Die Ausstellung von Bürgerrechtskonstitutionen: Ein Blick in den Arbeitsalltag des römi¬schen...

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WERNER ECK DIE AUSSTELLUNG VON BÜRGERRECHTSKONSTITUTIONEN: EIN BLICK IN DEN ARBEITSALLTAG DES RÖMISCHEN KAISERS Vorbemerkung: Historische Rekonstruktionen müssen sich fast stets auf Fragmente der ehemaligen Wirklichkeit stützen. Vieles ist verloren, oft fast alles. Doch muß man sich in aller Klarheit bewußt machen, daß jedes erhaltene Fragment not- wendigerweise stets ein ursprüngliches Ganzes bezeugt. Es geht nur darum, einen methodisch richtigen Weg zu gehen, um sich dem ursprünglichen Gan- zen möglichst zu nähern. Die folgenden Ausführungen versuchen eine solche Rekonstruktion, um so in einem winzigen Ausschnitt den Regierungsalltag der Kaiser etwas genauer zu fassen. Für diesen Ausschnitt gilt aber wieder das- selbe, was eben schon gesagt wurde: Ein Ausschnitt ist ebenfalls ein Fragment, das auf ein Ganzes verweist. Der Ausschnitt könnte somit repräsentativ für das gesamte kaiserliche Regierungshandeln sein. Zwei Dokumente seien an den Anfang der folgenden Überle- gungen gestellt, eines aus dem Jahr 100 n. Chr, also aus der traia- nischen Zeit, das andere aus dem Jahr 140, aus der Regierungszeit des Antoninus Pius. Beide Dokumente sind eben publiziert wor- den. In beiden Fällen handelt es sich um Militärdiplome, also Ur- kunden, die seit Claudius von den Kaisern an Angehörige des Mi- litärs, nämlich Mitglieder der Auxiliartruppen, der italischen Flot- ten, der stadtrömischen Einheiten der cohortes praetoriae und ur- banae sowie der equites singulares ausgegeben wurden. Während für die überwiegende Mehrheit der Empfänger durch diese Doku- mente bezeugt wurde, daß sie das römische Bürgerrecht und das conubium mit je einer Frau erhalten hatten, war die Verleihung für die Prätorianer und Stadtkohorten auf das conubium beschränkt.

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WERNER ECK

DIE AUSSTELLUNG VON BÜRGERRECHTSKONSTITUTIONEN:

EIN BLICK IN DEN ARBEITSALLTAG DES RÖMISCHEN KAISERS

Vorbemerkung: Historische Rekonstruktionen müssen sich fast stets auf Fragmente der

ehemaligen Wirklichkeit stützen. Vieles ist verloren, oft fast alles. Doch muß man sich in aller Klarheit bewußt machen, daß jedes erhaltene Fragment not-wendigerweise stets ein ursprüngliches Ganzes bezeugt. Es geht nur darum, einen methodisch richtigen Weg zu gehen, um sich dem ursprünglichen Gan-zen möglichst zu nähern. Die folgenden Ausführungen versuchen eine solche Rekonstruktion, um so in einem winzigen Ausschnitt den Regierungsalltag der Kaiser etwas genauer zu fassen. Für diesen Ausschnitt gilt aber wieder das-selbe, was eben schon gesagt wurde: Ein Ausschnitt ist ebenfalls ein Fragment, das auf ein Ganzes verweist. Der Ausschnitt könnte somit repräsentativ für das gesamte kaiserliche Regierungshandeln sein.

Zwei Dokumente seien an den Anfang der folgenden Überle-

gungen gestellt, eines aus dem Jahr 100 n. Chr, also aus der traia-nischen Zeit, das andere aus dem Jahr 140, aus der Regierungszeit des Antoninus Pius. Beide Dokumente sind eben publiziert wor-den. In beiden Fällen handelt es sich um Militärdiplome, also Ur-kunden, die seit Claudius von den Kaisern an Angehörige des Mi-litärs, nämlich Mitglieder der Auxiliartruppen, der italischen Flot-ten, der stadtrömischen Einheiten der cohortes praetoriae und ur-banae sowie der equites singulares ausgegeben wurden. Während für die überwiegende Mehrheit der Empfänger durch diese Doku-mente bezeugt wurde, daß sie das römische Bürgerrecht und das conubium mit je einer Frau erhalten hatten, war die Verleihung für die Prätorianer und Stadtkohorten auf das conubium beschränkt.

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Der erste hier kurz zu besprechende Text lautet:1 [Imp(erator) Caesar divi Ner]vae f(ilius) Nerva Traianus [Augustus Ger-

man]icus pontifex maxim[us tribunicia potes]tat(e) IIII p(ater) p(atriae) co(n)s(ul) III

[iis, qui milita]verunt eques in ala [Thracum Herculan]a et centurio in cohor[te I Augusta c(ivium) R(omanorum)] quae sunt in Cappado[cia sub Pomponio Basso quinis et vicenis stipendiis emeritis dimissis honesta missione

quorum nomina subscripta sunt ipsis libe]ris posterisque eo[rum civitatem dedit et co]nubium cum uxori[bus quas tunc habuissent] cum est civitas iis da[ta aut si qui caelibes essent,] cum iis quas postea [duxissent dumtaxat singu]li singulas.

A(nte) d(iem) [--- ] G(aio) Cilnio [Proculo,] M. Marcio [Macro co(n)s(ulibus)].

Cohort(is) I Augus[tae c(ivium) R(omanorum), cui praest] Aurelius [---] exce[nturione] Q(uinto) Antonio Q(uinti) f(ilio) T[---].

Descriptum et recognit[um ex tabula aenea quae fi]xa est Romae in muro [post templum divi Aug(usti)] ad Minerv[am].

Was ist an diesem Text eines Militärdiploms bemerkenswert?

Auf den ersten Blick scheint sich der Text nicht von dem zu unter-scheiden, was wir auch sonst in diesem Urkundentyp finden: Der Kaiser, in diesem Fall Traian, verleiht an Veteranen civitas Ro-mana und conubium. Solche Urkunden sind inzwischen auch für die Forschung zu einem Massenphänomen geworden, und zwar deswegen, weil das auch in der Antike schon so gewesen war. Man hat die Zahl der von der Mitte des 1. bis etwa zur Mitte 3. Jahrhun-dert ausgegebenen Diplome inzwischen auf mindestens 300.000 geschätzt; vielleicht lag diese Zahl sogar noch beträchtlich höher.2 Dieses Diplom war für Soldaten aus dem Heer der Provinz Cappa-docia ausgegeben worden. Nach einem weiteren Diplom aus dem Jahr 101, das noch unpubliziert zu sein scheint, standen zu Beginn des 2. Jahrhunderts n. Chr. in dieser östlichsten Provinz des Impe-rium Romanum mindestens vier Alen und 14 Kohorten, die alle in

1 W. Eck, A. Pangerl, Eine Bürgerrechtskonstitution für zwei Veteranen des

kappadokischen Heeres. Zur Häufigkeit von Bürgerrechtskonstitutionen für Auxiliarsoldaten, «ZPE», 150 (2004), pp. 233ff.

2 W. Eck, Der Kaiser als Herr des Heeres. Militärdiplome und kaiserliche Reichsregierung, in J. Wilkes (ed.), Documenting the Roman Army, London 2003, pp. 55ff., bes. 58 Anm. 21.

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dem Diplom von 101 aufgeführt werden. Das bedeutet, daß auch aus allen diesen Einheiten Soldaten durch Traian in die Bürger-rechtsverleihung eingeschlossen waren.3 Wie viele Soldaten das insgesamt im Jahr 101 gewesen sind, wird natürlich nicht gesagt, doch dürfte es eine nicht ganz kleine Zahl gewesen sein, minde-stens aus jeder Einheit einer, also 18, wahrscheinlich aber weit mehr.

Die Aussage des mit vollem Text angeführten neuen Diploms aus dem Jahr 100 unterscheidet sich davon ganz erheblich. Denn dieses Diplom sagt, daß damals lediglich zwei Soldaten, die zwei verschiedenen Einheiten angehörten, mit dem römischen Bürger-recht beschenkt wurden. Mit dem kaiserlichen Rechtsakt war also die Ausgabe von lediglich zwei Diplomen verbunden, eines für einen eques, das andere für einen centurio.

Was hat dieser Befund mit dem Arbeitsalltag des römischen Kaisers zu tun? Die Diplome selbst betreffen ihn natürlich nicht. Die Kaiser haben diese Urkunden unter Normalumständen nie zu Gesicht bekommen. Das ist zwar nirgends überliefert, aber man darf das mit größter Wahrscheinlichkeit annehmen. Die Diplome sind nur sekundäre Urkunden, sie waren Abschriften, wie es auch am Ende eines jeden Diploms heißt: Descriptum et recognitum ex tabula aenea, quae fixa est Romae in muro post templum divi Au-gusti ad Minervam. Rechtlich entscheidend war die Konstitution, von denen die Diplome nur Abschriften darstellten. Diese Konsti-tution aber wurde dem Kaiser vorgelegt und er mußte seine Zu-stimmung zu diesem Akt geben. Das läßt sich gerade durch Be-funde aus vielen Diplomen nachweisen.4 Wie wichtig diese Verlei-hung des römischen Bürgerrechts von den Kaisern genommen wurde, ersieht man daran, daß das Recht, eine solche Verleihung auszusprechen, niemals delegiert wurde, obwohl vieles daran eine Routineangelegenheit geworden ist. Die Bedeutung der Bürger-rechtsverleihung war ein republikanisches Erbe. Entlassungen von Veteranen, sicher keine unwichtige und bei den Legionären auch teure Angelegenheit für die Staatskasse, wurden im Gegensatz

3 Vgl. dazu auch B. Pferdehirt, Römische Militärdiplome und Entlas-

sungsurkunden in der Sammlung des Römisch-Germanischen Zentralmuseums, Mainz 2004, I, pp. 18f. (im folgenden als RGZM zitiert).

4 W. Eck, Zum Zeitpunkt des Wechsels der ‘tribunicia potestas’ des Philip-pus Arabs und anderer Kaiser, «ZPE», 140 (2002), pp. 257-61.

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dazu von den Statthaltern durchgeführt.5 Doch die Konstitutionen über die civitas Romana mußten dem Kaiser vorgelegt werden. Und unter dem spezifischen Aspekt, was für die Frage nach dem Arbeitsalltag des Kaisers der entscheidende Gesichtspunkt ist, be-stand nicht der geringste Unterschied zwischen der Konstitution des Jahres 100, mit der nur zwei Soldaten aus zwei Einheiten pri-vilegiert wurden, und der Konstitution aus dem Jahr 101, die eine unbekannte, aber vermutlich hohe Anzahl von Soldaten betraf, auf jeden Fall Soldaten aus 18 Einheiten. Der Arbeitsaufwand war für den Kaiser im einen wie im anderen Fall nach aller Wahrschein-lichkeit derselbe.

Einen vergleichbaren Befund gibt uns auch der zweite Text, ebenfalls ein Diplom, aber aus dem Jahr 140 n. Chr., mit folgen-dem Text:6

[Imp(erator) Caes(ar) divi] Hadriani f(ilius) divi Traian[i Parthici nep(os)]

divi Nervae pronep(os) [T. Aelius Hadr]ianus Antoninus Aug(ustus) [Pius pontif(ex) m]ax(imus) trib(unicia) pot(estate) III co(n)s(ul) III p(ater) p(atriae)

[pedit(ibus) et equi]t(ibus) qui milit(averunt) in coh(orte) I Ulpia [Pannonior(um) qu]ae est in Pannon(ia) super(iore) [sub Sergio? / -dio?] Paullo quinque et viginti [stip(endis) emer]it(is) dimiss(is) honest(a) [missione]

quor(um) nomina subscrip[ta sunt, ipsis, liberis poste]risq(ue) eorum civit[atem] ded(it) et con[u]bium cum [uxoribus quas tunc habuissent,] cum est civ[itas iis data, aut si qui caelibes essent, cum iis, quas postea duxissent, dum]t[a]x[at singuli singulas] etc.

Diese Konstitution betrifft die Provinz Pannonia superior, wo zu

Beginn der Regierungszeit von Antoninus Pius etwa 20 Hilfstrup-peneinheiten standen.7 Doch in Fall dieser Konstitution war die kaiserliche Rechtsentscheidung nur für Soldaten einer einzigen Kohorte bestimmt, im Gegensatz etwa zu einer Konstitution für

5 Siehe dazu verschiedene Urkunden, die das zeigen: W. Eck, M. M. Roxan,

Zwei Entlassungsurkunden – ‘tabulae honestae missionis’ – für Soldaten der römischen Auxilien, «Arch. Korrespondenzblatt», 28 (1998), pp. 95-112 (= RGZM nr. 73. 74); W. Eck, «Ehrenvoll entlassen». Eine ‘tabula honestae mis-sionis’ für einen Bonner Veteranen aus dem Jahre 230 n. Chr., «Rhein. Lan-desmuseum Heft», 1 (1999), pp. 12-17 = RMD IV, pp. 609ff.

6 W. Eck, A. Pangerl, Neue Konsulndaten in neuen Diplomen, «ZPE», 152 (2005), pp. 229ff., bes. 250ff.

7 Siehe B. Lörincz, Die römischen Hilfstruppen in Pannonien während der Prinzipatszeit, Wien 2001, 85f.

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dieselbe Provinz aus dem Jahr 146, in die Soldaten aus fünf Alen und sieben Kohorten eingeschlossen waren.8 Wiederum kann man den Arbeitsaufwand des Kaisers in beiden Fällen als mehr oder weniger gleich ansehen. Denn bei diesem Rechtsakt wurde nicht die Berechtigung des einzelnen Soldaten auf das Bürgerrecht über-prüft, das hatte bereits vorher der Statthalter getan; es ging nur um die generelle Zustimmung des Kaisers. Einen vergleichbaren Fall kennen wir für Mauretania Caesariensis. In dem frühesten Diplom für Mauretania Caesariensis aus dem Jahr 107 werden drei Alen und zehn Kohorten angeführt.9 Doch in einem ebenfalls erst vor kurzem aufgetauchten neuen Diplom aus dem Jahr 131, das auf eine Konstitution Hadrians zurückgeht, erscheint wiederum nur eine einzige Einheit.10

Wenn wir wirklich abschätzen wollen, wie weit solche Konsti-tutionen zum Arbeitsalltag des Kaisers gehörten und welchen Um-fang solche Tätigkeit einnahm, dann ist also die Zahl dieser Ent-scheidungen wichtig; denn der Kaiser wurde auf jeden Fall mit jeder Konstitution befasst, gleichgültig, wie hoch die Zahl der gleichzeitig privilegierten Soldaten war. Wie oft also wurden dem Kaiser solche Entscheidungen vorgelegt? Es lohnt sich somit ein Blick auf die Zahl der uns bekannten Konstitutionen.

Bisher ist uns zwar keine Originalkonstitution bekannt, aber je-des Diplom ist Zeugnis für eine solche Rechtsurkunde. Allerdings bezeugt nicht jedes Diplom auch eine Konstitution, da nicht selten aus einer solchen Rechtsentscheidung eines Kaisers mehrere Ko-pien erhalten sind. Folgende Liste der Konstitutionen von der fla-vischen Zeit bis einschließlich der Regierungszeit Marc Aurels läßt sich erstellen. Der Endpunkt Marc Aurel ist deshalb gewählt, weil bis zum Jahr 168/69 die Konstitutionen für Auxiliartruppen, die die Masse solcher Privilegierungen darstellten, absolut kontinuierlich ausgegeben wurden. Von da an geht die Zahl der Konstitutionen sehr stark zurück und sie sind vom Ende der Regierungszeit des Commodus fast ausschließlich für stadtrömische Truppen und die italischen Flotten bestimmt. Diese Erlasse ergehen dann auch zu genau fixierten Terminen und nicht mehr verstreut über das ge-samte Jahr, wann immer es notwendig gewesen war. Unter dem

8 CIL XVI 178. 9 CIL XVI 56. 10 W. Eck, A. Pangerl, Neue Militärdiplome für die Truppen der mauretani-

schen Provinzen, «ZPE», 153 (2005), pp. 187ff.

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Gesichtspunkt, wie sie den Arbeitsalltag des Kaisers betrafen, spielen diese Entscheidungen seit dem ausgehenden 2. Jahrhundert nur noch eine untergeordnete Rolle.

Liste der Jahre zwischen 70 und 168, in denen mindestens eine Konstitution

für alle Truppentypen (Auxilien, stadtrömische Kohorten, Flotten, equites sin-gulares) bezeugt ist:11

Jahr Anzahl Jahr Anzahl Jahr Anzahl 70 2 105 8 139 5 71 4 106 1 140 6 72 1 107 4 141 3 73 1 108 2 142 6 74 1 109 4 143 3 75 2 110 3 144 4 76 2 111 2 145 6 77 112 2 146 6 78 4 113 4 147 1 79 1 114 7 148 6 80 2 115 2 149 1 81 1 116 3 150 3 82 1 117 2 151 4 83 2 118 5 152 6 84 2 119 5 153 6 85 4 120 3 154 6 86 2 121 4 155 2 87 1 122 5 156 5 88 4 123 4 157 12 89 124 4 158 10 90 2 125 4 159 2 91 2 126 4 160 5 92 2 127 5 161 4

11 Die hier angeführten Zahlen versuchen, die jeweils für die einzelnen Jahre

bekannten Konstitutionen zu erfassen. Sie erfassen freilich das Material nicht absolut vollständig, da zum einen die Publikationslage partiell unübersichtlich ist und man nicht bei allen Fragmenten sagen kann, ob sie zu einer schon be-kannten Konstitution gehören. Zudem können zahlreiche Diplome nicht präzis datiert werden. Diese erscheinen nicht in der Liste. Nur diejenigen Fälle, die entweder präzis in ein Jahr oder mit großer Wahrscheinlichkeit in das darauf folgende gehören, sind aufgenommen.

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93 1 128 4 162 8 94 4 129 9 163 4 95 2 130 4 164 4 96 5 131 4 165 3 97 3 132 4 166 8 98 6 133 5 167 6 99 4 134 7 168 3 100 4 135 8 169 - 176 - 101 4 136 3 177? 1 102 1 137 1 178 2 103 2 138 10 179 2 104 2 180 -

Wie die Liste zeigt, finden sich zwischen dem Jahr 70, dem er-

sten vollen Regierungsjahr Vespasians, und dem Ende der Regie-rungszeit Marc Aurels nur noch ganz wenige Jahre, aus denen nicht wenigstens eine Konstitution sicher bezeugt ist. Das sind die Jahre 77 und 89 und dann das komplette Jahrzehnt 169 - 176/77. Für die ersten beiden Jahre dürfte es am Zufall der Überlieferung liegen, daß uns bisher kein Diplom bekannt geworden ist. Bis vor wenigen Jahren waren es bis zum Ende der Regierung Domitians noch einige Jahre mehr gewesen.12 Diese Lücken, etwa im Jahr 73 und 93 sind jetzt durch Neufunde geschlossen.13 Anders in dem Jahrzehnt unter Marc Aurel: Damals wurden, wie man mit Sicher-heit zeigen kann, keine Bronzediplome ausgegeben, sondern wohl nur Dokumente auf nicht dauerhaftem Material, weshalb uns die Zeugnisse fehlen. Doch Bürgerrechtskonstitutionen ergingen auch in dieser kurzen Epoche, sie sind uns nur im Einzelnen unbe-kannt.14

Die Liste zeigt also ganz deutlich, daß die Ausgabe von Kon-stitutionen an Auxiliare, Flottensoldaten und stadtrömische Trup-pen eine kontinuierliche, nie abreißende Tätigkeit jedes Kaisers

12 Siehe die Liste bei Eck, Der Kaiser als Herr des Heeres…, pp. 85ff. 13 RMD I 1. Das Diplom für das Jahr 93 scheint noch nicht offiziell publi-

ziert zu sein; vgl. den Versteigerungskatalog von Gorny & Mosch (Auktion 13. Dezember 2003. Kunst der Antike, nr. 128, 44); es bezeugt am 10. August dieses Jahres: A(nte) d(iem) IIII idus August(as) Sex. Lusiano Proculo, T. Avi-dio Quieto cos. M. Cornelius Nigrinus als Statthalter der Provinz Syria.

14 W. Eck, D. MacDonald, A. Pangerl, Die Krise des römischen Reiches un-ter Marc Aurel und ein Militärdiplom aus dem Jahr 177(?), «Chiron», 33 (2003), pp. 365ff.

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gewesen ist. Die Zahl der für einzelne Jahre bezeugten Konstitu-tionen variiert allerdings beträchtlich. Vor allem in flavischer Zeit, aber auch noch später kennen wir bisher aus manchen Jahren nur eine einzige Konstitution pro Jahr. Darüber gibt es jede Anzahl von Konstitutionen pro Jahr, bis zum Maximum von 12 Konstitu-tionen im Jahr 157. Im Jahr 138 und 158 sind immerhin auch be-reits 10 solcher Urkunden bezeugt, der Durchschnitt liegt zwischen 3 und 6. Über diese generelle Aussage über Mindestzahlen ist man freilich bis heute nicht sehr weit hinaus gekommen, jedenfalls nicht durch direkte Dokumentation. Denn notwendigerweise haben wir bei der Art unserer Überlieferung für kein Jahr eine definitive Zahl für die ausgegebenen Konstitutionen.

Umgekehrt aber kann man zeigen, daß die Liste, so wie sie sich jetzt darbietet, nicht repräsentativ ist. Das ist wesentlich das Er-gebnis des Umstandes, daß uns die Konstitutionen nur über die Diplome bekannt sind. Damit aber stellt sich das statistische Pro-blem, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Konstitution auf dem Weg über Diplome bezeugt oder eben auch nicht bezeugt sein kann. Die zu Beginn zitierten Diplome verdeutlichen dabei das Problem in anschaulicher Weise.

Es ist eine Binsenweisheit, daß die statistische Wahrscheinlich-keit für das Überleben von Diplomen und damit das Bekanntwer-den einer Konstitution umso größer ist, je mehr Diplome ur-sprünglich einmal ausgegeben worden waren. Wir wissen etwa, daß von Konstitutionen, die von Galba und Vespasian ausgingen, die zugehörigen Diplome maximal mit einer Rate zwischen 0,16 und 0,5% auf uns gekommen sind; in einem Fall sind z.B. von mindestens 900 ursprünglich ausgegebenen Diplomen, also einer sehr hohen Anzahl, bisher lediglich vier gefunden worden.15 Das zu Beginn zitierte Diplom aus Cappadocia zeigt aber, daß mit der Konstitution, auf die das Diplom zurückgeht, nur insgesamt zwei Soldaten privilegiert wurden, daß also auch nur zwei Diplome aus-gegeben wurden. Nach statistischer Wahrscheinlichkeit war es also kaum zu erwarten, daß uns gerade eines dieser beiden Diplome erhalten bliebe, wie es aber tatsächlich der Fall ist. Im Jahr 101 wurde für Cappadocia, wie erwähnt, erneut eine Konstitution aus-gestellt, diese allerdings für vier Alen und 14 Kohorten, was heißt, daß mindestens 18 Diplome ausgegeben wurden, selbst wenn aus jeder Einheit nur ein einziger Soldat für die Privilegierung anstand.

15 Eck, Der Kaiser als Herr des Heeres…, pp. 55ff.

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Das ist schon das Neunfache dessen, was 100 n. Chr. auf Grund der Konstitution dieses Jahres an Diplomen vergeben wurde. Hier ist also die Wahrscheinlichkeit, daß wenigstens ein Diplom die Jahrtausende überlebte, weit größer.

Wenn Konstitutionen für jeweils nur eine einzige Einheit oder vielleicht auch für zwei oder drei eine absolute Ausnahme darstel-len würden, dann könnte man das Diplom des Jahres 100 aus Cap-padocia als einen Ausnahmefall beiseite lassen. Doch dies ist nicht so. Denn nicht nur das Diplom für Pannonia superior aus dem Jahr 140 oder das aus dem Jahr 131 für Mauretania Caesariensis spre-chen dagegen, Konstitutionen für nur ganz wenige Soldaten als exzeptionell anzusehen, vielmehr sind noch eine ganze Reihe an-derer Zeugnisse dieser Art anzuführen.

Folgende Liste von bekannten Konstitutionen, die nur für eine einzige Einheit (ausgeschlossen die beiden italischen Flotten) be-stimmt waren, kann dies zeigen:

Provinz Jahr Beleg

Moesia (Flotte) 73 unpubliziert cohors urbana in Africa 85 RMD IV 213 = RGZM 5 Moesia inferior (Flotte) 92 CIL XVI 37 Dacia 110 CIL XVI 160; Weiß, «ZPE», 141

(2002), 241f. classis Syriaca 119 Eck, Macdonald, Pangerl, «Chi-

ron», 32 (2002), 428ff. = RMD V 354

Palmyreni sagittarii 120 RMD 17 Macedonia 120 CIL XVI 67 classis? 121 Eck, Pangerl, «Chiron», 33 (2003),

347ff. = RMD V 357 Cilicia 121 RGZM 19 Dacia Porolissensis 123 RMD I 21. 22 Palmyreni sagittarii 126 RMD I 27. 28 classis Moesica 131/135 RMD IV 252 Mauretania Caesariensis 131 Eck, Pangerl, «ZPE», 153 (2005),

187ff. singulares 133 RMD III 158 Lycia-Pamphylia 138 RMD III 161 Pannonia superior 140 Eck, Pangerl, «ZPE», 152 (2005),

250ff.

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Asia 148 RMD II 100 Flotte? Ant. Pius Weiß, «ZPE», 134 (2001), 267ff. =

RMD V 432 Lycia-Pamphylia 165/66 P. Weiß, «Epigraphica Anatolica»,

31 (1999), 77ff. = RMD V 438 Lycia-Pamphylia ca. 167 RMD I 67 Lycia-Pamphylia 178 CIL XVI 128

Insgesamt sind also bis heute mehr als zwanzig Diplome be-

kannt geworden, aus denen hervorgeht, daß in den Konstitutionen, auf die sie zurückgehen, nur jeweils eine einzige Einheit genannt war, aus der Soldaten die entsprechenden Privilegien erhielten. Diese Diplome können aber, aufs Ganze gesehen, nicht in einer anderen statistischen Relation auf uns gekommen sein als Di-plome, die auf eine Konstitution zurückgehen, für die sehr viele Abschriften ausgegeben wurden. Das aber muß dann heißen, daß es sehr viele weitere solcher Privilegierungserlasse für nur eine Einheit gegeben haben muß, damit überhaupt die Chance bestand, daß aus all diesen Konstitutionen und den daraus resultierenden Diplomen überhaupt so viele Exemplare, bisher mehr als 20, noch auf uns gekommen sind. Der Faktor, mit dem wir die Zahl solcher erhaltenen Stücke multiplizieren müssen, ist notwendigerweise nicht genau festzulegen, aber der Faktor müßte wohl mindestens bei der Zahl 100, vielleicht sogar weit höher liegen. Das ergäbe dann rechnerisch mindestens 2000 Konstitutionen, die einmal für nur je eine Einheit in dem angeführten Zeitraum erlassen worden sein müssen. Würde man eine so ermittelte Zahl auf die Jahre von 70 bis 168 aufteilen, dann würde dies bedeuten, daß wir pro Jahr durchschnittlich mit mindestens 20 solcher, für nur eine einzige Einheit ausgestellten Konstitutionen zu rechnen hätten - zusätzlich zu den bisher schon insgesamt bekannten.

Daß diese Aussage nicht einfach eine willkürliche Rechnung darstellt, sondern eine gesicherte rationale Basis hat, ist durch fol-gende Überlegung abzusichern: Wir wissen, daß in allen Provinzen des Imperium Romanum Truppen stationiert waren, zwar nicht Legionen, aber Auxilien. Das gilt sowohl für die Provinzen, die von Prokonsuln geleitet wurden, insgesamt zehn während der ge-samten hier interessierenden Zeit, als auch für die kaiserlichen Provinzen ohne Legionsbesatzung. Zu diesen gehörten von West nach Ost folgende Provinzen: Lusitania, Aquitania, Lugdunensis,

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Belgica, die drei Alpenprovinzen: Maritimae, Poeninae und Cot-tiae, Raetia, Noricum, Epirus, Thracia, Pontus-Bithynia, Galatia, Lycia-Pamphylia, Cilicia, Mauretania Caesariensis und Tingitana sowie Sardinia.16 Nur für neun dieser 18 Provinzen kennen wir bisher mindestens ein Diplom: für die Lugdunensis, für Raetia, Noricum, Thracia, Lycia-Pamphylia, Cilicia, Mauretania Caesa-riensis und Tingitana sowie Sardinia; doch aus den anderen neun Provinzen stammt bisher kein einziges.17 Auxilien aber standen in all diesen Provinzen, für deren Soldaten nach 25 Jahren Dienst vor oder nach der ehrenvollen Entlassung die gleichen Bedingungen für eine Privilegierung gegolten haben wie in allen anderen Pro-vinzen auch. Der Unterschied zwischen den genannten Provinzty-pen besteht nur in der uns einerseits faßbaren und andererseits nicht vorhandenen Dokumentation. Fast in all den Provinzen, für die bisher Diplome fehlen, waren nur wenige Soldaten stationiert, zumeist nur eine einzige Einheit. Daß aber Soldaten in diesen Pro-vinzen ihre neuen Rechte als römische Bürger ebenso durch Bron-zediplome bestätigt bekommen haben wie ihre Kameraden etwa in Raetia oder Mauretania Tingitana, wo viele Auxilien die Besat-zung bildeten und auch zahlreiche Diplome auf uns gekommen sind,18 darf man, ja muß man voraussetzen. Wenn es dafür noch eines Beweises bedurft hat, dann haben ihn die Funde der letzten Jahre erbracht. Denn wir haben nun aus dem Jahr 121 das erste Diplom aus Cilicia,19 wo nur eine Einheit stand, vergleichbar dem, was wir für die prokonsulare Provinz Asia wissen, wo ebenfalls nur eine Kohorte dem Statthalter zur Verfügung stand, für die das erste Diplom ebenfalls erst zu Beginn der 80er Jahre des 20. Jahr-hunderts aufgetaucht ist.20 Naturgemäß können von den wenigen Diplomen, die für diese Einheiten ebenso regelmäßig wie in ande-ren Provinzen (mit vielen Einheiten) ausgegeben wurden, bis heute noch weit weniger erhalten geblieben sein als aus den Provinzen

16 Der gelegentliche Wechsel im Status einiger Provinzen spielt bei der hier

interessierenden Frage keine Rolle. 17 Dabei sei vermerkt, daß bis vor wenigen Jahren für Cilicia und Thracia

auch nicht ein einziges Diplom bezeugt war; das hat sich nunmehr geändert, genauso wie wir auch erst seit zwei Jahren die ersten Diplome für Arabia und für Cappadocia kennen, beides im übrigen Provinzen mit sehr vielen Auxilien.

18 Wobei durchaus unterschiedliche Gründe zu der relativ hohen Zahl der Diplome geführt haben.

19 RGZM nr. 19. 20 RMD 100.

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mit vielen Heereseinheiten. Statistisch ist dies zu erwarten. Den-noch sind auch für diese Provinzen regelmäßig Konstitutionen ausgestellt worden, die in die hier vorgelegten Überlegungen ein-bezogen werden müssen.

Obwohl wir nicht präzis sagen können, in welchem Rhythmus die Konstitutionen aufeinander folgten, darf man dennoch aus der Systematik und der politischen Bedeutung, die die Zufriedenheit des Heeres für die kaiserliche Herrschaft hatte, folgern, daß die Soldaten nirgendwo allzu lange über die 25 bzw. 26 Jahre hinaus beim Heer behalten wurden, jedenfalls nicht in den relativ ruhigen Zeiten seit der Herrschaft der Flavier. Da immer wieder Soldaten während des Dienstes starben, was auch eine mehr oder weniger kontinuierliche Rekrutierung neuer Soldaten zur Folge hatte,21 er-gab sich daraus auch eine entsprechende Zahl von Entlassungen aus dem Heer sowie die nachfolgende Privilegierung. Dann müs-sen diese Akte und die damit zusammenhängenden Konstitutionen aber auch in einem relativ regelmäßigen Rhythmus erfolgt sein. Wenn man zumindest in jedem zweiten Jahr mit einer Konstitution auch in den Provinzen mit kleiner Besatzung rechnet, dann liegt man wohl nicht ganz falsch.

Das folgende Beispiel für Thracia kann dies zeigen. Folgende Konstitutionen sind bisher bekannt geworden:

Jahr Einheiten Beleg 114 2 RMD IV 227 138 2 RMD II 138. III 260 = RGZM 28 = RMD V 385 155 3 Eck, MacDonald, Pangerl, «REMA», 1 (2004), 91ff. 155/9 3 AE 1998, 1627 = RMD V 417 157/8 2 Eck, MacDonald, Pangerl, «REMA», 1 (2004), 96ff. 161/2 3 AE 1998, 1623 = RMD V 435 162/3 3 AE 1998, 1624 = RMD V 437 161/8 3 AE 1998, 1625 = RMD V 440 166/68 3 AE 1998, 1622. 1626 = RMD V 439. 441

Für diese Provinz, in der nur zwei bzw. drei Kohorten lagen,

sind von der spättraianischen Zeit bis zum Jahr 168 bereits neun Konstitutionen bekannt geworden. Das sind im Verhältnis zur un-

21 Man sollte nicht allzu sehr damit rechnen, daß die Truppen lange unter

der Sollstärke gehalten wurden.

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serer gesamten Überlieferungssituation für Provinzen, in denen sehr viele Einheiten lagen, außerordentlich viele. Man kann diese auffällige Tatsache aber erklären. Denn zum einen war diese Pro-vinz offensichtlich seit der Provinzialisierung ein bevorzugtes Ge-biet der Rekrutierung; man kann geradezu einige Rekrutierungs-wellen feststellen.22 Zum andern stammt die Masse der in den letz-ten 15 Jahren publizierten Diplome, mehrere Hundert, überwie-gend aus diesem Raum, auch wenn das nicht in jedem Einzelfall bewiesen werden kann. Die vielen Soldaten, die in Thrakien re-krutiert und dort auch eingesetzt worden waren, hatten sich natür-lich nach ihrer Entlassung und der Bürgerrechtsverleihung in ihrer Heimat niedergelassen, so daß sich ihre Dokumente dort besonders häufig finden. Wenn wir andererseits einbeziehen, wie gering die Wahrscheinlichkeit ist, daß sich von einer Konstitution überhaupt ein Diplom erhalten hat, dann reicht die Reihe der bezeugten Kon-stitutionen aus, um zu zeigen, daß, jedenfalls im 2. Jahrhundert bis zur Regierungszeit Marc Aurels, für die Auxilien Thrakiens konti-nuierlich Konstitutionen erlassen wurden, mindestens in jedem zweiten Jahr, eher sogar jährlich. Was aber für diese Provinz zu-traf, das darf und muß man auch für andere, ähnlich strukturierte Provinzen voraussetzen.

Ein Beispiel aus einer östlichen Provinz, aus Iudaea/Syria Palae-stina, kann das ebenfalls zeigen:

Zeit Alen Kohorten Beleg

13. Mai 86 2 4 XVI 33; Eck, Pangerl, «SCI», 24 (2005), 106ff.

87 2 6 unpubliziert 90 2 7 Cotton, Eck, Isaac, «Israel Museum

Studies in Archeology», 2 (2003), 17 = RMD V 332

136/7 3 12 RMD III 160 22. Nov. 139 3 12 CIL XVI 87 [15. Ian.] 142 3 11 RGZM 29 157/8 AE 1997, 1768 = RMD V 421 7. März 160 3 12 RMD III 173; RGZM 41; Eck, Pan-

gerl, «SCI», 24 (2005), 101ff. und unpubliziertes Diplom

22 Darüber zusammenfassend an anderer Stelle.

WERNER ECK 102

149/161 3 (4) RMD I 60. 24.-27. Nov. 186 2 7 RMD I 69

In dieser Provinz lagen weit mehr Auxilien als etwa in Thracia,

dort wurden auch weit mehr Diplome pro Konstitution ausgege-ben. Doch aus der Provinz selbst, in der sich wohl auch nicht we-nige Veteranen nach ihrer Entlassung niederließen, sind bisher nur zwei Diplome bekannt geworden,23 alle anderen stammen aus an-deren Regionen des Reiches, vor allem wieder aus dem östlichen Balkanbereich, also der römischen Provinz Thracia, und aus dem Süden der Türkei. Doch auch für diese Provinz ist inzwischen, wie die Liste zeigt, eine recht kontinuierliche Sequenz von Konstitu-tionen bezeugt, die vermuten lassen, daß die bisher bekannten nur ein geringer Ausschnitt aus den einst verfügten Privilegierungen sind.

Ein weiteres Beispiel möge nochmals die Dichte der Konstitu-tionen verdeutlichen, diesmal für Moesia / Moesia inferior:

Zeit Alen Kohorten Beleg 73 classis PA 206 (unpubliziert) 28. 4. 75 10 RMD I 2 [28. 4.] 75 Unpubliziert 7. 2. 78 8 CIL XVI 22; RMD IV 208 7. 2. 78 RMD V 325 78 (4) RMD IV 209 14. 6. 92 classis CIL XVI 37 14. 6. 92 7 15 «ZPE», 148 (2004), 269; und ein

unpubliziertes Diplom24 9. 9. 97 4 10 RMD V 337; ZPE 151, 2005, 191 9. 9. 97 5 9 RMD V 338; Eck, Pangerl, «ZPE»,

151 (2005), 185ff. 14. 8. 99 3 6 CIL XVI 44. 14. 8. 99 3 7 CIL XVI 45; RGZM 8 Sept./Okt. 99 (3) RMD IV 217 13. 5. 105 3 7 CIL XVI 50 13. 5. 105 3 7 RGZM 10 13. 5. 105 3 7 RGZM 11; Mitt. HVP 102, 7

23 CIL XVI 87 und RMD I 69. 24 Dankenswerter Hinweis von Peter Weiß.

DIE AUSSTELLUNG VON BÜRGERRECHTSKONSTITUTIONEN 103

Sept./Dez. 107 1 RGZM 14 Mai/Aug. 109 (1) RMD IV 219 99/110 1 (3) RMD IV 221 25. 9. 111 3 7 RMD IV 222 [25. 9.] 111? 3 7 CIL XVI 58 27. 9. 112 (12) RMD II 85 113? (1) (1) + (1) RMD IV 224 26. 4. 107/114 unpubliziert 9-118/10-119 6 RMD V 349. 350 19. Okt. 121 (2) RMD V 356 1. 6. 125 2 5 RMD IV 235; V 364 105/127 3 RMD V 369 125/129 RMD V 374 20. 8. 127 5 10 RMD IV 241; RGZM 23 2. 4. 134 2 5 CIL XVI 78 28. 2. 138 3 5 CIL XVI 83; RMD III 165 138/142? 1 3 RMD IV 265 7. 4. 145 5 11 RMD III 165 = V 399. PA 6 Jan./ Febr. 146 5 11 RMD IV 270 148/153 1 AE 1997, 1778 = RMD V 411 ca. 155 5 11 AE 2001, 2160 = RMD V 413 8. 2. 157 Mündl. Mitteilung von A. Ivantchik 158? 5 11? RMD I 50

Für Mösien sind also während eines Zeitraums von etwa 100

Jahren schon mindestens 40 Konstitutionen bezeugt. Was beson-ders betont werden muß, ist die Tatsache, daß in manchen Jahren sogar mehr als eine Konstitution für diese Provinz erlassen wurde, z.B. in den Jahren 75. 78. 92. 99 und 105, und zwar zumeist sogar am selben Tag. Warum dies geschah, ist erst noch zu untersuchen.

Wenn alle diese Schlußfolgerungen zutreffen, dann heißt dies, daß wir durchschnittlich pro Jahr für jede Provinz mit einer Kon-stitution rechnen dürfen, bei den großen, sogar nicht selten auch mit mehreren.25 Eingerechnet die stadtrömischen Truppen und die Flotten führt das etwa zu einem halben Hundert von Privilegierun-gen pro Jahr. Und mit allen diesen Vorgängen mußte sich der Kai-ser befassen. Nur relativ selten fallen mehrere Konstitutionen für

25 Diese Rechnung wird durch die insgesamt sehr wenigen Konstitutionen,

in die Truppen für zwei Provinzen eingeschlossen sind, nicht beeinträchtigt.

WERNER ECK 104

verschiedene Provinzen auf einen Tag, zumeist verteilen sich diese über das gesamte Jahr. Der Vorgang wiederholte sich also pro Jahr recht oft.

Das Ergebnis sollte nicht allzu überraschend sein. Fergus Millar hatte vor langer Zeit mit Nachruck darauf hingewiesen, daß der römische Kaiser ununterbrochen tätig war, in der Reaktion auf An-fragen der Untertanen, auf Gesandtschaften von Städten und Grup-pen im Reich.26 Man muß dazu etwa auch die zahllosen Ernen-nungsschreiben rechnen, die kontinuierlich ausgestellt werden mußten. Kodizille, wie sie uns beispielsweise von Marc Aurel für den Prokurator Domitius Marsianus vorliegen, sind jährlich wohl hundertfach an die verschiedensten Funktionsträger ausgegeben worden, an Statthalter, Legionslegaten, iuridici, prokuratorische Funktionsträger und Auxiliarpräfekten. Auch kaiserliche Freigelas-sene, die bedeutsamere Aufgaben übernahmen, etwa die Vertreter-position für einen ritterlichen Prokurator, erhielten solche Schrei-ben, wie das z.B. zwei Briefe eines unbekannten Kaisers an einen kaiserlichen libertus zeigen, die auf einer Inschrift aus Rom erhal-ten sind.27 Dazu kam die Korrespondenz mit all diesen Amtsträ-gern, da nicht nur Plinius ein eifriger Briefschreiber war (von ihm gingen in nicht ganz zwei Jahren 78 Schreiben an Traian, der sei-nerseits 47 Briefe an diesen richtete), sondern auch die Masse der anderen vom Kaiser ernannten Funktionäre sich vielfältig an die Kaiser gewandt hat. Fast alle diese Schreiben sind, da sie natürlich nicht auf dauerhaftes Material geschrieben wurden, unwieder-bringlich verloren. Nur in Ausnahmefällen sind solche Schrift-stücke auf uns gekommen.

Sieht man vom Briefwechsel des Plinius mit Traian ab, dann kann man den Umfang der Arbeit kaum jemals quantifizieren. Die Diplome aber erlauben gerade diese Einblick, und zwar bei einer Routinetätigkeit, die dennoch für die kaiserliche Herrschaft von nicht geringer Bedeutung war, also vom Herrscher auch ernst ge-

26 F. Millar, Emperors at Work, «JRS», 57 (1967), pp. 9ff. = in ders., H. M.

Cotton, G. M. Rogers (eds.), Rome, the Greek World and the East, vol. 2, Chapel Hill 2004, pp. 3ff.; ders., The Emperor in the Roman World, London 1977; 19922. Vgl. zur großen Zahl der Gesandtschaften auch aus dem Westen der Reiches W. Eck, Diplomacy as Part of the Administrative Process in the Roman Empire, in Diplomats and Diplomacy in the Roman World, Fifth E. Togo Salmon Conference (Hamilton 24-25 September 2004), C. Eilers (ed.), im Druck.

27 CIL VI 8619.

DIE AUSSTELLUNG VON BÜRGERRECHTSKONSTITUTIONEN 105

nommen wurde. Wie ernst, das zeigen die zum Teil massiven Än-derungen, mit denen etwa Antoninus Pius in diese Vorgänge ein-gegriffen hat. Denn im Verlauf des Jahres 140 hat er unvermittelt die Privilegierung der während des Dienstes geborenen Kinder von Auxiliaren eingestellt. Eine solche Maßnahme dürfte er zunächst mit seinen Beratern intensiv besprochen haben. Denn es stellte eine jahrzehntelange Praxis auf den Kopf. In einem oben schon kurz zitierten neuen Diplom aus Mauretania Caesariensis aus dem Jahr 131 werden neben dem Veteranen Diurdanus, wohl einem Daker oder Thraker, der in der cohors I Musulamiorum gedient hatte, auch fünf Kinder genannt, drei Söhne und zwei Töchter, die eben-falls das Bürgerrecht erhielten.28 Ab dem Jahr 140 geschah das nicht mehr.

Dieser Eingriff zeigt, daß auch bei Routinetätigkeiten jeweils persönliche Entscheidungen des Kaisers getroffen wurden. Ein zweites Beispiel möge dies zusätzlich untermauern. Bei irgendei-nem Vorfall, bei dem man auf Diplome rekurrieren musste, kam heraus, daß die Hersteller der Bronzediplome seit ca. 143 aus Ra-tionalisierungsgründen auf der Innenseite der Diplome wesentliche Textteile weggelassen hatten. Denn auf den verschlossenen, ver-siegelten Innenseiten mußte, wie es bei einer ordnungsgemäß aus-geführten Doppelurkunde auch nicht anders zu erwarten ist, noch-mals derselbe Text stehen, der auch auf der Außenseite zu lesen war. Doch etwa ab dem Jahr 143 hatte man es sich gespart, dort auch die lange Liste der einzelnen Einheiten nochmals aufzufüh-ren. Man beschränkte sich vielmehr darauf, nur noch die Gesamt-zahl der Alen und Kohorten zu nennen, aus denen einzelne Solda-ten privilegiert werden sollten. Das aber erfüllte nach strengem Recht den Tatbestand der Urkundenfälschung. Das entsprechende Dokument war keine Doppelurkunde mehr, da Außentext und In-nentext nicht mehr deckungsgleich waren. Im Verlauf des Jahres 152 hat irgendjemand diesen Mißstand entdeckt, und ohne Zweifel den Kaiser darauf aufmerksam gemacht. Vielleicht kam die Sache sogar dadurch auf, daß es zu einem Prozeß um das Bürgerrecht einer Person kam, bei dem ein Diplom, das in dem Zeitraum seit 143 ausgestellt worden war, geöffnet wurde. Dabei wurde der Mißstand offenkundig. Jedenfalls wurde dann unmittelbar einge-griffen, nach aller Wahrscheinlichkeit direkt vom Kaiser, und die privaten Hersteller gezwungen, zur alten Praxis mit einem voll-

28 Siehe Eck, Pangerl, Neue Militärdiplome…

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ständigen Text auch auf der Innenseite zurückzukehren.29 Von da an mußte sogar auf der Innenseite am Ende des Textes wieder die Formel erscheinen, die seit rund vierzig Jahren dort weggelassen worden war:

Descriptum et recognitum ex tabula aenea quae fixa est Romae in muro post templum divi Augusti ad Minervam - also der Beglau-bigungsvermerk. Er stand jetzt nicht nur auf der Außenseite, wie das immer geschehen ist, sondern jetzt auch wieder auf der nor-malerweise nicht sichtbaren Innenseite.

Ein solches Detail zeigt ganz beiläufig, aber auch unbestreitbar, daß sorgfältige Routinetätigkeit somit ein gewichtiger Teil dessen war, was die Kaiser für das Imperium zu leisten hatten. Das hat man auch anderen Aussagen entnehmen können, aber hier spre-chen die Urkunden direkt und damit vielleicht authentischer.

Am Ende soll noch ein Gedanke stehen, der Überlegungen aus dem Beitrag von Peter Eich (pp. 21ss.) weiterführt, und zwar unter dem Gesichtspunkt der Hierarchie und der Schriftlichkeit in der kaiserzeitlichen Administration. Seit der Flavischen Zeit hat sich für die Privilegierung der Nichtlegionäre im römischen Heer das administrative Verfahren ausgebildet, das uns in den Militär-diplomen greifbar ist.30 Es verlief, jedenfalls soweit die Provinzen betroffen waren, konstant über verschiedene Ebenen der Militär-administration; vergleichbares galt sicher auch für die Prätorianer und die italischen Flotten. Dabei waren Standardregeln ein-zuhalten, die auf politischen Überlegungen, vor allem der Bewahrung der Macht des Kaisers beruhten. Zwei Gesichtspunkte waren entscheidend: Zum einen mußten Soldaten nach einem langen Militärdienst belohnt werden, zum andern war die Dienst-zeit von 20, 25 oder 26 Jahren bei den einzelnen Truppengattungen regelhaft einzuhalten. Wie in den vorausgehenden Ausführungen schon dargelegt, wurden, zumindest im 2. Jahrhundert, offen-sichtlich mehr oder weniger in jedem Jahr in jeder Provinz entsprechende Privilegierungen vorgenommen. Die dafür nötigen Unterlagen wurden schriftlich von den Büros der Befehlshaber der einzelnen Truppenabteilungen, bei denen auch die Matrikel jedes

29 Siehe Eck, Der Kaiser als Herr des Heeres…, pp. 65f.; ders., Die Verän-

derungen in Konstitutionen und Diplomen unter Antoninus Pius, Kolloquium über Militärdiplome (Bern Oktober 2004), H. Lieb, M. Speidel (Hrsg.), im Druck.

30 Siehe dazu Eck, Der Kaiser als Herr des Heeres…

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Soldaten geführt wurde, ausgearbeitet, also der Präfekten der Auxiliarabteilungen oder der Flotten. Von diesen gingen die Unterlagen, nämlich Personenlisten mit den notwendigen Angaben über die Einheit und den Einheitskommandeur, ferner mit den vollständigen Namen der Frauen sowie der Kinder, an den Befehlshaber des jeweiligen Provinzheeres, der gleichzeitig Statthalter war. Dessen Büro sammelte die verschiedenen Listen und reichte sie zusammen nach Rom weiter.31 Dort hat dann ein noch nicht identifiziertes officium in der Umgebung des Kaisers32 den Text einer Konstitution ausgearbeitet, die dem Herrscher vorgelegt wurde. Nach der Prüfung des Vorgangs durch den Kaiser und nach dessen Zustimmung wurde ganz offensichtlich der approbierte Text an einen Unternehmer weitergegeben, der zum einen den Text der Konstitution auf eine tabula aenea/aerea gravieren ließ, die in Rom in muro post templum divi Augusti ad Minervam publiziert wurde, wie es die Diplome beschreiben. Gleichzeitig hat dieser Unternehmer jedoch auch die individuellen Diplome herstellen lassen, die nach Fertigstellung mit einem Draht verschlossen und von sieben Zeugen gesiegelt wurden. Auch diese Zeugen waren keine Funktionsträger, sondern Privatleute; allerdings gibt es seit späthadrianischer Zeit eine fixierte Gruppe von Zeugen, die in einer hierarchischen Ordnung auf den Diplomen erscheinen.33 Im Verlaufe der Jahre steigen diese Zeugen innerhalb des Kollegiums auf, offensichtlich dann, wenn einzelne Mitglieder durch Tod oder aus anderem Grund ausge-schieden waren. Diese Diplome wurden schließlich in die Provinz zurückgebracht, vielleicht sogar von Militärs, und zwar vermutlich

31 Zu diesem Teil des administrativen Verfahrens erstmals genauer H.

Wolff, Bemerkungen zum Verwaltungsgang und zur Verwaltungsdauer der Bürgerrechtsschenkungen an Auxiliare, «ZPE», 43 (1981), pp. 403ff.; ferner B. Lörincz, Die Nennung und Funktion der Statthalter in den Auxiliarkonstitutio-nen, in W. Eck, H. Wolff (Hrsg.), Heer und Integrationspolitik. Die römischen Militärdiplome als historische Quelle, Passauer Historische Forschungen 2, Köln 1986, pp. 375ff.; G. Alföldy, Die Truppenkommandeure in den Militärdi-plomen, in Eck, Wolff (Hrsg.), Heer und Integrationspolitik…, pp. 385ff.; beide Autoren haben die Thematik nochmals in ihren Beiträgen beim Militär-diplomkolloquium in Bern (Anm. 29) aufgenommen und ergänzt.

32 Vielleicht der a censibus? oder der ab epistulis? 33 R. Haensch, Die Verwendung von Siegelzeugen bei Dokumenten der kai-

serzeitlichen Reichsadministration, in M.-F. Boussac, A. Invernizzi (éds.), Archives et Sceaux du monde hellénistique, Paris 1996, pp. 449ff.

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an den Statthalter, der sie dann entweder selbst an die Soldaten verteilte oder die für jeweils eine bestimmte Einheit ausgestellten Dokumente an den jeweiligen Präfekten übersandte, der sie dann seinerseits den Empfängern aushändigte.

Hier haben wir also wesentliche Elemente, die bei der Diskus-sion, ob und wann sich im staatlichen Leben Roms eine Bürokratie entwickelt habe, von definitorischer Bedeutung sind: die durchge-hende Schriftlichkeit des Vorgangs, das Durchlaufen einander zu-geordneter Hierarchieebenen und die Routine des sich immer wie-derholenden Vorgangs. Freilich - und das darf man nicht vergessen - dies spielte sich im Rahmen des römischen Heeres ab, an dessen hierarchischer Struktur nie jemand gezweifelt hat. Allerdings war diese Struktur der im zivilen administrativen Bereich durchaus verwandt, da die höheren Befehlshaber, die nach ihrem sozialen Status ernannt worden waren, in beiden Bereichen tätig waren, im militärischen und im zivil-administrativen. In ihrer Person trafen sich die Bereiche und das Verfahren im einen Bereich hat fast notwendigerweise auch das im anderen beeinflusst. An der Struk-tur der Heeresadministration kann man sehen, was unter römischen Bedingungen vor den durch die Krisenphänomene des 3. Jahrhun-derts ausgelösten Änderungen an administrativer Hierarchie mög-lich war. Unter den gewandelten Bedingungen des 3. Jahrhunderts konnten solche Strukturen dann ohne große Probleme direkt auf den zivilen Bereich ausgeweitet werden, soweit sie nicht schon vorher dort eingewirkt hatten. Daß auch die zivile Tätigkeit im Dienst des Kaisers seit den Severern als militia bezeichnet wird, ist also kein Zufall gewesen. Das Wort verweist auf die militärischen Wurzeln, aus denen sich die spätantiken administrativen Strukturen entwickelt haben.