Die Begriffe der Natur und der Geschichte im Denken Jean-Jacques Rousseau: ein theologisches Denken...

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Westfälische Wilhelms-Universität Sommersemester 2013 Institut für Politikwissenschaft Bachelorarbeit Gutachter: Prof. Dr. Jean Terrier Prof. Dr. Michel Hastings Clara Soudan 2, résidence la chapelle 59133 Phalempin Tel: 0033 3 20 32 70 20 E-Mail: [email protected] Matr.-Nr: 386619 Politikwissenschaft Doppelstudiengang Lille – Münster "Internationale und Europäische Governance" 6. Fachsemester Abgabedatum: 18. März 2013. Die Begriffe der Natur und der Menschengeschichte bei Rousseau: ein theologisches Denken der menschlichen Geschichtlichkeit.

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Westfälische Wilhelms-Universität

Sommersemester 2013

Institut für Politikwissenschaft

Bachelorarbeit

Gutachter: Prof. Dr. Jean Terrier Prof. Dr. Michel Hastings

Clara Soudan

2, résidence la chapelle

59133 Phalempin

Tel: 0033 3 20 32 70 20

E-Mail: [email protected]

Matr.-Nr: 386619

Politikwissenschaft

Doppelstudiengang Lille – Münster

"Internationale und Europäische Governance"

6. Fachsemester

Abgabedatum: 18. März 2013.

Die Begriffe der Natur und der Menschengeschichte bei Rousseau:

ein theologisches Denken der menschlichen Geschichtlichkeit.

Inhaltsverzeichnis:

Einleitung 1§.1. Kontextualisierung des Denkens Rousseaus 2§.2. Problemstellung 4§.3. Themeneingrenzung 5§.4. Forschungsvorhaben 5§.5. Methodisches Vorgehen 6

I. Die Natur im Denken Rousseaus 7 A. Die Denkenserfahrung des Naturzustandes : eine ahistorische Erdichtung 7

§.1. Eine Notwendigkeit, um den Menschen zu enthüllen : die Natur als Ursprung 8§.2. Das Zurückgreifen auf den reinen Naturzustand: eine «negative Anthropologie» 10§.3. Die Menschheit als Virtualität 11

B. Der Naturmensch 12§.1. Die urmenschliche Bedingung 12§.2. Die Eigenschaften des Urmenschen: der aufgedeckte Mensch 14§.3. Der Mensch vor dem Absturz 15

C. Die gute Natur 17§.1. Gegen die moderne abendländische Tradition 17§.2. Die wohlwollende Natur: eutopia 18§.3. Die kosmologische Ordnung : über die Legitimierung der Natur als Vorsehung 19§.4. Permanenz des Guten und Kontingenz des Bösen 20

II. Das Denken der Entnaturierung 22A. « Généalogie du mal et genèse de la société »: das Böse als Geschichte 22

§.1. Der Ursprung des Bösen : ein ätiologisches Unternehmen 23§.2. Die Geschichte des Menschen : Geschichte seiner Entsittlichung 25§.3. Gegen die Anschauung vom Fortschritt in der Geschichte der Völker 26

B. Der gesellschaftliche Zwang auf den Menschen : das Böse als Unterjochung 27§.1. Die Interdependenz im Keim der Gesellschaft 27§.2. Der hegemonische Zwang der Gesellschaft 29§.3. Die Unterwerfung der Natur : ein Entwurf des ökologischen Denkens? 30

C. Eine ternäre Auffassung der menschlichen Geschichte 32§.1. Harmonie und Vollkommenheit der Menschheit: das Eden 33§.2. Der Einstieg in die Geschichte: der Absturz 34§.3. Die Verwirklichung des Naturmenschen: die Erlösung 35

III. Kontingenz der Menschengeschichte: eine Erwartungslehre 38A. Notwendigkeit und Kontingenz der menschlichen Geschichte 38

§.1.Die Menschengeschichte als kausale Verkettung 38§.2. Kontingenz der Menschengeschichte: die schöpferische Zeit 39§.3. Die Verurteilung einer Sozialisierung und einer Geschichte 41

B. Das Wiederherstellen der menschlichen Natur 42§.1. Die rousseauistische Revolution 42§.2. Die natürliche Theologie Rousseaus 43

Schlussfolgerung 48

Literaturverzeichnis 50

Anhangsverzeichnis 53

Zusammenfassung auf französisch 54

Erklärung 66

"Ich sah euch Alle nackt: und was scheidet mir noch euch Gute und euch Böse!"

Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathoustra

I. Einführung

Die Grundlegenheit des Philosophen und Anthropologen Jean-Jacques Rousseau in

unserer politikwissenschaftlichen Theorie ist heute nicht mehr zu beweisen. Jenseits der

Influenz des preromantischen Werkes Rousseaus in die Literatur, haben zusätzlich sein

umwälzendes Denken des sogenannten „reinen Naturzustandes“, seine

Gesellschaftsauffassung als Verderbnis und vor allem seine umstürzlerische Behauptung, nach

der die Menschen von Grund auf gute Wesen seien, die anthropologische Theorie, das

moderne soziologische Denken sowie die klassischen Konzepte der Demokratiewissenschaft

tief geprägt. Der Einfluss des rousseauistischen Denkens ist tatsächlich überall in den sozialen

Wissenschaften insofern zu spüren, als dass es die durch die 1789-Revolution verkündete

abendländische Modernität bestimmt: folglich werden die Legitimität der Volkssouveranität

und des Gemeinwillens oft als ein rousseauistisches Erbe betrachtet. So schreibt der Philosoph

des rousseauistischen politischen Denkens, Robert Dérathé, in seinem Buch Rousseau und die

Politikwissenschaft seiner Zeit, dass der Gesellschaftsvertrag zum „Evangelium der

französischen Revolution“ geworden ist.1 Dazu ordnen etliche im Werk Rousseaus die Weihe

der ökologischen Bewegung ein, oder sehen in der Figur des Autors den Urheber jeglichen

Sozialprotests der letzen Jahrhunderte. Der Ideengeschichteforscher Jean Starobinski erklärt

somit: „chaque génération découvre un nouveau Rousseau, en qui elle trouve l'exemple de ce

qu'elle veut être, ou de ce qu'elle refuse passionnément“2. Jean-Jacques Rousseau erscheint

also als Vertreter des Umsturzes und subversiver Ansprüche: in der politischen Theorie,

innerhalb der Vertragsphilosophie, in der Theologie, bei den Aufklärern, in den

Erziehungswissenschaften und in dem ganzen Verhältnis zwischen Menschheit und Natur

prangert er die Denaturierung des Menschen an und behauptet die allgegenwärtige

Kontingenz des Menschen. Für John T. Scott also, "Rousseau's political philosophy contains

1 Robert Dérathé, Rousseau et la science politique de son temps, Presses Universitaires de France, Paris, 1950, S. 7.

2 Jean Starobinski, La Transparence et l'Obstacle, Paris, Gallimard, 1971, S.319.

1

the most far-reaching remedy for our ills"3.

Der Bruch zwischen Naturzustand und Sozialzustand, den Rousseau nach Thomas Hobbes

und John Locke feststellt und analysiert, erweist sich für unsere politische Modernität als

wesentlich: er stiftet nämlich die grundsätzliche Vertragstheorie des Staates sowie die

moderne Menschenauffassung als Emanzipierung aus einer mangelhaften Natur.4 So ist die

politische Theorie Rousseaus auf seiner Naturauffassung und auf seinem Verständnis der

menschlichen Natur im Widerspruch mit dem geschichtlichen Werden der Menschheit

begründet. Das rousseauistiche Menschenbild stiftet die anthropologische Lehre des

Autorwerkes. Scott behauptet nämlich: "that we are naturally good is a foundation of his

whole system5".

Dieses Thema der Spaltung zwischen Natur und Geschichte, das als Klassiker der Sozial- und

Politikwissenschaften und deren Forschungserfahrung gilt, eröffnet auch zeitlose

Fragestellungen, die nur davon profitieren können, erneut erarbeitet, analysiert und verstanden

zu werden: gibt es eine menschliche Natur? Hat der Mensch die Natur verlassen, und wenn ja,

wie? Ist der Mensch etwas mehr, als das, was die Gesellschaft aus ihm macht? Kann man das

Historische, das Kontingente von dem Wesentlichen oder Ständigen im Menschen

unterscheiden? Warum neigt der moderne Mensch dazu, das naturhafte in sich zu verneinen?

Wie kann man daher die Möglichkeit seiner Freiheit erfassen? Dabei wird der Natur-Kultur

Dualismus behandelt, der die moderne Kosmologie und besonders die Auffassung der

menschlichen Aktivitäten leitet.

An dieser grundsätzlichen Spaltung angelehnt, bietet die rousseauistische Anthropologie ein

lehrreiches Denken der Niedergangsthematik und begreift die Perfektibilität als Grundlage der

Menschengeschichte: diese These möchten wir im Laufe dieser Arbeit untersuchen.

A. Kontextualizierung des Denkens Rousseaus

Jean-Jacques Rousseau befasst sich mit traditionnellen Themen der modernen

politischen Philosophie: die Naturzustandshypothese, die Idee des Fortschrittes durch die

Menschengeschichte, die Vertragstheorie des Staates sowie die Theorie der Volkssouveränität

prägen die Überlegungen zeitgenössischer politischer Theoretiker. So behauptet Dérathé:

3 John T. Scott, "Politics as the imitation of divine in Rousseau's Social Contract", in Polity, Vol.26, N.3 (Spring, 1994), pp. 473-501. S. 9/30.

4 Siehe darüber: Philippe Descola, Par-delà nature et culture, Paris, Gallimard, 2006.5 "Politics as the imitation of divine in Rousseau's Social Contract", S.8/30.

2

"L'hypothèse de l'état de nature était devenue en effet, dès la seconde moitié du XVII° siècle,

un lieu commun de la philosophie politique. On la trouve non seulement chez Hobbes et

Locke, mais chez Pufendorf, Burlamaqui, Wolff et tous les jurisconsultes de l'école du droit

naturel.6" Der politische Philosoph erklärt ferner, dass die Naturzustandshypothese der

Vertragstheorie gleichwesentlich ist.

Jedoch steht im achtzehnten Jahrhundert die rousseauistische Lehre gegen die Ideologie und

den Glauben, die seine Zeit prägten. Gemäß dem Autor Ernst Cassirer positioniert sich

tatsächlich der Philosoph des reinen Naturzustandes „gegen all das, was die Epoche liebt und

verehrt, gegen die Lebens- und Bildungsideale des achtzehnten Jahrhunderts“.7 Obwohl das

Leitwort „Zurück zur Natur“ bei zeitgenössischen Denkern wie Denis Diderot, Guillaume de

Raynal und später Friedrich Nietzsche ziemlich verbreitet war, erschien die rousseauistiche

Behauptung, nach der die Menschen von der Natur aus gute Wesen seien, als erhebliche

Subversion gegen die abendländische theologische Tradition der Erbsünde. Die Darstellung

des Naturmenschen und seiner seligen Bedingung bei Rousseau löste dazu die scharfe

Verurteilung seines Denken von Voltaire als Lob der Unwissenheit aus: "On n'a jamais

employé tant d'esprit à nous rendre bêtes. Il prend envie de marcher à quatre pattes quand on

lit votre ouvrage."8

Gemäß Rousseau ist nämlich die Verdorbenheit die grundsetztliche Eigenschaft unserer

modernen Gesellschaften: das Herrschen der Ungleichheit, der Ungerechtigkeit, der Eitelkeit,

des Eigentums und der Maßlosigkeit weisen tatsächlich auf einen entarteten Zustand der

Menschheit hin. Vorhaben der Philosophie ist daher dieses Übel zu erklären, um dem

abzuhelfen. Dieses versteht der Autor als Ergebnis eines stetigen Niedergangs, der die

gesellschaftliche Bedingung des Menschen kennzeichnet: der Mensch veräußert sich, je mehr

er sich durch die Gesellschaft und die verschiedenen Prozesse der Zivilisation von seiner

ursprünglichen, presozialen und ahistorischen Natur entfernt. Die gesellschaftlichen

Einrichtungen, die menschlichen Sitten, das positive Recht, die Wissenschaften und die

Künste, die die Menschheit durch ihre Geschichte geprägt haben, haben den Naturmenschen

verfälscht, der heute kaum erkennbar verbleibt.

6 Rousseau et la science politique de son temps, Presses Universitaires de France, Paris, 1950, S. 124.7 Ernst Cassirer, « Das Problem Jean-Jacques Rousseau » in Über Rousseau, Suhrkampf Taschenbuch

Wissenschaft, 2012, S. 18.8 Voltaire, Lettre à M. J.-J. Rousseau in Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les

hommes (1754), Paris, Flammarion, 2010. S.259.

3

B. Problemstellung

Das rousseauistische Paradox begreift daher die Entwicklung des Menschen, das heißt

seine tatsächliche Neigung zur Errichtung einer belasteten Gesellschaft, als Denaturierung.

Aus dem Befund der natürlichen Güte des Menschen: « Les hommes sont méchants; une triste

et continuelle expérience dispense de la preuve; cependant l'homme est naturellement bon... »9

fasst der Autor des Emils ein tatsächliches Problem ab: "Tout est bien sortant des mains de

l’Auteur des choses, tout dégénère entre les mains de l’homme"10. Dabei wird die Dialektik

Natur/ Widernatürlichkeit der menschlichen Geschichte aufgehoben: Warum neigt die

menschliche soziale Natur dazu, sich zu verzerren? Wieso ergibt es sich, dass sich die Natur

so verneint? Wie ist dieses gute Wesen zum Böse verfallen, indem es sozial wurde? Wie

entsteht die Kultur? Wie können die Behauptungen Rousseaus, nach der der Mensch von

Natur aus ein gutes Wesen sei und gleichzeitig seine ganze Geschichte Entartung seiner Natur

sei, in Übereinstimmung gebracht werden? Der deutsche Philosoph Ernst Cassirer bringt

daher das sogenannte « Problem Rousseau » als solches vor: « Wie können Übel und Schuld

der menschlichen Natur zugerechnet werden, wenn diese selbst in ihrer ursprünglichen

Beschaffenheit frei von Übeln und Schuld ist; wenn sie keine radikale Verderbnis kennt? »11

Pierre Manent behauptet somit: „Dès lors, la question n'est pas de savoir si la société est

naturelle à l'homme mais bien plutôt de découvrir comment cet être, dont à l'évidence les

premiers mouvements sont sains et bons, est devenu méchant en devenant social.“12 Für den

politischen Philosoph bedingt die Geschichtsanalyse Rousseau die Untersuchung der

menschlichen Natur und ihres Werden durch die Zeit: „histoire de cette nature qui cesse d'être

naturelle quand elle devient, précisément, humaine.“13

Folgende Fragestellung wird also die vorliegende Arbeit leiten: Wie wird die Kluft zwischen

Natur und Geschichte bei Rousseau gedacht, und inwiefern deckt dieses Denken die

Kontingenz der menschlichen Geschichte auf ? Dadurch wird untersucht, inwiefern die

Geschichtlichkeit der menschlichen Gesellschaften bei Rousseau im Bruch zwischen Natur-

und Sozialzuständen auftaucht. Somit wird die daher erfolgende Freiheitsauffassung des

Autors als Theologie eingesehen, die die menschliche Erlösung in einer wiedererlangten

9 Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes (1754), Paris, Flammarion, 2010. S.184.

10 Jean-Jacques Rousseau, Émile ou de l'Éducation in Œuvres Complètes., Tome IV., Éditions La Pléiade, Paris, 1969.

11 Idib. S. 16.12 Pierre Manent, Naissances de la politique moderne: Machiavel - Hobbes - Rousseau, Tel Gallimard, 2007.

S.197.13 Ibid. S.198.

4

Harmonie mit der Natur erkennt.

C. Themeneingrenzung

Infolgedessen nimmt sich unsere Arbeit vor, den Bruch zwischen Naturzustand und

Sozialzustand, also die Begriffe der Natur und der menschlichen Natur sowie die

Geschichtsauffassung Rousseaus zu behandeln. Wir befassen uns hier nämlich mit dem vor-

politischen, und weder mit den Prinzipien des Staatesrechtes noch mit der Thronbesteigung

des Gemeinwillen durch die Einrichtung des Gesellschaftsvertrages. Was uns antreibt, ist das

Denken bei Rousseau der Menschengeschichte und der Entwicklung der Menschheit dabei,

das heißt die Wirkung der Zeit auf den Naturmenschen und die Erprobung der

Zivilisationsgeschichte von der menschlichen Natur. Um sein Menschenbild festzulegen, also

um die allgemeinen und unwandelbaren Eigenschaften der Menschheit zu erfassen, muss der

Philosoph bis zum reinsten Ursprung, bis zur ersten Zeit zurückgehen. Die Natur des

Menschen und die Ursache seines gegenwärtigen Verfalls liegen weit zurück in der

Geschichte: die menschliche Natur entdeckt man nämlich bei dem ersten Menschen, welcher

von der Kontingenz der Zeit noch unberührt war, und der sich noch im sogenannten « reinen

Naturzustand » befand. Die Erfoschung jenes Arbeitsgegenstandes wird im ganzen Werk

Rousseaus herbeigeführt, doch vorwiegend in der 1755 veröffentlichten Abhandlung über den

Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, deren 1992 Ausgabe bei

Flammarion und präsentiert in französischer Sprache von dem Wissenschaftshistoriker

Jacques Roger wir benützen werden. Jene wesentliche Vorführung -von folgender Frage der

Acamédie de Dijon geleitet: "Welcher ist der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen,

und ist diese durch das natürliche Gesetz erlaubt?"- konzentriert tatsächlich die Grundlage

des rousseauistischen Naturdenkens sowie der ganzen Lehre des Autors. Seine

philosophische, anthropologische und politische Erforschung nach dem ursprünglichen Wesen

des Menschen enthält grundsäztliche Betrachtungen über die Menschennatur, das Naturgesetz,

die Menschengeschichte sowie über die Eigentümlichkeit unserer Gesellschaften.

D. Forschungsvorhaben

Anlässlich dieser Arbeit möchten wir also die Originalität des rousseauistischen

Denkens einordnen: bei der Vertragsphilosophie, bei dem Zeitalter der Aufklärung, bei der

theologischen Tradition; und somit die Auswirkungen einer solchen Subversion in der

5

ideenpolitischen Theorie des Autors nachvollziehen. Durch eine Überlegung über die bei

Rousseau weitverbreitete Entgegensetzung der menschlichen Vollkommenheit und des

Verfalls seiner Art wird eine wesentliche Eigenschaft des Menschen entdeckt: seine

Gesellschaftlichkeit oder Geschichtlichkeit, und somit seine umfassende soziale Bestimmung.

Dabei beabsichtigen wir besonders, auf die theologische Lehre im Keim der rousseauistischen

Theorie hinzuweisen. Die Spaltung zwischen menschlicher Natur und Menschengeschichte

bei Rousseau scheint tatsächlich, gemäß traditionnellen Begriffen der christlichen Theologie

zu wirken: der natürliche Ursprung gegen das geschichtliche Werden, selige Bedingung und

Fall der Menschheit, himmlische Reinheit gegen menschliche Verdorbenheit, Ewigkeit gegen

Geschichte, Fortdauer gegen Kontingenz bilden die Auffassung bei dem Autor von Natur und

Menschengeschichte. Dank einer Einstudierung des daraus folgenden Menschenbildes und

der menschlichen Freiheit als Unterordnung zum Naturgesetzt, die Rousseau im Rahmen des

Gesellschaftsvertrags sieht, möchten wir also die Geschichtsauffassung Rousseaus

analysieren. Diese entpuppt sich dabei offensichtlich als eine deterministische Auffassung, die

die Entfremdung des Sozialmenschen durch eine zufällige Geschichte erfasst, und dessen

Erlösung in der Errichtung einer naturgemäßen Gesellschaftsordnung vorgesehen ist.

E. Methodisches Vorgehen

Um das eben vorgestellten Forschungsvorhabens zu erfüllen, sind wir einer

sorgfältigen Einstudierung der Sekundärliteratur zu unserem Thema nachgekommen. Um die

vorgebrachte Hypothese zu überprüfen, haben wir besondere Auslegungen des

rousseauistischen Denkens durch überwiegend zeitgenössische Wissenschaftler aus der

politischen Ideengeschichte, aus der Soziologie, der Philosophie und der Anthropologie

eingesehen und -unüberwindbarer Weise- ausgewählt. Unsere Arbeit bildet daher eine

organisierte, analytisch geleitete und verhältnismäßig zielgerichtete Sammlung von

rousseauistischen Hermeneutiken. Diese Einstudierung dient also als Forschungsstand zu den

eingeleiteten Begriffen der Natur und der Menschengeschichte bei Rousseau.

6

I. DIE NATUR IM DENKEN ROUSSEAUS

"But nature makes that mean: so, over that artWhich you say adds to nature, is an art

That nature makes."William Shakespeare, The Winter’s Tale

A. Die Denkenserfahrung des Naturzustandes : eine ahistorische Erdichtung

Im Grunde des anthropologischen Denkens Jean-Jacques Rousseaus ist der Begriff

und die sogenannte Denkenserfahrung des Naturzustandes. Die Idee eines Naturzustandes der

Menschheit ist in unserer politischen Modernität, und insbesondere bei den Philosophen der

Vertragstheorie, sehr verbreitet; jedoch erhebt sie je nach jeweiligem Autor besondere

Bedeutungen und Auswirkungen. Das Naturzustandsdenken stützt sich auf den Natur-Kultur

Dualismus, den wir früher in der Einleitung erwähnt haben. Tasächlich denken die

Kontraktualisten den Ursprung der Gesellschaft und des Staates als Zusammenschluss von

ursprünglich alleinlebenden Individuen zur Errichtung und Unterzeichnung eines

Gesellschaftsvertrages. Jedoch wird der Naturzustand von Thomas Hobbes, John Locke und

Jean-Jacques Rousseau, die als bedeutendste Vertragstheoretiker betrachtet werden,

unterschiedlich erfasst. Der englische Philosoph Thomas Hobbes entwickelt in seinem

Hauptwerk, dem Leviathan14, eine auf die Sicherheit fokussierte Staatsauffassung: die

Überwindung des von der Furcht und von dem „Krieg aller gegen alle“ geprägten

Naturzustand durch die Gründung des Staates wird hauptsächlich von der Furcht der

Menschen geleitet. (So wird dieser rechtsfreie und unerträgliche Zustand mit dem

Gesellschaftsvertrag beendet, und der Staat durch die Übertragung der Macht und

individueller Freiheiten auf den Souverän hergestellt.) Die lockesche Auffassung des Staates

ist ihrerseits auf eine Naturrechtstheorie begründet: John Locke geht nämlich in seinen Zwei

Abhandlungen über die Regierung15 von in dem Naturzustand vorhandenen Menschenrechte

aus, die die staatliche Einrichtung bewahren und schützen muss. Dabei gilt der Autor als

liberaler politischer Philosoph, der die Legitimität des Staats in der Fortsetzung des

Naturrechts und der individuellen Freiheiten -dem Eigentumsrecht folgend- begreift.

14 Leviathan: Or the Matter, Forme, and Power of a Common-Wealth Ecclesiasticall and Civill, edited by Ian Shapiro, Yale University Press, 2010.

15 The Two Treatises of Civil Government, Hollis edition , 1689, The Online Library of Liberty. URL: http://oll.libertyfund.org/index.php?option=com_staticxt&staticfile=show.php%3Ftitle=222&Itemid=99999999

7

Schließlich lobt Jean-Jacques Rousseau den Naturzustand als goldenes Zeitalter der

Menschheit, wo der Mensch von seinen historischen Verderbnissen noch unbefleckt stand und

in Harmonie mit der Natur lebte. Der Gesellschaftsvertrag soll daher der Wiederherstellung

der Naturherrschaft und somit der menschlichen Natur dienen. Die Verwirklichung dieses

Naturzustandes in der Gesellschaft wird durch den allmächtigen Gemeinwillen erlaubt.

Bei den Kontraktualisten hängt also die Staats-, Gesellschafts- und Menschenauffassung eng

vom Verständnis des Naturzustandes ab: die Naturzustandsfiktion taucht hier als Prämisse

ihres Denkens auf, die das im Naturzustand vorhandene Problem und somit den Keim der

Gesellschaft aufdeckt.

$1. Eine Notwendigkeit, um den Menschen zu enthüllen : die menschliche

Natur als Ursprung

Der Naturzustand bietet eine Antwort auf das Streben Rousseaus, den Ursprung des

Menschen zu beschreiben und aufzufassen, um dessen geschichtliche zeitgenössische

Entwicklung zu erklären. Diesen Zustand versteht Rousseau als Ursprung der Menschheit, die

die angeborene und unbedingte Natur des Menschen aufdeckt. Es handelt sich dabei darum,

die allgemeine und eindeutige Natur des Menschen zu ergreifen: dies kann gemäß Rousseau

allein durch das Denken eines ursprünglichen Zustandes gelingen, in dem alle Menschen

noch absolut gleich waren, von der Vielzahl der Zivilisationen noch unbelichtet: "tel que l'a

formé la Nature, à travers tous les changements que la succession des temps et des choses a

dû produire dans sa constitution originelle, et de démêler ce qu'il tient de son propre fond

d'avec ce que les circonstances et ses progrès ont ajouté ou changé à son état primitif."16 Diese

von Rousseau gepriesene angeborene Natur wurde also von dem Autor als Unberührtheit des

Menschen vor jedem sozialem oder geschichtlichem Determinismus verstanden. Laut dem

Autor der Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den

Menschen bedingt tatsächlich das Verstehen des Menschen die Erkenntnis seines Seins

unabhängig von der Gesellschaft, das heißt die Wahrnehmung seines rein naturhaften Teils.

Somit tauchen nicht nur zwei Stände der Menschheit auf, sondern zwei deutlichen Menschen:

der eine naturhaft, der andere gesellschaftlich. «Ce n'est pas l'homme de l'homme, c'est

l'homme de la nature » schreibt Rousseau im ersten Buch seines Emils. Da das Begreifen

eines solchen primären Zustandes der Menschheit zum Erkennen und Verständnis der

16 Rousseau, Discours sur l'origine, op. cit., Préface, S.158.

8

menschlichen Natur für Rousseaus Anthropologie unverzichtbar ist, stellt der Philosoph klar,

dass sich der Naturzustand als eine rein erfundene Verfassung entfaltet. So erscheint der

Naturzustand Rousseaus als fiktiver Zustand der Menschheit, die als theoretische Hypothese

das Verständnis und das Begreifen des effektiven Menschen erlaubt und fördert. Der von

Rousseau entwickelte Naturzustand ist dann rein erdichtet, und dient einem anthropologischen

Vorhaben, nämlich der Erkenntnis des menschlichen Kerns, nackt, so wie Gott ihn geschöpft

hat. In einem Brief an Christoph de Beaumont schreibt Rousseau tatsächlich: „Cet homme

n'existe pas direz-vous, soit mais il peut exister par supposition.“17 In der zweiten

Abhandlungen fügt er hinzu: „Il ne faut pas prendre les recherches dans lesquelles on peut

entrer sur ce sujet pour des vérités historiques mais seulement pour des raisonnements

hypothétiques et conditionnels.“18 Der Naturzustand bei Rousseau ist also eine ahistorische

Fiktion, die von der vielfältigen geschichtlichen Entstellungen des Menschen benötigt wird,

um seine ursprüngliche Natur mittels spekulativer Methode -und überhaupt kein historisches

Vorgehen- zu entdecken. Eine solche Arbeitshypothese bezeichnet daher einen der

Gesellschaft und der Geschichte selbst vorangehenden Zustand. Der französische Philosoph

Victor Goldschmidt benutzt dabei den Begriff des Idealtypus, insofern, dass der

rousseauistische Naturzustand sich auf Vermutungen über etwas stützt, das der Geschichte

vorangeht19. Es handelt sich tatsächlich um «un état qui n'existe plus, qui n'a peut-être point

existé, qui probablement n'existera jamais, et dont il est pourtant nécessaire d'avoir des

notions justes pour bien juger de notre état présent.“20, der sich auf « raisonnements

hypothétiques et conditionnels, plus propres à éclaircir la nature des choses qu'à en montrer la

véritable origine... »21 stützt. Der Historiker Henri Gouhier betont dazu die Notwendigkeit für

Rousseau, dem Sozialmenschen den Naturmenschen gegenüberzustellen, um die menschliche

Natur erfassen zu können.22 Damit sich der Mensch wirklich kennt, muss er nämlich seine

Geschichtlichkeit betrachten -das heißt sich bewusst sein, dass der Mensch ist, was er

geworden ist; und das was er jetzt ist in Gegenüberstellung zu dem steht, was er früher war.

Diese Behauptung wird natürlich hier in einer ontologischen Perspektive verstanden, und

nicht historisch. Es geht also darum, einen Natuzustand zu kennen, den wir nicht beobachten

können, indem er ahistorisch ist.

17 Œuvres complètes de J. J. Rousseau, avec des notes historiques, Paris, 1837, S.768.18 Rousseau, Discours sur l'origine, op. cit., S.169.19 Victor Goldschmidt, Anthropologie et politique. Les principes du système de Rousseau, Paris, Vrin, 1974.20 Rousseau, Discours sur l'origine, op. cit., S.159.21 Ibid. S.169.22 "Nature et histoire dans la pensée de Jean-Jacques Rousseau", in Société Jean-Jacques Rousseau, 2008-2011.

URL (Stand 17.11.2012): http://www.sjjr.ch/nature-et-histoire-dans-la-pensee-de-jjr

9

Das Problem, das dabei auftaucht, ist dieses der Machbarkeit eines solchen Vorhabens: kann

man nämlich das Kontingent von dem Permanent in dem Menschen auseinanderhalten? Laut

Victor Goldschmidt versucht Rousseau, das Ständige an dem Menschen und das, was die

Umstände zu seinem Urzustand hinzugefügt haben, getrennt voneinander zu behandeln. Jean

Starobinski bezeichnet jene Methode als „negative Anthropologie“23.

$2. Das Zurückgreifen auf den reinen Naturzustand : eine « negative Anthropologie »

Bei dem Denken eines Naturzustandes der Menschheit bedauert Rousseau die

Felsklippe der von seinen Vorgängern entwickelten Naturzustände: die bestehenden Begriffe

des Naturzustandes fehlen allen dabei, einen originellen und ahistorischen Zustand der

Menschheit zu erfassen. Sowohl Thomas Hobbes als auch John Locke denken tatsächlich in

ihren Naturzustände einen Sozialzustand, das heißt eine effektive Sozialisierung des

Menschen -obwohl unbefriedigend und daher vorläufig-, die seitdem der menschlichen

Geschichte gehört. Wie wir es gerade erwähnt haben, begreift Rousseau den Naturzustand als

extrahistorischer Zustand der Menschheit, das heißt als fiktiven und konjekturellen Zustand,

den es in der Geschichte niemals zu beobachten gab. Der Autor versteht dabei die

Sozialisierung des Menschen als historisches Ereignis -dieses Verständnis der Gesellschaft

werden wir später in dieser Arbeit gründlicher behandeln. Rousseau erhebt also

Anschuldigungen gegen die irrtümliche Methode seiner Vorgänger Hobbes und Locke bei

ihrer Naturzustandstheorie und entwickelt daher den Begriff des „Reinen Naturzustandes“.

Gemäß dem französischen Philosophen Louis Althusser24 können diese früheren

Naturzustandsbegriffe die Menschennatur nicht erfassen, indem sie den unrechtfertigbaren

aktuellen menschlichen Zustand zu rechtfertigen versuchen. Die vorherigen

Naturzustandstheoretiker hätten eigentlich nur das Bild des Sozialmenschen auf ihre

Naturzustandsvorstellungen vorgeführt -das heißt bei Hobbes ein kriegerisches Wesen und bei

Locke ein soziales Wesen, das sich nach der Sicherung seines rationalen Interesses sehnt.

Rousseau empfehlt dagegen ein „Tabula-Rasa-Vorgehen“, und fügt sich dabei in eine alte

anthropologische und kartesianische Tradition der Suche nach der unzweifelhaften Grundlage

ein: « commençons donc par écarter tous les faits »25. Diese negative Anthropologie beschreibt

23 La transparence et l'obstacle, S. 361.24 Cours sur Rousseau, Paris, Le Temps des Cerises, 1972.25 Rousseau, Discours sur l'origine, op. cit., S.169.

10

Jean Starobinski als solches: „La méthode de Rousseau consiste à dépouiller l'homme de tous

ses attributs „artificiels“ dont celui-ci a pu prendre possession au cours de l'histoire.“ Gemäß

dem Kommentator John T. Scott, "we must remove the encrustations of society in order to see

our true form.26" Das Denken des „reinen Naturzustandes“ führt nämlich zu einer Suche

gegen den Strich des Fortschrittes und der Kenntnisse aus, um die davon verdeckten

Prinzipien der menschlichen Natur zu endecken: „Semblable à la statue de Glaucus que le

temps, la mer et les orages avaient tellement défigurée, qu'elle ressemblait moins à un dieu

qu'à une bête féroce, l'âme humaine altérée au sein de la société par mille causes sans cesse

renaissantes, par l'acquisition d'une multitude de connaissances et d'erreurs, par les

changements arrivés à la constitution des corps, et par le choc continuel des passions, a, pour

ainsi dire, changé d'apparence au point d'être presque méconnaissable.“27 Mit diesen Worten

beschreibt Rousseau die menschliche Natur als eine verdeckte Natur, die durch die Geschichte

ihrer Sozialisierung (d.h. durch die wissenschaftlichen und technischen Fortschritte, die

Akkumulierung von Kenntnissen, die Leidenschaften und durch andere Unfälle) bedeckt

wurde, und die man daher nur jenseits der Kontingenz der menschlichen Gesellschaften

begreifen kann.

§3. Die Menschheit als Virtualität

Der Bruch zwischen Natur und Geschichte, der sich aus dem Denken des

Naturzustandes ergibt, vermittelt bei Rousseau eine Menschenaufassung als Virtualität, die

sich durch den Lauf der Geschichte entwickelt. Der Naturzustand, den Rousseau beschreibt,

ist nämlich ein grundsätzlich unabänderlicher und stabiler Zustand: wenn er unter Einfluss

äußerer Zwänge verändert wird, dann verliert er seine Grundeigenschaft von Unberührtheit

und wird daher zum Sozialzustand. Diese Kluft bringt die im Naturzustand vorhandene

Virtualität des Menschen und deren tatsächlichen Verwirklichung im Sozialzustand zutage.

Der Mensch als Wandelwesen ist im Werden: die spezifischen Eigenschaften, die ihn vom

Tierreich unterscheiden, sind virtuell: das heißt also, dass sie im Naturzustand in Bereitschaft

als Potenzialitäten verbleiben. Die Vernunft, das Gewissen, die Soziabilität werden der

Perfektibilität folgend nur unter Umständen entwickelt. Aus seiner Naturzustandshypothese

eruiert also Rousseau die erste spezifische menschliche Bestimmung, die er „Perfektibilität“

26 "The Theodicy of the Second Discourse: The "Pure State of Nature" and Rousseau's Political Thought", in The American Political Science Review, 86, 3, 1992. S.698.

27 Rousseau, Discours sur l'origine, op. cit., S.158.

11

nennt: « Mais quand les difficultés qui environnent toutes ces questions laisseraient quelque

lieu de disputer sur cette différence de l'homme et de l'animal, il y a une autre qualité très

spécifique qui les distingue et sur laquelle il ne peut y avoir de contestation, c'est la faculté de

se perfectionner, faculté qui, à l'aide des circonstances, développe successivement toutes les

autres et réside parmi nous tant dans l'espèce que dans l'individu, au lieu qu'un animal est, au

bout de quelque mois, ce qu'il sera toute sa vie, et son espèce, au bout de mille ans, ce qu'elle

était la première année de ces mille ans. »28 Der Dualismus Natur-Geschichte, der so viele

Anthropologen und Menschheitsphilosophen angetrieben hatte, findet im Keim des

Perfektibilitätbegriffes eine wesentliche Antwort: die Gesellschaft -und breiter erfasst, die

Kultur- ist nur dann dank der kulturellen Natur des Menschen ermöglicht. Das Vorhaben

Rousseaus, die ursprüngliche und wesentliche Natur des Menschen aufzudecken, wird also

mitten im Begriff der Perfektibilität erfüllt. Der Autor erläutert die Perfektibilität als die

Fähigkeit, die zusammen mit den Umständen die anderen Fähigkeiten entwickelt. Die

Perfektibilität als grundlegende « Knoteneigenschaft » kennzeichnet das menschliche Wesen

und unterscheidet ihn von anderen Lebewesen. Folgende Worte des Autors veranschaulichen

die aus dieser zweideutigen Fähigkeit entstehenden Herausforderungen: « Il serait triste pour

nous d'être forcés de convenir, que cette faculté distinctive, et presque illimitée, est la source

de tous les malheurs de l'homme ; que c'est elle qui le tire, à force de temps, de cette condition

originaire, dans laquelle il coulerait des jours tranquilles et innocents ; que c'est elle, qui

faisant éclore avec les siècles ses lumières et ses erreurs, ses vices et ses vertus, le rend à la

longue le tyran de lui-même et de la nature. »29

B. Der Naturmensch

§1. Die urmenschliche Bedingung

Das Denken der Natur und der menschlichen Natur bei Rousseau erfasst die

ursprüngliche Lage des Menschen als Zustand der Harmonie mit der Natur. « Errant dans les

forêts », der Urmensch -oder Naturmensch-, in seiner Umwelt geborgen, kennt noch keine

Trennung zwischen Natur und Geschichte oder zwischen Natur und Kultur: er ist Teil der

Natur. Der rousseauistische Naturzustand beschreibt tatsächlich ein unmittelbares Verhältnis

28 Ibid. S.183.29 Ibid.

12

der Menschen zu der Natur, das weder Entfernung noch Verneinung dieser Natur gegenüber

kennt. In seiner Vorlesung über Rousseau des Jahres 1972 versteht der Philosoph Louis

Althusser diesen Zustand der Harmonie als Grundbedingung der Freiheit und der Gleichheit

unter den Menschen, die dem Naturzustand so wesenseigend sind.30 Die zweite

Grundbedingung dieses Naturzustandes, die Althusser erläutert, ist die Abwesenheit

zwischenmenschlicher Beziehungen: diese sind sozusagen unerforderlich, weil die Natur eben

die erste und alleinige Beziehung ist, die der Naturmensch je kennt. Die Natur ist seine

Urbedingung, sie ist die « Mutter », die ihn bergt und geboren hat: « La thèse générale de

Rousseau peut se formuler ainsi, il existe entre l'homme naturel et la nature physique dans

laquelle il vit, un accord immédiat et constant, un accord instantané, qui exclut toute distance

et toute négativité, une adéquation constante qui exclut toute variation. »31 Der Bruch

zwischen Natur und Geschichte, der den Sozialmenschen bei Rousseau bestimmt, ist im

Reinen Naturzustand nicht vorhanden: der Urmensch ist in der Natur « bei sich »32 gemäß der

hegelschen Wörter Althussers, wie ein ungeborenes Kind im Bauch seiner Mutter geborgen

wächst. Diese urmenschliche Bedingung im Einklang mit der Natur beschreibt auf dieser

Weise John T. Scott als « physical embeddedness in nature »33. Der Autor beschreibt den

Urmenschen des rousseauistischen Reinen Naturzustandes als physisches Phänomen

(„physical phenomenon“) und physische Einheit eingeschlossen in der natürlichen

Gesamtheit. Henri Gouhier beschreibt zuletzt die naturmenschliche Bedingung als

Anpassungszustand: die vollständige Anpassung des Urmenschen in seiner Umwelt entbindet

ihn von seinen gesellschaftlichen Einrichtungen. Seine Bedürfnisse sind unverzüglich und

unmittelbar befriedigt: wenn die Bedingung des modernen Menschen bedürftigt ist, lebt der

Naturmensch in voller und ständiger Befriedigung. Für den Exeget verweist also die

urmenschliche Bedingung auf ein Gleichgewicht zwischen dem Menschen und seiner

physischen Umwelt. Die „Untatsächlichkeit“ des Naturzustandes weist daher darauf hin, dass

diese Gleichgewicht-Bedingung nun unerfüllt ist. Woraufhin erklärt Gouhier, dass die Arbeit

der naturmenschlichen Bedingung nicht angehört: weil sie von den Umständen benötigt wird,

ist die Arbeit nur im gesellschaftlichen und historischen Zustand vorhanden: „Ce sont les

circonstances qui ont condamné l'homme à vivre par le travail et dans l'avenir: il fallut

apprendre à vaincre la hauteur des arbres, la concurrence, des animaux, la férocité des bêtes

qui menaçaient sa vie, les intempéries ; il fallut devenir chasseur et pêcheur, fabriquer des

30 Althusser, op. cit.31 Ibid. S.143.32 Ibid. S.144.33 "The Theodicy of the Second Discourse: The "Pure State of Nature" and Rousseau's Political Thought."

13

instruments, etc. » 34

Ganz wesenseigen für den Naturmenschen ist also sein gegebener, fester und fertiger Zustand:

die Idee der Entwicklung, des Fortschrittes sowie des Verfalls ist dem Urmenschen fremd.35

Was den Menschen im Naturzustand wesentlich charakterisiert, ist seine Vollkommenheit,

seine Vollständigkeit: daraus folgen gemessene Bedürfnisse, die die ewige Sucht nach dem

Entbehrlichen und dem Überflüssigen verhindern, die den zivilisierten Menschen so tief

kennzeichnen.

§2. Die Eigenschaften des Urmenschen: der aufgedeckte Mensch

Die Hypothese des Reinen Naturzustandes Rousseaus strebte danach, den Menschen

unabhängig von seinen gesellschaftlichen und historischen Bestimmungen zu enthüllen. Die

menschliche Natur entseht nämlich bei dem Autor als allgemeines Erbe der Menschheit, das

durch die Geschichte zwar bedeckt, doch unwandelbar verbleibt. Was deckt damit Rousseau

auf, und welchen Menschen sieht er?

Der Urmensch tritt also zuerst als Lebewesen im Keim der Natur auf. Als Lebewesen ist er

dem Naturtrieb ergeben, was seine grundsätzliche Freiheit ausmacht: «il avait dans le seul

instinct tout ce qu'il fallait pour vivre dans l'état de nature»36. Zwei grundlegende und

unabänderliche natürliche Triebe wurden von Rousseau bei der Beschreibung des

Urmenschen erläutert: die Selbstliebe und das Mitleid. Die Selbstliebe analysiert Rousseau als

Selbsterhaltungstrieb, der nach dem Wohlstand und dem Fortbestehen des Selbsts strebt: «Il

nous intéresse ardemment à notre bien être et à la conservation de nous-mêmes»37. Der

Anthropolog und politische Philosoph lehrt uns dabei die absolute Notwendigkeit der

Selbstliebe: der Mensch muss sich zuerst lieben, um zu leben. Der Trieb der Selbstliebe

unterscheidet sich von der Eigenliebe, von Eitelkeit geprägt und daher nur im Sozialzustand

vorhanden: diese ist eine soziale Leidenschaft. Die zweite wesentliche Leidenschaft, die den

Naturmenschen kennzeichnet, bezeichnet Rousseau als Mitleid. Das rousseausche Mitleid

beruht auf die Anwiderung vor dem Leiden des Anderen. Der Philosoph beschreibt tatsächlich

das Mitleid des Urmenschen als "répugnance naturelle à voir périr ou souffrir tout être

34 Gouhier, op. cit.35 Althusser, op. cit., S. 153-15536 Rousseau, Discours sur l'origine, op. cit., S. 210.37 Ibid. S. 161-162.

14

sensible et principalement nos semblables"38, und versteht dieses daher als spontane Form

einer natürlichen Güte. Relevant ist darüber zu bemerken, dass diese zwei ursprünglichen

Leidenschaften, oder Naturtriebe miteinander verknüpft sind: so kann der Mensch den

Anderen nur dann lieben, wenn er sich selbst liebt. Der Urmensch, von zerstörenden und

überzähligen Leidenschaften befreit, kennt nur die elementaren und unerlässlichen Triebe der

Selbsterhaltung und des Mitleids, die dem Sozialmensch für Rousseau dramatisch fehlen. In

dem er unter der Herrschaft des Naturtriebes lebt, ist der Naturmensch ein freies Wesen:

hierbei erkennt man die Freiheitsauffassung Rousseaus als Unterwerfung zum Naturgesetzt.

Robert D. Master betont in seiner Analyse des rousseauschen politischen Denkens das

Vorhandensein zweier Freiheitstypen bei Rousseau: der eine naturhaft, und der andere

moralisch39. So ist der Urmensch als Tier von Knechtschaft und Ungleichheit frei: die

naturhafte Freiheit taucht auch als Gleichheit und als physische Freiheit auf. Die tierlichen

Naturtriebe des Urmenschen verhindern nämlich die Sklaverei des Menschen von dem

Menschen. Diese natürliche Freiheit grenzt sich jedoch von moralischer und ziviler Freiheit

ab, die im Naturzustand unerfassbar ist. Einsamkeit und natürliche Gleichheit definieren

ebenfalls den Naturmensch: der Urmensch lebt friedlich und isoliert, da er das organisierte

Zusammenleben der gesellschaftlichen Gemeinschaft als feste Einrichtung noch nicht braucht.

Schließlich ist der rousseauistische Urmensch ein amorales -oder besser gesagt, ein

premorales- Wesen: seine Unwissenheit sieht der Autor als Schuldlosigkeit. Der Naturmensch

unterscheidet sich tatsächlich vom Sozialmenschen auch darin, dass er das Böse nicht kennt:

somit braucht er kein morales Gewissen. Seine spontane, asoziale « Moral » kennt keine

Regeln, die als soziale Struktur im Naturzustand unvorhanden sind. Gemäß der

rousseauistischen Auffassung der Verdorbenheit der Menschheit ist der historische Mensch

durch die Kultur und die Behauptung des Wissens verfallen. Rousseau setzt dem Wissen das

Bewusstsein entgegen, als Kriterium der ursprünglichen Gutherzigkeit und der Unschuld des

Naturmenschen.

§3. Der Mensch vor dem Absturz

Der extrageschichtliche Charakter des Reinen Naturzustandes Rousseaus und die

Unberührtheit seines Urmenschen tauchen als wesentlichste Eigenschaften des theologischen

Urbilds des Adams auf. J.T Scott spricht von dem rousseauistischen Urmenschen als

38 Ibid. S. 162.39 La Philosophie politique de Rousseau, Lyon, ENS Editions, Theoria, 2002

15

„prelapsarian man“40: dabei versteht er den Menschen vor einem Urverlust. Der Reine

Naturzustand als „Stunde Null der Menschheit“ oder Zeitpunkt der Schöpfung, beschreibt

tatsächlich den Menschen ohne die Geschichte seiner Sozialisierung: der Urmensch, von

seinen geschichtlichen Determinismen befreit, erscheint dabei von allem Fortschritt und

Verderb unbelichtet. Der Mensch ist noch nicht abgefallen: dieser Zustand nennt der

Soziologe Etienne Gehin „point zéro de l'humanité“41. Der Sündenfall Adams entspreche also

dem Beginn der menschlichen Sozialisierung und somit des menschlichen Verderbnisses.

Gemäß Henri Gouhier gehe Rousseau bei der Errichtung seiner Reiner-Naturzustand-

Hypothese mit einem theologisches Verfahren vor. Die Beschreibung des Urmenschen sei

somit von dem Modell Adam geprägt: « la théologie la plus élémentaire lui a fourni un

modèle qu'il a plus ou moins consciemment imité : Adam avant la chute. 42» Für den

Kommentator beschreiben sowohl der christliche Theologe als auch Rousseau einen extra-

historischen Zustand, den sie in der Analyse des geschichtlichen Menschen benutzen.

Nebenbei verlieren beide, Adam und der Urmensch, ihre wesentlichen Eigenschaften

(Freiheit, Unberührtheit, Einsamkeit, Harmonie mit der Natur usw): wie es Paul Ricoeur in

seinem Genesisexegese gezeigt hat43, verliert der Mensch in dem Augenblick seiner

Schöpfung als geschichtliches Wesen seine ursprüngliche Freiheit: « L'Homme est né libre, et

partout il est dans les fers44“. Die Premoralität des Urmenschen ist auch der Adams ähnlich:

die rousseauistische Auffassung der urmenschlichen Schuldlosigkeit ist tief von christlichen

Schemen geprägt, deren Wirkung man unter anderen in der Wiederanlage der Erbsünde

messen kann. Dieser Lehrbegriff verweist auf das Nachgeben der Versuchung, die den

Menschen herausfordert, dem Baum der Erkenntnis zu widerstehen. Der gefallene Mensch

wurde von seiner Schuldlosigkeit enthoben, indem er nach der Erkenntnis von Gut und Böse

unabgängig von dem Naturrecht strebte. Er wurde auf die selbe Weise seiner natürlichen

Freiheit, seiner Gleichheit und seiner Vollkommenheit entbehrt: diese sollte er von nun ab

wiedererlangen.

40 "The Theodicy of the Second Discourse", op. cit., S. 707.41 "Rousseau et l'histoire naturelle de l'homme social." In: Revue française de sociologie. 1981, 22-1. pp. 15-31.

S. 1942 Op. cit.43 Philosophie de la volonté, Tome 2: Finitude et Volonté, 2009, Points.44 Rousseau, Du Contrat Social, (1762) 2012, Flammarion, Paris, S.42.

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C. Die gute Natur

§.1. Gegen die moderne abendländische Tradition

Das Thema der guten Natur findet im rousseauistischen Begriff des Naturzustandes

und somit im Keim des rousseauschen Denkens eine besondere Bedeutsamkeit: der Autor

betreibt dort eine Naturauffassung als Unberührtheit, Vollkommenheit, Ordnung und

Permanenz. Dabei wird der in abendländischer politischer Kultur erhebliche Mythos vom

„Edlen Wilden“ vertreten: der Mensch ist von Natur aus gut, die Gesellschaft lässt ihn böse

werden. Jedoch erscheint eine solche Theorie in einem eher fremden Rahmen, der eine andere

Auffassung der Natur und der menschlichen Natur bevorzugt. Das Denken Rousseaus

entpuppt sich also ziemlich subversiv seinem Zeitalter gegenüber. Die christliche Tradition

begreift den Menschen als ein erblich belastetes Wesen, das sich von seiner verdorbenen und

schuldhafte Natur mittels göttlicher Gnade befreien soll. Obwohl der Autor der Abhandlungen

über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen der christlichen

Tradition die Ruptur zwischen einem vollkommenen Zustand und einer verdorbenen Zeit

fortnimmt, lehnt er unbedingt die Idee einer menschlichen Schuld und den Begriff der

Erbsünde ab.

Die rousseauistiche Auffassung einer guten Natur des Menschen wendet sich auch gegen die

politische Tradition der Vertragstheorie: tatsächlich versagt der hobbsche Begriff des

Naturzustandes, indem er einen kriegerischen Menschen schildert. Für den Philosophen Leo

Strauss, „All of them [Rousseaus Vorgänger, das heißt vor allem Thomas Hobbes und John

Locke] have painted civilized man while claiming to paint natural man or man in the state of

nature.“45 Überdies strebt der rousseauistische Gesellschaftsvertrag danach, die ursprüngliche

Natur wiederzuherstellen, und nicht diese zu verneinen oder aufzuheben.

Schließlich scheidet sich das rousseauistische Denken der Natur und der menschlichen Natur

von der Philosophie der Aufklärung: Rousseau, wenn er das Primat der Erziehung bevorzugt,

stemmt sich gegen den aufklärerischen Fortschrittsanspruch durch die Wissenschaften und die

Vernunft. Das prometheanische Streben des modernen Menschen, sich aus einer mangelhaften

Bedingung zu verselbstständigen, stellt sich der rousseauistischen Menschenauffassung direkt

entgegen. Die Figur von Voltaire verkörpert besonders diese starke Gegenüberstellung. So

ersetzt der Philosoph den Lehrsatz des Verstands durch das Gefühl des Herzen als

unverfälschter Weg der Natur.

45 Natural right and History, The University of Chicago Press, Chicago & London, 1953, S.257

17

§.2. Die wohlwollende Natur: eutopia

Die natürliche Bedingung des Urmenschen, die Rousseau durch seine Hypothese des

reinen Naturzustandes erfasst, beschreibt eine wohlwollende und bergende Natur: diese Idee

wird durch den „Waldbegriff“46 („concept de forêt“) von Althusser besonders erörtert und

enthüllt. Der Wald versinnbildlicht bei Althusser den rousseauistischen Begriff der Natur; sie

bietet Nahrung, Wasser, Schutz, Wärme, Schatten und erfüllt also die physiologischen

Bedürfnisse des Naturmenschen: „Et c'est ici que nous rencontrons pour la première fois le

concept de forêt, comme forme d'existence de la nature requise par les exigences théoriques

de Rousseau pour satisfaire (…) en tout lieu et à la fois les deux besoins physiques

fondamentaux de l'homme, de la faim et du sommeil.“47 So erlaubt der Begriff des Baums es

dem Philosophen, den natürlichen Schutz zu denken, während der Begriff der Frucht auf die

Fülle der Natur deutet. Wie früher schon erwähnt, kennzeichnet die Unmittelbarkeit die

menschliche Urbedingung im Keim der Natur: die Natur sowie der Mensch haben keine

Zeitwahrnehmung. Die rousseauistische Natur ist ständig und allgegenwärtig, und kennt

allerdings keine Jahreszeit, während sich der Urmensch daher ohne Zeitsbewusstsein bewegt.

Louis Althusser begeift dabei eine grenzenlose und zeitslose Natur: „La forêt partout et tout

le temps. » Diese Abwesenheit der Zeit und des Raums stellt die Natur mit einer Utopie

gleich: insofern ähnelt sie dem « οὐ-τοπος » als Ort des Guten und als Ort, der nicht existiert.

Gemäß Althusser verwirklichen diese Eigenschaften die vollkommene Übereinstimmung

zwischen Menschen und Natur und veranschaulichen deren Einheit, eben um deren

gegenwärtigen Bruch zu enthüllen. Für den Philosophielehrer tritt dieser Wald als Bedingung

der menschlichen Freiheit und sogar des menschlichen Lebens auf, und ist daher

unentbehrlich und unbezwingbar: « Pour que la nature réalise ainsi les conditions de la liberté

humaine en tout lieu, il faut qu'il n'y ait que de la forêt, soit à perte de vue ou disons à perte de

concept. Mieux encore, il faut que la forêt soit non seulement en tout lieu, mais qu'elle soit à

tout instant la même, ce qui requiert que la nature soit constante, pour que l'adéquation soit

constante. » 48. Die Isolierung des Naturmenschen erkläre übrigens Rousseau dadurch, dass

sie durch die Befriedigung aller menschlichen Bedürfnisse von der Natur gestiftet ist: « la

nature est la vraie société des Hommes »49.

46 Althusser, op. cit., S.154.47 Ibid.48 Ibid. S.155.49 Ibid. S.166.

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§.3. Die kosmologische Ordnung : über die Legitimierung der Natur als

Vorsehung

Die Naturauffassung Rousseaus als Vollkommenheit und Allgegenwärtigkeit entpuppt

sich dazu als ein Denken der Ordnung: für den Autor ist die Natur ein zielgerichtetes

organisiertes Ganzes. In seinem Artikel „The Theodicy of the 2nd discourse: the „pure state of

nature“ and Rousseaus's political thought“, befürwortet John T. Scott diese These. Für ihn

rechtfertigt Rousseau die Natur als Vorsehung: sie legt seine ursprüngliche und eigentliche

Gerechtigkeit offen, die die menschliche Geschichte zu erstellen erscheint. Gemäß dem Autor

bietet Rousseaus Auffassung der Natur „a positive formal model to enable us to remake our

corrupted existence through the legitimate state -itself modeled by Rousseau on the divine or

natural whole.“50 Die rousseauistische Theodizee erfasse daher den ursprünglichen Stand der

Dinge als Gerechtigkeit und somit Rechtfertigung der Natur als göttliche Schöpfung.

Tatsächlich bezeichnet der Kommentator die rousseauistische Natur als „good and ordered

whole“, und versteht dabei das Denken der Natur bei Rousseau als eine kosmologische

Auffassung.

Eine solche Naturauffassung als Vorsehung sieht daher auch die Natur als Gesetz: diese

legitimiert die ewige Suche nach dem Naturrecht, das heißt nach den anfänglichen Prinzipien,

die die menschlichen Verhältnisse leiten sollten. Der Philosoph Paul Benichou behauptet das

Vorhandensein bei dem Denken Rousseaus eines allgemeinen und natürlichen Gesetztes im

Keim der menschlichen Moral, gleichwesentlich mit der vorderen natürlichen Ordnung:51

„Les lois éternelles de la nature et de l'ordre existent. Elles tiennent lieu de loi positive au

sage; elles sont écrites au fond de son coeur par la conscience et la raison; c'est à celles-là

qu'on doit s'asservir pour être libre.“52 schrieb nämlich der Autor des Emils. In seiner Analyse

des Naturrechtbegriffes betrachtet dazu Leo Strauss, dass das Unterfangen Rousseaus danach

strebe, die politische Ordnung in Übereinstimmung mit dem Naturrecht gegen den

geschichtlichen Relativismus der Zivilisationen zu bringen53.

Die rousseauistische Natur ensteht überdies nicht nur als eine strukturelle Ordnung, sondern

auch als Zweck oder als ersteres und höchstes Gesetz: sie ist nicht nur geordnet, sondern ist

auch um das Gute geordnet. Für den Exeget Henri Gouhier ist das Gute der ultimative Zweck

50 "The Theodicy of the Second Discourse", op. cit.51 « L'idée de nature chez Rousseau » dans Pensée de Rousseau, textes réunis par Gérard Genette et Tzvetan

Torodov, Editions du Seuil, 198452 Rousseau, Émile ou de l'Éducation in O.C., Tome IV, Livre V, S.857.53 Natural right and History. S.252-323.

19

sowie die Antriebskraft der natürlichen Ordnung: das Ganze ist um dessen Verwirklichung

organisiert, und jegliches Leben ist diesem Ziel unterordnet: „les facultés et les inclinations de

l'homme ont pour fin naturelle son bien“54. Der all-leitende Prinzip der Natur ist daher das

Gute. Dem Kommentator nach kann die Natur aus der christlichen Sicht Rousseaus als

göttliche Schöpfung nur absolut vollkommen sein. Er führt nämlich weiter aus: „Le

christianisme le plus pessimiste ne peut pas ne pas reconnaître qu'une nature créée par Dieu

est essentiellement bonne“55.

§.4. Permanenz des Guten und Kontingenz des Bösen

Das Denken bei Rousseau der Spaltung zwischen Natur und Geschichte und somit des

Abfallens der menschlichen Gesellschaften in die Geschichte bietet eine Analyse des Guten

und des Bösen. Dem ständigen, andauernden Guten stellt nämlich Rousseau eine kontingente

Geschichte entgegen, die die Denaturierung des Menschen festigt: der Exeget Henri Gouhier

spricht von „natürlichem Guten und geschichtlichem Übel“. Das Gute der natürlichen

Ordnung und somit der menschlichen Natur als Teil dieses Ganzes ist ahistorisch: es kennt

keine Zerrütung durch die Geschichte, denn es kennt keine Zeit, oder nur den ewigen

Lebenszyklus der natürlichen Wesenheiten. Die Natur als Prinzip des Lebens überlebt nämlich

jegliche geschichtliche Zerstörung oder Veränderung: würden die menschlichen Zivilisationen

aufgrund vielfältiger Zerstörungen ihrer natürlichen Umwelt zusammenfallen, dann würde

auch die Natur auf lange Sicht verbleiben. Das ist allerdings der Sinn, den der Philosoph und

Theologe Jean-Yves Leloup der Offenbarung des Johannes verleiht: „Tout s'effondre, sauf la

vie“56. Die Natur gehört keinem und kennt keine Zeit: sie ist ewig.

Laut der Analyse Gouhiers bildet also das Denken bei Rousseau des Bruches zwischen Natur

und menschlicher Geschichte eine alternative Auffassung des Problems des Bösen: „Cette

histoire ou une autre ? Mais aurait-on l'idée de poser la question si cette histoire nous semblait

satisfaisante ? (…) L'alternative que rencontre Rousseau n'est vraiment question qu'en

devenant une nouvelle façon de poser et de penser le problème du mal.“57 Das Böse entsteht

tatsächlich als Denaturierung des Urmenschen durch die Geschichte: das Übel ist

geschichtlich und wehrt sich gegen die Permanenz des Guten.

Victor Goldschmidt erwähnt außerdem die grundsätzliche „Reliktthese“58, nach der der

54 Op. cit.55 Ibid.56 L'Apocalypse de Jean, traduite et commentée, Albin Michel, 2011.57 Op. cit., II. Teil.58 Anthropologie et politique. Les principes du système de Rousseau.

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Naturzustand nicht ganz abgeschafft wäre. Die Glaucus-Allegorie erläutert nämlich die Kraft

der Geschichte, die das Standbild fast unkenntlich gemacht hat, sowie die

aufeinanderfolgenden Umstände, die die menschliche Natur bedeckt haben: „l'âme humaine

altérée au sein de la société (…) a, pour ainsi dire, changé d'apparence au point d'être presque

méconnaissable“59. Anhand des Beispiels Alexandres, den Rousseau erwähnt, um die

Wiedererscheinung des Mitleids des Tyranns zu offenbaren, versteht Gouhier die Permanenz

dieser ursprünglichen Eigenschaft: « « l'homme de l'homme» est devenu impitoyable, mais, à

la faveur du dépaysement théâtral, surgit la pitié de «l'homme selon la nature».»60 Nach einem

kathartischen Prozess taucht -sogar bei dem tiefsten Verderbnis- plötzlich die menschliche

Natur wieder auf.

59 Rousseau, Discours sur l'origine, op. cit., S.15860 Op. cit., II. Teil.

21

II. DAS DENKEN DER ENTNATURIERUNG

„Wie die Natur die Wesen überläßt dem Wagnis ihrer dumpfen Lust"61

Rainer Maria Rilke, Duineser Elegien

A. « Généalogie du mal et genèse de la société »: das Böse als Geschichte

Anhand seiner Naturauffassung als Ursprung, Wesen, Gutes, Ordnung und Permanenz

erfindet Rousseau die Geschichtlichkeit des Übels: « l'homme est naturellement bon, je crois

l'avoir démontré ; qu'est-ce donc qui peut l'avoir dépravé à ce point sinon les changements

survenus dans sa constitution, les progrès qu'il a faits et les connaissances qu'il a acquises.»62

Sein Denken der Entnaturierung als allmähliche Entfernung des Menschen von seiner

ursprünglichen doch ewigen Natur ensteht also als ein Denken der Menschengeschichte und

somit der menschlichen Sozialisierung: „Avec quelle clarté j'aurais fait voir toutes les

contradictions du système social, avec quelle force j'aurais exposé tous les abus de nos

institutions, avec quelle simplicité j'aurais démontré que l'homme est bon naturellement et que

c'est par ces institutions seules que les hommes deviennent méchants.“63 Dadurch ist klar, dass

der Übel sozial ist: Rousseau erfasst in der gesellschaftlichen Ordnung das Prinzip des Bösen.

Die Wörter von Jean Starobinski erläutern allerdings das Vorhaben Rousseaus, die Geschichte

des Menschen und seiner Entnaturierung durch die Gesellschaft durchzuwandern, um den

tatsächlichen Stand der Menschheit zu begreifen: « Was seid ihr geworden? »64 Der Autor der

Abhandlungen über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen

erklärt sich daher bereit, die anthropologische Geschichte der Menschheit zu

vergegenwärtigen, um die Erscheinung des Übels und deren Ursachen zu ergreifen: « Ô

homme, […] voici ton histoire, telle que j'ai pu la lire […] dans la nature qui ne ment

jamais. » 65

61 Siehe Anhang 1.62 Rousseau, Discours sur l'origine, op. cit., Note, S.184.63 Rousseau, Lettres à Malesherbes, in Fragments autobiographiques et documents biographiques, texte établi

et annoté par B.Gagnebin et M. Raymond, OC, t.I, 1959, 2ème lettre, S.1135-113664 Starobinski, Accuser et séduire, Essais sur Jean-Jacques Rousseau, NRF, 2012, chapitre 1 « Qu'êtes-vous

devenus? » S.3365 Rousseau, Discours sur l'origine, op. cit., Introduction, S.169

22

§1. Der Ursprung des Bösen : ein ätiologisches Unternehmen

Von dem Vorgefühl der naturhaften Gutherzigkeit des Menschen geprägt, unternimmt

Rousseau den Versuch, die Ursachen des festgestellten menschlichen Bösen zu entdecken:

« Ils ont aperçu le mal, et moi j'en découvre les causes. »66 So bezeichnet der Philosoph

Etienne Gehin das rousseauistische Denken als « étiologie de la dégradation et de la

méchanceté humaines »67.

Für den politischen Philosophen Pierre Manent68 betrachtet Rousseau das Bedürfnis als erste

Ursache unserer verdorbenen Gesellschaft: sie fasst die Menschen unter ihrer bedürftigen

Bedingung zusammen. « Mais la nécessité, mère de l'industrie, les a forcés de se rendre utiles

les uns aux autres pour l'être à eux-mêmes. »69 Für den Exegeten bezeichnet die Not die

Gleichartigkeit der sozialmenschlichen Bedingung: Gouhier betont dazu, dass die physische

Umwelt die Menschheit zum geschichtlichen Leben verdammt70. Die Menschen binden sich

daher aneinander, je mehr sie sich ihrem Eigeninteresse widmen: das « Trennungsprinzip »

des eigenen Interesses stiftet die ersten Erscheinungen des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

« Ils mettent donc au principe de leur union ce qui est un principe de séparation ». 71 Eine

solche « genèse nécessiteuse et malfaisante » wird gleich in eine « société monstrueuse réglée

par l'intérêt » ausarten, wo die Menschen « tous esclaves de tous »72 sind.

Im Keim unserer modernen gesellschaftlichen Ordnung, setzt der Einzug des Eigentums das

Verderbnis des Naturmenschen fort: „Le premier qui, ayant enclos un terrain, s'avisa de dire

„Ceci est à moi“, et trouva des gens assez simples pour le croire, fut le vrai fondateur de la

société civile. Que de crimes, de guerres, de meurtres, que de misères et d'horreurs n'eût point

épargnés au genre humain celui qui, arrachant les pieux ou comblant le fossé, eût crié à ses

semblables: „Gardez-vous d'écouter cet imposteur; vous êtes perdus, si vous oubliez que les

fruits sont à tous, et que la terre n'est à personne“.73“ Die Einführung neuer Bedürfnisse und

Begierde in den Sozialzustand benötigt tatsächlich die Einsetzung der Arbeit und deren

Teilung unter den sozialisierten Menschen: diese Arbeitsteilung um die Befriedigung

zusätzlicher oberflächlicher Bedürfnisse steht laut Rousseau im Kern unseres belasteten

66 Rousseau, Narcisse ou l'amant de lui-même (1752) , Préface, Broché, 2008.67 "Rousseau et l'histoire naturelle de l'homme social." S.2468 Manent, Naissances de la politique moderne, Gallimard, 2007, S.199.69 Rousseau, Fragments Politiques, t.III, S. 532-533.70 "Nature et histoire dans la pensée de Jean-Jacques Rousseau"71 Manent, Naissances de la politique moderne, S.200.72 Ibid. S.201.73 Rousseau, Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes, S.222.

23

gesellschaftlichen Zusammenhalts. Der Autor der Abhandlungen über den Ursprung der

Ungleichheit erfasst diesen Einzug als tiefste Verletzung der ursprünglichen Gleichheit und

der naturhaften Gerechtigkeit (oder der Theodizee) unter den Menschen. Ein Besitzverhältnis

des Menschen zur Natur ersetzt die originelle Harmonie aller Lebewesen mit dieser, obwohl

keine natürliche individuelle Eigentumsrechte den Menschen zustehen. Der Exeget Gouhier

interpretiert nämlich den Einzug des Eigentums als Hochblüte der menschlichen

Widernatürlichkeit: „La propriété est donc à l'origine d'une histoire essentiellement contraire à

la bonté naturelle : elle est une provocation continue à l'égoïsme et à l'égocentrisme : l'instinct

de conservation est, à la lettre, dénaturé ; l'amour naturel de soi devient amour-propre, tandis

que la pitié est refoulée.“74

Die Spannung zwischen Sein und Anschein ist dazu ebenfalls im Grunde des historischen

Übels, dem der Sozialmensch begegnet ist. Die naturhafte Selbstliebe artet bei dem

gesellschaftlichen Zustand in die Eigenliebe aus, die als schlechte Leidenschaft den Anschein

zu Lasten vom unterworfenen und verdeckten Sein bevorzugt. Die rousseauistische Analyse

der gesellschaftlichen Beziehungen und der vernichtenden Eigenliebe erhebt die sogenannte

Narziss-Problematik: die ganze Dramatik der mythologischen Figur besteht darin, sein

Ansehen zu Lasten seines Selbst zu loben. Narziss, aus fehlender Selbstliebe, frönt sich der

Eigenliebe, das heißt nicht die Liebe des Seins, sondern die Liebe des Aussehen und des

Oberflächlichen. Der Kommentator Gérard Allard hält daher den Vorrang der Selbstliebe für

die letzte Stufe der geschichtlichen Entartung: « En revanche, pour lui [Rousseau], le mal est

complet lorsque les hommes ont besoin d’être vus par d’autres hommes, qui sont leurs

esclaves, pour se prouver qu’ils sont grands.» 75 Das Begehren einer Überliegenheit und

-breiter erfasst-, einer Ungleichheit unter den Menschen sei tatsächlich eine Grundlage des

gesellschaftlichen Übels: « le mal, ou les maux, est causé par le désir d’inégalité, d’une

inégalité reconnue par les autres. »76

Auf dem Bedürfnis beruhend erweist sich also die Gesellschaft durch ihren Ursprung als übel:

"La société est mauvaise car son origine est mauvaise."77 interpretiert Pierre Manent.

74 Op. cit.75 Gérard Allard, "Rousseau et Tocqueville : La rhétorique de la décadence, la corruption du goût et la cause de

la philosophie", in l'Encyclopédie thématique Jean-Jacques Rousseau, URL: http://174.142.61.76/thematiques/rousseau.nsf/Documents/Rousseau_et_Tocqueville___La_rhetorique_de_la_decadence_la_corruption_du_gout_et_la_cause_de_la_philosophie (Stand 05.12.12.)

76 Ibid.77 Naissances de la politique moderne, S.209.

24

§.2. Die Geschichte des Menschen : Geschichte seiner Entsittlichung

Von diesen schädlichen Grundlagen gestiftet, wird die Geschichte der menschlichen

Sozialisierung eingeweiht. John T. Scott definiert die Geschichte als "the successive

conditions that decisively shape what the individual comes to be."78 Diese entpuppt sich

allmählich als die Geschichte der menschlichen Entnaturierung, nämlich die progressive

Verneinung der gegebenen Natur: Victor Goldschmidt spricht von « dépravation progressive

du genre humain »79. Die Geschichte erklärt nämlich das Böse: der Mensch ist durch ein

langes Verfahren böse geworden. Für Gouhier hat sich die Geschichte als übel ergeben, in

dem sie das Gute bedeckt, den Naturtrieb umgeleitet und das Mitleid unempfindlich gemacht

hat. Jean Starobinski beschreibt tatsächlich den Gang der Geschichte als wachsende Zerrütung

und Verderben: "Rousseau, de la sorte, affirme (…) le mouvement de l'histoire, qui est

altération, corruption morale, dégénérescence politique"80. Der Verfall der menschlichen

Gesellschaften hat eine Geschichte: für Gérard Allard, "elle se déploie dans le temps et s'ancre

dans les institutions"81. Diese lange Entwicklung verbreitet sich allerdings je nach

Zwischenphasen: Rousseau erwähnt namentlich drei Stufen des Naturzustandes, die Althusser

im Rahmen eines "Entnaturierungszyklus" analysiert82. Dem reinen Naturzustand der

Menschheit folgt aufgrund der Erscheinung der Jahreszeiten die Jugend der Welt. Die

Erfindung der Hüttenkunde ruft dann die dritte Zeit des Naturzustandes auf, und taucht die

Menschheit in einem Kriegszustand.83 Althusser findet außerdem die Idee bei Rousseau einer

ewigen Rückkehr prägend: dies macht sein "Kreisendenken" (la théorie des cercles) im Kern

seines Zufallsmaterialismus oder aleatorischen Materialismus aus. Dieser Interpretation nach

sei die Menschheit aufgrund vielfältiger Ursachen in den Entnaturierungskreis gefallen, der

sich daher bis zur nächsten determinanten Ursachen wiederholt. Eine solche Auffassung kann

man in den Wörter Rousseaus schon erkennen: "[Le despotisme] est le dernier terme de

l'inégalité, et le point extrême qui ferme le cercle et touche au point d'où nous sommes partis

(…). »84 "Le cycle de la société, ouvert par le contrat social, est donc un véritable cycle

78 "The Theodicy of the Second Discourse: The "Pure State of Nature" and Rousseau's Political Thought". S.3/17.

79 Anthropologie et politique. Les principes du système de Rousseau.80 La Transparence et l'Obstacle, S.34.81 "Rousseau et Tocqueville : La rhétorique de la décadence, la corruption du goût et la cause de la

philosophie".82 Cours sur Rousseau, vor allem im "Deuxième Exposé, 3 mars 1972".83 Siehe darüber das Schema von Althusser im Anhang 2.84 Discours sur l'origine, op. cit., S.254.

25

infernal dont l'homme ne pourra jamais sortir, puisqu'il ne pourra jamais revenir à l'état de

nature primitif" interpretiert dazu Martial Gueroult85. Diese Dynamik geht bis zur Einführung

des Gesellschaftsvertrags ewig weiter: « Si nous suivons le progrès de l'inégalité dans ces

différentes révolutions, nous trouverons que l'établissement de la loi et du droit de propriété

fut son premier terme, l'institution de la magistrature le second, que le troisième et dernier fut

le changement du pouvoir légitime en pouvoir arbitraire ; en sorte que l'état de riche et de

pauvre fut autorisé par la première époque, celui de puissant et de faible par la seconde, et par

la troisième celui de maître et d'esclave, qui est le dernier degré de l'inégalité, et le terme

auquel aboutissent enfin tous les autres, jusqu'à ce que de nouvelles révolutions dissolvent

tout à fait le gouvernement ou le rapprochent de l'institution légitime.»

§.3. Gegen die Anschauung vom Fortschritt in der Geschichte der Völker

Diese Darstellung eines allmähligen Verderbnisses der menschlichen Gesellschaften

durch die Geschichte vermittelt eine bestimmte Geschichtsanalyse Rousseaus, die sich der

aufklärerischen Fortschrittsauffassung seiner Zeit entgegenstellt. Laut Paul Bénichou

entkräftet die Geschichtsphilosophie Rousseaus die Idee eines fortlaufenden Fortschrittes86.

Für Etienne Gehin grenzt sich nämlich das Denken der Menschengeschichte bei Rousseau

vom teleologischen Optimismus der rationalistischen Metaphysik ab: "Pour le rationalisme

des Lumières, dans la version optimiste qui devait conduire aux grandes téléologies du XIXe

siècle, il était évident que l'histoire humaine a mal commencé, dans la misère et l'arbitraire,

mais qu'elle finira bien puisqu'elle est malgré tout histoire de la Raison : Civilisation. De ce

point de vue, le progrès était un fait et non pas un problème; c'était même la solution

universelle et univoque des problèmes qui assaillent les hommes."87 François Chenet deckt die

Prägnanz einer solchen Auffassung in den abendländischen Vorstellungen auf, die die

Menschengeschichte als Verbesserungstrieb erfasst und somit die Zeit mit dem Fortschritt

gleichsetzt : "Le devenir historique s'affirme désormais comme une dimension de valeur ; il

jalonne un dynamisme d'amélioration, un développement vers le mieux, un crescendo scalaire

ou une ascension qui rapproche indéfiniment d'un terme idéal : le progrès offre l'image

85 "Nature humaine et état de nature chez Kant, Rousseau, Fichte." in Revue Philosophique de la France et de l'Étranger, T. 131, No. 9/12 (SEPT.-DÉC. 1941), S. 379-397. PUF Veröffentlichung, Link (Stand 15/12/2012): http://www.jstor.org/stable/41084638 . S. 391.

86 "L'idée de nature chez Rousseau" in Pensée de Rousseau, Textes réunis par Gérard Genette et Tzvetan Todorov, Editions du Seuil, 1984, S.141.

87 "Rousseau et l'histoire naturelle de l'homme social." S.16.

26

temporelle de la perfection."88 Dieser enzyklopädistische Lehrsatz, der eine

Fortschrittsanschauung der Zivilisationen als Akkumulierung von Wissen befürwortet, lehnt

nämlich Rousseau durch seine Darstellung der menschlichen Geschichte ab: "Ce qu’il y a de

plus cruel encore, c’est que tous les progrès de l’espèce humaine l’éloignant sans cesse de son

état primitif, plus nous accumulons de nouvelles connaissances, et plus nous nous ôtons les

moyens d’acquérir la plus importante de toutes, et que c’est en un sens à force d’étudier

l’homme que nous nous sommes mis hors d’état de le connaître. "89 Die Idee eines

linearischen und automatischen Fortschrittes wird bei dem Betrachten des effektiven Zustands

der Menschheit für ungültig erklärt. Das Denken der Geschichte bei Rousseau entkräftet also

die damals prägende Moral eines wissenschaftlichen und technischen Fortschrittes, und zeigt

dessen Zweideutigkeit auf: die Entwicklung der Zivilisationen lässt sich offensichtlich mit

einem verhängnisvollen Verlust abspeisen.90

B. Der gesellschaftliche Zwang auf den Menschen : das Böse als Unterjochung

Das Denken bei Rousseau des Prinzipes des geschichtlichen Bösen in der

menschlichen Gesellschaft weist eine bestimmte soziale Ordnung auf, die eine

Gesellschaftsauffassung als Verneinung der Natur vermittelt.91 Für Rousseau liegt die Ursache

des Bösen "dans notre ordre social, qui, de tout point contraire à la nature que rien ne détruit,

la tyrannise sans cesse"92. Jenes erweist sich daher als Unterjochung der Natur und der

Menschen untereinander, die im umfassenden Zwang der Gesellschaft empfunden wurde.

§.1.Die Interdependenz im Kern der Gesellschaft

Wie früher erwähnt, steht das Bedürfnis in den Anfängen der gesellschaftlichen

Ordnung und des sozialen Zusammenhangs. Die Individuen werden nämlich um ihre

Bedürfnisse befriedigen zu können von einander abhängig, und erstellen das System der

Arbeitsteilung, denn der Mensch kommt für seinen Unterhalt dank natürlicher Güter nicht

mehr auf. Gehin weist dabei auf Rousseaus Verständnis der Freiheit als Unabhängigkeit

88 Le temps. Temps cosmique, temps vécu, Paris, A.Colin, 2000. S.141-142.89 Rousseau, Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes. S.158.90 Chenet, op. cit.91 Starobinski, La Transparence et l'Obstacle, S.36.92 Lettre à Christophe de Beaumont, in O.C., IV, 966-967.

27

bezüglich materieller Bedürfnisse hin, die im Sozialzustand verleugnet wurde: "Avec la

division du travail, chacun tomba dans la dépendance, puisque nul ne subvenait plus à la

totalité de ses besoins."93 Diese Bedürfnisse werden mit der Entwicklung der Gesellschaft

eben breiter und oberflächlicher: die gesellschaftlichen Leidenschaften und Laster verschärfen

bei der Heiligung des Ansehens die Abhängigkeit der Menschen der Meinung und dem Urteil

der Anderen gegenüber. Rousseau begreift dazu die wachsende Macht der Menschen

aufeinander und somit die Herrschaft des Geldes, das die sozialen Verhältnisse stiftet94:

"J'observe que, dans les siècles modernes, les hommes n'ont plus de prise les uns sur les autres

que par la force et par l'intérêt"95. Gemeinsam mit der Ungleichheit, die dieser verdorbenen

Gesellschaft gleichwesentlich ist, erlaubt diese grundsätzliche Interdependenz ein

Knechtschaftsverhältnis unter den Menschen: die Verteilung der Arbeit gemäß u.a. den

unterschiedlichen Dotierungen des Bodens96 erzeugt wirtschaftliche, soziale und politische

Ungleichheiten, die die ursprüngliche Gleichheit unter den Menschen verachten und für die

Ausbeutung einiger durch andere ausgenutzt werden. Die Gesellschaft wird seitdem zwischen

Reichen und Armen, Eigentümer und Eigentumsloser gespaltet; sie kündigt somit die

Knechtschaft des Menschen durch dessen Ausbeutung an: "De libre et indépendant qu'était

auparavant l'homme, le voilà, par une multitude de nouveaux besoins, assujetti, pour ainsi

dire, à toute la nature, et surtout à ses semblables dont il devient l'esclave en un sens, même

en devenant leur maître"97 Der Mensch wird also zum Sklave seiner Bedürfnissen und seiner

Mitmenschen. Starobinski beschreibt allerdings eine Gesellschaft, in der die Beengheit der

wirtschaftlichen Beziehungen die menschlichen Seelen trennt und die gesondert ablegt.98 Für

den Autor verbindet Rousseau das ökonomische Problem mit der moralen Herausforderung

der modernen Gesellschaft damit, dass die Entfremdung der Menschen durch die Verehrung

des Anscheins im Kern der kapitalistischen Akkumulierung- und Konsumsdynamik steht:

"L'homme social, dont l'existence n'est plus autonome mais relative, invente sans cesse de

nouveaux désirs qu'il ne peut satisfaire par lui-même. Il lui faut des richesses et du prestige: il

veut posséder des objets et dominer des consciences. Il ne croit être lui-même que lorsque les

autres le "considèrent" et le respectent pour sa fortune et son apparence."99

93 "Rousseau et l'histoire naturelle de l'homme social." S.23.94 Manent, Naissances de la politique moderne, S.187.95 Rousseau, Émile ou de l'Éducation in O.C., IV, Livre V, S.645.96 Rousseau, Discours sur l'Origine de l'Inégalité, S.233: « la proportion, que rien ne maintenait, fut bientôt

rompue ; le plus fort faisait plus d'ouvrage ; le plus adroit tirait meilleur parti du sien ; le plus ingénieux trouvait des moyens d'abréger le travail; le laboureur avait plus besoin de fer, ou le forgeron plus besoin de blé ; et, en travaillant également, l'un gagnait beaucoup, tandis que l'autre avait peine à vivre ».

97 Rousseau, Discours sur l'Origine de l'Inégalité. S.235.98 La Transparence et l'Obstacle, S.37.99 Ibid. S. 43.

28

§.2. Der hegemonische Zwang der Gesellschaft

Indem er die Knechtschaft des sozialen Menschen begreift, denkt Rousseau auch den

wesentlichen Zwang der Gesellschaft auf ihn: dieser ersetzt sozusagen die Herrschaft der

Natur über den Naturmenschen, und erzeugt daher völlig den Sozialmenschen und dessen

Felsklippen -Abhängigkeit, Ungleichheit, Eitelkeit und ein breites Verderbnis.

Diese Substituierung entpuppt sich dem Menschen als entfremdend: "plus que tout autre en

son temps, Rousseau a dénoncé ce qu'il y a d'insupportable et de proprement déshumanisant

dans l'aliénation sociale généralisée où vivent les hommes; mieux que tout autre aussi, il en a

démontré les ressorts et analysé les causes, avec une radicalité qu'on retrouve partagée par très

peu, il a proposé un remède à cette aliénation."100 Für Goldschmidt hätte Rousseau sogar den

gesellschaftlichen Zwang und die Macht der sozialen Einrichtungen auf den Menschen

erfunden: « Rousseau a découvert la contrainte sociale, le rapport social (...), la vie et le

développement autonome de structures (…), leur indépendance à l'égard des individus et,

corrélativement, la totale dépendance de ces mêmes individus à l'égard de ces

structures...101 ». Dabei erscheint der Autor als Denker der Ganzheitslehre oder des

soziologischen Holismus. Gemäß Ernst Cassirer wirkt dieser soziale Zwang als allmächtig

und allgegenwärtig: er legt die menschlichen Geübtheiten, Werte, Vorstellungen, Urteile,

Wahlmöglichkeiten, Handlungsfreiräume und über allem seine ursprüngliche Freiheit an:

„Der schlimmste und härteste Zwang der Gesellschaft liegt in dieser Macht, die sie nicht nur

über unserer äußeren Handlungen, sondern auch über alle unsere inneren Regungen, über

unsere Gedanken und Urteile, gewinnt. Jede Selbstständigkeit, jede Freiheit und

Ursprünglichkeit wird von dieser Macht zuschanden. Nicht wir sind es mehr, die denken und

urteilen; die Gesellschaft denkt in uns und für uns.“ 102 Der Sozialmensch wird tatsächlich von

seiner "angeborenen" Gesellschaft völlig bestimmt und beschrieben: der soziologische und

sozialpsychologische Begriff der sozialen Rolle denkt diese sozialen Konstruktion und

Verteilung der individuellen Identität. So wird wieder das Problem einer möglichen

Erkenntnis der menschlichen Natur aufgeworfen: ist der Sozialmensch noch etwas mehr, als

seine soziale und kontingente Bestimmung? „Si toute la réflexion philosophique est

commandée par le célèbre « Connais-toi toi-même » du temple grec, on peut se demander si la

100Gérard Demouge, Rousseau ou la Révolution impossible, L'Harmattan, 2002, S. 9.101 Anthropologie et politique. Les principes du système de Rousseau. S. 779-780.102 Ernst Cassirer, Über Rousseau, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2025, Berlin, 2012, S. 16.

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connaissance de soi peut se faire sans la connaissance de la société. Semblablement, on peut

se demander s’il est possible de connaître la société sans connaître l’être humain qui en est au

moins la matière, sinon le fondateur et la cause première. Sans doute, est-il impossible de

connaître au complet l’être humain sans connaître son environnement, ni l’environnement

sans en connaître le centre environné.”103

Schließlich treten auch die Standardisierung und Vereinheitlichung der Gesellschaft als eine

Seite der gesellschaftlichen Verwirkung auf: « Il règne dans nos moeurs une vile et trompeuse

uniformité, et tous les esprits semblent avoir été jetés dans un même moule »104 Dem

Anthropologen gemäß vereinheitlicht nämlich die Gesellschaft die Sitten und determiniert

einförmig das Denken und das Handeln der Individuen. Schon wieder kann man bei

Rousseaus Gesellschaftsauffassung spüren, dass sich die menschliche Freiheit der

gesellschaftlichen Vorherrschaft unterzieht. "Et dans cette contrainte perpétuelle, les hommes

qui forment ce troupeau qu'on appelle société, placés dans les mêmes circonstances feront

tous les mêmes choses si des motifs plus puissants ne les en détournent"105 Der

gesellschaftliche Determinismus, oder der erhebliche Einfluss der Gesellschaft auf den

Menschen ist daher sicherlich das Grundthema des Werkes Rousseaus.

§.3. Die Unterwerfung der Natur : ein Entwurf des ökologischen Denkens?

Durch sein Denken der Entnaturierung stiftet Rousseau seine Geschichtsphilosophie

auf das Verhältnis des Menschen zur Natur: jene bestimmten nämlich die

Menschengeschichte. Die von der Natur dem Menschen aufgezwungenen sukzessiven Unfälle

hat ja die menschliche Entwicklung virtueller Eigenschaften (wie zum Beispiel der Verstand

und die Sozialisierung) erlaubt. Darin bedingt also die Natur die menschliche Geschichte: die

natürlichen Lebensbedingungen erweisen sich im Denken Rousseaus als anfänglich dabei,

dass sie den Menschen als ein Lebewesen in seiner natürlichen Umwelt begreift. Rousseau

ensteht also als Denker der grundsätzlichen Abhängigkeit der Menschen zur Natur.

An dieser Auffassung angelehnt, scheint die Entstehung des ökologischen Ansatzes, das

rousseauistische Erbe einzusetzen. Die Politische Ökologietheorie entwickelt sich tatsächlich

im Rahmen eines wachsenden Umweltbewusssteins, das dem rousseauistischen Befund einer

103 Gérard Allard, "Rousseau et Tocqueville : La rhétorique de la décadence, la corruption du goût et la cause de la philosophie".

104 Rousseau, Discours sur les sciences et les arts (1750), Paris, Flammarion, 1992. S.32.105 Ibid.

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"Entwurzelung" des Menschen106 von einigen Jahrhunderten folgt. Rousseau verrät die

Zivilisation als Verneinung der Natur107, und prangert die Errichtung "entnaturierender"

menschlicher Einrichtungen an: « Laissez longtemps agir la nature, avant de vous mêler

d’agir à sa place, de peur de contrarier ses opérations »108. Das Verderbnis der Gesellschaft

sieht der Autor als Bruch eines ursprünglichen Gleichgewichts, das auch als Ökosystem

erfassen werden könnte. Seine Betrachtungen über die Wissenschaften und die Künste

beschwören dazu die vernichtende Seite der "technischen Fortschrittes" unseres Zeitalters

herauf. So entwickelt Marcel Schneider109 die These, nach der Rousseau der "Vater der

modernen Ökologie" sei. Dazu findet Philippe Roch bei Rousseau Wege zum ökologischen

Übergang und somit ein Leitbild für Anhänger der Degrowth-Theorie: "Jean-Jacques

Rousseau est un modèle d’écologiste, puisqu’il fonde toute sa pensée sur la nature, origine,

soutien et destin de toute vie et de toute activité humaine. Il plaide pour son respect, pour une

réconciliation entre elle et l’homme, entre le cœur et la raison, les sens et le raisonnement."110.

Bemerkenswert wäre außerdem eine Parallele zwischen dem gegenwärtigen politischen

Nachhaltigkeitsbegriff und dem Verständnis bei Immanuel Kant des "Problems Rousseau" zu

ziehen: beide scheinen nämlich vergleichbare Überlegungen und Auffassungen zu erheben.

Unter nachhaltige Entwicklung wird "eine Entwicklung, die die Lebensqualität der

gegenwärtigen Generation sichert und gleichzeitig zukünftigen Generationen die

Wahlmöglichkeit zur Gestaltung ihres Lebens erhält"111 verstanden. Kant interpretiert

seinerseits die rousseauistische Problematik als solches: "wie die Kultur fortgehen müsse, um

die Anlagen der Menschheit, als einer sittlichen Gattung, zu ihrer Bestimmung gehörig zu

entwickeln, so dass diese jener als Naturgattung nicht mehr widerstreite."112 Daraufhin

könnten wir behaupten, dass beide Begriffserklärungen einer idealen menschlichen

Entwicklung zwei Zustände der Menschheit erwähnen: der eine gegenwärtig, tatsächlich oder

sittlich (verstanden hier als geschichtlich), der andere dagegen zukünftig und natürlich. Das

Betrachten der zukünftigen Generationen im Keim des Nachhaltigkeitbegriffes entspreche

tatsächlich dem kantschen Ausblick der Menschheit als Naturgattung, das heißt als

wesentliche und permanente Gattung. Wohingegen die Berücksichtigung der gegenwärtigen

106 Manent, op. cit., S.192: "Le monde moderne déracine l'Homme."107 Starobinski, op. cit., S.37.108 Rousseau, Émile ou de l'Éducation in O.C., Tome IV, Livre II, S.343.109 Marcel Schneider, Jean-Jacques Rousseau et l'espoir écologiste, Editions Pygmalion, l'Harmattan, 1978.110 Philippe Roch, "Jean-Jacques Rousseau père de l'écologie", in La Réforme, N° 3476 - 2 août 2012.111 Aus dem Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung: "Our Common Future",

1987.112 In AA VIII: Abhandlungen nach 1781, Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786), S.116.

31

Generationen einem geschichtlichen und somit besonderem (in dem Sinn, dass er sich der

permanenten und allgemeinen Natur entgegenstellt) Menschheitszustand gleichkäme. So

könnte man sowohl in der Interpretation, die Kant von der rousseauschen Spannung zwischen

sittlicher Gattung (oder geschichtliche Gattung) und Naturgattung vorbringt, als auch in der

im Nachhaltigkeitsbegriff vorhandenen Gegenüberstellung zwischen gegenwärtiger und

zukünftiger Menschheiten die menschliche- Natur als Gemeingut erkennen. Während die

nachhaltige Entwicklung die Unvereinbarkeit der modernen abendländischen Sozial-und

Wirtschaftsordnung mit den natürlichen Grenzen und vor allem mit der Fortpflanzung der

menschlichen Gattung denkt, begreift das kantsche Entwicklungsmodell die Kluft zwischen

dem Sozialmenschen, den Rousseau beobachtet, und dem Urmenschen, den er in sich erkennt.

Im Kern des heutigen Nachhaltigkeitsbegriffs kann man also den Bruch zwischen einer

verirrten Gesellschaft und der ständigen -doch empfindlichen- Natur heraushören.

Wohingegen unsicher bleibt, ob der rousseausche Naturalismus auch nach politischer

Tätigkeit strebt: für Floran Augagneur unterscheidet sich die politische Ökologie von der

Naturanschauung Rousseaus darin, dass die erste durch eine Politisierung und somit eine

Instrumentalisierung der Natur wirkt113: « Les concepts de développement durable,

d'environnementalisme et de naturalisme en sont l'exacte antithèse. Les deux premiers sont

impliqués dans un processus de continuation du programme cartésien et néocartésien

d'extériorisation de la nature.(...) Le naturalisme, dont celui de Jean-Jacques Rousseau, repose

sur l’idée d’un paradis originel perdu, d’un état naturel, dont il faudrait retrouver l’essence. »

Die politische Ökologie betrachtet tatsächlich die Natur als politisches Objekt: diese wird "un-

verwesentlicht" und daher als historisches Objekt von dem politischen Bereich betrachtet.

C. Eine ternäre Auffassung der menschlichen Geschichte

Die Verwandtschaft der Struktur der Geschichtsauffassung Rousseaus mit der

jüdischen und christlichen traditionnellen Theologie und sogar mit der grieschichen

Anthropogonie erscheint oft als offenbar: der rousseauistische "Reine Naturzustand" taucht

nämlich als Darstellung eines Edengartens oder als goldenes Zeitalter auf, während das

Einläuten der menschlichen Geschichte dem ursprünglichen Sündenfall ähnelt, und die

Errichtung des Gesellschaftsvertrags nach der Erlösung des Menschen durch die natürliche

113 Philippe Augagneur, "L'écologie politique a rejeté le naturalisme de Rousseau", in La Réforme, N° 3476 - 2 août 2012.

32

Gnade strebt. Für Bénichou also, "Rousseau a conservé, dans une vision pourtant purement

humaine des choses, les trois termes du schéma chrétien. A l'état de nature a succédé, selon

lui, une longue déchéance, qui est notre état présent, et à laquelle doit succéder une

réparation."

§.1. Harmonie und Vollkommenheit der Menschheit: das Eden

Die hesiodische Tradition der fünf Zeitalter oder der fünf Geschlechtern der

Menschheit ersinnt die Menschengeschichte als Aufeinanderfolge von fünf Zuständen der

Menschheit, anlässlich deren der griechische Dichter die progressive Verschlechterung der

Menschengattung erzählt. Der antike Mythos des goldenen Zeitalters beschreibt die

ursprüngliche Bedingung des menschlichen Lebens als Glück, Überfluss, Harmonie mit der

Natur, Gleichheit und Gerechtigkeit. Dieses Urzustand ist auch von der Abwesenheit von

Jahreszeiten gekennzeichnet: « Ils vivaient comme des dieux, le cœur libre de soucis, à l'écart

et à l'abri des peines et des misères : la vieillesse misérable sur eux ne pesait pas ; mains, bras

et jarret toujours jeunes, ils s'égayaient dans les festins, loin de tous les maux. Mourants, ils

semblaient succomber au sommeil114.» Diese von Hesiod geschilderte ursprüngliche und

glückliche Menschenbedingung scheint die traditionnelle theologische Darstellung des

Edengartens zu prägen und einzuläuten. Das Eden des Judentums und Christentums wird als

einen fruchtbarer Ort beschrieben, in dem Adam und Eva ewig und friedlich mit anderen

Geschöpfen leben: die Vertretung der ganzen Menschheit von Adam und Eva zeigen

allerdings die anfängliche und grundsätzliche Gleichheit unter den Menschen und vor Gott.

Diese traditionnelle Erzählung äußert und belehrt einen idealen Zustand der Menschheit,

sowie Rousseau in seiner "Reinen Naturzustandshypothese" es macht. Die verbreitete Idee

eines vergangenen goldenen Zeitalters und einer verlorenen ursprünglichen Bedingung

vermitteln nämlich das Bild einer daher wiederzuerobernen Beschaffenheit: "Cet état est un

idéal, mais les poètes l'ont conçu comme âge d'or, et il est naturel, voire utile à l'homme, de se

représenter comme passé et déjà vécu, ce qui doit être. " schreibt Martial Gueroult115. "La

douce voix de la nature n'est plus pour nous un guide infaillible ni l'indépendance, que nous

avons reçue d'elle, un état désirable; la paix et l'innocence nous ont échappé pour jamais,

avant que nous en eussions goûté les délices. Insensible aux stupides hommes des premiers

114 Hésiode, Théogonie. Les Travaux et les Jours, texte établi et traduit par Paul Mazon, Les Belles Lettres, 2012.

115 "Nature humaine et état de nature chez Kant, Rousseau, Fichte". S.383.

33

temps, échappée aux hommes éclairés des temps postérieurs, l'heureuse vie de l'âge d'or fut

toujours un état étranger à la race humaine, ou pour l'avoir méconnu quand elle en pouvait

jouir, ou pour l'avoir perdu quand elle aurait pu le connaître."116 Die edenische Gleichheit

unter den Menschen, ihre Freiheit und Vollkommenheit, die Harmonie mit der Natur sind mit

der menschlichen Geschichte verloren gegangen: die Sozialisierung des Menschen hat diese

ursprüngliche Bedingung gestört.

§.2. Der Einstieg in die Geschichte: der Absturz

Der Verlust dieses idealen Zustands wird selbst durch den Einstieg in das silberne

Zeitalter, in dem sich die Menschen der Hybris oder der Maßlosigkeit schuldig gemacht

haben, und in der Sündenfallerzählung beschrieben, die die Vertreibung Adams und Evas aus

dem Garten Eden besiegelt. Die Feststellung bei Rousseau einer geschichtlichen

Entnaturierung, einer Veräußerung des Urmenschen und einer grundsätzlichen Unterjochung

in den Gesellschaften zeichnet auf diese Weise den Verlust eines ursprünglichen

Naturzustandes als goldenes Zeitalter oder Eden des Menschen. Wie früher in der Erwähnung

der Naturmenschenfigur als "prelapsarian man" behandelt (siehe I.2.§3. Der Mensch vor dem

Absturz), stellt der Naturmensch Rousseaus einen vor- oder extrahistorischen Menschen dar,

der durch den "Fall in die Geschichte" seine ursprüngliche Bedingung einem geschichtlichen

Verderben aussetzt.

Diese ursprüngliche Kluft macht einen richtigen Abgrund (abîme117) aus zwischen dem, was

der Mensch ist und dem, was er sein sollte oder früher war – der Ursprung wird hier als

Wesen verstanden. Louis Althusser kennzeichnet daher das Denken Rousseaus als "pensée de

la séparation radicale, de la pureté radicale, bref, de l'abîme."118

Der Verlustbegriff ist in dieser Beziehung bei dem Philosoph besonders bedeutend: Althusser

deutet nämlich darauf hin, dass der Befund eines verlorenen Naturzustandes dessen

vergangenen Bestand notwendigerweise enthüllt: "le discours de la perte ne peut être tenu

qu'à partir d'une position d'existence."119 Dieser grundsätzliche Verlust macht jedoch bei

116 Jean-Jacques Rousseau in The Political Writings of Jean Jacques Rousseau 1712-1798, Première Version du Contrat Social, Livre I, Chapitre 2, Cambridge University Press, 1915, S.448.

117 Das Wort wird von Rousseau selbst verwendet.118 Cours sur Rousseau, S.96.119 Ibid. S.91.

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Rousseau überhaupt keine Schuld aus: dabei ist wesentlich, dass Rousseau den Menschen von

der Erbsünde entlastet. Der Fall ist rein historisch und daher zufällig: er ist ein Unfall. So

schreibt Henri Gouhier: "Le « funeste hasard» est-il une chute du second type ? Oui et non.

Oui, puisque l'origine du mal est, comme le péché d'Adam, d'ordre historique. Non, car il ne

s'agit pas d'une faute qui crée une culpabilité de l'espèce."120 Dieser ursprüngliche Fall

entpuppt sich sogar bei Rousseau als eine Bedingung für die Erlösung des Menschen, sowie

die Gesellschaft eine Bedingung für die Verwirklichung menschlicher Virtualitäten bildet. So

erscheint bei Augustinus der menschlichen Absturz als "felix culpa"121 (glückliche Schuld):

der Mensch wird nur bei seiner Erlösung durch die Errichtung einer "naturhaften

Gesellschaft" zum Menschen, die Rousseau im Gesellschaftsvertrag ansieht. Die

geschichtliche Menschenbedingung taucht daher nicht als Verdammnis der Menschheit,

sondern als Versprechen einer Verwirklichung in einer vollkommenen Gesellschaft auf:

«Quoiqu'il se prive dans cet état de plusieurs avantages qu'il tient de la nature, il en regagne

de si grands, ses facultés s'exercent et se développent, ses idées s'étendent, ses sentiments

s'ennoblissent, son âme tout entière s'élève à tel point que, si les abus de cette nouvelle

condition ne le dégradaient souvent au-dessous de celle dont il est sorti, il devrait bénir sans

cesse l'instant heureux qui l'en arracha pour jamais, et qui d'un animal stupide et borné fit un

être intelligent et un homme. »122

§.3. Die Verwirklichung des Naturmenschen: die Erlösung

Die Errichtung einer von dem Naturgesetz geleiteten naturhaften und freien

Gesellschaft durch den Gesellschaftsvertrag taucht bei Rousseau als Erlösung der Menschheit

auf. Die politische Einrichtung erscheint im Gesellschaftsvertrag als Grundlage einer

würdigen Menschenbedingung: "Nous ne commençons proprement à devenir hommes

qu'après avoir été citoyens."123. Dem Autor nach streben die Prinzipien des politischen

Rechtes danach, die Gleichheit als Bedingung der Freiheit zu erstellen.124 Das Ziel des

Gesellschaftsvertrags sei seitdem, die ursprüngliche Güte und somit seine naturhafte

Vollkommenheit des Menschen wiederherzustellen: "sa vérité est celle de toujours : le regret

120 "Nature et histoire dans la pensée de Jean-Jacques Rousseau".121 Augustinus, Enchiridion oder Buch vom Glauben, von der Hoffnung und von der Liebe, 420.122 Rousseau, Contrat social, S.57.123 Rousseau, Œuvres Complètes III, S.287.124 Bruno Bernardi, Introduction au Contrat Social, Flammarion, 2001, S.16.

35

d'un ordre naturel et le rêve de le rétablir en refaisant radicalement l'ordre civil"125 schreibt

Bénichou. Althusser verleiht Rousseaus diese Wörter: "Rétablir la nature humaine sur de

nouveaux fondements126". So erwies sich diese Erlösung bei Gouhier als Aufhebung der

dialektischen Gegenüberstellung zwischen Natur und Geschichte in eine Harmonie: "La

rédemption, si l'on veut conserver ce mot, signifiera la réconciliation de la nature et de

l'histoire : il s'agit de vivre en animal raisonnable et social sans trahir la bonté de la nature."127

Dafür geht es für Althusser darum, die Verneinung der Verneinung (la négation de la

négation128) vorzunehmen: für den Philosoph wirkt nämlich der Gesellschaftsvertrag als

letztliche Denaturierung einer historischen Denaturierungsdynamik. Der Lehrer sieht bei der

rousseauistischen Analyse der Menschengeschichte das Beisein eines leitenden Urgrunds, der

sich seit der Genese des Menschen bis zu seinem Erfolg ausführt: "C'est à dire la raison d'être

de ce qui se passe dans le contrat social où, au terme du procès de dénaturation de la

dénaturation se trouve restaurée la nature originaire mais sur de nouvelles bases."129 Dieser

Erfolg entsteht als Thronbesteigung der unveräußerlichen menschlichen Natur.

Für Starobinski ereignet sich der Gesellschaftsvertrag als eschatologische Synthese: das

Problem des Endes der Ungleichheit unter den Menschen wird durch eine Auflehnung der

Geschichte gelöst130. Dies ist besonders die Interpretation von Friedrich Engels, der das

Problem Rousseau durch die Revolution aufzuheben gedenkt: "Die Gewalt erhielt ihn [den

Despoten], die Gewalt wirft ihn um, alles geht seinen richtigen naturgemäßen Gang [wir

betonen]. Und so schlägt die Ungleichheit wieder um in Gleichheit, aber nicht in die alte

naturwüchsige Gleichheit der sprachlosen Urmenschen, sondern in die höhere des

Gesellschaftsvertrags. Die Unterdrücker werden unterdrückt. Es ist Negation der Negation.131"

Diese letzen Wörter rufen in Erinnerung die berühmte Formulierung von Matthäus: „So

werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten.132“ Dabei tritt nämlich die

natürliche Ordnung, den "naturgemäßen Gang" als unerschütterliche Vorsehung auf, die die

Gerechtigkeit schließlich errichtet. "Tel est donc le moment décisif: un renversement abrupt

établit le règne du Bien sur les ruines du Mal.133" kommentiert Starobinski. Das Andauern der

125 "L'idée de nature chez Rousseau" in Pensée de Rousseau, Textes réunis par Gérard Genette et Tzvetan Todorov, Editions du Seuil, 1984, S.137.

126 Cours sur Rousseau, S. 111.127 Gouhier, "Nature et histoire dans la pensée de Jean-Jacques Rousseau".128 Ibid. S.110.129 Ibid.130 La Transparence et l'Obstacle, S.44-50.131 Friedrich Engels, Anti-Dühring, Zürich, 1886, S.131.132 Lutherbibel, 1984, Matthäus [19,30].133 La Transparence et l'Obstacle, S.87.

36

Natur durch die Menschengeschichte und seine vielfältige Veräußerungen weist nämlich auf

das mögliche Wiederherstellen der menschlichen Natur hin.

Außerdem entpuppt sich die christliche Figur des Autors des Gesellschaftsvertrags bei der

Analyse Starobinskis als besonders bedeutend. Rousseau kommt nämlich mitten im

gesellschaftlichen Verderbnis hoch und verkündet seine Lehre, nach der die Menschen von

Natur aus gut seien: "Il suffit qu'il se montre pour que la vérité devienne manifeste. Il est la

vérité."134 Rousseau beschreibt in seinem Morceau allégorique die Ankunft des Christus und

die Entschleierung der menschlichen Welt: "A l'instant saisissant la statue il la renversa sans

effort et montant sur le piédestal avec aussi peu d'agitation, il semblait prendre sa place plutôt

qu'usurper celle d'autrui... (…) on sentait que le langage de la vérité ne lui coûtait rien parce

qu'il en avait la source en lui-même."135

In Anbetracht dieses letzen Teils scheint es schon eine Antwort auf das von Ernst Cassirer

vorgebrachte "Problem Rousseau" aufzutauchen. Jener stellte sich nämlich folgende Frage:

« Wie können Übel und Schuld der menschlichen Natur zugerechnet werden, wenn diese

selbst in ihrer ursprünglichen Beschaffenheit frei von Übeln und Schuld ist; wenn sie keine

radikale Verderbnis kennt? »136 Anhand unserer letzen Betrachtungen über die

Geschichtlichkeit des Bösen und der Unterjochung der Menschen zur Gesellschaft wird

nämlich deutlich, dass Übel und Schuld der menschlichen Natur nicht zugerechnet werden

können. Dagegen bleibt die rousseauistische Aussage, nach der die ursprüngliche

Vollkommenheit der Schöpfung dem menschlichen Verderbnis nachgebe, eine Geheimlehre:

"Tout est bien sortant des mains de l’Auteur des choses, tout dégénère entre les mains de

l’homme"137. Was deckt also Rousseau durch seine Analyse der Menschengeschichte auf? Was

wird bei der Entschleierung der menschlichen Welt von dem Autor offenbart? Das

deterministiche Verständnis der Menschengeschichte Rousseaus und seine Zeitauffassung als

Kontingenz legitimieren die Hoffnung auf eine befreite und naturhafte gesellschaftliche

Ordnung.

134 Ibid.135 Oeuvres et Correspondance inédites de J.-J. Rousseau, publiées par G. Streckeisen-Moultou, Paris, 1861,

S.171 und nächste.136 « Das Problem Jean-Jacques Rousseau » in Über Rousseau, S. 16.137 Jean-Jacques Rousseau, Emile (1762), Paris, Flammarion, 2009, livre I, S. 35.

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III. KONTINGENZ DER MENSCHENGESCHICHTE: EINE ERWARTUNGSLEHRE

« L'humanité s'est trompée d'histoire comme un voyageur se trompe de route.

C'est une malchance.»

Henri Gouhier

A. Notwendigkeit und Kontingenz der menschlichen Geschichte

Die Zeitsauffassung Rousseaus bildet sich auf zwei möglicherweise widersprüchlich

erscheinenden Grundsätzen: die Notwendigkeit der Menschengeschichte und deren

konsubstanziellen Kontingenz.

§.1.Die Menschengeschichte als kausale Verkettung

Der Übergang vom Naturzustand zum Sozialzustand erfolgt in Abhängigkeit von

bestimmten Ursachen, je nach Konjonkturen von Ereignissen und Zusammentreffen von

Umständen. Die Menschengeschichte wurde tatsächlich von einem "unseligen Zufall"

(hasard funeste) bestimmt. So ist für Althusser das äußerliche Eingreifen entscheidender

Zufälle in das menschliche Dasein -wie die früher erwähnte Entdeckung der Jahreszeiten, der

Hüttenkunde oder der Landwirtschaft- im Keim der rousseauistischen Genese der

Menschengeschichte: diese sukzessiven Zufälle bilden für den Philosoph eine sogenannte

"begriffliche Kette" (chaîne conceptuelle)138. Jene sind nämlich von der Abwesenheit

innerlicher Dialektik gekennzeichnet: sie bestimmen und werden bestimmt, und sind daher

das vorläufige Ergebnis eines laufenden kausalen Prozesses. Dem Kausalitätsgesetz gemäß

werden nämlich die Auswirkungen zur Ursache selbst, das heißt das Bestimmte wird zum

Bestimmenden und so weiter139: « Ces combinaisons, dont les premières causes étaient

physiques et naturelles, sont devenues, par fruit du temps, les causes morales qui changent

l'état des choses (...) ».140

Die Kreisertheorie des Philosophs erlaubt dazu ein breiteres Verständnis der Notwendigkeit

der Menschengeschichte bei Rousseau: "Ils ont été pris à la gorge par une nécessité qui les

138 Yves Vargas, Introduction, in Louis Althusser, Cours sur Rousseau. S.15.: "[Althusser] traite le Discours sur l'origine de l'inégalité, non comme un récit mais comme une chaîne conceptuelle (…). [Il] présente le texte comme un engrenage, commandé par la position initiale de Rousseau, celle de l'origine vraie, "à la racine", celle de la "pure" nature."

139 Goldschmidt, Anthropologie et politique. Les principes du système de Rousseau. S.165.140 Rousseau, O.C., t.III., S.533.

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dépasse, ils ont été enchaînés dans un cercle qui est dépassé, puisque c'était un cercle qui

enrobait à la fois la société humaine et la raison humaine: le cercle de la dénaturation, de

l'aliénation humaine."141 Althusser weist auf das notwendige Eingreifen äußerlicher Ereignisse

("de causes extérieures au processus interne"142) hin, die die Menschengeschichte im Rahmen

neuer Kreise bestimmten.

Allein der Kreis des reinen Naturzustands wird von keiner äußeren Ursache determiniert,

denn die Hypothese des reinen Naturzustands bei Rousseau stellt eben die erste Ursache als

prima causa dar: "ces cercles (…) qui coïncident avec l'intervention de causes extérieures

sont, tous sauf un, le résultat d'un processus, d'une genèse. Tous ces cercles (…) sont le

résultat d'un processus antérieur, mais le cercle de l'état de pure nature, lui, ne l'est pas. C'est

un cercle (…) qui est hors de toute histoire, mais qui pourtant est ce à partir de quoi une

genèse (…) va devenir possible."143 Hier taucht der reine Naturzustand wieder als extra-

geschichtliche Genese der Menschengeschichte auf.

Auf diese Weise entsteht die Menschengeschichte als Notwendigkeit, und die Zeitauffassung

Rousseaus somit als die vernunftmäßige Analyse einer tatsächlichen Entwicklung: "L'histoire

est une nécessité de fait » schreibt Gouhier. Jedoch stellt der Exeget dabei klar, dass die

Notwendigkeit und die Zwangsmäßigkeit der Geschichte seiner Vollkommenheit oder

Fehlerlosigkeit nicht gleichzusetzen sind: « Les circonstances extérieures sont telles qu'une

histoire est inévitable: était-il inévitable que ce soit cette histoire dans, laquelle nous sommes

aujourd'hui engagés ? Ce que la lutte contre le milieu physique impose à l'homme, c'est qu'il

use de sa raison et, vive en société : ceci ne veut pas dire qu'il ait fait de sa raison le seul

usage possible ni, par suite, le meilleur usage possible ; ceci ne veut pas dire qu'il ait créé la

seule société concevable, ni, par suite, la meilleure des sociétés concevables. » Dadurch wird

nämlich nicht aufgezeigt, dass diese Geschichte das einzig mögliche und erfassbare Werden

der Menschheit gewesen sei.

§.2. Kontingenz der Menschengeschichte: die schöpferische Zeit

Gleichwesentlich dieser Notwendigkeit der Menschengeschichte als kausale

Verkettung diverser Ursachen ist nämlich deren völlige Kontingenz. Rousseau betont

tatsächlich in seiner Analyse der Menschengeschichte die Kraft der Umstände und der

Umwelt, die bestimmte Zufälle aufgenommen haben: im Grundsatz der Geschichte ist der

141 Althusser, Cours sur Rousseau, S.73.142 Ibid., S.107.143 Ibid., S.108.

39

« concours fortuit de plusieurs causes étrangères qui pouvaient ne jamais naître 144». Für

Pierre Manent liegt das Tragische der Menschengeschichte darin, dass das Böse rein zufällig

ist: "Dire que la société est née par hasard, et que les circonstances de ce hasard furent

nuisibles, c'est dire qu'elles auraient pu être favorables. (…) Le mal social n'est fatal que parce

qu'il est fortuit.145" Unter dem Drang zufallsbestimmter Zwänge ist der Mensch dazu

gezwungen gewesen, seine Virtualitäten in irgendeine Richtung zu entwickeln -so wird unter

anderen die Geburt der Gesellschaften, die allmähliche Sozializierung der Menschen und die

Anwendung seiner Vernunft von Rousseau ausgedeutet. Für John T. Scott also, "men are the

contingent product of conditions at a certain time"146: die Umständen bilden die Menschen,

daher "le genre humain d'un âge n'est pas le genre humain d'un autre âge"147 . Althusser folgert

die Schöpferischkeit der Zeit daraus: die Geschichte hat einen Menschen erzeugt.148 Für

Gouhier weist daher die Kontingenz der Menschengeschichte bei Rousseau darauf hin, dass

sie sich eben der Konstanz der Natur widersetzt: « l'histoire est contingente en ce sens qu'elle

n'est pas la nature et, par suite, ne répond pas à une nécessité de nature"149

Der Mensch ist also durch die Zeit auf Abwege geraten: die Kontingenz seiner Geschichte

bedeutet tatsächlich, dass er weder von einem allmächtigen Willen noch von einem

intrinsischen Antriebsprinzip geleitet wurde. Rousseau gibt bei seiner Analyse der

Menschengeschichte einer teleologischen Perspektive nicht nach, die die Menschengeschichte

im Hinblick auf einen vorherbestimmten Abschluss oder auf eine Richtung betrachtet. Der

Mensch wurde und wird folglich von kontingenten Ursachen, d.h. von diesem "funeste

hasard"150 bestimmt: seine Entwicklung war völlig determiniert, doch nicht vordeterminiert.

Keine Finalität, keine Fatalität, kein Endzweck, kein Vorhaben und keine Bestrafung: die

unselige Menschengeschichte war die Folge eines Unfalls: « une causalité matérielle,

complexe et aléatoire a jeté l'espèce dans une aventure »151 erklärt Gehin. Die

rousseauistische Geschichtstheorie vereinigt also das Notwendige mit dem Zufälligen152: sie

gehorcht keinem allgemeinen Geschichtsgesetz. Die Verknüpfung der Notwendigkeit und der

Kontingenz bei der Geschichtsauffassung Rousseaus wird von dem Philosophen Gérard

Demouge besonders gut berichtet: "L'histoire n'est pas le développement intrinsèque d'un

144 Rousseau, Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes, S.221.145 Naissances de la politique moderne, S.209-210.146 "The Theodicy of the Second Discourse: The "Pure State of Nature" and Rousseau's Political

Thought".S.697.147 Rousseau, Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes, S.255.148 Op. cit., S .131.149 Op. cit.150 Rousseau, Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes, S.231.151 "Rousseau et l'histoire naturelle de l'homme social." S.22.152 Vargas, Préface in Cours sur Rousseau, Louis Althusser. S.20.

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essence humaine active dès l'origine. Ce n'est pas non plus la réalisation d'un plan rationnel au

terme duquel l'homme serait façonné selon les fins que se proposerait quelque puissance

transcendante. Il faut y voir la succession imprévisible d'étapes que seuls des événements

accidentels peuvent expliquer. Les raisons du changement sont elles-mêmes sans raison, mais,

une fois qu'elles ont surgi comme autant de points de rupture, elles déterminent de façon

absolument nécessaire la configuration de chacune des étapes qu'elles inaugurent. Celles-ci

sont à comprendre comme des structures dont les éléments sont liés selon une causalité qu'il

conviendra de préciser. Il se trouve que l'histoire de l'humanité a été jusqu'à présent l'histoire

de son malheur, mais une autre histoire était possible, de par la contingence même des causes

historiques déterminantes. Rien n'interdit donc de penser qu'un accident futur puisse faire

passer l'humanité à une nouvelle étape où elle trouverait enfin le bonheur."153 Die

Fragestellung die dabei auftaucht, lautet daher nicht "Naturzustand oder Geschichte?"

sondern: "diese Geschichte oder eine andere?"

§.3. Die Verurteilung einer Sozialisierung und einer Geschichte

In seiner Analyse der Begriffe der Natur und der Zeit bei Rousseau befürwortet Henri

Gouhier die These, nach der die Geschichte sich anders herausstellen können hätte. Die

Umstände hätten nämlich eine natürliche Sozializierung des Menschen erlauben können:

« cette histoire qui est la nôtre aurait pu être autre qu'elle ne fut : elle ne constitue, en aucune

manière, une fatalité. 154» Das Denken der Gesellschaft und der menschlichen Denaturierung

bei Rousseau nimmt also keine Verurteilung des Sozialzustandes in ihrem Grundsatz vor. Die

Soziabilität des Menschen als Entwicklung und Fortsetzung einer seiner natürlichen

Virtualitäten kann sich nämlich nicht als denaturierend erweisen: sondern seine tatsächliche

und kontingente Verwirklichung hat sich als verderblich ergeben.

Dem Exegeten gemäß hat sich unsere Zivilisation von einem Übel befreit – nämlich von dem

Bedürfnis- auf Kosten eines Anderen: dem Eigentum. Gouhier versteht den Einzug des

Eigentums in die Menschengeschichte als ein Risiko, das die Gesellschaft einging: "Tout ce

que l'on peut dire, c'est que la raison et la vie commune comportent des risques : risques de

comparaisons qui favorisent la vanité, l'envie, le désir de plaire, le mépris, etc... On comprend

le rôle de la propriété : elle crée une situation propice à ces risques ; mais elle n'est elle-même

153 Gérard Demouge, Rousseau ou la Révolution impossible, L'Harmattan, 2002, S.7.154 "Nature et histoire dans la pensée de Jean-Jacques Rousseau".

41

qu'un risque".155 Als Ausartungsrisiko des gemeinsamen Lebens und der Ausübung der

Vernunft vertritt das Eigentum -sowie alle anderen Laster, die Rousseau im Sozialzustand

beobachtet- eine mögliche Felsklippe der Gesellschaft, doch kein strukturelles Anwesen

dieser. Gueroult stimmt dieser Deutung zu: "Mais cette condition actuelle tient-elle à l'essence

du social, ou bien à des accidents historiques de cette essence qui sont au fond étrangers à elle

? La réponse de Rousseau est catégorique : elle tient à un accident, non à la structure sociale

en tant que telle : elle provient des « abus »."156 Für Gouhier hat sich daher die Menschheit

durch ihre Geschichte herumgeirrt: diese Irrwege nennt er "Missgeschickt" (malchance).

Der Zufall dieser geschichtlichen Entwicklung hält Rousseau von einem Werturteil nicht ab:

der Autor der Abhandlungen über die Ungleichheit betrachtet den gegenwärtigen Zustand der

Menschengeschichte und bewertet den in Anbetracht allgemeiner und ewiger Werte, die er zu

beachten und zu erfüllen gedenkt: "Rousseau n'hésite pas à condamner, au nom des valeurs

éternelles, le mécanisme historique dont il a montré la nécessité."157

B. Das Wiederherstellen der menschlichen Natur

§.1. Die rousseauistische Revolution

Als "Negation der Negation"158 oder Denaturierungsvorhaben der laufenden

Denaturierungsdynamik einer ursprünglichen Natur strebt der Gesellschaftsvertrag danach,

die verletzte Menschenwürde, die menschlichen Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit

wiederherzustellen. Die rousseauistische Revolution wirkt also erst auf politischer Ebene

durch die Errichtung Natur- und naturgesetzgemäßer Einrichtungen. So bezeichnet

Starobinski die Revolutionsanforderung Rousseaus als von dem Wert einer ewigen

Menschennatur -und nicht im Namen eines sogenannten geschichtlichen Fortschrittes-

gestiftet159. Kant liest dazu die Geschichtsanalyse Rousseaus als eine Erwartungslehre: der

Befund eines grundsätzlichen Verlusts nemme auch die Möglichkeit und den Ausblick eines

Gewinns oder einer Rückeroberung an. Der Philosoph erfasst die rousseauistische Hypothese

eines Naturzustands der Menschheit nicht als geschichtlichen Ursprung sondern als Idealbild,

als Wertvorstellung der Menschheit und höchstes Streben des menschlichen Werdens: "Kant

verlegt Rousseaus Maßstab eines hypothetischen Naturzustands in die Zukunft und verkehrt

155 Ibid.156 "Nature humaine et état de nature chez Kant, Rousseau, Fichte.", S. 387157 Starobinski, La Transparence et l'Obstacle, S.38.158 Friedrich Engels, Anti-Dühring, S.131.159 La Transparence et l'Obstacle, S.37.

42

dadurch Rousseaus Verlustbilanz für die Menschheit in eine Gewinn- oder:

Erwartungsbilanz."160 Auf diese Weise versteht Starobinski im Denken Rousseaus den

Ausdruck einer Sehnsucht nach einer abwesenden Welt: "il cherchera ce monde tantôt en deçà

de l'histoire, dans les "anciens temps" où le progrès corrupteur n'existe pas encore, - tantôt au-

delà, dans un futur abstrait où le désordre actuel serait surmonté par un ordre plus parfait."161

Diese Überwindung deutet laut dem Autor einerseits die hegelsche und marxistische

Geschichtsanalyse an -indem sie die moralische Geschichte der Menschheit mit ihrem

technischen Fortschrittes verbindet162- und erstrebe andererseits eine vollkommene

gesellschaftliche Kohäsion: "Aussi le propos de Rousseau n'est-il pas de bannir sans recours

les arts et les sciences, mais de restaurer la totalité sociale, en faisant appel à l'impératif de la

vertu, seule capable de créer la cohésion nécessaire."163

In seinem Artikel "Rousseau et l'histoire naturelle de l'homme social" vertritt Etienne Gehin

somit die These einer "natürlichen Menschengeschichte", die die Spaltung zwischen Natur

und Geschichte aufhebe, und die Kultur der natürlichen Entwicklung des Menschen

einverleibe. Dabei erinnert er uns an Philippe Descola, der durch die Aufhebung der Natur-

Kultur Gegenüberstellung nach der Erneuerung der anthropologischen Wissenschaft strebt164.

Der Anspruch des Gesellschaftsvertrags, den Menschen beim Erstellen einer naturgemäßen

Gesellschaft bis zu seiner Menschheit zu heben, weist nämlich darauf hin, dass die

Gesellschaft der Natur nicht wesentlich entgegensteht. Die Perfektibilität des Menschen bringt

dabei ihren höchsten Sinn zutage: der Mensch ist im werden. Das Denken Rousseaus

beabsichtigt also, die Permanenz der Menschennatur mir der tatsächlichen geschichtlichen

Mobilität des Menschen in Einklang zu bringen.165

§.2. Die natürliche Theologie Rousseaus

In vielen Hinsichten ähnelt das Denken Rousseaus einer religiösen Auffassung: der

Glaube an eine andere Gesellschaft und somit an eine andere Menschheit, die Betrachtung der

Natur als Theodizee, Vorsehung und Gnade, deren Ewigkeit und Vollkommenheit, die

Thematik des Verlusts und so weiter bilden tatsächlich die Strukturen einer Theologie ab. Die

Enthüllungstheorie, die Starobinski im Denken des Endes der Denaturierungsgeschichte 160 Helmut Zedelmaier, Der Anfang der Geschichte: Studien zur Ursprungsdebatte im 18. Jahrhundert, Hambourg, Felix Meiner Verlag, 2003, S.186.161 La Transparence et l'Obstacle, S.39.162 Ibid., S.38.163 Ibid., S.48.164 Par-delà nature et culture.165 Starobinski, La Transparence et l'Obstacle, S.34.

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erkennt, hallt von apokalyptischen Vorstellungen wider.166 Als Enthüllung der menschlichen

ewigen Natur durch die Zerstörung der gesellschaftlichen Scheinbilder und anderer

Täuschungen erscheint die rousseauistische Revolution als innere Offenbarung: dabei wird

das Bewusstsein (eher als die durch den Verstand erreichte Erkenntnis) der Natur und somit

der Wahrheit wiedererlangen. Hier entseht eine Wahrheitsauffassung als Erinnerung, dem

Sinn des griechischen Wortes "ἀλήθεια" gemäß: jenes wird als "das Unvergessene" oder "das

Unverborgene" übersetzt, und vermittelt dabei die Idee einer anfänglichen Wahrheit, die zu

enthüllen verbliebe. Infolgedessen handelt es sich bei Rousseau darum, "[de] rendre la vue

aux hommes aveuglés".

Außerdem wird die christliche Figur des Naturmenschen von Gouhier besonders betont: seine

höchste Güte und natürliche Vollkommenheit setzt ihn mit dem Christus gleich. Die Völligkeit

seiner Menschheit zeichnet seine Göttlichkeit aus: « La pureté de la raison et de la conscience

font de Jésus l'homme parfait selon la nature (...). Cette pureté l'élève au-dessus de tout ce qui

vit et pense au niveau de l'homme de l'homme. »167; und erläutert seitdem die Kluft zwischen

Naturmenschen und Menschenmenschen (oder Geschichtsmenschen): « La vie de Jésus

s'explique à l'intérieur du drame qui a séparé l'histoire de la nature : homme selon la nature, il

est persécuté par les hommes selon l'histoire. »168 Sowie es der Christus gemacht hatte, stellt

der Naturmensch -hier von Rousseau verkörpert- seiner Umgebung neue Werte entgegen:

dabei zeigt er seine Unabhängigkeit von seinen geschichtlichen Lebensbedingungen. Die von

der Natur angeregte Reinheit des Naturmenschen hebt ihn jenseits des Geschichtsmenschen

und seiner gesellschaftlichen Determinismen.

Dazu betrachtet Rousseau die Religion als Weg zum himmlischen Trieb (l'instinct divin), der

von der Natur gefördert und von der Geschichte verschleiert wurde: « l'histoire a rendu la

raison et la conscience pratiquement inaccessibles à nos esprits, de sorte qu'un "livre divin"

devient le plus court chemin pour « l'instinct divin 169» ». Die Natur entsteht also in dieser

Suche als Bibel: in der kann jeder nachsehen, während sich alle Wissenschaften um die

Erkenntnis des Wesentlichen als vergeblich und eitel erweisen. Rousseau schreibt tatsächlich:

« J'ai resserré ma foi dans mes notions primitives. Je n'ai jamais pu croire que Dieu

m'ordonnât, sous peine de l'enfer, d'être savant. J'ai donc refermé tous les livres. Il en est un

seul ouvert à tous les yeux, c'est celui de la nature [wir betonen]. C'est dans ce grand et

sublime livre que j'apprends à servir et adorer son divin auteur. Nul n'est excusable de n'y pas

166 Ibid., S.84.167 Gouhier, op. cit.168 Ibid.169 Rousseau, Lettres écrites de la Montagne, Paris, Boivin, 1934. S. 204.

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lire, parce qu'il parle à tous les hommes une langue intelligible à tous les esprits. Quand je

serais né dans une île déserte, quand je n'aurais point vu d'autre homme que moi, quand je

n'aurais jamais appris ce qui s'est fait anciennement dans un coin du monde, si j'exerce ma

raison, si je la cultive, si j'use bien des facultés immédiates que Dieu me donne, j'apprendrai

de moi-même à le connaître, à l'aimer, à aimer ses œuvres, à vouloir le bien qu'il veut, et à

remplir pour lui plaire tous mes devoirs sur la terre. Qu'est-ce que tout le savoir des hommes

m'apprendra de plus ? »170 Seitdem behauptet Henri Gouhier, die Rolle der rousseauistischen

Lehre bestünde darin, die Ordnung zu erblicken und wiederherzustellen.

Trotz des religiösen Klangs seiner Lehre zeigt sich Rousseau kritisch seiner

herkünftigen christlichen Konfession gegenüber. Tatsächlich bewirkt er drei grundsätzlichen

Ablehnungen der christlichen Kirche gegenüber171: diese der Offenbarung, der Erbsünde und

der historischen Religionen. Den Glaubensatz der Offenbarung ersetzt Rousseau durch den

Eingebungsbegriff : was der Mensch kennen soll, kann er auch in sich selbst erkennen. Die

Erkenntnis des Wesentlichen ist nämlich vom Eingreifen keiner Äußerlichkeit bedingt: die

Natur hat den Menschen dazu durch sein Gewissen und seine Vernunft fähig gemacht, die

Wahrheit zu erblicken - "Voyez le spectacle de la nature, écoutez la voix intérieure. Dieu n’a-

t-il pas tout dit à nos yeux, à notre conscience, à notre jugement?172" Dazu strebt das Denken

des Bösen bei Rousseau danach, die Menschen von dem erheblichen Drang der Erbsünde zu

befreien: durch seine Geschichtsanalyse entwendet er den Menschen ihre vermeintlich

ursprüngliche und gleichwesentliche Schuld -sowie der Christus es durch seine

Vergebungslehre mit dem jüdischen Volk gemacht hatte.173 Für Gouhier erscheint also diese

Entsagung um die Aufhebung des geschichtlichen Übels als unerlässlich: "La doctrine de la

méchanceté et de l'inégalité naturelles ne vaut pas mieux que celle du péché originel et de

l'empire paternel; il faut les dépasser ensemble pour aller à la racine de ce qui fut moins un

Mal qu'un malheur historique, accessible, de ce fait, à l'intelligence et peut-être un jour à

l'intervention d'une humanité décidée à ressaisir le cours des choses."174 Schließlich setzt sich

das Denken Rousseaus gegen die historischen oder kulturellen Religionen durch: die

Auffassung des Autors weist auf eine Religion als Ewigkeit oder Extrageschichtlichkeit hin,

die daher von der Kontingenz der Geschichte nicht abhängen darf: « La religion qui est

170 Profession de foi du vicaire savoyard, édition critique de Pierre-Maurice Masson, Paris, Hachette, 1914, S.323.

171 Gouhier, op. cit.172 Rousseau, Profession de foi du vicaire savoyard in O.C. Tome IV, S.607.173 Jostein Gaarder, Le Monde de Sophie (1991), Éditions du Seuil, 1995. S.201.174 Op. cit.

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naturelle est indépendante de l'histoire collective et de l'histoire individuelle : de ce fait, elle

est affranchie du mal immanent à cette histoire où l'amour-propre et ses dérivés pervertissent

toutes les institutions »175 . Die natürliche Religion Rousseaus wirke daher jenseits der

Kontingenz der Zivilisationen und der Epochen, und bilde einen unmittelbaren Weg zur Natur,

den die Geschichte vernebelt hätte: « pour être fidèle à la nature, écartons ce que l'histoire a

mis entre elle et nous » 176 fasst Gouhier zusammen, dem Vikar folgend: "Que d'hommes entre

Dieu et moi!"177 Diese Betrachtungen vermitteln also eine Religionsauffassung als Ewigkeit,

Gesamtheit und Einheit, die sich der Besonderheit und der Vielfältigkeit der Geschichte

entgegenstellen: « L'histoire des religions contredit l'essence de la religion : l'histoire est le

monde du particulier et de la diversité, la religion est, par essence, universelle et une. »178

Was bringt daher die rousseauistische Theologie vor? Die von Gouhier sogenannte

natürliche Religion Rousseaus erfasst die Natur als Gnade: jene erlaubt die Erlösung aus dem

geschichtlichen Übel. Der politischer Theorist ersetzt im Grunde seines theologischen

Denkens die Spaltung zwischen Gnade und Natur durch den Dualisms Natur gegen

Geschichte: Rousseau begreift nämlich die Göttlichkeit der Natur. Gouhier schreibt nämlich :

« Cette nature est la source du bien par rapport à notre histoire qui est corrompue, de même

que la vie surnaturelle est celle de la grâce qui guérit la nature malade.»179 und führt weiter:

« Le Dieu vivant n'est pas dans l'histoire ; dans l'histoire il n'y a que des hommes : tel est le

principe de la polémique antichrétienne au nom de la religion naturelle.180 » Der Exeget

behauptet, das grundsätzliche Schema des rousseauistischen Denken sei von diesem Paar

Natur/ Geschichte gestiftet. Für Starobinski vermittelt dazu die rousseauistische Lehre der

natürlichen Güte des Menschen eine Hoffnungsbotschaft: "Jean Starobinski voit une

théodicée dans le deuxième Discours. Il a raison parce que l'innocence de Dieu est la

première condition de l'espérance humaine: nous serions de vrais damnés sur terre s'il nous

avait faits méchants."181 Die Permanenz dieser erlösenden Natur wird auch im Denken der

Entnaturierung bei Rousseau besonders betont: « Les maux de l'âme […] altérations externes

et passagères d'un être immortel et simple, s'effacent insensiblement et le laissent dans sa

forme originelle que rien ne saurait changer. »182 Der Pantheismus des rousseauistischen

175 Ibid.176 Ibid.177 Rousseau, Profession de foi du vicaire savoyard in O.C. Tome IV, S.610.178 Gouhier, "Nature et histoire dans la pensée de Jean-Jacques Rousseau".179 Ibid.180 Ibid.181 Ibid.182 Rousseau, La Nouvelle Héloïse, partie III, lettre XXII. In O.C. II, S.38.

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Denkens bezeichnet vollends seine theologische Auffassung: die Göttlichkeit der Natur ist

ewig und allgegenwertig. Jene prägt die Natur als Alleinheit und organiziertes Ganze oder

Gleichgewicht: « Il n’y a pas un être dans l’univers qu’on ne puisse, à quelque égard, regarder

comme le centre commun de tous les autres, autour duquel ils sont tous ordonnés, en sorte

qu’ils sont tous réciproquement fins et moyens les uns relativement aux autres. »183

Die Aufhebung dieser wesentlichen Spaltung zwischen natürlicher Permanenz und

menschlicher Geschichte sieht Rousseau im Kern der Politik: "Rousseau turns immediately

from the loss of order and (divine) justice to a discussion of the establishment of the State and

its laws."184 Der Gesellschaftsvertrag strebt tatsächlich danach, aus dem historischen

Phänomen der Politik die Sanktionierung einer unwandelbaren und ewigen Natur zu fördern.

Die Politik erscheint daher als himmlische Aufgabe der Menschheit, die die natürliche

Ordnung abbilden muss: dafür braucht der Mensch "une inspiration céleste, qui apprit à

l'homme à imiter ici-bas les décrets immuables de la divinité."185 Um die natürliche Ordnung

und Gerechtigkeit wiederherzustellen, stellt dann Rousseau aus dem Gemeinwillen

entstehende Gesetze -"laws that imitate the immutable laws of nature"186- bereit, die von der

Staatsautorität verteidigt und sichergestellt werden: Scott spricht hier von einer "general

providence of the state"187, und betont dabei die Göttlichkeit der Politik als notwendige

Vorsehung, um die Weihe der natürlichen Ordnung bei den Menschen einzuführen. Dem

Exegeten nach, "Rousseau proposes to refashion our existence by imitating our original

position as well-ordered beings within the divine or natural whole, a whole ordered by law.

Rousseau's political philosophy contains the most far-reaching remedy for our ills and

entails a comprehensive imitation of the divine."188

183 Jean-Jacques Rousseau, Profession de foi du vicaire savoyard, in O.C. Tome IV, S.580.184 John T. Scott, Politics as the imitation of divine in Rousseau's Social Contract, in Polity, Vol.26, N.3

(Spring, 1994), pp. 473-501. S. 17/30.185 Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l'économie politique (1755), version numérique par Jean-Marie

Tremblay, S. 11/21.URL: http://classiques.uqac.ca/classiques/Rousseau_jj/discours_economie_politique/discours_eco_pol.pdf

(Stand 20.02.13)186 Ibid. S. 3/30.187 Ibid. S. 23/30.188 Ibid. S. 8-9/30.

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Schlussfolgerung:

Am Ende unserer Untersuchung über die Auffassung der Menschengeschichte bei

Jean-Jacques Rousseau im Verhältnis zu der menschlichen Natur taucht die Geschichtlichkeit

der menschlichen Gesellschaften auf: dieses Denken der menschlichen Kontingenz fassen wir

als eine Theologie auf. Der rousseauistische Begriff der Natur als ewige und kosmologische

Ordnung, von einem wesentlichen Gleichgewicht gekennzeichnet, sowohl Vorsehung als auch

Theodizee oder Gnade bietet nämlich das Denken der Außergeschichtlichkeit. Wohingegen

der Mensch der Bestimmungskraft der Zeit und dabei der Zerrütung seiner Natur durch die

Geschichte ausgesetzt ist: dadurch wird eine wesentliche Eigenschaft der Menschheit

aufgezeigt -ihre Perfektibilität, die den Menschen als ein Werdewesen bestimmt. Das Denken

des Bruchs zwischen Natur und Menschengeschichte entdeckt also die geschichtliche Natur

des Menschen und vor allem die Geschichtlichkeit des Bösen: Rousseau bemängelt dabei die

Naturalisierung des Übels im Menschen und weist auf die ursprüngliche und wesentliche

Gleichheit unter den Menschen hin.

Durch die Analyse der Menschengeschichte wird deutlich, dass die Geschichtsauffassung

Rousseaus die Notwendigkeit der tatsächlichen Gesellschaftenentwicklung mit ihrer

gleichwesentlichen Kontingenz vereinigt: der Sozialzustand der Menschheit erfasst nämlich

Rousseau als Ergebnis eines kausalen und zufälligen Vorgangs. Die Menschengeschichte wird

daher von keinem allgemeinen Gesetzt angetrieben und von keinem der Menschheit

innewohnend Zweck geleitet: sie hat sich nur erwiesen. Damit bleibt sie für politische

Tätigkeiten offen, die Rousseau mit einer göttlichen Aufgabe betraut: die Errichtung einer

naturtreuen Gesellschaft steht nämlich der Politik zu. Der Autor des Gesellschaftsvertrags

verleiht hierbei der Natur einen eigentlichen Wert – und zwar den allerhöchsten- sowie der

Politik einem himmlischen Zweck, obgleich doch diese unter den Nihilismus leidet, den

unsere abendländische Modernität prägt. Sein Verständnis der Menschengeschichte erscheint

als erwartungsvoll, indem es die Gesellschaften mitten in ihrer Kontingenz begreift und die

Menschheit von einer tragischen Fatalität befreit. Durch eine von Starobinski genannte

Enthüllungstheorie189 kündigt Rousseau die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Erlösung des

verdorbenen Menschen.

Das Begreifen des Natur- und Menschengeschichtedenkens bei Rousseau als eine "natürliche

Theologie" kann also als treffender Ansatz seiner politischen Philosophie erscheinen: dabei

189 Starobinski, La Transparence et l'Obstacle, S.84.

48

wird die Naturauffassung des Autors, seine Idee der Menschenbedingung sowie der

menschlichen Erlösung aus dem gesellschaftlichen Verderbnis aufgeklärt.

49

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52

Anhangsverzeichnis

• Anhang 1: Lucas Cranach der Ältere, der Baum der Erkenntnis oder Sündenfall, XVI. Jahrhundert.

Dieses Gemälde von Cranach scheint, für die Veranschaulichung unseres Themas besonders

geeignet zu sein: es beschwört unter anderen die rousseauistische Naturauffassung als

bergende Empfangswelt heraus, die dem Menschen Fülle, Schutz und Wärme bietet. So findet

hier der Waldbegriff, den Althusser in seiner Analyse des rousseauistischen Denkens

entwickelt, eine eminente Bebilderung. Die Nackheit Adams und Evas weisen nebenbei auf

die Unberührtheit der Menschen, die in einem ahistorischen Zustand noch absolut gleich und

von irgendwelcher geschichtlicher Bestimmung frei verbleiben. Doch das Zwielicht des

Gemäldes weist gleichzeitig auf die Gefahr hin, die im geschichtlichen Wesen der Menschheit

besteht: den Vers von Rilke erwähnt auf diese Weise das wesentliche Wagnis des Menschen,

der seiner Entfremdung ausgesetzt wird.

53

• Anhang 2: Das Schema von Althusser über die sukzessiven Zustände der Menschheit, von entscheidenden Zufällen eröffnet.

54

Résumé en français du mémoire de Bachelor:

Les concepts de nature et d'histoire chez Rousseau: une pensée théologique de la contingence humaine.

La conception d'une rupture entre nature et histoire domine la pensée de l'Homme

chez Rousseau: elle lui permet d'établir une essence originelle et immuable qu'il situera dans

le concept d'homme naturel, et de penser à partir de celle-ci les maux d'une société dont il ne

cesse d'éprouver l'imperfection manifeste. Les inégalités, l'injustice, la propriété, la vanité,

l'uniformité de mœurs décadentes, la démesure, le règne de l'intérêt et de l'apparence parmi les

Hommes signent en effet la corruption d'un ordre social que l'auteur tente de saisir afin d'y

remédier.

Hérité de la tradition judéo-chrétienne, le clivage opposant les notions de nature et de culture

fonde la cosmologie moderne et définit dès lors les structures de notre théorie politique.

L'ordre social en effet se définit par sa rupture originelle avec l'ordre naturel, participant d'une

pensée de l'émancipation humaine comme arrachement à la médiocrité de notre condition

originelle. La société s'établit donc contre la nature et s'affirme comme négation de celle-ci.190

La philosophie contractualiste, qui analyse la fondation de l'État selon les termes d'un contrat

entre les Hommes proclamant le terme de l'état de nature, et portée notamment par les

théoriciens politiques Thomas Hobbes191 et John Locke192, illustre cette tradition: l'hypothèse

de l'état de nature est en effet consubstantielle de cette tradition théorique. Ceux-ci pensent

l'institution étatique comme heureuse invention des Hommes venant combler les lacunes

caractéristiques d'un état de nature belliqueux, anarchique voire liberticide. Les penseurs

jusnaturalistes s'inscrivent également dans cette rupture entre état de nature et état social, en

ce qu'ils fondent leur doctrine sur le postulat d'un droit de nature premier.

Dans un tel cadre de pensée se situe la subversion rousseauiste, concentrée dans l'assertion

selon laquelle l'Homme par nature est bon. La démarche de l'auteur du Discours sur l'Origine

et les fondements de l'inégalité parmi les Hommes se propose dès lors d'expliquer cette

dépravation qu'il pose comme sociale, et donc historique -en ce qu'elle se définit par une

dénaturation. Le "problème Rousseau"193 se pose donc comme celui d'une nature qui se nie

190 L'ouvrage de Serge Moscovici, La société contre nature, paru en 1973, développe cette pensée.191 Leviathan: Or the Matter, Forme, and Power of a Common-Wealth Ecclesiasticall and Civill, edited by Ian

Shapiro, Yale University Press, 2010.192 The Two Treatises of Civil Government, Hollis edition , 1689, The Online Library of Liberty. URL: http://oll.libertyfund.org/index.php?option=com_staticxt&staticfile=show.php

%3Ftitle=222&Itemid=99999999 193 Ernst Cassirer, Das Problem Rousseau in Über Rousseau, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2025,

55

dans son développement, dont le prolongement historique advient comme négation d'elle-

même: "Tout est bien sortant des mains de l’Auteur des choses, tout dégénère entre les mains

de l’homme"194 écrit-il. Cette réflexion fondatrice, née du constat essentiel de l'incomplétude

de l'Homme social, soulève une série de questions complémentaires autour de l'idée de nature

humaine, de la perte éventuelle de celle-ci à travers le passage à l'état social, de la

détermination sociale de l'Homme, de la distinction du contingent et du permanent en lui...

Tentant de traiter ces multiples questions, et s'inspirant du paradoxe présent chez Rousseau de

la perfection de la nature humaine et de la dépravation de son espèce, notre travail se

concentre sur la problématique suivante: Comment Rousseau pense-t-il la rupture entre nature

et histoire, et de quelle manière sa pensée révèle-t-elle la contingence de l'histoire humaine?

L'étude des concepts de nature et de dénaturation chez Rousseau nous permettra de saisir sa

pensée de l'histoire humaine comme décadence des sociétés au cours du temps. Nous

tenterons ainsi d'établir dans quelle mesure cette conception de l'histoire se révèle comme une

pensée théologique de la contingence humaine. A l'occasion de cette interrogation en effet, le

philosophe politique opère la dénonciation d'un mal historique éloigné d'une nature éternelle,

et affirme en cela la possibilité d'une action humaine rédemptrice pour remédier à cette

dénaturation progressive de l'humanité.

Au cours de notre démarche, nous nous proposons de situer l'originalité de la pensée de

Rousseau: parmi la théorie contractualiste, au sein du siècle des Lumières, dans la tradition

théologique...afin notamment de saisir les conséquences d'une telle subversion dans la théorie

politique de l'auteur. Nous tenterons ainsi d'appréhender la découverte par Rousseau de

l'historicité essentielle de l'Homme comme un enseignement théologique: le divorce entre

nature humaine et histoire humaine qui fonde sa pensée s'avère en effet imprégné des

concepts traditionnels de la théologie chrétienne. La pensée d'une condition originelle

heureuse et désormais perdue, la chute de l'Homme dans l'Histoire, l'opposition constante

entre pureté naturelle et perversion sociale ainsi qu'entre éternité et histoire sont autant

d'éléments qui fondent la conception de l'histoire humaine chez Rousseau et qui s'apparentent

manifestement à une lecture théologique de celle-ci.

Dans cette perspective, nous avons procédé à une étude approfondie ainsi qu'à une sélection

de la littérature secondaire disponible sur cet objet, conjuguée à une interprétation de divers

Berlin, 2012.194 Jean-Jacques Rousseau, Émile ou de l'Éducation in Œuvres Complètes., Tome IV., Éditions La Pléiade, Paris,

1969.

56

écrits de Jean-Jacques Rousseau -parmi lesquels le Discours sur les Sciences et les Arts et le

Discours sur l'Origine de l'Inégalité. En cela, le présent travail offre un aperçu de la recherche

sur le thème de nature et histoire chez Rousseau, constitué par les travaux majoritairement

contemporains d'historiens de la pensée politique, d'anthropologues, de philosophes, de

sociologues... -toutefois soutenu par et organisé selon une réflexion personnelle sur la

conception de l'histoire humaine de l'auteur. Dès lors, notre analyse peut-être présentée

comme un "florilège d'herméneutiques" de la pensée de Rousseau.

I. Le concept de nature chez Rousseau:

A. L'état de pure nature: la nature comme origine

Le concept d'état de pure nature est au fondement de la pensée de l'Homme chez

Rousseau: cette expérience de pensée permet à l'auteur d'établir une vérité anthropologique

irréductible, et d'éclairer dès lors les attributs purement historiques hérités par l'Homme

social. Dans cette perspective, le philosophe confère à la notion de nature le sens d'origine.

Selon une méthode régressive, Rousseau tente en effet de soustraire à l'Homme tout ce que les

circonstances sociales ont défini en lui, afin de découvrir une nature inconditionnelle et

universelle: Jean Starobinski qualifie cette entreprise d'"anthropologie négative"195. La pensée

d'un état de pure nature, reprise par Rousseau à partir du constat de la détermination sociale

donc de la défaillance des états de nature hobbesien et lockéen, apparaît ainsi comme un état

hypothétique car extra-historique: l'auteur y procède selon une véritable tabula rasa, mettant

en œuvre un doute méthodique questionnant l'origine de chaque attribut de l'Homme social.

La démarche suivie par l'auteur aspire à la définition d'un état antérieur à la société et donc à

l'histoire humaine: il s'agit dès lors d' «un état qui n'existe plus, qui n'a peut-être point existé,

qui probablement n'existera jamais, et dont il est pourtant nécessaire d'avoir des notions justes

pour bien juger de notre état présent."196 Cette entreprise s'avère indispensable à la

connaissance de l'Homme, considérant que l'observation de ses déterminismes contingents ne

saurait révéler sa nature immuable. Selon Louis Althusser en effet, rien ne peut être compris

de ce qui est advenu au cours de l'histoire humaine sans la pensée de l'origine vraie.197

En opposant l'état de nature de l'Homme à son état social effectif, Rousseau découvre la

195 La Transparence et l'Obstacle, Paris, Gallimard, 1971, p. 361.196 Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes (1754),

Paris, Flammarion, 2010, p.159.197 Cours sur Rousseau, Paris, Le Temps des Cerises, 1972. p. 97.

57

nature précisément historique de celui-ci comme être en devenir, qu'il théorise au sein de la

notion de perfectibilité. La société apparaît ainsi comme le prolongement historique de

l'Homme, développée sous la contrainte des circonstances: cette conception participe de la

définition de l'Homme comme virtualité.

B. La nature humaine: la nature comme essence

Le portait de l'Homme originel élaboré au terme de cette expérience de pensée

découvre l'essence de l'Homme, sa nature immuable. L'hypothèse de l'état de nature posait en

effet la condition d'un non-temps, c'est à dire d'une permanence que le cours de l'histoire des

sociétés ne saurait altérer.

Rousseau décrit tout d'abord la condition originelle de l'homme comme un état d'harmonie au

sein de la nature: le terme allemand de "Geborgenheit" s'avère particulièrement éloquent pour

évoquer la plénitude de cette condition. Celui-ci est en effet constitué à partir du verbe

"bergen", qui signifie couvrir, abriter, protéger et lui même issu du mot "der Berg", la

montagne. La notion de Geborgenheit -en ce qu'elle se distingue radicalement de la pensée par

le philosophe allemand Martin Heidegger de la Geworfenheit originelle de l'Homme jeté au

monde- exprime ainsi toute la maternité de la nature portant l'Homme en son sein. L'homme

naturel ou originel apparaît donc premièrement comme un être-vivant au sein de la nature:

l'historien de la philosophie politique John T. Scott théorise cet état comme "physical

embeddedness in nature"198.

Ayant résisté à l'épreuve du doute opéré par l'auteur, les éléments essentiels et permanents de

la nature humaine découverts par Rousseau sont l'amour de soi et la pitié. En ce qu'ils figurent

dans le patrimoine universel et inaltérable de l'humanité, ces éléments peuvent être

appréhendés comme des instincts. Ainsi, le premier est compris par Rousseau comme instinct

de conversation de soi: «Il nous intéresse ardemment à notre bien être et à la conservation de

nous-mêmes»199, tandis que le second est défini comme une "répugnance naturelle à voir périr

ou souffrir tout être sensible et principalement nos semblables"200. Ces deux passions

premières sont absolument nécessaires à la vie de l'Homme naturel, puisque nul ne peut

demeurer sans s'aimer d'abord soi-même, et que l'amour de son prochain apparaît comme

198 John T. Scott, "The Theodicy of the Second Discourse: The "Pure State of Nature" and Rousseau's Political Thought", in The American Political Science Review, 86, 3, 1992. pp.696-711.

199 Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l'origine, Op. Cit. p.161-162.200 Ibidem. p. 162.

58

condition de la pérennité de son espèce. La figure du Narcisse illustre d'ailleurs le tragique

défaut d'amour de soi qui caractérise l'Homme social, s'adonnant à l'adoration de son

apparence (l'amour-propre) à défaut de s'aimer soi-même. La liberté de l'Homme de nature,

conditionnée par son égalité essentielle et première à ses semblables, définit également la

condition originelle de l'Homme chez Rousseau.

Cette figure de l'Homme naturel décrite par Rousseau ressemble à s'y méprendre à celle de

l'Homme prélapsaire, c'est à dire à la condition de l'Homme avant de chuter dans le temps.

Pour Henri Gouhier en effet, Rousseau s'inspire du modèle théologique d'Adam dans sa

description de l'Homme originel: « la théologie la plus élémentaire lui a fourni un modèle

qu'il a plus ou moins consciemment imité : Adam avant la chute. »201 La conception de la

liberté qui en procède comprend donc celle-ci comme virginité de tout déterminisme

historique et comme harmonie avec la condition naturelle de l'Homme. La pensée de l'histoire

de Rousseau aspirerait dès lors à analyser la perte originelle de ces liberté et égalité

essentielles à l'Homme, ainsi que de ses attributs occultés par l'Histoire des sociétés.

C. L'ordre naturel: une conception cosmologique de la nature

« Au-dessus de cet art / Qui, dites-vous, ajoute / à la nature, il est un art / Que fait la nature »

William Shakespeare, A Winter’s Tale , IV, IV, 90-92.

L'ordre et la bonté sont inhérents à la conception de la nature proposée par Rousseau:

l'affirmation de sa perfection, ainsi que l'intégration de l'Homme à cet ensemble idéal

constitue une subversion majeure parmi la tradition théologique du péché originel et

l'aspiration prométhéenne de l'Homme moderne.

L'auteur confère en effet un achèvement idéal, une nécessaire perfection à la nature qu'il

conçoit, selon les termes d'Althusser, comme utopie. Le philosophe exégète développe ainsi

le concept de forêt202 afin d'illustrer la pensée chez Rousseau d'une nature accueillante et

bienveillante, satisfaisant aux besoins fondamentaux de l'Homme naturel par la protection et

l'abondance. Cette perfection se révèle pour Althusser permanente et omniprésente, en ce

qu'elle ne saurait se situer ni dans le temps ni dans l'espace: « La forêt partout et tout le

temps. » La nature, ici assimilée à un non-lieu (« οὐ-τοπος ») pour signaler son ubiquité, est

201 Henri Gouhier, "Nature et histoire dans la pensée de Jean-Jacques Rousseau", in Société Jean-Jacques Rousseau, 2008-2011. URL (consulté le17.11.2012): http://www.sjjr.ch/nature-et-histoire-dans-la-pensee-de-jjr

202 Op. cit. p.154.

59

aussi éternelle: elle se soustrait à la perception spatio-temporelle de l'Homme historique ayant

rompu avec cette unité originelle.

Au-delà de cette unité naturelle, la pensée de la nature chez Rousseau l'identifie également

aux notions de justice et de volonté. Selon John T. Scott en effet, Rousseau soutient l'idée

d'une théodicée naturelle qui justifierait l'ordre du monde originel203. L'ordre cosmologique

constitué par la nature s'imposerait dès lors comme une providence incontournable, évoquant

par là l'idée d'une loi naturelle.

Cette pensée de la nature offre une nouvelle façon de penser le problème du mal,

puisqu'elle en affirme l'absolue contingence face à une bonté éternelle.204 La thèse dite de la

survivance, illustrée par la métaphore de la statue de Glaucus, manifeste ainsi la permanence

de la bonté originelle au cœur même de la perversion de l'Homme social, notamment par des

processus cathartiques. Ainsi, selon Gouhier: « l'homme de l'homme» est devenu impitoyable,

mais, à la faveur du dépaysement théâtral, surgit la pitié de «l'homme selon la nature ».205

II. La pensée de la dénaturation:

A. Le mal comme histoire

A partir du constat de l'Homme social et grâce au souvenir de l'Homme de nature

originel, Rousseau découvre que le mal, ainsi que la société, sont historiques. L'histoire

explique le mal: l'Homme est devenu vicieux. L'auteur lit en effet en ses contemporains

l'histoire de l'Homme social qui porte en lui le legs de toutes ses déterminations historiques:

« Ô homme, […] voici ton histoire, telle que j'ai pu la lire […] dans la nature qui ne ment

jamais »206. Il entame donc une entreprise étiologique de découverte des causes premières,

c'est à dire des origines de l'histoire humaine qui consacrèrent la dénaturation de l'humanité:

au fondement de l'ordre social qu'il observe, Rousseau aperçoit le besoin, la propriété, et

l'opinion. Victor Goldschmidt considère que ces trois éléments proclamèrent la « dépravation

progressive du genre humain »207, tandis que Starobinski y note l'avènement d'un "mouvement

de l'histoire, qui est altération, corruption morale, dégénérescence politique"208.

203 "The Theodicy of the Second Discourse", Op. cit.204 Pierre Manent, Naissances de la politique moderne: Machiavel - Hobbes - Rousseau, Tel Gallimard, 2007.205 Op. cit.206 Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l'origine, Op. Cit., Introduction, p.169207 Victor Goldschmidt, Anthropologie et politique. Les principes du système de Rousseau, Paris, Vrin, 1974.208 Op. cit., p.34.

60

Au gré d'un long processus de socialisation puis de complexification des civilisations, et sous

la contrainte des circonstances, l'Homme social fut donc recouvert d'attributs historiques en

abondance qui occultèrent la permanence de l'Homme naturel. Cette conception de la

perversion progressive d'une nature bonne analyse donc le mal comme accumulation

d'artefacts dissimulant l'essence humaine. Cette pensée se prolonge dans ladite théorie du

dévoilement évoquée par Jean Starobinski afin d'identifier l'aspiration rousseauiste à un bris

des illusions, à la révélation d'un homme de nature éternel occulté par des siècles d'une

histoire funeste.209 Ainsi, pour John T. Scott qui définit l'histoire comme les conditions

successives modelant le devenir des individus, il s'agit de purifier l'Homme des perversions

sociales de sa nature: "we must remove the encrustations of society in order to see our true

form.210"

B. Le mal comme asservissement

Un élément essentiel de la perversion de l'ordre social étudiée par Rousseau réside en

la servitude de l'Homme social. Celle-ci indique la soumission d'une nature originelle à une

contrainte sociale hégémonique opérant sa négation. La contrainte sociale holiste se substitue

en effet à la nature, dont Althusser assure qu'elle est « la vraie société des Hommes »211, pour

y imposer une détermination uniforme et complète: « Il règne dans nos moeurs une vile et

trompeuse uniformité, et tous les esprits semblent avoir été jetés dans un même moule »212.

Ainsi, l'introduction de l'inégalité parmi les Hommes, à l'instar de celle de la propriété comme

hybris aspirant à l'asservissement d'une nature éternelle, universelle et donc nécessairement

inappropriable, se présentent à Rousseau comme négation de la nature et soumission de celle-

ci à la société historique de l'Homme social. Aussi, „Le premier qui, ayant enclos un terrain,

s'avisa de dire „Ceci est à moi“, et trouva des gens assez simples pour le croire, fut le vrai

fondateur de la société civile. Que de crimes, de guerres, de meurtres, que de misères et

d'horreurs n'eût point épargnés au genre humain celui qui, arrachant les pieux ou comblant le

fossé, eût crié à ses semblables: „Gardez-vous d'écouter cet imposteur; vous êtes perdus, si

vous oubliez que les fruits sont à tous, et que la terre n'est à personne."“213

Rousseau constate par ailleurs l'interdépendance au fondement de l'ordre social: les Hommes

sont liés entre eux par l'intérêt dont la satisfaction nécessite la force de travail d'autrui. Ainsi, 209 Op. cit., p. 84.210 "The Theodicy of the Second Discourse", op. cit., p. 698.211 Op. cit., p. 166.212 Jean-Jacques Rousseau, Discours sur les sciences et les arts (1750), Paris, Flammarion, 1992. p. 32.213 Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l'origine, op. cit., p. 222.

61

"J'observe que, dans les siècles modernes, les hommes n'ont plus de prise les uns sur les autres

que par la force et par l'intérêt"214. Pierre Manent théorise dès lors le besoin comme origine et

essence de la société moderne dominant l'histoire humaine. 215 Le règne de l'amour-propre

évinçant l'amour-de-soi originel achève cette interdépendance en ce qu'il ne permet à

l'Homme social d'exister que dans les yeux de ses semblables: « pour [Rousseau], le mal est

complet lorsque les hommes ont besoin d’être vus par d’autres hommes, qui sont leurs

esclaves, pour se prouver qu’ils sont grands.» 216

C. Le mal comme chute dans l'histoire

Le divorce radical observé chez Rousseau entre nature humaine et ordre social

dénaturant peut ainsi être appréhendé comme une rupture entre éternité naturelle et histoire.

De même, le passage de l'état de nature à l'état social s'apparente à une chute de la nature

humaine immuable dans le temps, dès lors exposée à son altération au cours de l'histoire des

sociétés. Ainsi, selon Paul Ricoeur en son exégèse de la Genèse, l'Homme dans l'instant de la

création où il se voit doté de sa liberté, la perd sitôt entré dans le temps217. De même, selon

Alix Cohen, "La rupture essentielle réside dans la dimension historique que l'homme acquiert

en passant d'un état à un autre : l'homme tombe dans l'historicité ; désormais, il devient. C'est

cette chute dans l'histoire, nécessaire de facto, qui est porteuse de la dégénérescence fatale:

l'essence même du temps est corruption."218 Ladite chute consacre en effet l'introduction du

déterminisme historique dans une nature humaine encore immaculée, et permet la formation

d'inégalités entre les Hommes. La notion de chute se révèle particulièrement appropriée dans

cette pensée du mal historique en ce qu'elle illustre l'entrée dans le cercle althusserien de la

dénaturation ainsi que la perte consubstantielle d'une nature qui demeure dès lors à recouvrer.

L'exégète et philosophe Paul Bénichou analyse ainsi la pensée de l'histoire chez Rousseau

comme une conception ternaire de l'histoire humaine, développée selon le schéma théologique

traditionnel de la Chute succédant à l'Eden et précédant la Rédemption. 219 La notion de chute

214 Jean-Jacques Rousseau, Émile ou de l'Éducation, op. cit, p. 645.215 Op. cit., p. 187.216 Gérard Allard, "Rousseau et Tocqueville : La rhétorique de la décadence, la corruption du goût et la cause de

la philosophie", in l'Encyclopédie thématique Jean-Jacques Rousseau, URL (consulté le 05.12.12.): http://174.142.61.76/thematiques/rousseau.nsf/Documents/Rousseau_et_Tocqueville___La_rhetorique_de_la_decadence_la_corruption_du_gout_et_la_cause_de_la_philosophie

217 Philosophie de la volonté, Tome 2: Finitude et Volonté, 2009, Points.218 "Le mal, funeste hasard ou tragique nécessité?" in Études Jean-Jacques Rousseau, vol. XI, 1999.219 « L'idée de nature chez Rousseau » in Pensée de Rousseau, textes réunis par Gérard Genette et Tzvetan

Torodov, Editions du Seuil, 1984

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y est interprétée comme progression de la dénaturation jusqu'à l'avènement du contrat social

comme négation de cette dénaturation, aspirant à rétablir enfin l'Homme.

III. La conception rousseauiste de l'histoire:

A. Nécessité et contingence de l'histoire humaine: la condamnation d'une

société

Rousseau conçoit le passage fondateur vers l'état social et vers ses funestes

déclinaisons à travers l'histoire selon l'intervention de causes extérieures: des concours de

circonstances, des conjonctures favorisant l'émergence -malheureuse- de certaines virtualités

demeurent donc au cœur de l'histoire humaine. Ainsi, la découverte des saisons, puis celle de

la métallurgie et enfin de l'agriculture permirent aux sociétés de développer le partage des

terres ainsi que la division du travail -désormais au fondement de notre organisation sociale.

L'histoire des sociétés humaines et de leur déterminisme peut donc être appréhendée a

posteriori à travers l'observation de processus causaux selon lesquels les effets devinrent eux-

mêmes causes de nouveaux phénomènes: en cela, elle fut une nécessité. La théorie des cercles

développée par le philosophe Louis Althusser220 afin de penser la conception rousseauiste de

l'histoire humaine permet par ailleurs de situer celle-ci au cœur d'un matérialisme historique

alliant les concepts nécessité et contingence: l'Homme, par son entrée dans l'Histoire, est

tombé dans ledit "cercle de la dénaturation" dont le terme ne sera proclamé qu'au gré d'une

intervention extérieure, entrevue par Rousseau notamment dans l'action politique. Cette

pensée conçoit par ailleurs la discontinuité de la genèse des sociétés humaines, promue au

rythme de l'intervention d'accidents.

L'histoire est donc une nécessité de fait, mais rien n'indique que cette histoire dans laquelle les

Hommes ont été déterminés à s'engager ait été l'unique devenir possible et ait créé l'unique

société concevable.221 La nécessité de l'histoire humaine, ainsi, est consubstantielle de sa

contingence: son avération est le produit d'un "funeste hasard"222, c'est à dire de conditions

fortuites ayant déterminé son apparition. Rousseau définit ainsi le devenir des sociétés

humaines comme le « concours fortuit de plusieurs causes étrangères qui pouvaient ne jamais

naître 223». L'Homme s'est donc égaré dans les sentiers de la contingence historique, il n'a pas

220 Cette pensée est particulièrement développée dans le "Deuxième Exposé, 3 mars 1972" du Cours sur Rousseau.

221 Henri Gouhier, op. cit.222 Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l'origine, op. cit., p. 231.223 Ibid., p.221.

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été déterminé par une volonté toute puissante ni par un principe moteur intrinsèque: Rousseau

en effet ne cède aucunement dans son analyse de l'histoire humaine à une quelconque

perspective téléologique de l'histoire menant nécessairement l'Homme à une fin préconçue.

Celui-ci fut engendrée et progressivement modelée par des causes contingentes, par ledit

funeste hasard: son évolution fut complètement déterminée mais non prédéterminée.

Loin d'être antagonistes, contingence et nécessité participent donc de l'accomplissement de

l'Histoire humaine. Les mots de Gérard Demouge énoncent avec justesse l'ambivalence

inhérente à cette complexité de l'histoire des sociétés conjuguant les notions de causalité et

d'accident: la contingence de l'histoire a ouvert la voie de la dénaturation de l'Homme, mais

permet également sa rédemption d'un mal qui ne demeure qu'historique. "Il se trouve que

l'histoire de l'humanité a été jusqu'à présent l'histoire de son malheur, mais une autre histoire

était possible, de par la contingence même des causes historiques déterminantes. Rien

n'interdit donc de penser qu'un accident futur puisse faire passer l'humanité à une nouvelle

étape où elle trouverait enfin le bonheur."224 Cette contingence de l'histoire humaine indique

ainsi le "caractère créateur du temps"225 produisant une diversité de sociétés, de civilisations et

d'Hommes au cours de l'Histoire et selon les régions: le temps engendre un Homme, aussi:

"men are the contingent product of conditions at a certain time"226.

B. La théologie naturelle de Rousseau

Il apparaît ainsi à plusieurs égards que la pensée de l'histoire par Rousseau s'apparente

à une conception religieuse: la croyance en un autre monde, la définition d'un ordre originel et

providentiel, la pensée de la chute de l'Homme et la quête de sa rédemption par le souvenir

d'un état heureux perdu ainsi que la foi en une nature éternelle face à une humanité soumise

au risque de sa corruption au cours du temps, reproduisent manifestement les éléments

théologiques traditionnels. Henri Gouhier poursuit cette idée et soutient ainsi la conception

chez Rousseau d'une nature comme grâce rédemptrice délivrant d'un mal historique.227 Le

philosophe relève en outre la figure christique de l'Homme naturel, tyrannisé par les Hommes

de l'histoire devenus insensibles à la vérité qu'il entend transmettre.

224 Gérard Demouge, Rousseau ou la Révolution impossible, L'Harmattan, 2002, p. 7.225 Louis Althusser, op. cit., p. 131.226 John T. Scott, "The Theodicy of the Second Discourse", op. cit., p. 697.227 Op. cit.

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A l'instar de John T. Scott228, il s'agit dès lors de considérer la pensée de la nature et de

l'histoire chez Rousseau comme une théologie naturelle afin d'en saisir plus essentiellement la

portée. Celle-ci dénonce la naturalisation du mal en en soutenant le caractère historique, et

nous enseigne dès lors que l'histoire humaine est ouverte, notamment à l'action politique

investie d'une mission providentielle pour l'humanité229. Rousseau offre par là une valeur

intrinsèque à la nature -la plus haute qui soit- ainsi qu'un sens à la politique qui souffre alors

du nihilisme que Machiavel identifie dans les principes de la modernité occidentale. La

lecture qu'il offre de l'histoire humaine se révèle pleine d'espoir en ce qu'elle libère l'humanité

d'une fatalité tragique et situe la société au cœur de la contingence de ses déterminismes:

« L'humanité s'est trompée d'histoire comme un voyageur se trompe de route. C'est une

malchance ».230

228 John T. Scott, Politics as the imitation of divine in Rousseau's Social Contract, in Polity, Vol.26, N.3 (Spring, 1994), pp. 473-501.

229 Ibid.230 Henri Gouhier, op. cit.

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Erklärung

Ich versichere an Eides statt, dass ich die nachstehende Arbeit eigenständig und ohne fremde Hilfe angefertigt und mich anderer als der in der Arbeit angegebenen Hilfsmittel nicht bedient habe. Alle Stellen, die sinngemäß oder wörtlich ausVeröffentlichungen übernommen wurden, sind als solche kenntlich gemacht.

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