne mit den Juden ins Gespräch

zu kommen“

Manfred Görgs uneingeholte Vision des christlich-jüdischen Gesprächs 587

Renz, Andreas

„Brüder und Schwestern im Glauben Abrahams“

Dialog der abrahamischen Religionen auf der Grundlage des Zweiten

Vatikanischen Konzils 597

Tamcke, Martin

Strategien christlicher Mission unter Juden und Muslimen in Mahabad (Iran) 605

Venio (Sr. Eustochium Bischopink, OSB)

Erinnerung an Prof. Manfred Görg 619

Wimmer, Stefan Jakob

War Abraham ein Europäer?

Können Europäer abrahamisch sein? 621

INHALT

XIV

Indices

Bibelstellen 633

Texte aus Mesopotamien und Ägypten 635

Sachregister 636

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 641

547

Die Weltgeschichte der Religion

Ein Überblick in sechs ganz kurzen Kapiteln

Ergänzt durch eine kommentierte Bibliographie von Entwürfen

einer globalen Religionsgeschichte seit Hegel

Bernhard Lang

Dem evolutionären Konzept zufolge lässt sich die religiöse Entwicklung der Menschheit von

ihren prähistorischen Anfängen bis heute als eine sinnvolle Abfolge von Religionstypen

beschreiben, die jeweils in enger Verflechtung mit der wirtschaftlichen, politischen und kul-

turellen Situation stehen. Weit davon entfernt, ein Sammelsurium zufälliger historischer Pro-

dukte zu sein, bildet die Religionsgeschichte nach dieser Auffassung ein organisches und

daher prinzipiell verstehbares Gebilde. Viele Einzelheiten dieses Gesamtprozesses sind aller-

dings nur ungenügend erforscht oder werden in der Forschung unterschiedlich gesehen,

weshalb sich die Religionsgeschichte heute zumeist mit partiell bleibenden Theorien begnügt.

Die Vernachlässigung der Arbeit an einer „großen Theorie“ bringt viele Nachteile mit sich –

Nachteile für die universitäre Lehre, für die Popularisierung religionshistorischen Wissens,

und nicht zuletzt für das Denken selbst. Lässt sich eine partielle religionshistorische Erkennt-

nis in einen größeren Zusammenhang einordnen und durch diesen verständlich machen,

gewinnt sie an Wert und Bedeutung. Umgekehrt gewinnt auch eine „große Theorie“ an Plau-

sibilität, wenn sie durch partielle Beobachtungen und Befunde gestützt, differenziert oder

modifiziert wird.

Die hier vorgelegte kleine Studie bietet zwei Skizzen. Die erste erstellt ein historisches

Grundgerüst, das zum Weiterdenken einlädt (Teil I). Dabei wird auf die Erörterung interpreta-

torischer Probleme verzichtet; einige Hinweise sind als Diskussionsteil angehängt. Die zweite

Skizze stellt bemerkenswerte Überblicke über die Weltgeschichte der Religion zusammen,

die in den letzten zwei Jahrhunderten vorgelegt wurden (Teil II).

Teil I: Religiöse Evolution. Ein historischer Überblick

Die Vorstufe. Als Vorstufe und Ausgangspunkt der religiösen Evolution ist jener Zustand zu

nehmen, auf dem es noch keinen Unterschied zwischen dem Menschen und den höheren Pri-

maten gibt. Auf dieser Stufe existiert der Mensch noch gar nicht, jedoch kündigt er sich an.

Der werdende homo sapiens schickt sich an, die im Tierreich erlebte Geborgenheit durch

Aufbruch und Wagnis zu verlassen. Es dürfte schwer sein, sich diesen vermutlich sehr lange

dauernden Vorgang konkret vorzustellen. Evolutionsbiologie und Paläoanthropologie können

uns etwas über diesen Vorgang, sein Wann und Wo (Afrika) sagen.

Erste Stufe: das jägerische Stadium. Die frühen Menschen lebten als Jäger und Sammler in

kleinen Horden. Der frühen jägerischen Kultur entspricht eine jägerische Religion, in deren

Zentrum nicht-menschliche „Herrinnen“ und „Herren“ bestimmter Tierarten stehen. Diese

gelten als menschenfreundliche, Jagdglück schenkende und so menschliches Leben ermög-

lichende Wesen. Ob man die Tierherren und Geister der jägerischen Religion als „Götter“

bezeichnen soll, ist zumindest unklar. In der Frühzeit der jägerischen Kultur scheint sich der

Mensch den Wild- und Naturgeistern gegenüber ebenbürtig gewusst zu haben (Lambert 2009,

64–66); den entsprechenden Vorstellungen und Praktiken – etwa der Jagdmagie – eignet

daher noch kein eigentlich religiöser Charakter. Den Verkehr mit diesen Wesen pflegen Spe-

zialisten, die heute als Schamanen bezeichnet werden. Da es bis ins 20. Jahrhundert noch

echte Sammler und Jäger gegeben hat, konnte die Forschung Spuren der frühen jägerischen

Religion erkennen und deuten. Auch in der sehr viel späteren biblischen Religion und in

deren vorderasiatischen Vorläufern lassen sich noch Spuren der jägerischen Weltanschauung

DIE ABRAHAMISCHEN RELIGIONEN IM GESPRÄCH

548

finden (Lang 2002, 100–136). In dem seit ca. 40.000 v. Chr. nachweisbaren Schamanismus

sind die Anfänge von Kunst und Religion fassbar. Vielleicht lässt sich die Ausbildung kom-

plexer Mythen über die Entstehung der Welt und die Gefährdung der Welt durch von Göttern

verursachte Naturkatastrophen bereits in diese frühe Zeit datieren (Witzel 2012). – Neuer

Aufbruch und neues Wagnis führten zu agrarischer Lebensweise und damit zu einem Ende

ausschließlich jägerischer Existenz der Menschheit.

Zweite Stufe: Das agro-pastorale Stadium. Zwischen 10.000 und 8.000 v. Chr. entstanden

durch einen Vorgang, für den sich die Bezeichnung „neolithische Revolution“ eingebürgert

hat, die agro-pastoralen Kulturen. Ihre Grundlage bildet ein doppelter Vorgang: die Domesti-

kation von Tieren wie Schaf, Ziege und Rind und der Anbau bestimmter Pflanzen wie Mais,

Weizen und Gerste. Man lebte in Siedlungsgemeinschaften von 250 bis 400 Personen (Müller

2010). Im Gemeinschaftsleben führend sind die älteren, noch vitalen erfahrenen Männer, oft

als die „Weisen“ bezeichnet; ihnen gleichgestellt sind Frauen nach der Menopause. Anders

als in der Jägerkultur, die nur minimale rituelle Handlungen kennt, entwickeln die agro-

pastoralen Kulturen ein reiches kultisches Leben, an dem die ganze Siedlungsgemeinschaft

beteiligt ist. Für Kulte sind generell die Alten verantwortlich, wobei Einzelne aufgrund be-

sonderer Begabung den Status eines Spezialisten erwerben können. Die Weisheit der Alten

hat mit dem Thema „Fruchtbarkeit“ zu tun, der Fruchtbarkeit des Menschen und des Ackers.

Dieses Thema steht im Zentrum der frühagrarischen Gesellschaft und ihrer Religion. In früh-

agrarischen Gesellschaften weltweit verbreitet sind zwei kultische Institutionen: die Ver-

ehrung der Ahnen und jahreszeitliche Bräuche und Feste der Siedlungsgemeinschaft, die sich

auf die Abfolge der Jahreszeiten und auf Aussaat und Ernte beziehen. Die Verehrung der

Ahnen folgt aus der Vorstellung des Fortlebens der Seele im Totenreich, das im Innern der

Erde unter der Siedlung vorgestellt wird; die Toten werden verehrt, damit sie ihren Nach-

kommen mit Kindern und Wohlstand segnen und nicht, über Vernachlässigung erzürnt, sie

durch allerlei Unglück bestrafen: Dürre, Ernteausfall, Kinderlosigkeit oder Krankheit. Im

Zentrum des religiösen Kults steht das jährliche Erntefest, an dem den Göttern, Geistern und

Ahnen für die gewährte Ernte gedankt wird. Das von allen Dorfbewohnern begangene Fest

dient gleichzeitig der Festigung der Gemeinschaft. Die dörfliche Siedlungsgemeinschaft bot

ihren Mitgliedern Sicherheit und Schutz. „Die Menschen fühlten sich, sofern alles lief, wie es

sollte, in ihrer kleinen Welt ... geborgen“ (Müller 2010, 146). Doch aus dieser Geborgenheit

kam es zum Aufbruch und zu neuem Wagnis: zur Bildung archaischer Staaten.

Dritte Stufe: das archaische Stadium. Gegen Ende des 4. Jahrtausends v. Chr. entstehen im

Zweistromland und in Ägypten frühe Hochkulturen, die sich durch staatliche Organisation,

Arbeitsteilung und Entwicklung der Schrift auszeichnen. Die zentrale Gestalt ist der König,

der als Alleinherrscher fast unbeschränkte Macht ausübt. Er bedient sich dabei dreier Institu-

tionen: des Militärs, der von Schreibern organisierten Zivilverwaltung und des Priestertums.

Zu den lebensfördernden Göttern der jägerischen und agrarischen Welt kommen noch zwei

weitere Arten von Göttern: die der Weisheit und Ordnung verpflichteten Schreibergötter

sowie die den Sieg verbürgenden Kriegsgottheiten. Der König steht den Göttern nahe und gilt

selbst als göttliches Wesen. Als „Gottkönig“ bildet er die zentrale religiöse Gestalt des ar-

chaischen Staates. Der ägyptische König gilt als Sohn eines Gottes und einer menschlichen

Mutter, im babylonischen Gilgamesch-Epos wird der König von Uruk als ein Drittel Mensch

und zwei Drittel Gott beschrieben, dem König Israels ruft Gott den Ausspruch zu: „Mein

Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt“ (Ps 2). Auf Befehl des sakralen Königs werden

den Göttern bedeutende irdische Residenzen – Tempel – gebaut, in denen sie, von einer

Priesterschaft bedient, residieren und konsultiert werden können. In den Tempeln und in

deren Umkreis entfaltet sich ein reiches kultisches Leben, an dem die gewöhnlichen Men-

schen nur zu besonderen Anlässen – etwa jährlichen Festen und Prozessionen – teilhaben.

Reste von Monumentalbauten, die kultischen Zwecken dienten, sowie Funde von schrift-

lichen Zeugnisse geben uns Einblick in Kult und Mythologie archaischen Hochkulturen be-

sonders der Sumerer, Babylonier und Ägypter.

Neben dem Staatskult bildet sich in den archaischen Hochkulturen auch jene Gestalt

religiösen Glaubens und Fühlens aus, die als „persönliche Frömmigkeit“ bezeichnet wird.

Lang, Weltgeschichte der Religion

549

Während seines ganzen Daseins fühlt sich der einzelne Ägypter einer bestimmten, von ihm

selbst gewählten Gottheit unmittelbar verbunden. Bestimmt wird das Verhältnis mensch-

licherseits durch Ergebenheit, Vertrauen, Liebe, Gehorsam, Gebet und Opfer, Teilnahme an

Prozessionen und Festen, göttlicherseits durch sichere Führung, Schutz vor Gefahren und

ebenfalls Liebe. Für Entstehung und Funktion der persönlichen Frömmigkeit schlägt Hellmut

Brunner (1988, 85–102) folgende Erklärung vor: In der Frühzeit der altägyptischen Kultur

verspricht die Einfügung des Einzelnen in das vom Staat garantierte Ordnungsgefüge dem

Einzelnen Erfüllung und Lebenserfolg. In dem Augenblick, als sich die Ordnung nicht mehr

als unverbrüchlich tragend erweist, benötigt der Einzelne einen Gott als Helfer. Nun setzt der

auf Lebenserfolg bedachte Ägypter nicht mehr nur auf ordnungskonformes Verhalten,

sondern erhofft sich auch Lohn für die seinem persönlichen Gott erwiesene Treue. So musste

die persönliche Frömmigkeit jene Geborgenheit ersetzten, die das Gefüge des archaischen

Staates nicht mehr bieten konnte. Die persönliche Frömmigkeit wurde zu einer elementaren

Form des religiösen Lebens weiter Teile der Menschheit – bis heute (siehe unten, Sechste

Stufe). In der Bibel findet sie sich ebenso wie in Griechenland. Der Psalmist weiß sich im

Schutz Gottes als seines guten Hirten (Psalm 23), und der delphische Apollon spricht zu

Orestes (Aischylos, Die Eumeniden 64ff., übersetzt von Ludwig Wolde):

Ich gebe nie dich preis, bleib’ Wächter über dir

Allzeit, ob ich dir nahe bin, ob fern gerückt.

Und nimmer zeig’ ich deinen Feinden mich als Freund.

Vierte Stufe: das achsenzeitliche Stadium oder die Achsenzeit. Anders als bei den voraus-

gehenden Stadien lässt sich keine Religion dieses Stadiums beschreiben, denn wir haben es

mit einer Übergangsphase zwischen dem Typus der archaischen Religion und dem der histo-

rischen Religion (Fünfte Stufe) zu tun.

Das zentrale Ereignis dieser Übergangszeit ist das Auftreten des kritischen Intellektuellen.

Dieser hat in verschiedenen Kulturen verschiedene Typen ausgeprägt: in Griechenland tritt er

als Philosoph auf, in Indien als jainistischer und buddhistischer Asket, in China als konfu-

zianischer Moralist, im Volk der Bibel als Prophet. Allen diesen Gestalten gemeinsam ist der

Verzicht auf das Streben nach Besitz zugunsten des Strebens nach Weisheit und Gerech-

tigkeit. Regelmäßige Arbeit zur Sicherung des Lebensunterhalts hat keine Priorität. Für ihre

Grundsätze und ihre Sendung bringen sie persönlichen Mut auf und nehmen Anfeindung in

Kauf, die – im Fall von Sokrates und Jesus – bis zum Martyrium führen kann. Jaspers schlägt

als gemeinsame Bezeichnung für alle diese Gestalten das Wort Prophet vor (Jaspers 1988,

220).

Folgende Züge prägen die religiöse Entwicklung der Achsenzeit besonders deutlich: (1) Die

geistige Elite wendet sich von der Religion der archaischen Hochkulturen ab. Am Gottkönig-

tum wird heftige Kritik geübt. Angestrebt wird die Loslösung der Religion von politischer

Herrschaft. Religionskritik bildet einen Teil der Religion selbst. (2) In Israel und Griechen-

land macht sich in der Kritik am Polytheismus die Tendenz zu einer monotheistischen

Gottesauffassung bemerkbar. (3) Religiöses und philosophisches Wissen wird aufgezeichnet.

Die Verschriftlichung bringt eine Tendenz zur Systematisierung, Vereinheitlichung und Ver-

stetigung religiösen Wissens mit sich. Ansätze zur Buchreligion und intellektuellen, auf heili-

gen Schriften basierenden Ritualen treten hervor. (4) Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten

Religion oder Weltanschauung wird dem Ideal nach nicht durch Volkszugehörigkeit und

Geburt, sondern durch freie Wahl bestimmt. (5) In fortschrittlich denkenden Kreisen bilden

sich Gruppen, die Werk und Gedächtnis maßgebender Denker pflegen. Als „maßgebende

Menschen“ ragen Sokrates, Jesus, Konfuzius und Buddha hervor. Zu diesen vier tritt im

7. Jahrhundert n. Chr. noch Mohammed hinzu.

Der Aufbruch aus den archaischen Kulturen und die Grundlegung der historischen Kulturen

ist als besonders wichtiges Ereignis der Menschheitsgeschichte zu werten, denn durch dieses

Wagnis sind jener Menschentypus, jene geistige Welt und jene Formen der Weltbewältigung

entstanden, die für uns auch heute noch als maßgeblich gelten. Dieser Aufbruch hat sich im

DIE ABRAHAMISCHEN RELIGIONEN IM GESPRÄCH

550

Laufe des 1. Jahrtausends v. Chr. in Indien, China und im Mittelmeerraum – besonders in

Israel und Griechenland – ungefähr gleichzeitig ereignet; die Träger sind überall kritisch

denkende Intellektuelle, mögen sie als Weise, Propheten oder Philosophen bezeichnet

werden. Jesus scheint zwischen Prophetie und Philosophie zu vermitteln (Lang 2010). Die

Zeit des großen kulturellen Aufbruchs lässt sich mit Jaspers (1949) als die „Achsenzeit“, die

Mitte der Weltgeschichte verstehen.

Fünfte Stufe: das Stadium der historischen Kulturen. Auf die Erschütterungen der Achsenzeit

folgt eine Epoche der Konsolidierung; die prophetischen Anstöße führen zu religiösen

Bewegungen, und aus diesen entstehen neue Religionen: Konfuzianismus, Jainismus, Bud-

dhismus, Judentum, Christentum (als die historisch erfolgreichste Form des hellenistischen

Judentums) und, später hinzukommend, der Islam. Diese Religionen lassen sich insgesamt als

„sekundäre Religionen“ charakterisieren, die durch Reform aus älteren, „primären“ Reli-

gionen hervorgegangen sind. Der Übergang von der primären zur sekundären Religion im-

pliziert stets einen Bruch: ein Gründer oder Stifter tritt auf, eine Reform wird durchgeführt,

altes Brauchtum wird abgeschafft und durch neues ersetzt. Doch was in der Rückschau oft als

Gründungs- und Reformgeschehen dargestellt wird, ist in Wirklichkeit ein längerer Prozess.

Dieser Prozess gehorcht dem soziologischen Gesetz der „Veralltäglichung des Charismas“

(Max Weber): Sobald das anfängliche Charisma erlischt, muss die prophetische Botschaft zur

„Lehre“, die spontan sich bildende Anhängerschaft zur „Kirche“ oder „Gemeinde“, die char-

ismatische Führung zum regelmäßig rekrutierten „Amt“, das einmalige Ereignis zum re-

gelmäßig begangenen „Fest“ werden. Die Überführung von Charisma in Struktur ist stets von

Kompromissen begleitet (O’Dea/O’Dea Aviad 1983), die den einen als Verrat, den anderen

als Notwendigkeit erscheinen.

Von den aus der Achsenzeit hervorgegangenen Religionen weisen Buddhismus, Judentum,

Christentum und Islam genügend Gemeinsamkeiten auf, die es ermöglichen, sie als Varia-

tionen eines Idealtypus aufzufassen. Dieser Idealtypus zeichnet sich durch folgende Elemente

aus, die es – zumindest in dieser Kombination – in den archaischen Religionen nicht gab:

(1) Lehre und eine Ethik werden aufgrund einer anerkannten Traditionsliteratur entwickelt;

man spricht daher von „Buchreligion“ (Lang 1990). (2) Ein Literaten-, Gelehrten- oder Theo-

logenstand pflegt die Lehre und die Traditionsliteratur. (3) Organisatoren kümmern sich um

die Verbreitung und Weitergabe der Lehre. Der Organisator ist die für die Konsolidierung

und den Bestand der Religion wichtigste Gestalt. Den höchsten Grad von Organisation er-

reicht das Christentum durch die den Propheten ablösende Gestalt des episkopos, d.h.

„Aufsehers“ oder „Inspektors“; in allen Sprachen hat er seinen griechischen Namen – Bischof

– behalten. Bereits in der Spätantike hat der Bischof von Rom als „Papst“ die oberste Leitung

der katholischen Kirche beansprucht; erstmals mit Erfolg P. Leo I. (440–461 im Amt). (4) Die

Laiengemeinde weiß sich der Lehre und Ethik verpflichtet und unterstützt die Gelehrten und

Organisatoren materiell. Laienbelehrung auf der Grundlage heiliger Schriften bildet in Chris-

tentum, Islam und Buddhismus die Grundlage des Gottesdienstes (Lang 1984; 2011a);

solches intellektuelle Ritual verdrängt die für archaischen Religionen typische Darbringung

von Tieropfern. (5) Der religiöse Virtuose sucht als lebender Heiliger das in Lehre und Ethik

dargestellte Ideal in vollkommener, kompromissloser und heroischer Weise zu verwirk-

lichen– etwa als christlicher oder buddhistischer Mönch, jüdischer Chasid oder islamischer

Mystiker (Sufi).

Die aus dem Anstoß der Achsenzeit hervorgegangenen Religionen verdanken sich alle – nach

heutigen Begriffen – „privater“, nicht-staatlicher Initiative. Dennoch ist das Verhältnis zwi-

schen Religion und Staat für die Konsolidierung und den Bestand der historischen Religionen

von größter Bedeutung. Die Anerkennung von Religionen von staatlicher Seite hat oft zur

Etablierung von Staatsreligionen geführt. Insbesondere Christentum, Islam und Buddhismus

sind in vielen Ländern Staatsreligionen geworden, der Konfuzianismus Staatsphilosophie.

Bereits im 3. Jahrhundert v. Chr. wurde der Buddhismus Staatsreligion im Reich des Kaisers

Asoka in Indien. Zur Zeit der Han-Dynastie (206 v. – 220 n. Chr.) konnte sich der Konfuzi-

anismus im Kaiserreich China etablieren. Das Christentum stieg im 4. Jahrhundert von der

durch Kaiser Konstantin durch das Mailänder Edikt 313 öffentlich anerkannten unter Kaiser

Lang, Weltgeschichte der Religion

551

Theodosius 391 zur Staatsreligion des spätrömischen Reiches auf, um fortan die Kultur der

westlichen Welt zu beherrschen. Der Islam ist bereits in seiner Gründungsphase zu einer

politischen Größe geworden; bis heute gilt „der islamische Staat“ für konservative Muslime

als das Ideal. Ohne staatliche Anerkennung, Protektion und Förderung wären die großen

Religionen nicht zu einem wesentlichen Bestandteil der im Wesentlichen homogenen histo-

rischen Kulturen geworden, deren Mentalität, Ethik, Musik, Kunst, Literatur und Bildungs-

wesen sie nachhaltig geprägt haben. Typisch für die nächste Stufe – das moderne Stadium –

sind der Zerfall der Homogenität und die Auflösung der engen Verbindung zwischen Staat

und Religion.

Sechste Stufe: das moderne Stadium. Historische Kulturen und Staaten machen in der Neuzeit

– etwa seit 1500 – einen tiefgreifenden Wandlungsprozess durch. In diesen Prozess sich die

Religionen mit einbezogen., allerdings ohne dass sich ein einheitlicher Trend abzeichnet:

„Die Phänomene des Religiösen, weltweit gesehen, ordnen sich für den Betrachter nicht zu

einer großen Gesamtgeschichte, wie sie sich in den Makroprozessen der Urbanisierung, In-

dustrialisierung oder Alphabetisierung bei allen Differenzierungen nach Ort und Zeit sich

erkennen lässt“ (Osterhammel 2009, 1240). Doch lassen sich fünf Erscheinungen als typisch

herausstellen, die jeweils mit einem Schlagwort gekennzeichnet seien: Konfessionsbildung,

Säkularismus, Modernismus, Traditionalismus und Individualisierung.

Konfessionsbildung: Im 16. und 17. Jahrhundert haben zwei ineinandergreifende Entwick-

lungen die Gesellschaften Europas und der islamischen Länder verändert – die innere Neu-

organisation von Christentum und Islam durch Reformbewegungen, und die Umgestaltung

der Staaten von mittelalterlichen Feudalstaaten zu neuzeitlichen, bürokratisch verwalteten

Gemeinwesen. Nach der von Martin Luther (1483–1546) initiierten protestantischen Refor-

mation, der katholischer Reform und weiteren Aufbruchsbewegungen kommt es zu neuen

konfessionellen Gestaltungen in Protestantismus, tridentinischem Katholizismus, Anglikanis-

mus, Puritanismus, Pietismus und Methodismus, wo viele Menschen eine geistige und emo-

tionale Heimat finden. Diese Entwicklung ist auffällig geprägt durch eine kurze Zeit der Un-

ruhe und des Aufbruchs, gefolgt von einer Zeit der Konsolidierung, Disziplinierung und Uni-

formierung, sowohl im äußeren Verhalten als auch in der Pflege frommer Gefühle

(Angenendt 1994; Karant-Nunn 1999 und 2010; Burschel 2014). In der neueren Ge-

schichtsschreibung wird diese Phase gleichgesetzt mit der Phase der Entstehung des mo-

dernen Staates, der die ethische „Disziplinierung“ der Sitten des Volkes ebenso begünstigt

wie die Vereinheitlichung des Religionswesens durch „Konfessionsbildung“ – alles Vorgän-

ge, die nicht nur die christliche, sondern auch die Welt des Islams um 1600 betreffen. Dort

macht das Osmanische Reich die sunnitische Konfession zur Staatsreligion, während die Sa-

faviden-Dynastie Persiens die schiitische Konfession favorisiert (Terzioglu 2013).

Säkularismus: Kaum hatten sich die Konfessionen konsolidiert, folgte mit der Aufklärung des

18. Jahrhunderts ein erneuter Aufbruch. Nun wird die Autorität religiöser Obrigkeit, aber

auch die Autorität traditioneller Lehren von einer philosophischen Elite radikal in Frage

gestellt. Die Religion – jede Religion – wird als Aberglaube abgetan, der zumindest von den

denkenden Menschen überwunden werden sollte. Gefordert wird die Ausschaltung des reli-

giösen Einflusses auf Erziehungswesen, Wissenschaft und Politik. Der säkularistischen

Bewegung gelingt der gesellschaftliche Durchbruch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-

derts und im frühen 20. Jahrhundert, der Zeit von etwa 1850 bis 1930. In dieser Zeit erreicht

das in der europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts grundgelegte säkulare und anti-

klerikale Denken die Massen und bringt den Typus jenes Menschen hervor, der sich von al-

lem Religiösen distanziert. Die großen Universitäten der westlichen Welt stehen heute alle

auf säkularer Grundlage; symbolische Bedeutung hat die 1902 vor der Sorbonne aufgestellte

Statue des Soziologen und Religionskritikers Auguste Comte (1798–1857). Weitere promi-

nente Religionskritiker sind Karl Marx (1818–1883), Friedrich Nietzsche (1844–1900) und

Sigmund Freud (1856–1939). Symptomatisch für diese Zeit ist der Trend, Kirche und Staat zu

trennen (so besonders deutlich in Frankreich seit 1905). Nur in wenigen Ländern gab oder

gibt es eine konsequente atheistische bzw. säkularistische Kulturpolitik: in der Sowjetunion

DIE ABRAHAMISCHEN RELIGIONEN IM GESPRÄCH

552

(1922–1991) und anderen sozialistischen Ländern, z.B. Ostdeutschland (1949–1990), Kuba

(seit 1959), China (seit 1949) und Vietnam (seit 1945).

Modernismus: Die Anliegen der Aufklärung werden von „modernistischen“ Religions-

bewegungen aufgegriffen. Statt die Religion säkularistisch zu bekämpfen, will sie traditio-

nelle Religionen an das Wissen und die Erfordernisse der modernen Welt anpassen. Führend

in modernistischen Religionsbewegungen sind Intellektuelle, die als Buchautoren hervor-

treten und oftmals als theologische Spezialisten in Universitäten tätig sind. Vier Arbeitsfelder

treten seit dem 19. Jahrhundert in den Vordergrund der Arbeit liberaler christlicher Theo-

logen: (1) die Erforschung der Quellen und der Geschichte der Religion, mit Erfolgen in

Bibelwissenschaft, Jesusforschung, Kirchen- und Dogmengeschichte; (2) die Neuinterpreta-

tion überlieferter Glaubenslehren, die durch philosophische Auslegung mit der modernen

Wissenschaft in Einklang gebracht wird; führende Vertreter sind Friedrich Schleiermacher

(1768–1834), Rudolf Bultmann (1884–1976) und Paul Tillich (1886–1965); vielen bekannt

geworden sind die theologischen Neuinterpretationen durch den anglikanischen Bischof John

A.T. Robinson (1919–1983, Verfasser des Buches Honest to God (1963), und den Hollän-

dischen Katechismus (1966, deutsch unter dem Titel Glaubensverkündigung für Erwachsene,

1968); (3) die Ethik, für die Albert Schweitzer (1875–1965) mit seiner tropenärztlichen

Tätigkeit und seinem Begriff der Ehrfurcht vor dem Leben ein bekanntes Beispiel ist; zu

nennen ist weiter die Verteidigung einer post-traditionellen Sexualmoral durch Theologen wie

Stefan Pfürtner (1922–2012); (4) die Gesellschafts- und Kirchenkritik, vertreten durch die

lateinamerikanischen Befreiungstheologie, die feministische Theologie, die auf Reform der

katholischen Kirche zielende Papstkritik von Hans Küng (geb. 1928) sowie die psycholo-

gische Kritik von Eugen Drewermann (geb. 1940). Außerhalb des Christentums findet sich

pointiertes liberales Gedankengut etwa bei dem ägyptischen Muslim Mohammad Abdu

(1849–1905) und dem Hindu-Dichter Rabindranath Tagore (1861–1941); letzterem wurde

1913 der Nobelpreis für Literatur zuerkannt. In allen größeren Religionen, einschließlich des

Judentums, gibt es mehr oder weniger einflussreiche modernistische Richtungen. Ihre Ver-

treter trafen sich am Rande der Weltausstellung 1893 in Chicago zu einem „Parliament of the

World’s Religions“. An diese Tradition anknüpfend bildete sich 1988 ein „Council for a Par-

liament of the World’s Religions“ mit Sitz in Chicago, das seit 1993 internationale Kongresse

ausrichtet. Diese fördern die weltweite Verständigung aller Religionen sowie deren Mobi-

lisierung für den Weltfrieden.

Dem Modernismus steht der Traditionalismus gegenüber, eine Strömung, für die auch die

Bezeichnung „Fundamentalismus“ geläufig ist. Traditionalisten stellen sich mit großer Ent-

schiedenheit sowohl gegen den Säkularismus als auch gegen den Modernismus; letzteren

lehnen sie als problematischen Kompromiss mit dem atheistischen Säkularismus ab. Sie wol-

len Christentum, Islam (oder eine andere Religion) wenn nicht als Staatsreligion, so doch als

führende Nationalreligion einführen oder erhalten. Traditionalistische Strömungen be-

herrschten zwischen etwa 1850 und 1960 die katholische Kirche. Der katholische Traditiona-

lismus wurde von Papst Pius IX. („Pio nono“, im Amt 1846–1878) begründet. Er äußerte sich

in der Proklamation des Dogmas von der Unbefleckten Empfängnis Marias (1854), der Ver-

öffentlichung der Liste der modernen Irrtümer (Syllabus errorum, 1864), der Proklamation

der päpstlichen Unfehlbarkeit (1870), der Ablehnung der modernen historisch-kritischen

Bibelforschung und dem Versuch, die katholische Intelligenz durch Leseverbot moderner

Literatur von der modernen Welt abzuschirmen (Index der verbotenen Bücher, 1966 aufge-

hoben). Dem Modernismus musste jeder Priester zwischen 1910 und 1967 durch Leistung des

Antimodernisteneids abschwören. Durch das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) verlor

der katholische Traditionalismus immer mehr an Einfluss, um allerdings auch heute noch

fortzubestehen. Zwar gibt es in allen Religionen traditionalistische Strömungen, doch drei

Bewegungen sind besonders auffällig: das evangelikale Christentum Amerikas, die Pfingst-

bewegung und der Islamismus. Hervorgegangen aus den protestantischen Erweckungsbe-

wegungen des 18. und 19. Jahrhunderts, hat die evangelikale Bewegung im 20. Jahrhundert

durch Prediger wie Billy Graham (geb. 1918) und die Präsidenten Jimmy Carter (1977–1981)

und George H. W. Bush (1989–1993) großen Einfluss auf das Leben Amerikas gewonnen.

Lang, Weltgeschichte der Religion

553

Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts unter amerikanischen Christen entstanden, ist die

Pfingstbewegung heute in den USA, in Brasilien und Südkorea besonders stark; etwa die

Hälfte der Christen Afrikas werden der Bewegung zugerechnet. Ziel des Islamismus ist die

politische Durchsetzung des islamischen Rechts. Der sunnitische Traditionalismus beherrscht

die 1928 gegründete und in Ägypten auch politisch einflussreiche Muslimbruderschaft. Zum

schiitischen Islamismus gehören jene politischen und religiösen Kräfte, die Iran im Jahr 1979

zur bis heute bestehenden islamischen Republik machten. Sunnitische Islamisten haben sich

zu der Zerstörung des World Trade Center in New York am 11. September 2001 bekannt.

Individualismus: Während sich die soziale Elite zwischen Säkularismus, Modernismus und

religiösem Traditionalismus bewegt, bildet sich zumindest im Christentum eine viel weiter

verbreitete individuelle Laienreligiosität, die sich von bestimmten theologischen Richtungen

ebenso unabhängig weiß wie von institutioneller Bindung. Seit dem 18. Jahrhundert wird in

unterschiedlicher Terminologie die organisationsbezogene „Theologie“ von der organisa-

tionsunabhängigen „Philosophie“ oder Frömmigkeit unterschieden (Rousseau 1964, 362;

Schleiermacher 2008, 596; weitere Nachweise bei Lang 2011b, 369–370):

Theologie Philosophie

Rousseau 1762 culte extérieur culte du cœur

Lessing 1774 geoffenbarte Religion natürliche Religion

Kant 1793 statutarischer Kirchenglaube reiner Religionsglaube

Schleiermacher 1818 Religion Religiosität

Schleiermacher 1830 äußere Religion innere Religion

James 1902 institutional religion personal religion

Durkheim 1912 Église religion individuelle

Im Laufe der Moderne haben sich die beiden Seiten – die institutionalisierte Religion (links)

und die individuelle Religion (rechts) – voneinander wegbewegt. Der Einzelne fühlt sich

zunehmend von Bindungen frei. Damit geht den Einzelnen die Vertrautheit und die Identi-

fizierung mit traditionellen religiösen Lehrbeständen verloren. Was bleibt, ist der Glaube an

Gott und eventuell weitere transzendente Wesen wie z. B. Heilige. Das Zentrum solcher per-

sönlicher Frömmigkeit bildet der Glaube des Einzelnen, unter Gottes Schutz zu stehen. Der

Glaube an die Interaktion zwischen Gott und Individuum ist auf keine weiteren Lehren an-

gewiesen. Zur Erklärung lässt sich auf die Unterscheidung zwischen den „Lehren-Menschen“

und den „Rollen-Menschen“ als den beiden Grundtypen des religiöser Menschen verweisen:

Der Lehren-Mensch fasst die Religion als ein Paket von Lehren auf, während der Rollen-

Mensch mit einem transzendenten Partner interagiert und in dieser Interaktion Erfüllung

findet (Holm 1990, 110–112). Der Fromme, dessen Glaube dem Typ der persönlichen Fröm-

migkeit entspricht, ist Rollen-Mensch.

Ein beliebter Bestandteil heutiger protestantischer Unterhaltungszeitschriften ist das Inter-

view, in dem ein Gläubiger über seinen Gottesglauben Auskunft gibt. In solchen Interviews

werden oft Lebensgeschichten oder Lebenssituationen erzählt, in denen sich der Erzähler als

von Gott geführten, von Gott beschützten, ihm Geborgenheit schenkenden Menschen erfahren

hat. Wer meint, solche Bekenntnisse seien in einer weltlich gewordenen Welt vereinzelt, wird

durch Umfragen eines anderen belehrt. Bekenntnisse wie „Ich spüre die Anwesenheit Gottes“

(13% der repräsentativ befragten Deutschen, 2005) und „Gott kümmert sich um jeden

Einzelnen“ (32%) sind verbreitet (Lang 2011b, 367). Die so bekannte persönliche Fröm-

migkeit dürfte in der heutigen Welt das Credo der meisten Menschen sein, die sich nicht zu

einer konsequent säkularistischen Philosophie bekennen. Sie findet sich selbst bei Menschen,

DIE ABRAHAMISCHEN RELIGIONEN IM GESPRÄCH

554

die sich als Atheisten bezeichnen; als Beispiel sei der polnische Filmemacher Krzysztof

Kieslowski genannt, der von sich sagt: „Ich glaube nicht an Gott, doch ich habe eine gute

Beziehung zu ihm“ (Crespi 1989, 78).

Die weite Verbreitung der persönlichen Frömmigkeit beruht auf einer Logik, die Hellmut

Brunner entdeckt und für die Entstehung dieser elementaren Form der Religiosität im alten

Ägypten formuliert hat (s. oben, Dritte Stufe!): Sobald die in Krise geratene Gesell-

schaftsordnung dem Menschen keinen Lebenserfolg mehr versprechen kann, wendet sich der

Einzelne an einen transzendenten Helfer, dessen Wohlwollen und Hilfe er sucht und dem er

Liebe entgegenbringt. Der Vorgang lässt sich nicht nur in Ägypten, sondern auch in Indien

beobachten. Im Gefolge der islamischen Eroberung weiter Teile Indiens seit dem 13. Jahr-

hunderts verbreitete sich unter den Hindus eine verinnerlichte Religion: Für den Frommen

treten äußere Religionsbräuche zurück; in den Vordergrund tritt bhakti, d.h. die Liebe zu

einem einzelnen Gott wie z.B. Shiva, Vishnu, Krishna oder Rama – oder, wie das Beispiel

von Keshab Candra Sen (1838–1884) zeigt, auch Christus (Wolff 1965, 48–86). In der Mo-

derne lässt sich der Vorgang an Einzelschicksalen von Menschen beobachten, die in bedräng-

ter Lage zum Glauben an einen persönlichen Gott finden (Lang 2009, 754–757). Das Schick-

sal des Einzelnen hängt nicht von historischen und gesellschaftlichen Umständen ab, sondern

vom Willen des transzendenten Helfers.

Über die Zukunft der Religionen besteht innerhalb jeder der genannten Richtungen eine Art

Utopie des Wünschenswerten. Konfessionalisten wünschen sich starke, gut organisierte und

gesellschaftlich einflussreiche Konfessionen. Säkularisten sehnen das Ende aller Religionen

herbei oder wünschen sich, realistischer, deren Absinken zu gesellschaftlich und politisch

unbedeutenden Gebilden. Modernisten favorisieren die weitere Modernisierung aller Reli-

gionen, insbesondere deren Entpolitisierung, deren Verzicht auf gegenseitige Polemik und

deren Neufassung auf der Grundlage von Rationalität und Menschenrechten. Nach Auf-

fassung der Individualisten müssten sich die Religionen in individuell verantwortete Spiritual-

itäten verwandeln, so dass religiösen Organisationen keine oder nur eine geringe Bedeutung

zukommt.

Arbeitsbericht

Die vorstehende Skizze ist in Auseinandersetzung mit einer ganzen Reihe von kurzen

Entwürfen einer Weltgeschichte der Religion entstanden; die ausgewerteten Entwürfe sind

unten in Teil II dokumentiert. Dabei ergaben sich folgende Perspektiven:

Der Aufsatz „Religious Evolution“ des amerikanischen Soziologen Robert Bellah bot den

besten Ausgangspunkt (Bellah 1964). Die älteste Form der Religion, von Bellah als „primi-

tive religion“ oder „tribal religion“ bezeichnet, ist in unserer Skizze in zwei verschiedene

Phasen zerlegt: die Phase der schamanistischen Religion der Jäger und Sammler und

die Phase der agro-pastoralen Religion. Dagegen werden seine zwei Phasen der Moderne –

„early-modern religion“ und „modern religion“ – als eine einzige Phase betrachtet.

Auf den Versuch, einen hypothetischen evolutionären Mechanismus namhaft zu machen,

wurde verzichtet. Das einzige interpretatorische Risiko, das sich einzugehen lohnt, ist

zweifellos die These von der „Achsenzeit“ der Menschheitsgeschichte. Was diese These an-

geht, so besteht eine lebhafte Debatte über die Angemessenheit des 1949 von Karl Jaspers

vorgeschlagenen Konzepts. Bedenkenswert ist die Wortmeldung von Jörg Dittmer, der von

weltgeschichtlicher Chronologie absehen und den Blick auf die Entwicklung einzelner Kul-

turen oder Kulturkreise lenken will (Dittmer 1999). Kulturen pflegen besonders kreative

Epochen zu durchlaufen, die sich ihrer Überlieferung als „Referenzzeiten“ einprägen und

deren Denken kanonische Geltung erlangt. Mir scheint die Auffassung von Dittmer besonders

hilfreich zu sein. Die Chronologie verliert dabei nicht ihren Sinn, haben doch mehrere Kul-

turen im 1. Jahrtausend v. Chr. eine ausgesprochen kreative Phase erlebt und deren Errungen-

schaften zu kanonischer Geltung erhoben. Beispiele für zeitlich spätere Referenzzeiten sind

das 7. Jahrhundert in der arabischen Kultur (die Zeit des frühen Islam) und das 16. Jahr-

Lang, Weltgeschichte der Religion

555

hundert in der westeuropäischen Kultur (als Zeit der Reformation). Auch jene Epoche, die

Jaspers als weltgeschichtliche Achsenzeit qualifiziert, behält ihren Sinn. Das zeigt nicht zu-

letzt eine große vergleichende Studie über griechische und chinesische Denker, vorgelegt von

dem klassischen Philologen Steven Shankman und dem Sinologen Stephen Durrant (Shank-

man/Durrant 2000). Die Odyssee, die Geschichte des Peloponnesischen Krieges von

Thukydides und Platons Symposion werden mit jeweils vergleichbaren Werken chinesischer

Autoren wie Laotse konfrontiert. Die behandelten Autoren und Werke fügen sich in den zeit-

lichen Rahmen vom 8. bis zum 2. Jahrhundert v. Chr. Dieser Zeitraum entspricht der Jas-

pers’schen Achsenzeit, so dass sich sein Begriff zumindest für die beiden Kulturen zu bewäh-

ren scheint.

Schwerer als die Unterscheidung einzelner Phasen ist deren angemessene Beschreibung. Der

Versuch, dafür die Handbücher der Religionsphänomenologie (z.B. Goldammer 1960)

auszuwerten, lieferte ein enttäuschendes Ergebnis: Solche Handbücher sind fast nur für die

Stufe der „historischen Religion“ – unsere Fünfte Stufe – aussagekräftig. Als hilfreich erwies

sich der Gedanke, für jede Stufe den führenden Typus des religiösen Menschen zu bes-

timmen, nämlich jenes Menschen, der sein Leben der Religion widmet und von anderen (zu

Lebzeiten oder posthum) als führender Vertreter der Religion anerkannt wird. In jeder der

sechs von uns unterschiedenen Epochen konnten wir einen Typ des homo religiosus als den

führenden hervorheben. Tabellarisch:

Kulturtyp

Religionstyp

führender

homo religious

I Jägerkultur urzeitliche Religion der Schamane

II agro-pastorale Kultur tribale Religion der erfahrene Alte

III archaische Hochkultur archaische Religion der Gottkönig

IV Kultur der Achsenzeit achsenzeitliche Religion der Prophet

V mittelalterliche Kultur historische Religion der Bischof

VI moderne Kultur moderne Religion der fromme Einzelne

Zur Bezeichnung des führenden religiösen Menschen der vierten und fünften Stufe verwendet

die vorstehende Tabelle die im Christentum üblichen Bezeichnungen. Die Tabelle zeigt an

letzter Stelle die führende religiöse Gestalt unserer Gegenwart: den frommen Einzelnen.

Der fromme Einzelne führt uns zu einer letzten Auskunft über den vorgelegten Entwurf. Im

Unterschied zu allen ausgewerteten Entwürfen einer Weltgeschichte der Religion spielt in

unserer Darstellung die „persönliche Frömmigkeit“ eine besondere Rolle. Sie taucht bereits in

der archaischen Hochkultur Ägyptens auf, um in der modernen Kultur zum führenden Para-

digma von Religiosität aufzusteigen. Die Einsicht in die Bedeutung der persönlichen

Frömmigkeit verdankt sich der Ägyptologie, zu deren führenden Vertretern Manfred Görg

gehört hat (Görg 2007, 116–118 u.ö.).

Teil II: Entwürfe einer Weltgeschichte der Religion. Eine kommentierte Bibliographie

Die vorstehende Skizze ist von Robert Bellahs Artikel „Religious Evolution“ (1964) inspi-

riert. Die kommentierte Bibliographie dokumentiert Bellahs eigene Beiträge zum Thema und

beantwortet folgende Fragen: Hat Bellah Vorläufer? Wie ist Bellahs Beitrag rezipiert

DIE ABRAHAMISCHEN RELIGIONEN IM GESPRÄCH

556

worden? Gibt es Übersichten über die Weltgeschichte der Religion, die mit Bellahs Entwurf

verwandt sind?

Deutsche Autoren, 1832–1949

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1832): Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Hg.

von Walter Jaeschke, Hamburg: Meiner 1993–1995, 3 Bde. – Hegels in Berlin zwischen 1821

und 1831 gehaltene Vorlesungen wurden posthum publiziert. Der Philosoph unterscheidet

vier Stadien: Naturreligion, Übergang zur geistigen Religion (Ägypten, Persien), Religion der

geistigen Individualität (Judentum, griechische und römische Religion), vollendete Religion

(Christentum). Vgl. Bart Labuschagne und Timo Slootweg (Hg.), Hegel’s Philosophy of the

Historical Religions, Leiden: Brill 2012.

Siebeck, Hermann (1893): Der historische Entwicklungsgang der Religion, in: ders., Lehr-

buch der Religionsphilosophie, Freiburg: Mohr, 43–161. – Drei Stadien: Naturreligion, Mo-

ralitätsreligion (dazu gehört auch der Islam; die höchste Form bildet die Religion der alten

Griechen), Erlösungsreligion (Buddhismus, Judentum, Christentum – alle von prophetischen

Gestalten gegründet).

Schell, Herman (1900): Das Entwicklungsgesetz der Religion und deren Zukunft (1900), in:

idem, Kleinere Schriften. Hg. von Karl Hennemann, Paderborn: Schöningh 1908, 271–286. –

Betrachtet drei Entwicklungsstadien aus vergleichender Sicht: patriarchalische Naturreligion

(mit Seelenkult und Geisterglaube), nationale Kulturreligionen (auf der Grundlage von Gesetz

und Recht), Heilsreligionen (freie Religionsgemeinschaften auf der Grundlage von Offen-

barung, Erlösung und persönlicher Verantwortung).

Bousset, Wilhelm (1903): Das Wesen der Religion, Halle: Gebauer–Schwetschke 1903. –

Unterschieden werden folgende Stadien: (1) Religion der Wilden, (2) Stammesreligion (am

Beispiel der frühen semitischen Völker), (3) zwei Formen der Nationalreligion: erstarrt

(Ägypten, Mexiko) und sich fortentwickelnd (Babylonien, Israel, Griechenland, Persien),

(4) Zeitalter der Propheten – Buddha, Zarathustra, Plato, Sokrates, hebräische Propheten,

(5) sich aus prophetischem Anstoß entwickelnde Religionen – Gesetzesreligionen (Judentum,

zoroastrische Religion, Islam, byzantinisches Christentum) und Erlösungsreligionen (in

aufsteigender Wertordnung: Buddhismus, Platonismus, Christentum).

Jaspers, Karl (1949): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München: Piper 1949. – Jaspers

unterscheidet vier Stadien: Vorgeschichte, alte Hochkulturen, Achsenzeit, und wissenschaft-

liches und technisches Zeitalter. Religion wird nicht eigens thematisiert.

Robert Bellah, 1964–2011

Bellah, Robert N. (1964): Religious Evolution, American Sociological Review 29 (1964),

359–374. – Der amerikanische Soziologe unterscheidet fünf Stadien: primitive, archaische,

historische, frühmoderne und moderne Religion. Die “Achsenzeit” (Jaspers) führt vom ar-

chaischen zum historischen Stadium. – Dieser einflussreiche Aufsatz ist oft nachgedruckt

worden.

Bellah, Robert N. (1980): Introduction, in: ders. und Phillip E. Hammond, Varieties of Civil

Religion, New York: Harper & Row 1980, vii–xv. – In „historischen Religionen“ ist die Reli-

gion vom Staat unabhängig; in der Moderne bleibt diese Unabhängigkeit bestehen, doch

kommt es zur Bildung einer „Zivilreligion“.

Bellah, Robert N. (2011): Religion in Human Evolution: From the Paleolithic to the Axial

Age, Cambridge, Mass.: Belknap Press 2011. – Bellah wiederholt, was er 1964 über die das

tribale (oder „primitive“) und das archaische Stadium geschrieben hat. Das von ihm

vorausgesetzte Evolutionsschema wird jedoch im Licht neuerer Forschungen über die kogni-

tive Entwicklung des Menschen. Am ausführlichsten geht Bellah auf die vier achsenzeitlichen

Kulturen ein: Israel, Griechenland, China und Indien. Der Autor plante, in einem weiteren

Band die historische und die moderne Religion zu behandeln, doch er verstarb 2013.

Lang, Weltgeschichte der Religion

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Katholische Autoren, 1984–2000

Barnes, Michael Horace (1984): In the Presence of Mystery: An Introduction to Human Reli-

giousness, Mystic, Conn.: Twenty-Third Publications 1984. – Das College-Lehrbuch legt die

von Bellah unterschiedenen Stadien zugrunde. Eine erweiterte Fassung erschien 2003.

Dawson, Christopher (1985/86): The Stages of World Religion, veröffentlicht in vier

Fortsetzungen im Dawson Newsletter IV,4 (winter 1985-86) bis V,3 (fall 1986); auch im In-

ternet (http://catholiceducation.org/articles/history/world/wh0097.html). – Die Texte hat John

J. Mulloy aus dem Werk des Historikers (1889–1970) zusammengestellt, so dass sich ein

Überblick über die Religionsgeschichte ergibt. Unterschieden werden sieben Phasen: primi-

tive Religion, neolithische Religion, archaische Kulturreligion, die Hochreligionen des ersten

Jahrtausends v. Chr. (entsprechend der „Achsenzeit“ von Jaspers), der geteilte Weg des

Christentums in Ost- und Westeuropa, der Zerfall der katholischen Synthese in der Refor-

mation, der Konflikt zwischen Naturalismus und Monotheismus.

Küng, Hans (1994): Das Christentum. Wesen und Geschichte, München: Piper 1994. – Küng

bezieht sich nicht auf Bellah, doch bedient er sich einer ähnlichen Vorgehensweise, die er als

Paradigmenanalyse bezeichnet. In der Geschichte des Christentum lassen sich folgende Para-

digmen unterscheiden: (1) das jüdisch-apokalyptische Paradigma des Urchristentums, (2) das

altkirchlich-hellenistische Paradigma der Spätantike, (3) das römisch-katholische Paradigma

des Mittelalters, (4) das protestantisch-reformatorische Paradigma, (5) das aufgeklärt-

moderne Paradigma, (6) das ökumenische, nachmoderne Paradigma. Die Theologie von Karl

Barth bereitet das nachmoderne Stadium vor, während die katholische Kirche weithin dem

mittelalterlichen Paradigma verhaftet bleibt.

Swidler, Leonard J., und Paul Mojzes (2000): Evolution in Religion, in: dies., The Study of

Religion in an Age of Global Dialogue, Philadelphia: Temple University Press 2000, 73–90. –

Wir stehen an der Schwelle zu einer zweiten Achsenzeit; sie ist bestimmt durch den weltweit-

en friedlichen Dialog, nicht durch den Konflikt der Völker und Kulturen.

Barnes, Michael Horace (2000): Stages of Thought: The Co-Evolution of Religious Thought

and Science, Oxford: Oxford University Press 2000. – In der Einleitung (S. 18–28) bietet der

Autor eine Skizze der kognitiven Stile in vier Entwicklungsphasen, die er als primitiv, ar-

chaisch, klassisch oder „achsenzeitlich“ (axial) und empirisch-kritisch bezeichnet. Diese

Phasen entsprechen den Stadien von Bellahs Entwicklungsschema. In seinem Aufsatz „Primi-

tive Religious Thought and the Evolution of Religion“ (Religion 22 [1992], 21–46) verweist

der Autor auf die Verwandtschaft der Ideen von Bellah und Piaget.

Ethnologen und Kulturwissenschaftler, 1970–2014

Peacock, James L., und A. Thomas Kirsch (1970): The Human Direction: An Evolutionary

Approach to Social and Cultural Anthropology, New York: Meredith Corporation 1970. –

„Vergangene“ Entwicklungsstadien sind nicht einfach vergangen. Jede von Bellahs Phasen

lässt sich in einer heutigen Gesellschaft irgendwo auf der Welt nachweisen.

Döbert, Rainer (1973): Abriss der Religionsgeschichte, in: ders., Systemtheorie und die

Entwicklung religiöser Deutungssysteme, Frankfurt: Suhrkamp 1973, 87–139. – Diese revi-

dierte Fassung von Bellahs Stadien ist der Systemtheorie von Niklas Luhmann verpflichtet.

Müller, Klaus E., und Ute Ritz-Müller (2004): Des Widerspenstigen Zähmung. Sinnwelten

prämoderner Gesellschaften, Bielefeld: Transcript 2004. Der Ethnologe Klaus Müller

skizziert vier Hauptphasen der historischen Entwicklung: Wildbeuter „Bruder Tier“), Pflanzer

(„verflucht sei der Boden“), frühe Staaten („der Palast“), sekundäre Staaten („der Auszug“);

jede Phase wird durch ethnologisches Material belegt.

Adams, William Y. (2005): The Evolution of Religion, in: ders., Religion and Adaptation,

Stanford, Cal.: CSLI Publications 2005, 237–286. – Der Autor beschreibt folgende Gesell-

schaften: Horden-Gesellschaften (band-level societies), Stammesgesellschaften (vgl. auch das

Kapitel über die Navaho-Religion, S. 9–41), vom Feldbau lebende Häuptlingstümer, no-

madische Häuptlingstümer (die kein eigenes Stadium darstellen), die ersten Staaten, weltliche

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(secularising) Staaten der klassischen Antike, bäuerliche Gesellschaften (vgl. auch die

Beschreibung der „arabischen Dorfreligion“, S. 42–71), Erlösungskulte (Christentum, Islam),

nativistische Bewegungen und die Industriegesellschaft.

Lambert, Yves (2009): La Naissance des religions. De la préhistoire aux religions universal-

istes, Paris: Armand Colin 2009. – Die drei Teile des Buches erörtern (1) Jäger und Sammler

(erläutert am Beispiel von sibirischen Jägern, die den Schamanismus kennen) sowie bäuer-

liche Gesellschaften (am Beispiel der Dogon in Westafrika), (2) die polytheitischen Reli-

gionen von Mespoptamien, Ägypten, Athen und den Veden, (3) die Erlösungsreligionen –

Zoroastrismus, altes Israel, Hinduismus und Buddhismus.

Lang, Bernhard (2014): Der religiöse Mensch. Kleine Weltgeschichte des homo religiosus in

sechs kurzen Kapiteln. Mit Beispielen aus Bibel und Christentum, in: Jan Assmann und Har-

ald Strohm (Hg.), Homo religiosus. Der religiöse Mensch in Geschichte und Gegenwart,

München: Fink 2014. In jeder der sechs aufeinander folgenden religionsgeschichtlichen Peri-

oden gibt es eine führende Gestalt des religiösen Menschen: Schamane (Jäger und Sammler),

der erfahrene Alte (frühe agrarische Siedlung), Gottkönig (archaische Hochkultur), Prophet

(Achsenzeit), Bischof (historische Religion), der fromme Einzelne (moderne Religion).

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